Zweites Buch

Von der Erkenntnis Gottes als des Erlösers in Christo, wie sie zuerst den Vätern unter dem Gesetz, alsdann auch uns im Evangelium geoffenbart worden ist

Erstes Kapitel

Durch den Fall und die Abtrünnigkeit des Adam ist das ganze Menschengeschlecht dem Fluch verfallen und hat seine ursprüngliche Reinheit verloren. Die Lehre von der Erbsünde.

Kapitel 1 Sektion 1

Nicht ohne Grund ist dem Menschen nach einem alten Spruche stets die Selbsterkenntnis hoch gerühmt worden. Es gilt doch bereits als schimpflich, wenn einer nicht weiß, was zu den Dingen des menschlichen Gebens gehört. Viel verwerflicher aber ist die Selbst-Unkunde: da werden wir bei jeder Entschließung in wichtiger Sache jämmerlich von Wahnideen geplagt und geradezu mit Blindheit geschlagen! So wichtig aber jene Anweisung ist, so müssen wir uns erst recht in acht nehmen, von ihr keinen verkehrten Gebrauch zu machen — und das ist, wie wir sehen, gewissen Philosophen zugestoßen! Diese nämlich ermahnen zwar den Menschen zur Selbsterkenntnis; aber sie bestimmen zugleich das Ziel solcher Bemühung so: er soll sich über seine Würde und seine bevorzugte Stellung (excellentia) im klaren sein! Der Mensch soll nach ihrem Willen nur die Selbstbetrachtung üben, die ihn zu leerem Selbstvertrauen und zum Stolz aufbläst (Gen. 1,27). Unsere Selbster­kenntnis soll aber etwas anderes in sich tragen: Zunächst sollen wir bedenken, was uns alles in der Schöpfung zuteil geworden ist und wie gütig Gott fort und fort seine Gnade über uns walten läßt; daraus sollen wir erkennen, wie groß der Vorzug unserer Natur sein müßte — wenn sie unverdorben geblieben wäre. Zu­gleich aber sollen wir auch erwägen, daß wir ja nichts Eigenes in uns tragen, sondern geschenkweise das besitzen, was Gott uns gab — damit wir immer an ihm hangen: Zum zweiten soll uns aber unser jämmerlicher Zustand nach Adams Fall entgegentreten; werden wir des inne, so fällt aller Ruhm, alle Selbstsicherheit dahin, und wir gelangen tief beschämt zu rechter Demut. Denn Gott hat uns im Anfang zu seinem Bilde geschaffen, um unsere Seele zum Eifer in rechtem Tun und zum Trachten nach dem ewigen Leben zu erwecken, und so müssen wir, damit nicht der Adel unseres Geschlechts, der uns von den Tieren unterscheidet, durch unsre Trägheit gar verfalle, dies erkennen: wir sind mit Vernunft (ratio) und Verstand (intelligentia) begabt, um in einem heiligen und ehrbaren Leben uns nach dem vorgesteckten Ziel der seligen Unsterblichkeit auszustrecken! Jene ursprüngliche Würde kann uns aber gar nicht in die Erinnerung treten, ohne daß sich alsbald das traurige Bild unserer Befleckung und Schande uns vor die Augen stellt, wie es geworden ist, seitdem wir in der Person des ersten Menschen unserem Ursprung entfremdet sind. Und daraus entsteht denn auch Haß und Mißfallen an uns selbst und wahre Demut — und es entbrennt ein neuer Eifer, Gott zu suchen, in dem ein jeglicher die Güter wieder erlangen soll, die wir nun ganz und gar verloren haben.


Kapitel 1 Sektion 2


Das also fordert Gottes Wahrheit als Inhalt unserer Selbstprüfung: sie ver­langt eine solche Erkenntnis von uns, die uns von aller Zuversicht auf eigenes Vermögen fernhält uns jeden Grund zum Selbstruhm nimmt und so zur Demut führt. Diese Richtschnur gilt es festzuhalten, wenn wir zum rechten Maß und Ziel des Denkens und Handelns kommen wollen. Dabei weiß ich sehr wohl, wieviel angenehmer jene Lehre ist, die uns einlädt, unser Gutes zu bedenken, als jene, die uns unsere jämmerliche Armut und Schande betrachten läßt und uns so mit Scham er­füllt. Denn der Menschengeist hat nichts lieber, als wenn man ihm Schmeicheleien vormacht; und wenn er hört, daß seine Fähigkeiten irgendwo hoch gerühmt werden, so neigt er sich gleich mit allzugroßer Leichtgläubigkeit auf jene Seite! Des­halb ist es auch nicht zu verwundern, daß in diesem Stück der größte Teil der Menschheit so verderbenbringend sich verirrt hat. Denn allen Sterblichen ist eine mehr als blinde Selbstliebe eingeboren, und deshalb reden sie sich bereitwilligst ein, sie trügen nichts in sich, das etwa mit Recht zu verwerfen wäre! Und so findet ohne fremden Schutz dieser eitle Wahn immer wieder Glauben, der Mensch sei sich selbst völlig genug, um gut und glücklich zu leben. Gewiß: einige wollen bescheidener ur­teilen und Gott einen Anteil zugestehen, damit sie nicht den Eindruck machen, als ob sie sich alles selbst zuschreiben wollten — aber da teilen sie denn doch so, daß der stärkste Grund zum Rühmen und zum Selbstvertrauen auf ihre eigene Seite zu liegen kommt! Kommt dazu dann noch solch feine Redeweise, welche den sowieso im Menschen mit Mark und Bein verwachsenen Hochmut mit ihren Lockungen kitzelt, so gibt es nichts, was ihm größere Freude machte! Und so ist auch jeder, der die Vorzüge der menschlichen Natur mit seinen Reden kräftig herausgestrichen hat, zu allen Zeiten mit gewaltigem Beifall aufgenommen worden. Aber wie groß auch jene Hervorhebung der menschlichen Hoheit sein mag, die den Menschen lehrt, sich mit sich selber zufrieden zu geben — sie macht ja nur durch ihre liebliche Gestalt sol­ches Vergnügen, und ihre Vorspiegelungen erreichen nur dies, daß sie die, welche ihr zustimmen, am Ende ganz ins Verderben stürzt. Denn wozu kann es führen, wenn wir in eitlem Selbstvertrauen erwägen, planen, versuchen, ins Werk setzen, was wir für erforderlich halten, wenn uns dabei aber der rechte Verstand ganz und gar abgeht, wir bei den ersten Versuchen bereits rechter Kraft ermangeln — und dennoch selbst­sicher fortschreiten, bis wir in den Untergang hineinrennen? Aber so muß es ja denen gehen, die meinen, sie vermöchten etwas in eigener Kraft! Leiht man jenen Lehrern das Ohr, die uns bloß damit Hinhalten, unser Gutes zu bedenken, so kommt man eben nicht zur Selbsterkenntnis, sondern verfällt in übelste Selbst-Unkenntnis!


Kapitel 1 Sektion 3


Gewiß: Gottes Wahrheit kommt darin mit der allgemeinen Überzeugung aller Sterblichen überein, daß der zweite Teil der Weisheit in unserer Selbsterkennt­nis bestehe. Aber über die Art dieser Erkenntnis besteht große Meinungsverschieden­heit. Denn der Mensch meint nach dem Urteil des Fleisches, er hätte sich dann gar wohl erforscht, wenn er im Vertrauen auf seinen Verstand und seine Unver­dorbenheit kühn wird, sich dem Dienste der Tugend hingibt, den Lastern den Krieg erklärt und so versucht, mit ganzem Eifer dem Schönen und Ehrbaren nachzustre­ben. Wer sich aber nach dem Richtmaß des göttlichen Urteils betrachtet und prüft, der findet nichts, was seine Seele zu rechtem Selbstvertrauen ermuntern könnte, und je tiefer er sich durchforscht, desto mehr wird er zu Boden geworfen — bis er auf alles Selbstvertrauen ganz verzichtet und bei sich selber nichts mehr finden will, um sein Leben recht zu führen.

Gewiß will Gott nicht, daß wir jenen ursprünglichen Adel vergessen, den er un­serem Vorvater Adam hatte zuteil werden lassen — denn der soll uns ja mit Recht zum Eifer um Gerechtigkeit und Gutsein erwecken. Wir können gar nicht an unseren Ursprung denken oder erwägen, wozu wir erschaffen sind, ohne zugleich zum Ver­langen nach der Unsterblichkeit und zum Trachten nach dem Reiche Gottes gereizt zu werden. Aber solche Rückerinnerung macht uns nicht stolz, sondern wirft vielmehr allen Stolz zu Boden und macht uns demütig. Denn was ist das für ein Ur­sprung? Eben der — aus dem wir herausgefallen sind! Was ist das für ein Ziel un­serer Erschaffung? Eben das, von dem wir nun gänzlich abgewandt sind, so daß wir in tiefer Trauer über unser jämmerliches Los seufzen und in solchem Seufzen nach jener verlorenen Würde uns sehnen! Wenn wir aber sagen, der Mensch vermöge in sich selber nichts anzuschauen, das ihn stolz machen könnte, so ist unsere Meinung: beim Menschen ist nichts, auf das er sich verlassen und das ihn hochmütig machen könnte. Wenn man also so will, so wollen wir die Selbsterkenntnis, die der Mensch haben soll, folgendermaßen einteilen: Erstens soll er bedenken, zu welchem Zweck er erschaffen worden ist und was für nicht geringzuschätzende Gaben ihm zuteil ge­worden sind. Diese Erwägung soll ihn reizen, auf die Verehrung Gottes und das zukünftige Leben bedacht zu sein. Zweitens soll er seine Fähigkeiten, das heißt aber in Wirklichkeit: seinen Mangel an solchen, betrachten. Tut er das, so wird er sozusagen zu Nichts werden und in äußerster Verwirrung dastehen. Die erst­genannte Erwägung hat den Zweck, daß er erkenne, was seine Aufgabe (officium) sei, die zweite, daß er innewerde, was er eigentlich vermöge, um ihr gerecht zu werden. Wir werden über beide nach der durch die Lehrabsicht gebotenen Reihenfolge zu reden haben.


Kapitel 1 Sektion 4


Es ist nun aber notwendigerweise nicht etwa ein leichtes Vergehen, sondern ein abscheuliches Laster, das Gott so streng gestraft hat; und so müssen wir das eigent­liche Wesen der Sünde, (wie es) im Falle Adams (hervorgetreten ist), untersuchen, das ja Gottes schreckliche Vergeltung über das ganze Menschengeschlecht herabge­zogen hat. Kindisch ist die allgemeine Auffassung, es handle sich (bei dem Sünden­fall) um Lüsternheit des Gaumens. Als ob der Hauptinhalt aller Tugend nur in der Enthaltsamkeit gegenüber der einen Frucht bestanden hätte! Und dabei strömte doch von allen Seiten in reicher Fülle alles, was ein Mensch an Freuden ersehnen kann, und bei jener seligen Fruchtbarkeit der Erde war genug Fülle und Mannig­faltigkeit da, um ein rechtes Wohlleben zu bereiten! Wir müssen den Blick höher richten. Denn das Verbot, von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu nehmen, war ja eine Prüfung im Gehorsam: Adam sollte durch seine Folgsamkeit beweisen, daß er gern Gottes Befehl sich unterwarf! Der Name (des Baums) sel­ber zeigt doch, daß das Gebot keinen anderen Zweck hatte, als daß der Mensch, mit seiner Lage zufrieden, sich nicht von gottloser Begehrlichkeit zu Höherem empor­reißen ließ. Und die Verheißung, die ihn auf das ewige Leben hoffen ließ, solange er vom Baume des Lebens aß, die furchtbare Androhung des Todes wiederum, so­bald er etwa von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen äße — beides hatte den Zweck, seinen Glauben zu prüfen. Hieraus ist leicht ersichtlich, auf welcher­lei Weise Adam Gottes Zorn über sich heraufbeschworen hat. Nicht übel erklärt das Augustin, wenn er sagt, der Hochmut sei der Ursprung alles Bösen; denn wäre der Mensch nicht in seiner Anmaßung höher gestiegen, als ihm verstattet und als es von Gott aus recht war, so hätte er in seiner (hohen) Stellung bleiben können.

Aber aus der Beschreibung der Versuchung, wie sie Mose gibt, läßt sich noch eine genauere Deutung finden. Denn da wird die Frau durch die List der Schlange im Unglauben vom Worte Gottes abgebracht — und da sehen wir schon: der Anfang des Untergangs ist der Ungehorsam. Das bestätigt auch Paulus, wenn er sagt, durch eines Menschen Ungehorsam seien alle verlorengegangen (Röm. 5,19). Zugleich aber müssen wir bemerken, daß der erste Mensch vom Gebot Gottes ab­gewichen ist, und das geschah nicht nur, weil er von den Lockungen des Satans um­strickt wurde, sondern auch, weil er unter Verachtung der Wahrheit sich zur Lüge wandte. Und wahrlich: wird einmal Gottes Wort verachtet, so geht jede Ehrfurcht vor Gott verloren. Denn seine Majestät hat unter uns keinen Bestand, seine Ver­ehrung kann nicht rein bleiben — wenn wir nicht an seinem Munde hängen. Des­halb war der Unglaube die Wurzel des Abfalls. Aus ihm entstand die An­maßung und der Hochmut, zu denen dann auch die Undankbarkeit kam, weil ja Adam, indem er mehr haben wollte, als ihm zustand, die große Freigebigkeit Gottes, die ihm zuteil geworden war, schnöde verachtete. Daran aber zeigte sich die furchtbare Gottlosigkeit, daß es dem Erdensohne zu wenig erschien, zum Bilde Gottes gemacht zu sein — sofern nicht die Gleichheit (mit Gott) hinzukäme! Ein abscheulicher Frevel ist der Abfall, mit dem sich der Mensch dem Gebot seines Schöpfers entzieht, ja aufbegehrend sein Joch abschüttelt. Deshalb ist es vergebliche Mühe, die Sünde des Adam zu mildern. Und dabei handelt es sich nicht einmal um bloßen Abfall, sondern es kommen gemeine Vorwürfe gegen Gott hinzu: die Menschen unterschreiben ja die Schmähungen des Satans, der Gott Lüge, Neid und Mißgunst unterschiebt! Und endlich tut der Unglaube auch der Anmaßung Tor und Tür auf, und die Anmaßung war die Mutter der Widerspenstigkeit, so daß die Menschen alle Furcht Gottes von sich warfen und sich ganz von ihrem Gelüste lei­ten ließen. Deshalb ist es recht, wenn Bernhard lehrt, die Tür des Heils tue sich uns auf, wenn wir heute mit unseren Ohren das Evangelium hören, wie ja auch zu dieser Öffnung (dem Ohre), als sie sich dem Satan aufgetan habe, der Tod hinein­gekommen sei. Denn Adam hätte ja nie gewagt, dem Gebot Gottes ungehorsam zu sein, wenn er nicht seinem Wort gegenüber ungläubig gewesen wäre. Der beste Zügel, alle Begierden recht im Zaum zu halten, war ja doch die Überzeu­gung, es sei nichts besser, als Gottes Gebot zu gehorchen und so die Gerechtigkeit zu tun, und das höchste Ziel eines seligen Lebens sei, von Gott geliebt zu werden. Als aber der Mensch von den Schmähungen des Teufels hingerissen war, da machte er nach Kräften allen Ruhm Gottes zunichte.


Kapitel 1 Sektion 5


Wie das geistliche Leben des Adam darin bestand, daß er mit seinem Schöpfer verbunden und an ihn gebunden blieb, so bedeutete die Entfremdung von ihm das verderben der Seele. So ist es kein Wunder, daß er sein Geschlecht ins Elend stürzte — verkehrte er doch die ganze Ordnung der Natur im Himmel und auf Erden! Es seufzt die Kreatur, sagt Paulus, die ohne ihren Willen der Verderbnis unterwor­fen ist! (Röm. 8,22). Fragt man nach der Ursache davon, so ist es außer Zweifel, daß die Kreatur einen Teil der Strafe trägt, die der Mensch sich zugezogen hat, zu dessen Nutzen sie erschaffen war. So ist also nach allen Seiten, droben und hienieden, aus Adams Schuld der Fluch entsprungen, der auf allen Gebieten der Welt ruht — und deshalb ist es durchaus nicht widersinnig, daß er auch auf seine gesamte Nachkommenschaft übergegangen ist. Nachdem also einmal das himmlische Bild in ihm zerstört war, ist er nicht allein für seine Person damit gestraft worden, daß nun an die Stelle der Weisheit, Kraft, Heiligkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit, die ihn einst geziert hatten, die übelsten Verderbnisse traten: Blindheit, Kraftlosigkeit, Unreinheit, Eitelkeit, Ungerechtigkeit, — sondern in eben dieses Elend hat er auch seine Nachkommenschaft verwickelt und hineingestoßen. Das ist die erbliche Verderbnis (haereditaria corruptio), die die Alten „Ursünde“ (Erbsünde, peccatum originale) genannt haben, wobei sie unter Sünde die Zerrüttung der zuvor guten und reinen Natur verstanden. Über diese Lehre war unter ihnen gewaltiger Streit; denn dem gemeinen Menschenverstand ist nichts so befremdlich, als daß wegen der Schuld eines Menschen alle schuldig sein sollten und so also die Sünde allgemein werde. Das scheint auch der Grund gewesen zu sein, weshalb die ältesten Lehrer der Kirche dieses Lehrstück bloß unklar behandelten; wenigstens haben sie es weniger deutlich entfaltet, als recht ist. Und trotzdem konnte diese Vorsicht den Pelagius nicht daran hindern, sich aufzumachen und die unfromme Auffassung vorzutragen, Adam habe nur zu seiner eigenen Verdammnis gesündigt, aber seinen Nachkommen damit keinen Schaden getan. Mit solcher Verschlagenheit wollte der Satan versuchen, die Krankheit zu verdecken und so unheilbar zu machen. Und als Pelagius dann durch das klare Zeugnis der Schrift überführt wurde (und zugeben mußte), die Sünde sei von dem ersten Menschen auf seine gesamte Nachkommenschaft übergegangen, da brachte er die spitzfindige Weisheit auf, das sei eben nur durch Nachahmung geschehen, nicht aber im Sinne der Vererbung. Da haben sich denn wackere Männer, vor allem Augustin, abmühen müssen, zu zeigen, daß wir nicht etwa durch eine spä­ter angenommene Bosheit der Verderbnis verfallen, sondern von Mutterleibe an eine angeborene Sündhaftigkeit mitbringen. Das zu leugnen, war höchste Vermessenheit. Indessen wird man sich über die Verwegenheit der Pelagianer und Coelestianer nicht wundern, wenn man aus den Schriften jenes heiligen Mannes (Augustin) bemerkt, was für unverschämte Ungetüme sie in allen anderen Stücken ge­wesen sind. Es ist doch gewiß sonnenklar, wenn David bekennt, er sei in Sünden ge­boren und von seiner Mutter in Sünden empfangen worden (Ps. 51,7). Damit will er doch nicht etwa Vergehen seines Vaters oder seiner Mutter tadeln, sondern er legt, um Gottes Güte gegen ihn um so besser herauszustreichen, ein Bekenntnis seiner eigenen Verderbtheit ab, die er seit seiner Geburt zu haben behauptet. Nun steht aber anerkanntermaßen dies Zeugnis des David nicht einzig da, und so ergibt sich, daß an seinem Beispiel das allgemeine Los des Menschengeschlechts dargestellt wird. Denn wir alle, die wir aus unreinem Samen herstammen, werden, befleckt von der Ansteckung der Sünde, geboren, ja, ehe wir das Licht der Welt erblicken, sind wir vor Gottes Augen bereits verdorben und befleckt. „Kann wohl ein Reiner kommen von den Unreinen? Auch nicht einer“, heißt es im Buche Hiob (Hiob 14,4).


Kapitel 1 Sektion 6


Wir hören, daß die Unreinigkeit der Voreltern derart auf die Nachfahren über­geht, daß alle ohne jede Ausnahme vom Ursprung her befleckt sind. Den Anfang dieser Befleckung kann man nur finden, wenn man zum Urvater aller Menschen als zur Quelle zurückgeht. Wir werden die Sache also sicher so anzusehen haben: Adam ist nicht nur der Ahnherr der menschlichen Natur, sondern er ist sozusagen ihre Wurzel, und deshalb ist durch seine Verderbnis billigerweise das ganze Menschengeschlecht zerrüttet worden. Das macht der Apostel klar, indem er ihn mit Christus vergleicht. „Wie durch einen Menschen die Sünde in die ganze Welt ge­kommen ist und durch die Sünde der Tod, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben, so ist Gerechtigkeit und Leben uns wiedergegeben durch die Gnade Christi“ (Röm. 5,12ff.). Was wollen da die Pelagianer schwätzen? Die Sünde des Adam soll durch Nachahmung fortgepflanzt worden sein? Dann würden wir also auch die Gerechtigkeit Christi nicht anders über­kommen, als weil er uns als Vorbild gesetzt wäre, dem wir nachahmen sollten. Was wäre das aber für eine unerträgliche Gotteslästerung! Es ist doch außer allem Streit, daß Christi Gerechtigkeit durch Gemeinschaft mit ihm die unsere wird und uns das Leben schenkt. Daraus folgt dann aber: beides ist in Adam verloren, um in Christus wiedergewonnen zu werden; Sünde und Tod sind durch Adam eingeschlichen, um durch Christus abgetan zu werden. Und wenn der Apostel sagt, durch Christi Gehorsam würden viele gerecht gemacht, gleichwie sie durch Adams Ungehorsam Sünder geworden sind, so ist daran nichts Unklares. Zwischen ihnen beiden besteht danach die Beziehung, daß dieser (Adam) uns in sein Verderben mit hineinzieht und also mit sich zugrunde richtet, jener (Christus) uns durch seine Gnade wieder zum Heil bringt. Die Sache tritt so deutlich in das Licht der Wahrheit, daß ich meine: sie bedarf eines längeren und mühsameren Beweises nicht. So zeigt auch Paulus im 1. Korintherbrief, wo er die Frommen in der Hoffnung auf die Auferstehung stärken will, daß wir in Christus das Leben wiedererlangen, das in Adam verloren gegangen war (1. Kor. 15,22). Dadurch, daß er sagt, wir seien in Adam alle gestor­ben, bezeugt er zugleich klar und offen, daß wir von der Befleckung durch die Sünde umstrickt sind. Denn die Verdammnis würde ja gar nicht zu solchen kommen, die von keinerlei Schuld der Sünde berührt wären! Aber die eigentliche Absicht des Apostels wird am deutlichsten aus der Beziehung zu dem anderen Satzglied, wo er lehrt, in Christo sei die Hoffnung auf das Leben wiederhergestellt. Dabei ist es aber eben genugsam bekannt, daß dies nicht anders geschieht als so, daß Christus in wun­dersamer Mitteilung die Kraft seiner Gerechtigkeit auf uns überträgt — wie es an anderer Stelle auch heißt, der Geist sei für uns Leben um der Gerechtigkeit willen (Röm. 8,10). Also kann auch der Satz, daß wir in Adam alle gestorben sind, nicht anders ausgelegt werden als so: er hat uns durch sein Sündigen nicht nur in seine Niederlage und sein Verderben hineingerissen, sondern auch unsere Natur in die gleiche Verderbnis hineingestürzt. Und das hat er nicht durch sein Vergehen allein getan, als ob es mit uns nichts zu tun hätte, sondern eben dadurch, daß er all seine Nachkommenschaft mit der Verderbnis, in die er gefallen war, angesteckt hat. Auch könnte Paulus nicht sagen, alle Menschen seien von Natur Kinder des Zorns (Eph. 2,3), wenn sie nicht von Mutterleibe an unter dem Fluche stünden! Da­bei ist leicht ersichtlich, daß er hier nicht die Natur meint, wie sie von Gott er­schaffen wurde, sondern wie sie in Adam verdorben wurde; denn es wäre durchaus unsinnig, wollte man Gott zum Urheber des Todes machen! Adam hat sich also selbst so verderbt, daß von ihm her die Ansteckung auf die gesamte Nachkommenschaft ge­kommen ist! Auch verkündet Christus, der himmlische Richter, selber deutlich genug, daß alle Menschen böse und verderbt geboren werden; lehrt er doch: „Was vom Fleische geboren wird, das ist Fleisch“ (Joh. 3,6). Danach ist allen Menschen das Tor zum Leben verschlossen, bis sie wiedergeboren sind.


Kapitel 1 Sektion 7


Um diese Dinge zu verstehen, ist nun aber jene ängstlich genaue Streitfrage nicht vonnöten, mit der sich die Alten mehr, als gut war, gequält haben, nämlich: ob die Seele des Kindes dadurch entstünde, daß die des Vaters auf das Kind über­ginge, da ja in der Seele vor allem die Seuche stecke! Wir müssen uns vielmehr damit zufrieden geben: der Herr hat alle Gaben, die er der menschlichen Natur verleihen wollte, dem Adam zur Bewahrung übergeben. Wenn er also verlor, was er empfangen hatte, so hat er es nicht nur für seine eigene Person, sondern für uns alle verloren, wer will sich dann noch über die Fortpflanzung der Seele Unruhe machen, wenn er doch hört, daß Adam all die Zier, die er verloren hat, ebensosehr für uns, als für sich selber empfangen hatte, daß sie eben nicht ihm allein, sondern dem ganzen Menschengeschlecht zugeteilt war? Es liegt gar nichts widersinniges darin, daß damit, daß er jener herrlichen Gaben verlustig ging, auch die Natur nackt und arm dasteht, und daß dadurch, daß er von der Sünde befleckt wurde, die An­steckung auch in die Natur eingedrungen ist! So sind aus der faulen Wurzel faule Äste hervorgeschossen, und die haben wiederum ihre Fäulnis den anderen Sprößlingen mitgeteilt, die aus ihnen hervorgingen! So liegt die Verderbnis der Kinder schon in den Vätern, und die Kinder verderben wieder die Enkel; das bedeutet: die Ver­derbnis hat bei Adam den Anfang genommen und sich so in ununterbrochenem Ablauf von den Vorfahren zu den Nachfahren fortgepflanzt. Denn die Ansteckung und Befleckung hat ihren Ursprung nicht etwa im Grundwesen (substantia) des Fleisches oder der Seele, sondern darin, daß Gott es so eingerichtet hatte, daß der erste Mensch die Gaben, die er ihm zuteil werden ließ, mit den Seinigen zusammen besaß — und verlor! Nun schwatzen aber die Pelagianer, es sei nicht glaubwürdig, daß die Kinder frommer Eltern von diesen die Verderbnis empfingen, sie müßten doch vielmehr durch ihre Reinheit geheiligt werden! (Vgl. 1. Kor. 7,14). Das ist leicht zu wider­legen. Denn die Kinder gehen ja nicht aus ihrer geistlichen Wiedergeburt, sondern aus fleischlicher Zeugung hervor. Deshalb sagt auch Augustinus mit Recht: Sei es also ein ungläubiger, schuldiger Mensch oder ein gläubiger, der losgesprochen ist: beide zeugen nicht etwa Losgesprochene, sondern Schuldige, denn sie zeugen aus ihrer verderbten Natur! (Gegen die Pelagianer und Coelestianer, Buch II). Daß also die Kinder gewissermaßen an der Heiligkeit ihrer Eltern Anteil haben, das ist eine be­sondere Segnung des Volkes Gottes; und die hindert nicht, daß jene erste und allge­meine Verfluchung des Menschengeschlechts vorausgeht! Denn die Schuld besteht von Natur her, die Heiligung aber aus übernatürlicher Gnade.


Kapitel 1 Sektion 8


Aber es soll hier nicht von einer undeutlichen und unbekannten Sache geredet werden, und deshalb wollen wir die Erbsünde beschreiben. Dabei habe ich jedoch nicht die Absicht, die einzelnen Beschreibungen, welche die kirchlichen Schriftsteller unternommen haben, nachzuprüfen. Ich werde nur eine einzige herausgreifen, die mir der Wahrheit am meisten zu entsprechen scheint. Es erscheint da nämlich die Erbsünde als die erbliche Zerrüttung und Verderbnis unserer Natur, die in alle Teile der Seele hineingedrungen ist; diese macht uns zunächst vor Gottes Zorn zu Schuldigen, dann aber bringt sie auch in uns die Werke hervor, die die Schrift „Werke des Fleisches“ nennt (Gal. 5,19). Das ist im eigentlichen Sinne das, was Paulus öfters „Sünde“ nennt. Die Werke indessen, die daraus hervorgehen, wie Ehebruch, Hurerei, Diebstahl, Haß, Mord, Völlerei nennt er dementsprechend „Früchte“ der Sünde; freilich werden sie weithin in der Schrift und so auch von Paulus selbst „Sünden“ genannt.

Dies beides ist also genau zu beachten: (1) Wir sind in allen Stücken unserer Na­tur dermaßen verderbt und verkehrt, daß wir allein wegen dieser Verderbnis vor Gott mit Recht als Verdammte und Verworfene dastehen; denn ihm ist ja nichts wohlgefällig als Gerechtigkeit, Unschuld und Reinheit. Aber das ist nun keine Verflochtenheit in fremdes Vergehen. Denn wenn es heißt, daß wir durch die Sünde Adams des göttlichen Gerichts schuldig sind, so ist das nicht so zu verstehen, als ob wir etwa unschuldig und ohne Verdienst die Schuld für sein (Adams) Ver­gehen tragen müßten; es ist vielmehr deshalb gesagt, er habe uns in seine Schuld verwickelt, weil wir ja durch seine Übertretung nun alle den Fluch auf uns tragen. Trotzdem ist von ihm her nicht etwa bloß die Strafe auf uns gekommen, sondern die von ihm auf uns übertragene Verderbnis wohnt nun in uns, und diese wird mit Recht bestraft. So sagt Augustinus zwar oft, es handle sich um eine „fremde“ Sünde, um nämlich klarer zu zeigen, daß sie durch Übertragung auf uns kommt. Aber trotzdem behauptet er auch, sie sei eines jeden eigene Sünde. (So unter an­derem in „Von Schuld und Vergebung der Sünden“ III,8). Der Apostel selbst be­zeugt ganz ausdrücklich, der Tod sei darum zu allen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben! (Röm. 5,12). Und das heißt: weil sie alle der Erbsünde verfallen und mit ihren Flecken behaftet sind. So sind denn auch die Kindlein selber, die vom Mutterleibe an ihr Verdammungsurteil mit sich tragen, nicht in fremde, sondern in ihre eigene Sünde verstrickt. Denn obwohl sie die Früchte ihrer Sündhaftigkeit noch nicht hervorgebracht haben, so haben sie doch den Samen in sich, ja ihre ganze Na­tur ist gewissermaßen ein Same der Sünde, so daß sie unvermeidlich Gott verhaßt und abscheulich sein muß. Daraus folgt, daß dies im eigentlichen Sinne vor Gott als Sünde gilt: denn ohne Schuld gäbe es keinen Anklagezustand. (2) Dazu kommt dann das Zweite: Diese Verkehrtheit ist in uns niemals müßig, sondern bringt ohne Aufhören neue Früchte hervor, nämlich jene oben beschriebenen „Werke des Fleisches“ — gleichwie ein Schmelzofen, der einmal angezündet ist, nun Flammen und Funken von sich gibt, oder eine Quelle das Wasser ohne Aufhören aus sich hervorsprudelt. Wer deshalb unter der Erbsünde den Mangel an „Urgerechtigkeit“ (justitia originalis) verstehen will, die wir eigentlich haben sollten, der hat da­mit zwar alles zur Sache Gehörige zusammengefaßt, aber deren Kraft und Wirksamkeit nicht deutlich genug zum Ausdruck gebracht. Denn unsere Natur ist nicht etwa bloß des Guten arm und leer, sondern sie ist fruchtbar und ertragreich im Bösen, so daß sie nie müßig sein kann! Einige haben gesagt, die Erbsünde sei die „Begehrlichkeit“ (concupiscentia). Das ist an sich kein sach­fremdes Wort; nur muß man — was aber von den meisten nicht im mindesten zugegeben wird — noch hinzufügen, es sei eben der ganze Mensch (quicquid in homine est), Verstand und Wille, Seele und Fleisch, von dieser Begehrlichkeit befleckt und erfüllt oder kurzum, der ganze Mensch sei von sich selbst aus nichts anderes als Begehrlichkeit!


Kapitel 1 Sektion 9


Aus diesem Grunde sagte ich, die Seele sei in ihrem ganzen Bestand von der Sünde mit Beschlag belegt, seitdem sich Adam von der Quelle der Gerechtigkeit abgewandt hat. Denn es hat ihn nicht allein ein niedriges Gelüsten gereizt, sondern schändliche Gottlosigkeit hat seine Seele bis ins Tiefste in Besitz genommen, und die Hoffart ist ins innerste Herz hineingedrungen. Deshalb ist es abgeschmackt und töricht, die daraus entstandene Verderbnis bloß auf die sogenannten „sinnlichen Regungen“ (sensuales motus) zu beschränken oder sie bloß einen „Zunder“ zu nennen, der die von einigen so genannte „Sinnlichkeit“ (sensualitas) reizt, erregt und fortzieht. Petrus Lombardus hat seine grobe Unwissenheit dadurch erwiesen, daß er auf der Suche nach dem Sitz der Erbsünde zu der Ansicht kam, das sei nach Paulus das Fleisch, freilich nicht im eigentlichen Sinne, sondern weil die Erbsünde im Fleische am deutlichsten in Erscheinung trete. Als ob Paulus bloß einen Teil der Seele gemeint habe und nicht die ganze Natur, wenn er das „Fleisch“ und die über­natürliche Gnade einander gegenüberstellt! Paulus hebt auch allen Zweifel auf, in­dem er lehrt, daß die Verderbnis nicht etwa bloß in einen Teil ihren Sitz habe, sondern nichts von ihrer todbringenden Befleckung rein oder unberührt ist! Denn bei der Betrachtung der verderbten Natur (des Menschen) verdammt er nicht bloß die sichtbar werdenden ungeregelten Triebe, sondern er behauptet vor allem, daß die Seele der Blindheit und das Herz der Verdorbenheit verfallen sei, und das ganze dritte Kapitel des Römerbriefs ist ja nichts als eine Beschreibung der Erbsünde. Das wird wieder noch deutlicher, wenn wir (die Kehrseite) die Erneuerung ins Auge fassen. Denn der Geist, der ja dem alten Menschen, dem Fleische entgegenge­setzt wird, bezeichnet nicht etwa bloß die Gnade, die den „niedrigeren“ oder „sinnlichen“ Teil der Seele in Ordnung bringt, sondern er umfaßt doch eine völlige Erneuerung des gesamten Wesens. Und deshalb gebietet Paulus nicht nur die groben Triebe zunichte zu machen, sondern uns zu erneuern im Geist unseres Gemüts (Eph. 4,23), wie er uns ja auch an anderer Stelle auffordert, uns zu ändern in Erneuerung unseres Sinnes (Röm. 12,2). Daraus geht hervor: gerade jener Teil (der Seele), an dem ihre hohe Würde und ihr Adel am meisten erstrahlt, ist nicht nur verwundet, sondern gar der­art verderbt, daß es nicht bloß der Heilung, sondern geradezu der Annahme einer neuen Natur bedarf! Wie weit die Sünde Sinn und Herz in Besitz hat, das werden wir gleich sehen. Hier habe ich nur in Kürze andeuten wollen: der ganze Mensch ist von Kopf bis zu Fuß wie von einer Sintflut derart über und über (mit Sünde) bedeckt, daß kein Teil unberührt ist, und deshalb wird alles, was von ihm kommt, als Sünde gerechnet, wie denn auch Paulus sagt, alle Sinne des Fleisches und all sein Denken seien Feindschaft wider Gott (Röm. 8,7) und deshalb der Tod!


Kapitel 1 Sektion 10


So sollen nun die Leute weggehen, die da wagen, Gott ihre Laster zuzuschreiben, weil wir ja sagten, die Menschen seien von Natur verderbt. Sie suchen fälschlicher­weise Gottes Werk in seiner Befleckung — und dabei müßten sie es in der noch unberührten und unverdorbenen Natur Adams suchen! Unser Verderben stammt aus der Schuld unseres Fleisches, nicht aber von Gott! Denn wir verderben doch nur deshalb, weil wir aus unserer ursprünglichen Stellung uns entfremdet haben! Nun soll mir keiner einwenden, Gott hätte ja viel besser für unser Heil sorgen können, wenn er den Fall Adams verhindert hätte. Denn ein derartiger Einwurf ist frommen Sinnen verabscheuenswürdig, weil er von allzu vermessenem Vorwitz ist! Außerdem rührt er an das Geheimnis der Prädestination, das später an seinem Platze behandelt werden soll. Wir wollen also nur festhalten: unser Verderben ist der Zerrüttung der Natur zuzuschreiben. Das sollen wir bedenken, damit wir nicht etwa Gott, den Urheber der Natur, selber anklagen. Es ist zwar richtig, daß diese verderbliche Wunde nun der Natur anhaftet; aber es ist von großer Wichtigkeit, ob sie von außen hereingekommen oder ob sie vom Ursprung her bereits dagewesen ist. Es steht aber doch fest, daß sie durch die Sünde entstanden ist. Wir haben also keinen Grund, uns über etwas anderes zu beklagen als über uns selber, wie die Schrift häufig bemerkt. So spricht der Prediger: „Das weiß ich wohl, daß Gott den Menschen aufrichtig gemacht hat; aber sie suchen sich selbst viele Künste“ (Pred. 7,30). Da wird offenkundig: Allein dem Menschen selbst ist sein Verderben zuzu­schreiben; denn er hat aus Gottes Güte die Aufrichtigkeit empfangen und ist dann doch vermöge seiner eigenen Torheit in Eitelkeit verfallen.


Kapitel 1 Sektion 11


Wir sagen also, daß der Mensch von natürlicher Lasterhaftigkeit verdorben ist, die aber doch nicht aus der Natur herkommt! Wir leugnen ihre Herkunft aus der Natur, um damit anzuzeigen, daß sie eine (von außen) hinzukommende Eigenschaft darstellt, die dem Menschen zugestoßen ist, und nicht etwa eine ursprünglich (wesensmäßig) vorhandene Eigentümlichkeit, die ihm etwa von Anfang angeboren gewesen wäre. Dennoch bezeichnen wir sie als „na­türlich“, damit niemand meine, sie komme erst jetzt bei dem einzelnen aus böser Gewohnheit auf, wo sie uns doch allesamt aus ererbtem Anspruch (haereditario iure) in Beschlag hat! Das tun wir nicht ohne Gewährsmann. Denn aus dem gleichen Grunde lehrt auch Paulus, daß wir alle „von Natur“ Kinder des Zorns sind (Eph. 2,3). Wie sollte denn Gott der edelsten unter seinen Kreaturen zürnen, wo doch selbst seine geringsten Werke sein Wohlgefallen finden? Aber er ist ja über die Zerstörung seines Werks erzürnt, nicht über sein Werk selber! So kann also durchaus mit Grund gesagt werden, daß der Mensch wegen der Verderbnis der menschlichen Natur „von Natur“ Gott widerwärtig sei, und deshalb ist es auch nicht unrichtig, wenn man es so ausdrückt, der Mensch sei „von Natur“ böse und verderbt. So trägt auch Augustin kein Bedenken, wegen der Verderbung der Natur die Sünde, welche, wo Gottes Gnade nicht da ist, notwendig in unserem Fleische das Regiment führt, „natürlich“ zu nennen. Damit kommt auch die törichte Phantasterei der Manichäer zu Fall: die bildeten sich nämlich ein, im Menschen sei eine wesen­hafte Bosheit vorhanden, und wagten es dann, dem Menschen deshalb einen an­deren Schöpfer anzudichten, um nicht den Anschein zu erwecken, als schrieben sie Gott, dem Gerechten, den Ursprung und Anfang des Bösen zu.


Zweites Kapitel

Der Mensch ist jetzt des freien Willens beraubt und elender Knechtschaft unterworfen.

Kapitel 2 Sektion 1


Wir haben gesehen, wie die Herrschaft der Sünde, seitdem sie einmal den ersten Menschen in ihre Gewalt gebracht hat, nun nicht bloß in seiner ganzen Nachkommen­schaft regiert, sondern auch jede einzelne Seele fest in ihren Besitz genommen hat. Jetzt müssen wir nun genauer nachprüfen, ob wir denn, seitdem wir einmal dieser Knechtschaft unterworfen sind, allen freien Willen verloren haben, und wie weit, wenn noch ein weniges davon bestehen geblieben ist, dessen Kraft reicht. Aber damit uns die Wahrheit in dieser Frage um so leichter deutlich werde, will ich zuvor mit wenigen Worten den Grundgesichtspunkt feststellen, nach dem sich alles auszurichten hat. Denn wir können uns dann am besten vor jedem Irrtum hüten, wenn wir die von beiden Seiten drohenden Gefahren beachten. Denn (1) macht der Mensch aus der Einsicht, daß er keinerlei Rechtschaffenheit (rectitudo) mehr besitze, sofort eine gute Gelegenheit zur Bequemlichkeit; und weil man von ihm sagt, das Trachten nach der Gerechtigkeit hätte an sich gar keinen Wert, so läßt er es ganz und gar, als ob er ja nun nichts mehr damit zu tun hätte, auf sich beruhen! Und anderseits kann ihm (2) auch nicht das Geringste zugesprochen werden, ohne daß Gott die Ehre geraubt und der Mensch von vermessenem Selbstvertrauen zu Fall gebracht wird! Diese beiden Abgründe erwähnt auch Augustin (Brief 215 und Erkl. zu Joh. 12). Um diese Klippen zu vermeiden, ist folgender Weg einzuschlagen. Einerseits soll der Mensch wissen, daß bei ihm und in ihm nichts Gutes übriggeblieben ist; er ist von allen Seiten von kläglicher Not umgeben. Aber dann soll er trotzdem ge­lehrt werden, nach dem Guten, das ihm fehlt, und nach der Freiheit, deren er be­raubt ist, sich auszustrecken. So soll er aus aller Faulheit herausgerissen werden, und zwar kräftiger, als wenn man ihm einredete, er sei mit der höchsten Kraft zum Guten (virtus) ausgerüstet. Wie notwendig dies Zweite ist, wird jedermann ein­sehen. Indessen sehe ich, daß über das Erste mehr Zweifel herrscht, als gut wäre. Denn wenn es einerseits außer allem Streit steht, daß man dem Menschen nicht ab­streiten soll, was ihm gehört, so ist es doch andererseits sonnenklar, wie viel daran liegt, ihn allem falschen Selbstruhm zu entreißen. Denn es war ja dem Menschen selbst da nicht verstattet, sich in sich selber zu rühmen, als er durch Gottes Freund­lichkeit mit höchster Zier ausgezeichnet war. Wie muß er sich dann aber jetzt demüti­gen, wo er um seiner Undankbarkeit willen vom höchsten Ruhm zur äußersten Schande herabgestürzt ist! Für die Zeit, in der er zur höchsten Herrlichkeit erhoben war, schrieb ihm die Schrift nichts anderes zu, als daß er zu Gottes Bild geschaffen sei, und dadurch deutete sie an, daß er eben nicht durch eigene Güter, sondern durch Teilhaben an Gott selig war! Was bleibt da jetzt anders übrig, als daß er, alles Ruhms entblößt und beraubt, Gott erkenne, für dessen Güte er nicht dankbar sein konnte, als er ihn mit den Schätzen seiner Gnade überschüttete? Was soll er anders tun, als daß er ihn, den er (einst) nicht in Anerkennung seiner Güter und Gaben ge­rühmt hat, nun wenigstens durch das Bekenntnis der eigenen Armut erhebe?

Daß uns aller Ruhm eigener Weisheit und Tugend abgesprochen wird, das ge­schieht nicht minder uns zugut, als es zu Gottes Ehre gereicht; und wer über die Wahrheit hinaus uns etwas zugesteht, der lästert Gott und stürzt zugleich uns ins Verderben! Denn wenn man uns lehrt, aus eigener Kraft zu kämpfen, so ist das nichts anderes, als wenn wir auf einem Rohrstab in die Höhe gehoben würden, der doch bald zerbrechen muß, so daß wir hinabstürzen! Und dabei bedeutet es bereits ein zu hohes Lob für unsere eigene Kraft, wenn sie mit einem Rohrstab verglichen wird. Denn es ist eitel Schall und Rauch, was sich Menschen dieserhalb ersonnen und erschwatzt haben! Deshalb ist es wohlbegründet, wenn Augustin in jenem berühmt ge­wordenen Ausspruch immer wieder behauptet, der „freie Wille“ werde von seinen Verteidigern mehr zugrunde gerichtet als eigentlich behauptet. Diese Vorrede war erforderlich. Denn es gibt etliche Leute, die, wenn sie hören, die menschliche Kraft zum Guten (virtus) sei von Grund auf zerstört, damit Gottes Kraft im Menschen erbaut werde, diese ganze Erwägung gewaltig hassen, als sei sie gefährlich, ja gänz­lich überflüssig! Und dabei ist sie doch offenkundig in der Religion notwendig und zudem von größtem Nutzen für uns!


Kapitel 2 Sektion 2


Nun haben wir oben gesagt, die Kräfte der Seele bestünden in „Gemüt“ (Ver­stand, Erkenntnisvermögen) und Herz (Willen). Jetzt wollen wir überlegen, was nun diese beiden ausrichten können.

Die Philosophen sind sich nun völlig einig in der Meinung, im Gemüt habe die Vernunft ihren Sitz, und diese leuchte wie eine Fackel allen Entschlüssen voran und lenke den Willen wie eine Königin. Denn die Vernunft sei derart von göttlichem Lichte erfüllt, daß sie am besten zu raten, und von so hervorragender Kraft, daß sie am besten zu befehlen vermöge. Die Sinnlichkeit (sensus) sei dagegen mit Faulheit und Blindheit behaftet, daß sie allezeit am Boden krieche und sich mit groben Dingen abgebe, sich aber niemals zu wahrer Einsicht zu erheben vermöchte. Die Begehrkraft werde, wenn sie tatsächlich der Vernunft Gehorsam leiste und sich nicht etwa von der Sinnlichkeit unterjochen lasse, zum Trachten nach der Tugend geführt, sie gehe dann auf dem rechten Wege und werde in eigentlichen Willen umgebildet. Begebe sie sich indessen in die Knechtschaft der Sinnlichkeit, so werde sie von ihr verderbt und zerrüttet und entarte zur bloßen Lust. Nun haben nach ihrer Meinung jene Seelenkräfte, die ich oben genannt habe, nämlich Verstand, Sinnlich­keit und Begehrkraft oder Wille — ein Begriff, der schon durch häufigere Verwen­dung in Gebrauch gekommen ist —, im Menschen zusammen ihren Sitz. Und so be­haupten sie, das Erkenntnisvermögen sei eben (ohnehin) mit Vernunft begabt, und diese sei die beste Führerin zu gutem und glücklichem Leben; nur müsse das Erkennt­nisvermögen sich in dieser bevorzugten Stellung behaupten und die Kraft wirksam sein lassen, die ihm von Natur angeboren sei. Seine niedrigere Regung, nämlich die sogenannte Sinnlichkeit, die es zu Irrtum und Trugbildern verleite, sei immerhin fähig, durch den Stab der Vernunft gezähmt und allmählich gebändigt zu werden. Den Willen stellen sie nun in die Mitte zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, also so, daß er seines Eigenrechts und seiner Freiheit mächtig wäre, um entweder der Vernunft zu gehorchen oder sich der Sinnlichkeit preiszugeben, ganz nach seinem Gutdünken!


Kapitel 2 Sektion 3


Nun leugnen die Philosophen zwar nicht — die Erfahrung überführt sie ja all­zu kräftig! —, wieviel Schwierigkeiten es dem Menschen macht, in sich der Vernunft eine Herrschaft aufzurichten: bald lockt ihn die Versuchung zum Vergnügen, bald narrt ihn falscher Schein des Guten, bald wird er machtlos von ungezügelten Trie­ben überrannt und wie mit Stricken oder Fäden, wie Platon sagt, hin- und hergezerrt. (Gesetze, Buch I). Ebenso behauptet Cicero, jene von der Natur uns gegebenen Fünkchen würden durch böse Ansichten oder schlechte Sitten gar bald ausgelöscht. (Tusc. III). Haben aber einmal dergleichen Krankheiten im Menschengeiste Raum gewonnen, so breiten sie sich nach dem eigenen Zugeständnis der Philosophen zu kräftig aus, um etwa leicht gebändigt werden zu können. Ja, man vergleicht sie ohne Scheu mit wilden Pferden, die alle Vernunft fahren lassen, den Rosselenker abwer­fen und sich nun ungezügelt und ohne Maß ihrer Wildheit hingeben.

Aber das ist doch für die Philosophen ganz außer allem Streit, daß Tugend und Laster in unserer Gewalt stünden. Denn — so sagen sie — wenn es in unserer freien Wahl steht, dies oder jenes zu tun, dann muß es auch in unserer Wahl ste­hen, es nicht zu tun! Umgekehrt: Steht das Nichttun in unserer Hand, so auch

das Tun! Wir tun aber nach dem Augenschein das, was wir tun, aus freier Wahl, und ebenso unterlassen wir auch das, was wir unterlassen, aus freier Wahl. Wenn wir also, wo es uns gut dünkt, etwas Gutes tun, so können wir es auch lassen; stellen wir etwas Böses an, so können wir es auch meiden! (z.B. Aristoteles, Nik. Eth. III,7). Einige von den Philosophen sind in ihrer Verwegenheit soweit gegangen, zu behaupten, es sei zwar der Götter Geschenk, daß wir lebten, aber unsere Sache, daß wir gut und heilig lebten! (Seneca). Daher stammt auch das Wort, das Cicero den Cotta sprechen läßt: jeder erwürbe sich seine Tugend selber, und des­halb habe noch nie ein weiser Mann dafür Gott gedankt. „Um der Tugend willen“, sagt er, „werden wir gelobt, und um ihretwillen rühmen wir uns. Das würde aber gar nicht geschehen, wenn sie ein Geschenk Gottes wäre und nicht von uns käme!“ Und kurz darauf: „Es ist ein allgemein menschliches Urteil: Von den Göttern soll man Glück erbitten, aber die Weisheit muß man von sich selber nehmen!“ (Cicero, Von der Natur der Götter III). Der Hauptinhalt der Meinung aller Philosophen ist es: die Vernunft des menschlichen Verstandes reicht aus, um eine rechte Leitung zu gewährleisten; der Wille untersteht der Vernunft, er wird zwar von der Sinn­lichkeit zum Bösen gereizt, aber er hat ja die freie Wahl und kann deshalb nie verhindert werden, in allen Dingen der Vernunft als Führerin zu folgen.


Kapitel 2 Sektion 4


Unter den Kirchenlehrern war zwar keiner, der nicht darum gewußt hätte, daß die Gesundheit der menschlichen Vernunft durch die Sünde schwer verletzt und der Wille gar sehr an böse Begierden verknechtet ist. Aber trotzdem haben sich doch viele von ihnen den Philosophen weit mehr angenähert, als recht ist. Dabei scheinen mir die Alten bei ihrem Lobpreis der menschlichen Kräfte zum ersten die Ab­sicht gehabt zu haben, nur ja nicht etwa mit dem klaren Bekenntnis des gänzlichen menschlichen Unvermögens das Gelächter der Philosophen zu erregen, mit denen sie dazumal zu streiten hatten. Zum zweiten wollten sie auch dem Fleische, das ohnehin von sich aus zum Guten allzu träge ist, keinen neuen Grund zur Faulheit bieten. Aus diesen Gründen trachteten sie, um nicht etwas dem gemeinen Menschen­verstand widersinnig Erscheinendes vorzutragen, danach, die Lehre der Schrift und die Lehrsätze der Philosophen auf halbem Wege zueinanderzufügen; besonders geht dabei aus ihren Schriften jener zweite Grund deutlich hervor: nur ja der Faulheit keinen Raum zu schaffen! So sagt z.B. Chrysostomus an einer Stelle: „Gott hat ja Gutes und Böses in unsere Macht gegeben, und damit hat er uns auch den freien Willen in der Entscheidung (electionis liberum arbitrium) gegeben; wer da nicht will, den hält er nicht zurück, wer aber will, den nimmt er an.“ (Predigt über den Verrat des Judas, I). Oder auch: „Es wird doch oft ein Böser durch Umwandlung gut, wenn er nur will, und ein Guter fällt durch Faulheit dahin und wird böse; denn der Herr hat dafür gesorgt, daß unsere Natur den freien Willen (liberum arbitrium) hat; auch legt er gar keinen Zwang auf; im Gegenteil: er bereitet die passende Arz­nei und überläßt es dann ganz dem Ermessen des Kranken, sie zu benutzen.“ (Predigt über die Genesis, XIX). Oder: „Wie wir ohne Hilfe der Gnade Gottes nie etwas Rechtes tun können, so können wir auch nicht die Gunst von oben erlangen, wenn wir nicht das Unsere dazutun!“ Kurz davor aber: „Damit nicht alles auf die göttliche Hilfe ankommt, müssen auch wir etwas dazu beitragen.“ (Predigt 53). So braucht er oft und gern den Satz: „Lasset uns nur das Unsere beitragen, das übrige wird Gott dazutun!“ Und dem entspricht wieder, was Hieronymus sagt: „Der Anfang steht bei uns, bei Gott die Vollendung; wir müssen beitragen, was wir können, und er wird dazutun, was wir nicht vermögen“ (Gegen die Pelagianer, Buch III). Aus diesen Aussprüchen sieht man, daß die Kirchenväter dem Menschen mehr Trachten nach der Tugend zugestanden haben, als es der Wahrheit entspricht, und zwar weil sie meinten, die uns angeborene Trägheit nicht anders aufstören zu können, als wenn sie die Überzeugung befestigten, daß die Sünde einzig und allein das Werk dieser Trägheit sei. Ob und wieweit sie das mit Fug und Recht getan haben, werden wir später sehen. Auf jeden Fall wird dann gleich die völlige Verkehrtheit der angeführten Meinungen deutlich werden.

Nun haben zwar die griechischen Kirchenlehrer, und unter ihnen besonders Chrysostomus, in der Erhebung des menschlichen Willens ganz besonders jedes Maß überschritten. Indessen sind alle Alten, mit Ausnahme des Augustin, in der Behand­lung dieser Sache dermaßen verschieden, schwankend und verworren, daß man bei­nahe gar nichts Gewisses aus ihren Schriften wiedergeben kann. Deshalb will ich auch nicht weiter mit Genauigkeit versuchen, die Meinungen einzelner anzuführen; ich will vielmehr aus jedem nur soviel auswählen, wie zur Beweisführung erforder­lich ist. Die späteren Kirchenlehrer sind so, daß da jeder für sich das Lob großen Scharfsinns in der Verteidigung der menschlichen Natur in Anspruch nimmt; aber der eine sinkt dabei immer noch tiefer als der andere. So kam es schließlich dahin, daß man allgemein glaubte, der Mensch sei nur in seinem sinnlichen Teil verderbt, seine Vernunft sei dagegen noch ganz unversehrt und der Wille zum größten Teil. Unterdessen ging die Rede von Mund zu Mund, die natürlichen Gaben seien im Menschen verderbt, die übernatürlichen dagegen ihm entzogen. Aber was dieser Satz besagt, das verstand unter hundert nicht einer auch nur einigermaßen. Wollte ich meinerseits deutlicher darüber reden, wie die Verderbnis der Natur beschaffen sei, so könnte ich mit dieser Ausdrucksweise schon zufrieden sein. Aber es bedarf dann einer aufmerksamen Erwägung darüber, was denn eigentlich der Mensch noch ver­mag, nachdem er in allen Teilen seinem Natur verderbt und aller übernatürlichen Gaben verlustig gegangen ist! Denn darüber haben doch Leute, die sich Christi Schü­ler nannten, reichlich philosophisch geredet. So blieb bei den Lateinern der Aus­druck „freier Wille“ fortgesetzt im Gebrauch — als ob der Mensch noch unversehrt im Urstande lebte! Die Griechen gar scheuten sich nicht, einen noch viel anmaßen­deren Ausdruck zu brauchen: sie sagten, der Mensch sei „selbstmächtig“ (autexusios) — als ob er über sich selber Gewalt hätte! So hatten also alle, auch das Volk, die Auffassung, der Mensch sei mit dem „freien Willen“ begabt; aber selbst solche, die gern für besonders hervorragend gelten wollen, wissen nicht, wie weit dieser „freie Wille“ eigentlich geht. So will ich denn zunächst die Bedeutung dieses Aus­drucks („freier Wille“) untersuchen und dann aus dem schlichten Zeugnis der Schrift darlegen, was der Mensch aus seiner eigenen Natur heraus zum Guten oder Bösen vermag.

Nun kommt der Begriff „freier Wille“ in den Schriften aller Theologen gleicherweise vor — aber was es damit auf sich habe, das haben nur wenige be­schrieben. Origenes scheint die allgemeine Überzeugung seiner Zeit wiederzugeben, wenn er sagt, der „freie Wille“ sei die Fähigkeit der Vernunft, Gut und Böse zu unterscheiden, und die des Willens, sich für eins von beiden zu entscheiden. Auch Augustin urteilt nicht anders: er sagt, der freie Wille sei eine Fähigkeit der Vernunft und des Willens, demzufolge unter dem Beistand der Gnade das Gute er­wählt werde, bei ihrem Fehlen aber das Böse. Bernhard möchte gern scharfsinnig reden und drückt sich deshalb etwas dunkler aus: der freie Wille sei die Harmonie, die auf der unverlierbaren Freiheit des Willens und dem unverrückbaren Urteil der Vernunft beruhe. Die Beschreibung des Anselm ist nicht schlicht genug; er sagt, der freie Wille sei die Fähigkeit, die Rechtschaffenheit um ihrer selbst willen zu be­wahren. So haben denn Petrus Lombardus und die Scholastiker die Beschreibung des Augustin in stärkerem Maße angenommen, weil sie deutlicher war und weil sie auch die Gnade Gottes nicht ausschloß — sie sahen eben, daß der Wille ohne solche Gnade von sich aus nicht ausreicht. Dabei taten sie nun auch von ihrem Eigenen hinzu: vom einen meinten sie, es fei besser, vom anderen, es diene der größeren Ver­deutlichung. Im Grundgedanken herrscht jedenfalls Übereinstimmung: der Ausdruck Wille“ (Entscheid) ist auf die Vernunft zu beziehen, der es zusteht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; der Zusatz „frei“ bezieht sich dagegen eigentlich auf den Willen, der sich nach beiden Seiten wenden kann. (So bei Petrus Lombardus, Sentenzen, Buch II,24). Da die „Freiheit“ eigentlich dem Willen zukommt, so sagt Thomas, es sei am angemessensten, wenn man es so ausdrücke: der „freie Wille“ sei eine Entscheidungskraft (vis electiva), die aus verstand und Begehrkraft gemischt sei, aber mehr der Begehrkraft zugehöre. (Summa theologica I,63). Damit haben wir gezeigt, wo nach diesen Theologen die Kraft des freien Willens liegt, nämlich in Vernunft und Willen. Jetzt müssen wir noch zusehen, was sie diesen beiden je an Wirksamkeit zugestehen.


Kapitel 2 Sektion 5


Allgemein pflegt man unter den genannten Theologen die „Mitteldinge“ (res mediae), die also nichts mit dem Reiche Gottes zu tun haben, unter den „freien Wil­len“ des Menschen zu stellen, dagegen die wahre Gerechtigkeit auf Gottes besondere Gnade und die geistliche Wiedergeburt zu beziehen. In der Absicht, das klarzulegen, zählt der Verfasser des Werkes „von der Berufung der Heiden“ drei Arten von Willen auf: den sinnlichen, den seelischen und den geistlichen; er sagt nun, die beiden ersten Arten seien dem Menschen frei, die letzte dagegen sei das Werk des Heiligen Geistes im Menschen. (Pseudo-Ambrosius, Von der Berufung der Heiden I,2). Ob das so wahr ist, werden wir an der gegebenen Stelle noch sehen. Hier habe ich aber nur vor, die Meinung anderer kurz mitzuteilen, nicht aber sie zu widerlegen. Jedenfalls hatte jene Behauptung zur Folge, daß die Kirchenlehrer, wenn sie vom „freien Willen“ handeln, nicht zuerst fragen, was er denn für die bürgerlichen, äußerlichen Werke bedeute, sondern nur, was er für einen Wert für den Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz habe. Die letztere Frage ist nun auch nach meiner Überzeugung von höchster Wichtigkeit; ich glaube aber doch, daß deshalb die erstere nicht eben gänzlich beiseite zu lassen sei. Diesen Satz hoffe ich auch einwandfrei be­gründen zu können.

Unter den Scholastikern unterschied man jedoch vornehmlich so, daß dreierlei Freiheit aufgezählt wurde: erstens die Freiheit von der Notwendigkeit, zwei­tens die von der Sünde, drittens die vom Elend. Die erste sei, so meinte man, mit dem Wesen des Menschen so untrennbar verbunden, daß sie unter keinen Um­ständen herausgerissen werden könne, die beiden anderen seien dagegen durch die Sünde in Verlust geraten. Diese Unterscheidung will ich mir gern zu eigen machen; aber es wird dabei „Notwendigkeit“ verkehrterweise mit „Zwang“ ver­wechselt — und es wird an anderer Stelle deutlich werden, wie tief der Unterschied zwischen diesen beiden ist und wie notwendig es ist, ihn zu beachten.


Kapitel 2 Sektion 6


Wird das angenommen, so steht außer allem Streite, daß der Mensch keinen „freien Willen“ hat, der ihm zu guten Werken verhelfen könnte, wenn ihm nicht die Gnade beisteht, und zwar eben die „besondere“ Gnade (gratia specialis), die allein die Auserwählten durch die Wiedergeburt empfangen. Denn ich will mich nicht mit solchen Unsinnigen einlassen, die da schwätzen, die Gnade werde an alle in gleichem Maße und ohne Unterschied ausgeteilt. Aber das ist noch nicht geklärt, ob denn nun der Mensch voll und ganz jedweder Fähigkeit beraubt sei, gut zu handeln, oder ob er noch ein wenig davon hätte, wenn auch gering und schwach. Das wäre dann eine Fähigkeit, die zwar aus sich selber nichts vermöchte, aber mit Hilfe der Gnade doch das Ihrige täte. Diese Frage will der Sentenzenmeister (Petrus Lombardus) lösen; und deshalb lehrt er, wir hätten eine doppelte Gnade nötig, um zu gutem Werk geschickt zu werden. Die eine nennt er „wirkende Gnade“ — sie macht, daß wir das Gute wirksam wollen. Die andere heißt bei ihm „mitwirkende Gnade“, sie folgt mit ihrer Hilfeleistung solchem guten Wollen (Sentenzen II,26). An dieser Teilung mißfällt mir dies: sie schreibt zwar das wirksame Begehren der Gnade Gottes zu; aber dabei gibt sie zu verstehen, daß der Mensch doch selbst von Natur gewissermaßen das Gute begehre, wenn auch ohne Wirkung. So be­hauptet auch Bernhard zwar, der gute Wille sei Gottes Werk, aber dann gesteht er es doch dem Menschen zu, aus eigenem Trieb diesen guten Willen zu begehren! Das hat mit der Meinung Augustins nichts zu tun, und trotzdem möchte der Lombarde den Eindruck erwecken, von ihm diese Teilung entlehnt zu haben. Im zweiten Glied (der Teilung) ist mir die Zweideutigkeit widerwärtig, die dann auch eine völlig ver­kehrte Auslegung hervorgerufen hat. Man hat nämlich gemeint, wir wirkten mit der zweiten („mitwirkenden“) Gnade Gottes zusammen, nämlich dadurch, daß uns die Möglichkeit zustehe, jene erste Gnade (die „wirkende“) entweder zurückzuweisen und dadurch unwirksam zu machen, oder ihr gehorsam zu folgen und sie damit in Wirk­samkeit zu setzen. Das drückt der Verfasser des Werkes „Von der Berufung der Heiden“ so aus: Wer dem Urteil der Vernunft folge, dem stehe es frei, von der Gnade zu weichen; und deshalb sei es eine lohnwerte Tat, nicht von ihr zu wei­chen; auf diese Weise werde also das gute Werk, das zwar ohne Mitwirkung des Geistes nicht geschehen könne, den Verdiensten des Menschen zugerechnet, dessen Wille es ja auch verhindern könnte! (Buch II,4). Dieses beides mußte im Vorbeigehen be­rührt werden, damit der Leser einsehe, wie sehr ich selbst mit den vernünftigeren Scholastikern im Widerspruch stehe. Ein weit größerer Abstand trennt mich nämlich von den neueren Sophisten — und das je mehr, desto mehr sie ihrerseits von der älteren Art abweichen. Auf jeden Fall aber erfahren wir aus jener Teilung, aus was für einem Grunde sie dem Menschen den freien Willen zugestanden haben. Denn der Lombarde spricht es schließlich aus: wir hätten den freien Willen nicht etwa des­halb, weil wir zum Tun oder Denken des Guten und Bösen gleicherweise befähigt wären, sondern nur deshalb, weil wir vom Zwang frei sind. Diese Freiheit wird (nach dem Lombarden) nicht behindert, auch wenn wir böse, ja Knechte der Sünde sind und nichts können als sündigen (Sent. II,25).


Kapitel 2 Sektion 7


Auf diese Weise wird also dem Menschen der freie Wille zugeschrieben, und zwar nicht etwa in dem Sinne, als ob er die freie Wahl zum Guten genau wie zum Bö­sen hätte, sondern weil er mit Willen und nicht aus Zwang böse handelt. Das ist nun zwar ausgezeichnet — aber was für einen Zweck soll es eigentlich haben, eine so geringfügige Sache mit einem derartig prangenden Namen zu belegen? Das ist wahrhaftig eine treffliche Freiheit, wo der Mensch zwar nicht zur Sündenknecht­schaft gezwungen wird, aber doch ein solcher freiwilliger Knecht (ethelodulos) ist, daß sein Wille von der Sünde in Fesseln gehalten wird! Fürwahr, alles Wort­gezänk (logomachia) ist mir widerwärtig, denn damit wird die Kirche ohne Nutzen geplagt; aber ich meine, man solle sich recht vor solchen Ausdrücken hüten, die etwas Widersinniges zu enthalten scheinen, besonders wenn gefährlicher Irrtum im Verzuge ist. Wo in aller Welt ist denn ein Mensch, der, wenn er hört, daß dem Menschen der freie Wille zugeschrieben wird, nicht gleich meint, er sei nun seines Geistes und Willens Herr und könne sich von selbst nach jeder Richtung wenden? Aber es könnte jemand einwenden: jede Gefahr in dieser Richtung fei ja behoben, wenn man das Volk über die Bedeutung des Begriffs fleißig unterweise. Ja, aber der Menschengeist ist von Natur dermaßen zum Irrtum geneigt, daß er leichter aus einem einzigen Wörtchen den Irrtum als aus einer langen Rede die Wahrheit entnimmt. Dafür bedeutet gerade dieser Begriff einen besseren Beleg, als man wün­schen könnte. Denn jene Auslegung der Alten hat man ganz hintangestellt, und seit­her bleibt jedermann beim wörtlichen Verständnis des Ausdrucks „freier Wille“ stehen und läßt sich so zu verderbenbringendem Selbstvertrauen hinreißen.


Kapitel 2 Sektion 8


Hoch steht uns freilich die Autorität der Kirchenväter; diese nun führen zwar das Wort „freier Wille“ immerzu im Munde, aber sie zeigen zugleich auch deutlich, wie weit sie in dessen Anwendung gehen. Besonders Augustin: er trägt kein Bedenken, den Willen einen „geknechteten“, „unfreien“ zu nennen (Gegen Julian, Buch I).

An anderer Stelle fährt er gegen die Leute los, die den freien Willen leugnen; aber da­bei gibt er auch den ganz besonderen Grund an: „Nur soll mir keiner wagen, die Entscheidungsfähigkeit (arbitrium) des Willens in der weise zu bestreiten, daß er damit die Sünde entschuldigen will“ (Predigt über Johannes, 53). Und an wieder einer anderen Stelle gibt er ganz klar zu, ohne den Heiligen Geist sei der Wille des Menschen nicht frei, da er ja den Begierden unterworfen ist, die ihn binden und überwinden (Brief 145). Oder wir hören auch: nachdem der Wille von dem Laster, in das er gefallen sei, überwunden wäre, habe die Natur keine Freiheit mehr (Von der Vollendung der Gerechtigkeit des Menschen, 4,9). Oder: der Mensch habe von seinem freien Willen einen schlechten Gebrauch gemacht, und jetzt habe er seine Ent­scheidungsfähigkeit (arbitrium) eingebüßt (Handbüchlein, 30). Oder: der freie Wille sei in Gefangenschaft geraten, so daß er nun nichts mehr zur Gerechtigkeit ausrichten könne (Gegen zwei Briefe der Pelagianer an Bonifacius, III,8). Ferner: Was Got­tes Gnade nicht frei gemacht habe, das sei nicht frei (ebenda I,3). Und: Die Ge­rechtigkeit Gottes werde nicht erfüllt, wenn das Gesetz etwas gebietet und der Mensch es sozusagen mit seinen eigenen Kräften tut, sondern dann, wenn der Geist seinen Beistand leiht und nicht etwa der freie Wille des Menschen, sondern sein von Gott befreiter Wille Gehorsam leistet (III,7). Den Grund zu alledem faßt er an anderer Stelle kurz so zusammen: der Mensch habe in seiner Erschaffung große Kräfte des freien Willens empfangen, sie aber verloren, dadurch daß er sün­digte (Predigt 131). So zeigt er auch an anderer Stelle, der freie Wille komme durch die Gnade zustande, und fährt dann scharf gegen diejenigen los, die sich ihn anmaßen wollten ohne die Gnade. Er sagt da: „Wie wagen es doch jämmerliche Menschen, hochmütig vom freien Willen zu reden, ehe sie überhaupt frei gemacht sind, oder von ihren Kräften, ehe sie zur Freiheit gelangt sind? Sie beachten gar nicht, daß schon in dem Wort ‚freier Wille’ die ‚Freiheit’ besonders hervorklingt. Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit! (2. Kor. 3,17). Wenn sie also Knechte der Sünde sind, was rühmen sie sich des freien Willens? Denn man ist doch dem, der einen gefangenhält, als Knecht unterworfen! Sind sie aber befreit — was rühmen sie sich dann, als hätten sie selbst etwas dabei getan? Oder sind sie so frei, daß sie nicht auch Knechte dessen sein wollten, der da sagt: Ohne mich könnet ihr nichts tun (Joh. 15,5)?“ (Vom Geiste und Buchstaben, XXX). Ja, an anderer Stelle scheint er die (allgemein übliche) Anwendung jenes Ausdrucks geradezu zu verlachen, wenn er sagt: der Wille sei zwar frei, aber nicht frei gemacht, frei von der Gerechtigkeit nämlich und ein Knecht der Sünde! (Von Zucht und Gnade, 13). Diesen Satz wiederholt er auch anderswo und setzt ihn näher auseinander: der Mensch sei nur durch eigenen Willensentscheid frei von der Gerechtigkeit, von der Sünde aber werde er nur frei durch die Gnade des Erlösers (An Bonifacius, I,2). Wenn er auf diese Weise bezeugt, daß er unter der Freiheit des Menschen nur seine Losmachung und Freilassung von der — Gerechtigkeit versteht, dann scheint er doch den leeren Begriff der Freiheit recht zu verlachen! Will also jemand diesen Begriff ohne böses Verständnis anwenden, so will ich ihn deshalb nicht quälen. Ich bin aber der Meinung, daß man den Begriff nicht ohne unermeßliche Gefahr bei­behalten kann, und daß seine Abschaffung der Kirche großen Segen bringen würde; deshalb möchte ich ihn selbst nicht verwenden und auch anderen, wenn sie meinen Rat hören wollen, von seinem Gebrauch abraten.


Kapitel 2 Sektion 9


Vielleicht aber scheint es, als hätte ich dadurch ein Vorurteil gegen mich erregt, daß ich behaupte, alle Kirchenlehrer außer Augustin hätten hierüber derart zweideu­tig und vielartig geredet, daß man aus ihren Schriften nichts Gewisses erfahren kann. Das werden nämlich einige so auslegen, als wolle ich sie nur deshalb vom Stimmrecht ausschließen, weil sie mir eben alle entgegenstünden. Ich habe aber da­mit nichts anderes im Auge gehabt, als gottesfürchtigen Leuten schlicht und treulich das Beste zu raten, wollten sie nämlich in diesem Stück von der Meinung der Vä­ter etwas Rechtes erwarten, so müßten sie immer im Ungewissen bleiben. Denn bald lehren sie, der Mensch sei der Kräfte des freien Willens verlustig gegangen und müsse allein zur Gnade seine Zuflucht nehmen, bald dagegen rüsten sie ihn mit eige­nen Waffen, oder sie tun es wenigstens dem Anschein nach.

Dabei ist es aber nicht schwer zu erweisen, daß sie in dieser Zweideutigkeit ihres Lehrens doch auch die menschliche Kraft (virtus) für nichts halten oder doch sehr ge­ring schätzen und damit den Lobpreis für alles Gute dem Heiligen Geist zuteil wer­den lassen. Zu dem Zweck will ich einige von ihren Aussprüchen einfügen, die das klar zum Ausdruck bringen. So lobt Augustin sehr oft ein Wort des Cyprian: „Wir sollen uns keines Dings rühmen, denn nichts ist unser.“ Was will damit Cyprian anders sagen, als daß der Mensch, an und bei sich völlig zunichte geworden, ganz an Gott zu hangen lernen solle? Was bedeutet es, wenn Augustin und Eucherius unter dem Baum des Lebens Christum verstehen und erklären: wer zu ihm die Hände ausstrecke, der habe das Leben, oder wenn sie sagen, der Baum der Er­kenntnis des Guten und Bösen sei die Entscheidung des Willens (voluntatis arbitrium) — und der, welcher Gottes Gnade fahren lasse und davon esse, der müsse sterben? (Über die Genesis, Buch III). Oder was bedeutet das Wort des Chrysostomus: Jeder Mensch sei von Natur nicht nur ein Sünder, sondern ganz Sünde? Wenn uns nichts Gutes gehört, wenn der Mensch von der Fußsohle bis zum Schei­tel nichts ist als Sünde, wenn er nicht einmal versuchen kann, wie weit die Fähig­keit des freien Willens reicht — wie soll man dann das Lob für ein gutes Werk zwischen Gott und dem Menschen teilen? Ich könnte dergleichen Aussprüche noch aus anderen Schriftstellern in großer Zahl anführen; aber ich will davon Abstand nehmen, damit nicht einer schwatzt, ich brächte bloß die vor, die meiner Sache dienlich wären, die anderen aber, die dawider sprächen, ließe ich schlauerweise aus. Dies jedoch erkühne ich mich zu behaupten: Gewiß gehen die Kirchenlehrer zuweilen zu weit im Lobpreis des freien Willens; aber als Zielpunkt und Absicht schwebte ihnen doch vor, den Menschen ganz und gar vom Vertrauen auf seine eigene Kraft ab­zubringen und ihn zu lehren, daß alle seine Stärke in Gott allein liege. Jetzt will ich schlicht und wahrheitsgemäß zu zeigen versuchen, was die Natur des Menschen ist.


Kapitel 2 Sektion 10


Hier muß ich die Vorrede zu diesem Kapitel noch einmal anführen. Nämlich: ein Mensch ist nur dann zur rechten Selbsterkenntnis durchgedrungen, wenn er durch das Bewußtsein seiner Not, seines Mangels, seiner Blöße und Schande ganz und gar gedemütigt und zu Boden gedrückt ist. Denn es besteht keine Gefahr, daß sich der Mensch dabei zuviel abspreche. Nur muß er erkennen, daß in Gott wiederzuerlangen ist, was ihm fehlt. Aber er kann nicht einmal das geringste über sein Recht hinaus sich anmaßen, ohne sich in eitlem Selbstvertrauen zugrunde zu richten, Gott die Ehre zu rauben, sie sich selber anzueignen und dadurch des furchtbarsten Frevels sich schul­dig zu machen. Und wahrlich: kommt uns einmal diese Gier in den Sinn, etwas für uns selber haben zu wollen, das also in uns selber und nicht in Gott seine Stätte hätte, da sollen wir wissen, daß dieser Gedanke uns von dem gleichen Ratgeber ein­geflüstert ist, der einst unseren ersten Voreltern das Begehren eingab, Gott gleich zu sein und zu wissen, was Gut und Böse sei. Es ist ein Teufelswort, das den Men­schen in sich selber aufbläst — und deshalb sollen wir ihm nicht Raum geben, sofern wir nicht vom Feinde Rat annehmen wollen! Gewiß hören wir gerne, wir besäßen soviel eigene Kraft, daß wir uns auf uns selber verlassen könnten. Aber vor den Lockungen zu solch eitlem Selbstvertrauen schrecken uns viele ernste Schriftworte, die uns streng in unsere Grenzen weisen. So: „Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verläßt und hält Fleisch für seinen Arm ....“ (Jer. 17,5). Oder: „Gott hat nicht Lust an der Stärke des Rosses, noch Gefallen an des Mannes Schenkeln; er hat aber Wohlgefallen an denen, die ihn fürchten und die auf seine Güte hoffen“ (Ps. 147,10f.). Ferner: „Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug den Unvermögenden. Er läßt die Knaben müde und matt werden und die Jünglinge straucheln — die aber auf ihn allein hoffen, die kriegen neue Kraft ...“ (Jes. 40,29.31; nicht ganz Luthertext). Diese Stellen haben den Sinn: Wir sollen uns nicht im mindesten auf unseren Wahn von der eigenen Kraft verlassen, wenn wir einen gnädigen Gott haben wollen, denn, „er widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“ (Spr. 3,34. Jak. 4,6). Dann sollen uns aber anderseits auch solche Ver­heißungen ins Gedächtnis kommen, wie: „Ich werde Wasser ausgießen über das Dürstende und Ströme über das Dürre“ (Jes. 44,3), oder: „All ihr Durstigen, kommet her zum Wasser“, (Jes. 55,1). Da wird uns bezeugt, daß nur die dazu kommen, an Gottes Segnungen teilzuhaben, die im Bewußtsein ihrer Armut ver­schmachten. Auch dürfen wir nicht solche Stellen übergehen, wie die bei Jesaja: „Die Sonne soll dir des Tages nicht mehr scheinen und der Glanz des Mondes soll dir des Nachts nicht leuchten, sondern der Herr wird dein ewiges Licht sein“ (Jes. 60,19). Gewiß will der Herr seinen Knechten nicht etwa den Glanz der Sonne oder des Mondes nehmen; aber er will unter ihnen allein herrlich erscheinen, und deshalb zieht er ihr Vertrauen auch von dem weit weg, was nach ihrer Meinung das Herr­lichste ist.


Kapitel 2 Sektion 11


Allezeit hat mir ein Wort des Chrysostomus gewaltig gefallen: Das Fundament unserer Weisheit sei die Demut (Predigten vom Fortschritt des Evangeliums, III). Noch mehr indessen freute mich ein Ausspruch Augustins: „Da wurde einst ein Redner gefragt, welche Regel bei der Beredsamkeit in erster Linie zu beachten wäre. Er antwortete: ‚Der Vortrag’. Und an zweiter Stelle? Wieder: ‚Der Vortrag’! Und an dritter? Wieder: ‚Der Vortrag’! Ebenso müßte ich, wenn du mich fragtest, was denn bei den Regeln der christlichen Religion das Wichtigste sei, als Erstes und Zweites und Drittes und immerfort nur die Demut nennen!“ (Brief an Dioskur, 118). Dabei versteht er nun aber unter Demut nicht etwa dies, daß ein Mensch im Bewußtsein einiger Tugend sich von Hochmut und Aufgeblasenheit zurückhält, son­dern, wie er an anderer Stelle erklärt, vielmehr die Gewißheit des Menschen, so zu sein, daß er nur in der Demut eine Zuflucht finden kann. So sagt er: „Niemand soll sich schmeicheln; er ist von sich selber ein Satan, das, wodurch er selig wird, hat er allein von Gott. Was hast du nämlich von dir selber anders als Sünde? Nimm dir die Sünde, die dir gehört; denn die Gerechtigkeit ist Gottes Geschenk“ (Auslegung zu Johannes, 49). Oder auch: „Was trotzt man so hoch auf das vermögen der Natur? Sie ist verwundet, krank, zerschunden und verderbt! Es ist ein rechtes Bekenntnis, nicht aber verkehrte Verteidigung vonnöten“ (Natur und Gnade, 66). Ebenso: „Wenn einmal jeder erkennt, daß er in sich selber nichts ist und von sich selbst keine Hilfe empfängt, dann sind in ihm die Waffen zerbrochen, und der Krieg ist geschlichtet. Es ist aber auch wirklich nötig, daß alle Waffen der Gottlosigkeit zerschmettert, zerstoßen und verbrannt werden und du waffenlos übrigbleibst und keine Hilfe in dir selber hast. Je schwächer du in dir selber bist, desto eher nimmt dich der Herr an“ (Zu Psalm 45). So untersagt er uns auch in seiner Erklärung des siebenzigsten Psalms alles Denken an eigene Gerechtigkeit, damit wir Gottes Gerechtigkeit erkennten, und er zeigt, wie uns Gott seine Gnade so groß macht, daß wir wissen: wir sind nichts. Allein durch Gottes Barmherzigkeit gewinnen wir Bestand, während wir von uns selber aus nur böse sind (Zu Psalm 70, I,2). Darum sollen wir hier nicht mit Gott um unser Recht streiten, als ob unserem Heil abginge, was ihm zu­geschrieben wird. Denn wie unsere Niedrigkeit seine Hoheit ist, so findet auch das Bekenntnis unserer Niedrigkeit sein Erbarmen als Arznei bereit. Dabei verlange ich aber nicht, daß sich der Mensch ohne Überzeugung grundlos erniedrige, oder daß er sich von Kräften (facultates), die er besitzt, abwende, um sich so in wahrer Demut zu unterwerfen. Nein, er soll all die Krankheit der Selbstliebe und des Ehrgeizes fahren lassen — denn davon wird er verblendet und denkt so höher von sich, als recht ist — und sich statt dessen in dem truglosen Spiegel der Schrift recht erkennen.


Kapitel 2 Sektion 12


Die aus Augustin entlehnte allgemein angenommene Meinung, nach welcher im Menschen die natürlichen Gaben durch die Sünde verderbt, die übernatürlichen Ga­ben dagegen ganz und gar ausgetilgt sind, findet meine Zustimmung. Unter den „übernatürlichen Gaben“ im zweiten Glied des Satzes versteht man dabei das Licht des Glaubens und die Gerechtigkeit, die genügt hätten, um das himmlische Leben und die ewige Seligkeit zu erlangen. Demnach ist also der Mensch zugleich mit der Ent­fernung aus Gottes Reich auch der geistlichen Gaben verlustig gegangen, mit denen er zur Hoffnung auf das ewige Heil ausgerüstet war. Daraus folgt, daß er derart aus dem Reiche Gottes verbannt lebt, daß in ihm alles ausgelöscht ist, was zum seli­gen Leben der Seele gehört — bis er durch die Gnade des Heiligen Geistes wieder­geboren ist und diese Gaben wiedererlangt. Dazu gehören der Glaube, die Liebe zu Gott, die Nächstenliebe und das Trachten nach Heiligkeit und Gerechtigkeit. Das alles verschafft uns Christus wieder; aber es wird eben dadurch als etwas (von außen) Hinzukommendes und nicht zur Natur Gehöriges bezeichnet; und daraus fol­gern wir, daß es (durch den Fall) abgetan ist. Auf der anderen Seite ist zugleich die Gesundheit des „Gemüts“ (Verstandes) und die Aufrichtigkeit des Her­zens (Willens) in Verlust geraten, und das ist die „Verderbnis“ der natürlichen Ga­ben. Denn es bleibt zwar ein Rest (residuum) Verstand und Urteilskraft (iudicium) samt dem Willen bestehen; aber wir können doch nicht sagen, das Gemüt (der Ver­stand) sei unversehrt und gesund, denn es ist schwächlich und mit viel Finsternis um­hüllt; außerdem ist die Verkehrtheit des Willens mehr als genugsam bekannt.

Da also die Vernunft, mit der der Mensch zwischen Gut und Böse unterschei­det, versteht und urteilt, eine natürliche Gabe ist, so konnte sie nicht ganz und gar zerstört werden, sondern sie ist teils geschwächt, teils verderbt, so daß also (nur) noch ungestaltige Bruchstücke (deformes ruinae) sichtbar sind. In diesem Sinne sagt Johannes: „Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht be­griffen“ (Joh. 1,5). In diesem Spruch wird beides klar zum Ausdruck gebracht: Einerseits wird gezeigt, daß in der verkehrten und entarteten Natur des Menschen immer noch Fünklein glimmen, die zeigen, daß er ein vernünftiges Wesen (rationale animal) ist und sich von den Tieren unterscheidet, weil er ja mit Verstand begabt ist. Aber anderseits wird doch gesagt: dieses Licht wird von der furchtbar dichten Fin­sternis der Unwissenheit derart erstickt, daß es nicht wirksam erstrahlen kann.

So ist auch der Wille nicht verlorengegangen, weil er von der Natur des Menschen nicht zu trennen ist; aber er ist in die Gefangenschaft böser Begierden ge­raten, so daß er nichts Rechtes mehr begehren kann. Damit ist nun zwar eine voll­ständige Beschreibung gegeben; aber es bedarf einer ausführlicheren Entfaltung.

Dabei soll nun der Ordnung nach vorgegangen werden, und zwar entsprechend jener oben gegebenen Einteilung, nach der wir in der Seele des Menschen Verstand und Willen unterschieden haben. Wir müssen demnach also zuerst die Kraft des Verstandes untersuchen.

Es würde nun nicht nur dem Worte Gottes, sondern auch der allgemeinen Er­fahrung (sensus communis experientia) zuwiderlaufen, wenn man den Verstand in der Weise zu dauernder Blindheit verdammt sähe, daß ihm keinerlei Erkenntnis irgendwelcher Dinge verbliebe. Denn wir sehen, daß dem Menschengeist irgendein Verlangen eingepflanzt ist, nach der Wahrheit zu forschen, und solches Trachten nach der Wahrheit wäre unmöglich, wenn er nicht schon zuvor eine Ahnung von ihr hätte. Eine gewisse Erkenntnisfähigkeit des Verstandes liegt also schon darin, daß er von Natur dazu angereizt wird, die Wahrheit zu lieben; daß die Tiere sie nicht kennen, ist ja gerade ein Beweis für ihre rohen und vernunftlosen Sinne. Frei­lich: wie dieses Begehren nach der Wahrheit auch beschaffen sein mag, es versagt doch schon, bevor es eigentlich zur Wirkung kommt; denn es verfällt alsbald in Ei­telkeit. Der Menschengeist kann in seiner Schwachsichtigkeit den rechten Weg zum Suchen nach der Wahrheit nicht innehalten, sondern verliert sich in mancherlei Irrtümer, strauchelt oft, da er wie im Finstern umhertappt, bis er schließlich, müde vom Umherstreifen, zerflattert. So zeigt er gerade über dem Suchen nach der Wahrheit, wie unfähig er ist, sie zu suchen und zu finden.

Auch mit einem zweiten Wahn hat unser Verstand schwer zu kämpfen: er kann oft nicht klar erkennen, welche Gegenstände eigentlich unsere gründliche Erforschung am meisten verdienen. Deshalb quält er sich in lächerlicher Neugierde mit der Durchforschung überflüssiger und nichtiger Dinge und wendet sich anderseits solchen Dingen, die höchst notwendig zu erkennen sind, gar nicht zu oder behandelt sie jeden­falls mit mangelnder Achtung, befaßt sich nur selten mit ihnen, verwendet aber tat­sächlich kaum je wirklichen Eifer darauf. Über diesen Fehler klagen weltliche Schrift­steller sehr oft, und dadurch geben sie zu, daß fast alle Menschen damit behaftet sind. So geht denn auch Salomo in seinem ganzen „Prediger“ dem Sinnen und Trachten nach, in dem sich die Menschen besonders weise vorkommen, und erklärt dann doch, das sei alles „eitel“ und unnütz!


Kapitel 2 Sektion 13


Jedoch sind die Mühen des Menschengeistes nicht immer so fruchtlos, daß gar nichts dabei herauskommt; besonders wenn er es mehr auf das Niedere absieht. Ja, er ist auch nicht so starr, daß er nicht auch ein weniges von den höheren Dingen begriffe, wenn auch die Beschäftigung damit weniger gründlich geschieht; freilich ist unsere Fälligkeit, die höheren Dinge zu erkennen, doch ungleich geringer. Denn sobald der Mensch einmal über den Bereich dieses irdischen Lebens hinausgeht, wird ihm erst seine Unzulänglichkeit recht bewußt. Um besser erkennen zu können, wie weit der Verstand bei den einzelnen Dingen entsprechend der Kraft seines Erkenntnisver­mögens kommt, müssen wir also zweckmäßig einen Unterschied machen. Und dieser soll darin bestehen, daß wir uns klarmachen: die Erkenntnis der irdischen Dinge ist etwas anderes als die der himmlischen. Unter „irdischen“ Dingen verstehe ich dabei das, was mit Gott, seinem Reiche, der wahren Gerechtigkeit und der Seligkeit des kommenden Lebens nichts zu tun hat, sondern nach seinem Sinn und seinen Beziehungen zum gegenwärtigen Leben gehört und sozusagen innerhalb seiner Gren­zen bleibt. Unter „himmlischen“ Dingen verstehe ich die reine Erkenntnis Gottes, den Weg zu der wahren Gerechtigkeit und die Geheimnisse des Himmelreichs. Zur ersten Gruppe gehören das weltliche Regiment, die Haushaltskunst, alles Handwerk und die freien Künste. Zur zweiten Gruppe rechne ich die Erkenntnis Gottes und sei­nes Willens und die Richtschnur, nach der man das Leben gemäß dieser Erkenntnis gestalten kann.

Von der ersten Gruppe ist folgendes zu sagen: Der Mensch ist ein von Natur auf Gemeinschaft angelegtes Wesen (animal natura sociale) und neigt daher durch natürlichen Trieb dazu, diese Gemeinschaft zu erhalten und zu fördern. Deshalb be­merken wir, daß allgemeine Empfindungen für eine gewisse bürgerliche Ehrbarkeit und Ordnung allen Menschen innewohnen. Daher ist auch kein Mensch zu finden, der nicht verstünde, daß jede menschliche Gemeinschaft durch Gesetze zusammengehalten werden muß, und der nicht die Grundsätze derartiger Gesetzgebung in seinem Ver­stande trüge. Daher kommt auch jene immerwährende Übereinstimmung aller Völker und auch der einzelnen Sterblichen hinsichtlich der Gesetze; denn die Samenkörner dazu sind in alle Menschen ohne Lehrmeister und Gesetzgeber hineingesät. Ich will mich nicht damit aufhalten, auf den Zwiespalt und Streit einzugehen, der sich bald erhebt, wenn die einen alles menschliche und göttliche Recht umzustürzen, alle Schran­ken des Gesetzes zu zerbrechen und der Begierde allein nach ihrem eigenen Recht freien Lauf zu lassen begehren wie Diebe und Räuber, oder wenn andere, was ein allzu verbreitetes Übel ist, für Unrecht erklären, was andere Leute als Recht festgestellt haben, oder für löblich, was jene verbieten! Denn der Haß solcher Leute gegen die Gesetze hat nicht darin seinen Grund, daß sie etwa nicht wüßten, daß sie gut und heilig sind; sondern sie wüten in wilder Gier, kämpfen gegen die klar erkannte Ver­nunft und verabscheuen in ihrer Lust, was sie mit der Kraft ihres eigenen Ver­standes billigen! Dieser letztgeschilderte Streit ist so geartet, daß er jenes ursprüng­liche Bewußtsein um das Recht nicht auflöst. Im Gegenteil: Wenn die Menschen über einige Stücke der Gesetze im Streit liegen, so besteht doch hinsichtlich des we­sentlichen Bestandes des Rechts Übereinstimmung. Freilich erweist sich dabei die Un­zulänglichkeit des Menschengeistes: auch wo er dem rechten Wege zu folgen scheint, gerät er ins Stolpern und Schwanken! Trotzdem bleibt es bei der Feststellung: allen Menschen ist gewissermaßen ein Same der Ordnung des weltlichen Regiments ins Herz gelegt. Und das ist ein starker Beweis dafür, daß in der Führung dieses (irdischen) Lebens kein Mensch ohne das Licht der Vernunft ist.


Kapitel 2 Sektion 14


Nun folgen die freien Künste und das Handwerk. Wir tragen alle eine gewisse Geschicklichkeit dazu in uns, und die Tatsache, daß wir sie zu erlernen vermögen, läßt ebenfalls die Kraft des menschlichen Verstandes ins Licht treten. Gewiß sind nicht alle in der Lage, alles zu lernen; aber es ist doch ein recht deutliches Zeichen der allgemein vorhandenen Kraft, daß fast niemand zu finden ist, dessen Einsicht nicht (wenigstens) in irgendeiner Kunstfertigkeit zu merken wäre! Aber Kraft und Behendigkeit bewähren sich nicht bloß im Lernen, sondern auch im Ausdenken von et­was Neuem in einer Kunst und auch in der Vervollkommnung und Ausbildung dessen, was man von jemand anderem erlernt hat. Diese Beobachtung hat einst den Platon auf den verkehrten Gedanken gebracht, solches Begreifen sei nichts anderes als Erinnerung. Uns zwingt sie aber doch mit gutem Grunde zu dem Geständnis, daß die Anfangsgründe dazu dem Menschengeiste angeboren sind. Diese Erweise be­zeugen klar, daß dem Menschen ein allgemeiner Begriff von Vernunft und Verstand von Natur aus innewohnt. Und dieses Gut ist doch so allgemein vorhanden, daß je­der einzelne darin für sich persönlich eine besondere Gnadengabe Gottes anerkennen muß. Zu dieser Dankbarkeit ermuntert uns der Schöpfer der Natur selbst auf das kräftigste; er schafft nämlich auch Narren, um an ihnen zu zeigen, was für Fähig­keiten eigentlich die Menschenseele auszeichnen, wenn sie nicht von seinem Lichte durchflutet (perfusa) ist — und dies letztere findet von Natur fast in allen Menschen statt, so daß es geradezu für jeden einzelnen ein freies Geschenk seiner Gnade dar­stellt! Nun ist zwar die Erfindung der Künste und die geordnete Unterweisung in ihnen oder auch die ins Innere dringende und weitergreifende Erkenntnis — die nur wenigen eigen ist — nicht etwa ein ausreichender Beweis für allgemeine Erkenntnisfähigkeit. Aber sie kommt doch Frommen und Unfrommen gemeinsam zu und zählt deshalb mit Recht zu den natürlichen Gaben.


Kapitel 2 Sektion 15


Sooft wir heidnische Schriftsteller lesen, leuchtet uns aus ihnen wunderbar das Licht der Wahrheit entgegen. Daran erkennen wir, daß der Menschengeist zwar aus seiner ursprünglichen Reinheit herausgefallen und verdorben, daß er aber doch auch jetzt noch mit hervorragenden Gottesgaben ausgerüstet und geschmückt ist. Bedenken wir nun, daß der Geist Gottes die einzige Quelle der Wahrheit ist, so werden wir die Wahrheit, wo sie uns auch entgegentritt, weder verwerfen noch verachten — sonst wären wir Verächter des Geistes Gottes! Denn man kann die Gaben des Geistes nicht geringschätzen, ohne den Geist selber zu verachten und zu schmähen! Wieso auch? Wollen wir etwa leugnen, daß den alten Rechtsgelehrten die Wahrheit ge­leuchtet habe, wo sie doch mit solcher Gerechtigkeit die bürgerliche Ordnung und Zucht (civilem ordinem et disciplinam) beschrieben haben? Wollen wir sagen, die Philosophen seien in ihrer feinen Beobachtung und kunstvollen Beschreibung der Natur blind gewesen? Wollen wir behaupten, es hätte denen an Vernunft gefehlt, die die Kunst der Beweisführung dargestellt und uns vernünftig zu reden gelehrt haben? Wollen wir die für unsinnig erklären, die uns durch Ausbildung der Heil­kunde mit solchem Fleiß gedient haben? Was sollen wir zu den mathematischen Wissenschaften sagen? Sollen wir sie für Raserei von Irrsinnigen halten? Nein, wir können die Schriften der Alten hierüber nicht ohne große Bewunderung lesen, und dazu kommen wir, weil wir sie den Tatsachen entsprechend notwendig für hervor­ragend erklären müssen. Aber können wir überhaupt etwas für lobenswert oder her­vorragend erklären, ohne zugleich zu erkennen, daß es von Gott herkommt? Eines solchen Undanks sollten wir uns schämen; sind doch selbst die heidnischen Dichter nicht darein verfallen: sie haben erklärt, Philosophie und Gesetzgebung und alle schönen Künste seien Lehren der Götter! Es sind also selbst diese Menschen, die doch die Schrift „natürliche Menschen“ nennt, offensichtlich in der Erforschung der niedrigeren Dinge bis zu diesem Grade scharfsichtig und erkenntnisfähig. An solchen Beispielen sollen wir lernen, wieviel Gutes der Herr uns Menschen übriggelassen hat, nachdem wir freilich des wahren Guten verlustig gegangen sind!


Kapitel 2 Sektion 16


Aber wir wollen unterdessen nicht übersehen, daß diese Fähigkeiten herrlichste Gaben des Geistes Gottes sind, die er zum gemeinen Besten des Menschengeschlechts nach seinem Willen austeilt, an wen er will. Sollten Bezaleel und Oholiab den Verstand und die Kundigkeit haben die zur Herstellung der Hütte erforderlich wa­ren, so mußten sie vom Geiste Gottes damit erfüllt werden (Ex. 31,2ff.; 35,30ff.). Und so ist es nicht verwunderlich, daß es heißt, die Kenntnis der Dinge, die im menschlichen Leben von der größten Bedeutung sind, werde uns durch den Geist Gottes zuteil. Da hat nun aber keiner Anlaß zu fragen: Was haben denn die Gott­losen mit dem Heiligen Geiste zu schaffen, sie sind doch ganz und gar von Gott ge­trennt? Denn es heißt zwar, der Geist Gottes wohne nur in den Gläubigen (vgl. Röm. 8,9), aber das muß auf den Geist der Heiligung bezogen werden, durch den wir Gott selber zum Tempel geweiht werden. Aber darum erfüllt, bewegt und kräf­tigt Gott durch die Kraft desselben Geistes nicht weniger alle Dinge, und zwar ent­sprechend der Eigenart jedes einzelnen Wesens, wie er sie ihm durch das Gesetz der Schöpfung (creationis lege) zugewiesen hat. Will uns also der Herr durch Hilfe und Dienst von Unfrommen in der Naturwissenschaft, in der Wissenschaft vom Den­ken oder der Mathematik oder sonstigen Wissenschaften Beistand schaffen, so sollen wir davon Gebrauch machen. Im anderen Fall würden wir Gottes Gaben, die uns in ihnen von selbst dargeboten werden, verachten und mit Recht für unsere Träg­heit gestraft werden! Aber es soll doch keiner den Menschen schon deshalb für glück­selig halten, weil ihm unter den vergänglichen Dingen dieser Welt eine solche Kraft zum Begreifen der Wahrheit zugestanden wird. Deshalb muß gleich hinzugefügt werden: diese ganze Kraft des Begreifens, dieses Verstehen, wie es sich daraus er­gibt — es ist doch vor Gott ein wandelbares und nichtiges Ding, wenn es nicht auf dem festen Grunde der Wahrheit (selber) ruht! Denn Augustin, dem, wie gesagt, der Sentenzenmeister (II,25) und die Scholastiker sich anschließen mußten, hat doch recht, wenn er sagt, die Gnadengaben seien dem Menschen nach dem Fall entzogen worden und ebenso seien die übriggebliebenen natürlichen Gaben verderbt. Das be­deutet nun nicht, daß sie von sich aus befleckt wären; denn sie kommen ja von Gott. Aber dem befleckten Menschen sind sie nicht mehr rein, so daß er nicht etwa in ihnen seinen Ruhm suchen kann!


Kapitel 2 Sektion 17


Als Hauptinhalt des eben Ausgeführten wollen wir festhalten: Am ganzen Menschengeschlecht läßt sich erkennen, daß unserer Natur die Vernunft eigen ist; sie un­terscheidet uns von den Tieren, wie diese sich wieder durch den Besitz des Empfindens von den unbelebten Wesen abheben. Es kommen nun zwar auch Narren und schwachsinnige Menschen zur Welt; aber dieser Mangel verfinstert Gottes allge­meine Gnade (generalem Dei gratiam) nicht. Vielmehr erinnert uns gerade ein solches Jammerbild daran, daß alles, was wir übrigbehalten haben, mit gutem Grunde Gottes Huld zuzuschreiben ist: hätte er uns nicht verschont, so hätte der Fall den Untergang der gesamten Natur mit sich gebracht. Darin aber, daß der eine an Scharfsinn hervorragt, der andere sich durch Urteilskraft auszeichnet, ein anderer wieder besonders begabt ist zur Erlernung dieser oder jener Kunstfertigkeit, also in dieser Verschiedenartigkeit stellt uns Gott seine Gnade vor die Augen — damit sich nicht jeder selbst anmaßt, was doch aus seiner bloßen Freigebigkeit ihm zufloß. Denn woher soll es anders kommen, daß der eine über den anderen hervorragt, als dar­aus, daß innerhalb der gemeinsamen Natur die besondere Gnade Gottes (specialis Dei gratia) sichtbar werden soll, die an vielen vorübergeht und dadurch deutlichst bezeugt, daß sie niemandem gegenüber Verpflichtung hat? Man muß noch obendrein beachten, daß Gott entsprechend dem besonderen Beruf (vocatio) des einzelnen auch besondere Triebkräfte in ihm erregt; dafür begegnen uns im Richterbuche viele Be­lege, wo es heißt, der Geist des Herrn habe die ergriffen, die er zur Regierung des Volkes berufen hatte (Richter 6,34). Schließlich kommt auch bei besonderen Ereig­nissen ein besonderer Antrieb zum Vorschein; so gingen die mit Saul, „denen Gott das Herz berührt hatte“ (1. Sam. 10,26). Und bei der Einsetzung des Saul in die Königswürde spricht Samuel: „Der Geist des Herrn wird über dich kommen, und du wirst ein anderer Mann werden“ (1. Sam. 10,6). Das bezieht sich auf den ganzen Lauf der Regierung, wie nachher von David berichtet wird, der Geist des Herrn sei über ihn gekommen an jenem Tage und hinfort (1. Sam. 16,13). Eben das aber wird an anderen Stellen von den besonderen Antrieben des Geistes gesagt. Ja, bei Homer heißt es, die Menschen hätten ihren Verstand nicht allein nach dem Maße der (ein­maligen) Zuteilung durch Jupiter, sondern sie besäßen ihn, „je nachdem, wie er sie täglich regiere“ (Odyssee). Und die Erfahrung zeigt ja auch tatsächlich — zum Beispiel, wenn sonst sehr begabte und kundige Leute öfters plötzlich wie angedonnert dastehen —, wie der Menschengeist derart in der Hand und im Willen Gottes steht, daß er ihn in den einzelnen Augenblicken regiert! So heißt es auch: „Er nimmt den Klugen ihren Verstand, daß sie in der Irre umherlaufen“ (Psalm 107,40; nicht Luthertext). Doch sehen wir auch inmitten solcher großen Unterschiedenheit gewisse übriggebliebene Kennzeichen des Ebenbildes Gottes, die das ganze Menschenge­schlecht von den anderen Kreaturen abheben.


Kapitel 2 Sektion 18


Jetzt wollen wir auseinandersetzen, was die menschliche Vernunft vermag, wenn es sich um das Reich Gottes und die geistliche Einsicht handelt. Diese geistliche Ein­sicht besteht vor allem in drei Stücken: (1) Gott zu erkennen, (2) seine väterliche Huld gegen uns, auf der unser Heil ruht, und (3) die rechte Weise, unser Leben gemäß der Richtschnur des Gesetzes zu gestalten. In den beiden ersten Stücken, besonders im zweiten, sind selbst die sonst gescheitesten Menschen blinder als die Maulwürfe. Ich leugne freilich nicht, daß man hie und da bei den Philosophen verständige und gescheite Aussagen über Gott zu lesen bekommt; aber sie schmecken doch immer gewissermaßen nach schwindelsüchtiger Phantasie. Zwar hat ihnen der Herr, wie gesagt, eine geringe Ahnung von seiner Gottheit zuteil werden lassen, damit sie sich in ihrer Unfrömmigkeit nicht mit Unkenntnis entschuldigen können. Auch hat er sie zuweilen getrieben, Dinge auszusprechen, deren Zugestehen sie selber überwindet. Aber wo sie etwas gesehen haben, da geschah das doch so, daß sie von dieser Schau nicht im mindesten zur Wahrheit geleitet wurden, geschweige denn sie erreichten. Es ist, wie wenn ein Wandersmann, der auf dem Felde ist, den Schein eines nächtlichen Blitzes einen Augenblick lang nach allen Seiten wahrnimmt: er sieht ihn, aber es geschieht doch mit schnellvergehender Schau, die, ehe er einen Fuß rühren kann, von der nächtlichen Finsternis wieder verschlungen ist; so wird er mit Hilfe dieses Lichtes doch kaum wieder auf den rechten Weg gebracht! Und außerdem: Mit wie vielen und wie furchtbaren Lügen sind doch jene Tröpfchen Wahrheit, die sie von ungefähr über ihre Bücher sprengen, besudelt! Und schließlich haben sie von jener Gewißheit um Gottes Wohlgefallen gegen uns, ohne die der Menschengeist notwendig voll unermeßlicher Verwirrung ist, nie auch nur etwas geahnt. Die eigentliche Wahrheit wäre es doch, daß wir begriffen, wer der wahre Gott ist und wie er sich zu uns verhalten will — aber dahin kann unsere Vernunft eben nicht ge­langen, dahin kann sie nicht dringen, ja nicht einmal sich ausrichten!


Kapitel 2 Sektion 19


Aber wir sind ja berauscht von der törichten Hochschätzung unserer Erkenntniskraft und lassen uns deshalb sehr ungern überzeugen, daß sie in göttlichen Dingen völlig blind und stumpf ist. Deshalb bin ich der Meinung, das sei besser mit Schrift­zeugnissen als mit Vernunftgründen zu beweisen. Sehr fein lehrt es Johannes an der oben bereits angeführten Stelle: „In ihm (Calvin: in Gott) war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen“ (Joh. 1,4.5). Da zeigt er: gewiß wird des Menschen Seele vom Glanz göttlichen Lichtes angestrahlt, so daß es ihr — mag es auch eine kleine Flamme oder gar nur ein Fünklein sein — nie gänzlich fehlt; aber trotzdem begreift sie Gott auch in solcher Erleuchtung nicht. Warum? Weil ihr ver­stehen, wenn es auf Gottes Erkenntnis ankommt, eitel Finsternis ist! Wenn nämlich der Heilige Geist die Menschen als „Finsternis“ bezeichnet, so spricht er ihnen damit jede Fähigkeit zu geistlicher Erkenntnis ab. Deshalb zeigt er auch, daß die Gläubigen, die Christum im Glauben annehmen, nicht von dem Geblüt noch von dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind (Joh. 1,13). Und das heißt: Das Fleisch trägt solche hohe Weisheit nicht in sich, daß es Gott und das Seine erkenne, wenn es nicht von Gottes Geist erleuchtet wird. So bezeugt ja auch Christus, das Bekenntnis des Petrus sei eine besondere Offenbarung des Vaters! (Matth. 16,17).


Kapitel 2 Sektion 20


Wären wir wirklich überzeugt, daß unserer Natur das abgeht, was der himm­lische Vater seinen Auserwählten durch den Geist der Wiedergeburt zuteil werden läßt, — und das steht doch außer Zweifel! — so wäre hier gar kein Anlaß zu irgend­welchen Bedenken. Denn das gläubige Volk spricht bei dem Propheten: „Du bist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht!“ (Ps. 36,10). Dasselbe bezeugt der Apostel mit den Worten: „Niemand kann Christum einen Herrn heißen ohne im Heiligen Geist“ (1. Kor. 12,3). Und als Johannes der Täufer die Stumpf­heit seiner Jünger sieht, da ruft er aus: „Niemand kann etwas nehmen, es werde ihm denn von oben herab gegeben“ (Joh. 3,27). Dabei versteht er unter der „Gabe“ die besondere Erleuchtung und nicht etwa die allgemeine Begabung; denn er klagt ja, daß er mit all seinen Worten, in denen er seinen Jüngern Christus gerühmt, nichts erreicht habe. „Ich sehe“, so will er sagen, „daß Worte nicht ausreichen, um Menschenherzen über göttliche Dinge zu belehren, wenn nicht zuvor der Herr durch seinen Geist Verstand gegeben hat.“ Sogar Mose, der dem Volk seine Gleichgültig­keit zum Vorwurf macht, bemerkt doch zugleich, es könne in den Geheimnissen Gottes zu keinerlei Weisheit gelangen ohne sein besonderes Geschenk. „Deine Augen haben die großen Zeichen und Wunder gesehen, aber der Herr hat euch bis auf diesen heu­tigen Tag noch nicht gegeben ein Herz, das verständig sei, Ohren, die da hören, und Augen, die da sehen“ (Deut. 29,2f.). Wäre es noch ein schärferer Ausdruck, wenn er uns der Betrachtung der Werke Gottes gegenüber als Klötze bezeichnen würde? Daher verheißt der Herr auch durch den Propheten als besondere Gnade, er werde den Israeliten ein Herz geben, um von ihnen erkannt zu werden! (Jer. 24,7). Da­mit deutet er recht fein an: der Menschengeist hat genau soviel geistliches Verständ­nis, wie er zuvor von ihm erleuchtet ist! Das bestätigt auch Christus mit eigenem Wort ganz klar: „Niemand kann zu mir kommen, es werde ihm denn gegeben von meinem Vater“ (Joh. 6,44). Wieso? Ist er denn nicht selbst das lebendige Ebenbild des Vaters, in dem uns der ganze Glanz seiner Herrlichkeit entgegentritt? Ebendeshalb konnte er gar nicht besser darlegen, wie unsere Fähigkeit zur Gotteserkenntnis beschaffen ist, als dadurch, daß er uns die Augen abspricht, um dieses Ebenbild Gottes zu erkennen, wo es uns doch so klar vor Augen gestellt wird! Wie — ist er denn nicht dazu zur Erde gekommen, daß er des Vaters Willen den Menschen offen­bare? Und hat er nicht dieses Werk seiner Sendung treu vollbracht? So ist es ge­wiß; aber seine Predigt bewirkt nichts, wenn ihm nicht der Geist als innerer Lehr­meister den Weg zu den Herzen bahnt. Und deshalb kommen nur die zu ihm, die es vom Vater hören und von ihm dazu gelehrt sind. Wie geht aber solches Lernen und Hören zu? Eben so, daß der Geist in wundersamer und einzigartiger Kraft Ohren zum Hören und einen Sinn zum Verstehen schafft! Und damit das nicht als etwas Neues erscheine, führt der Herr dabei (Joh. 6,45) die Weissagung des Jesaja an: der verheißt die Auferbauung der Kirche und lehrt dabei, daß die, welche zum Heil gerufen werden, Gottes Schüler sein sollen (Jes. 54,13). Wenn also Gott an dieser Stelle etwas Besonderes von seinen Auserwählten aussagt, so spricht er offenkun­dig nicht von jener Unterweisung, die zugleich auch den Unfrommen und Ungläubi­gen eigen ist. Wir müssen also erkennen: nur dem steht der Eingang in Gottes Reich offen, dem der Heilige Geist durch seine Erleuchtung einen neuen Sinn ge­geben hat. So bezeugt es am klarsten der Apostel Paulus; er verwirft zunächst alle menschliche Weisheit und erklärt sie für Torheit und Eitelkeit; dann läßt er sich absichtlich auf die obengenannte Fragestellung ein und kommt zu dem Ergebnis: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Torheit und kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich beurteilt werden“ (1. Kor. 2,14). Wen nennt er hier „natürlicher Mensch“? Doch offenbar den, der sich auf das Licht der Natur verläßt. Und der, sage ich, begreift nichts von den geistlichen Geheim­nissen Gottes! Wieso das? Unterläßt er es aus Bequemlichkeit? Nein, er vermag auch nichts, wenn er sich noch so anstrengt, denn es will eben geistlich beurteilt sein. Und was bedeutet das? Diese Dinge sind der menschlichen Einsicht gänzlich verborgen und werden also nur durch die Offenbarung des Geistes zugänglich, und deshalb gel­ten sie notwendig als Torheit, wo die Erleuchtung durch den Geist Gottes fehlt. Kurz vor dieser Stelle hatte Paulus gezeigt, wie das, was Gott „denen bereitet hat, die ihn lieben“, über alle Fassungskraft der Augen, Ohren und Sinne hinausgeht. Ja, er hatte bezeugt, die menschliche Weisheit sei geradezu ein Vorhang, der den Menschengeist hindere, Gott zu schauen! Was wollen wir mehr? Der Apostel sagt, Gott habe die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht (1. Kor. 1,20) — und wir wollen ihr einen Scharfsinn beimessen, mit dem sie zu Gott und den unzugänglichen Geheimnissen des Himmelreichs durchzudringen vermöchte? Solcher Wahnwitz sei ferne von uns!


Kapitel 2 Sektion 21


Was damit Paulus dem Menschen abspricht, das schreibt er an anderer Stelle Gott allein zu. Denn er betet: „Gott, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und der Offenbarung“ (Eph. 1,17). Da hört man schon: alle Weisheit und Offenbarung ist Gottes Geschenk! Und dann bittet er weiter: „..und erleuchtete Augen eures Gemüts“. Brauchen also die Leser jenes Briefes einer neuen Offenbarung, so sind sie eben von sich selbst aus blind; und so geht es denn auch weiter: „Damit ihr wisset, welches da sei die Hoffnung eures Berufs ...“ (Eph. 1,18). Er bekennt also, daß der Menschengeist nicht den Verstand habe, um des Menschen Berufung zu erkennen.

Nun soll mir aber nicht irgendein Pelagianer schwatzen, Gott leiste eben dieser Stumpfheit und Unkundigkeit seinen Beistand, wenn er den menschlichen Verstand durch die Lehre seines Wortes dahin leite, wohin er ohne Führer nicht gelangen könnte. Denn auch David besaß das Gesetz, in dem alles beschlossen war, was sich an Weisheit wünschen ließ; und doch ist er damit nicht zufrieden, sondern bittet, es möchten ihm die Augen geöffnet werden, damit er „sehe die Wunder seines Gesetzes“ (Ps 119,18). Damit will er sicher andeuten: Wenn Gottes Wort dem Menschen auf­leuchtet, dann geht gewiß für die Erde die Sonne auf; aber dennoch hat der Mensch nicht viel Segen davon, ehe der ihm die Augen gegeben und aufgetan, der selber der „Vater des Lichts“ heißt (Jak. 1,17). Denn wo er nicht durch seinen Geist Licht schafft, da liegt alles im Dunkel! So hatten doch auch die Apostel von ihrem großen Meister einen ordentlichen und reichlichen Unterricht empfangen; aber sie hätten nicht das Gebot erhalten, auf den Geist der Wahrheit zu warten, der ihre Herzen in der zuvor gehörten Lehre unterweise, wenn sie ihn nicht nötig gehabt hätten! (Joh. 14,26). Wenn wir etwas von Gott erbitten, so bekennen wir damit, daß es uns fehlt, und er selbst erweist gerade durch das, was er uns verheißt, unseren Mangel! Deshalb muß man ohne Zögern gestehen: wir vermögen nur so weit in die Geheimnisse Gottes einzudringen, wie wir von seiner Gnade erleuchtet sind. Wer sich mehr Verstand zuschreibt, der ist eben nur noch blinder, weil er ja seine Blind­heit nicht erkennt!


Kapitel 2 Sektion 22


Es bleibt uns noch das dritte Stück zu behandeln, das die Erkenntnis der Richtschnur rechter Lebensführung betrifft, die wir nicht unrichtig auch die „Kennt­nis der Gerechtigkeit der Werke“ nennen. Hier scheint nun der Menschengeist ein wenig erkenntnisfähiger zu sein als in den beiden anderen Stücken. Denn der Apostel bezeugt: „Die Heiden, die das Gesetz nicht haben, tun aber des Gesetzes Werke, sind ... sich selbst ein Gesetz und zeigen, daß des Gesetzes Werk ihnen ins Herz geschrie­ben ist, sintemal ihr Gewissen ihnen zeuget, dazu auch die Gedanken, die sich vor dem Gericht Gottes untereinander verklagen oder entschuldigen“ (Röm. 2,14.15; nicht ganz Luthertext). Wenn also den Heiden von Natur die Gerechtigkeit des Gesetzes ins Herz eingemeißelt ist, so können wir gewiß nicht sagen, sie seien in der Lebens­gestaltung völlig blind. So ist es auch zu der außerordentlich verbreiteten Auf­fassung gekommen, durch das „natürliche Gesetz“ (lex naturalis), das der Apostel hier meint, sei der Mensch in ausreichendem Maß gerüstet, den rechten Weg zu finden. Wir wollen dagegen erwägen, wozu eigentlich dem Menschen diese Gesetzeserkenntnis innewohnt; und dann wird sich gleich deutlich zeigen, wieweit uns ihre Führung dem Ziel der Vernunft und Wahrheit nahebringt. Das wird auch aus den Worten des Paulus klar, wenn wir nur auf den Zusammenhang achten. Kurz vorher setzt er auseinander: die unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durch das Gesetz ge­richtet; die aber ohne Gesetz gesündigt haben, die gehen ohne Gesetz verloren. Nun konnte es aber widersinnig erscheinen, daß die Heiden ohne alles vorausgehende Urteil verlorengehen sollten; deshalb setzt er gleich hinzu, bei ihnen habe das Gewissen die Wirkung des Gesetzes, und es genüge deswegen zu ihrer gerechten Verdammnis. Der Zweck des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) ist also der, daß der Mensch un­entschuldbar werde. Deshalb wird es (das natürliche Gesetz) auch nicht übel beschrie­ben, wenn man sagt, es sei die Erkenntnis des Gewissens, das zwischen Gerecht und Ungerecht ausreichend klar unterscheidet; es hat also danach die Aufgabe, dem Men­schen jeden Vorwand der Unkenntnis zu nehmen, da er ja durch sein eigenes Zeugnis überführt wird! Darin aber besteht die Nachsicht des Menschen gegen sich selber, daß er zwar das Böse tut, aber doch seine Gedanken, soweit er kann, von der Erkenntnis der Sünde abbringt. Das scheint der Grund gewesen zu sein, der Platon zu der Meinung veranlaßt hat, der Mensch sündige nur in Unkenntnis (Protagoras). Das wäre ein richtiges Urteil, wenn die menschliche Heuchelei mit ihrer Verschleierung der Sünde wirklich erreichte, daß im Menschenherzen jedes Bewußtsein, vor Gott böse zu sein, verschwände. Aber mag der Sünder auch vor dem ihm eingedrückten Urteil über Gut und Böse fliehen — er muß immer wieder zu ihm zurückkehren, und es wird ihm nicht ermöglicht, darüber gänzlich hinwegzusehen, sondern er muß, ob er will oder nicht, einmal die Augen auftun! Deshalb ist es verkehrt, zu sagen, er sündige bloß in Unkenntnis.


Kapitel 2 Sektion 23


Richtiger äußert sich Themistius. Er lehrt, der Verstand täusche sich bei der all­gemeinen Beschreibung eines Gegenstandes, also hinsichtlich seines Wesens sehr selten, er bleibe aber von Wahnideen nicht frei, wenn er darüber hinausginge, nämlich eine Anwendung auf die eigene Person suche. (Von der Seele, VI,6). So leugnet kein Mensch, daß der Mord etwas Böses ist — sofern man im allgemeinen urteilt. Und doch: wer eine Verschwörung anzettelt, um einen Feind umzubringen, der macht seine Pläne, als ob er etwas Gutes tun wollte! Den Ehebruch wird selbst der Ehe­brecher verdammen — aber den selbst begangenen wird er sich verzeihen! Darin liegt die Unwissenheit, daß der Mensch bei der Einzelanwendung die Regel vergißt, die er gerade als mit allgemeiner Geltung festgelegt hat! Hierüber spricht Augustin sehr fein in seiner Auslegung des 1. Verses von Psalm 57.

Freilich gilt auch die Regel des Themistius nicht ganz allgemein; denn die Schnödigkeit des Lasters bedrängt bisweilen das Gewissen derart, daß der Mensch nicht etwa betrogen vom falschen Anschein des Guten, sondern mit eigenem Wissen und Wollen in das Böse hineinrennt. Aus solch einem bestürmten Gemüt kommen dann solche Sprüche wie: „Ich sehe das Bessere wohl und erkenne es an, doch folge ich dem Schlechteren“ (Medea, bei Ovid Met. VII,20). Aus diesem Grunde scheint es mir sehr richtig, wenn Aristoteles zwischen Unenthaltsamkeit (incontinentia) und (bewußter) Zügellosigkeit (intemperantia) unterscheidet. Wo die Unenthaltsamkeit regiert, da wird nach Aristoteles dem Geiste durch verwirrtes Empfinden und Lei­denschaft die besondere Erkenntnis geraubt; so merkt er an seiner Tat das Böse gar nicht, obwohl er es im allgemeinen an gleichgearteten Taten durchaus erkennt, — ist der Rausch zu Ende, so folgt sogleich die Reue. Die Zügellosigkeit dagegen wird durch das Bewußtsein der Sünde nicht ausgelöscht und nicht zerbrochen, sondern sie verharrt steif bei der einmal getroffenen bewußten Entscheidung für das Böse.


Kapitel 2 Sektion 24


Gewiß, wir hörten, daß es im Menschen ein allgemeines Urteil gibt, um Gut und Böse zu unterscheiden. Wir dürfen nun aber nicht wähnen, dies Urteil sei stets ge­sund und ohne Fehler. Denn dem Menschen ist die Unterscheidung zwischen Gerecht und Ungerecht doch nur ins Herz gelegt, daß ihm jede Möglichkeit genommen werde, sich mit Unkenntnis zu entschuldigen. Deshalb ist es aber durchaus nicht erforderlich, daß er in allen einzelnen Fragen die Wahrheit sieht, sondern es ist mehr als genug, wenn sein Verstand so weit reicht, daß ihm jede Ausflucht unmöglich wird und er, vom Gewissen als Zeugen überführt, schon jetzt anfängt, vor Gottes Richterstuhl zu erschrecken. Wollen wir unsere Vernunft am Gesetz Gottes prüfen, das doch allein das Abbild vollkommener Gerechtigkeit ist, so erfahren wir, in wieviel Stücken sie blind ist! Auf jeden Fall erkennt sie keineswegs die Hauptstücke der ersten Tafel, wie etwa: daß man Gott vertrauen soll, ihm das Lob für alle Kraft und Gerechtig­keit zollen, seinen Namen anrufen und den Sabbattag recht heiligen soll. Welche Seele hat denn je vermittelst des natürlichen Empfindens auch nur geahnt, daß in diesen und dergleichen Stücken die rechte Verehrung Gottes besteht? Denn wenn un­fromme Menschen Gott verehren wollen, so kann man sie hundertmal von ihren leeren Phantasien zurückrufen — sie verfallen doch immer wieder darauf! Sie leug­nen zwar, daß Gott Opfer gefielen, ohne daß die Lauterkeit des Herzens dazukäme; damit bezeugen sie, daß sie etwas von der Verehrung Gottes im Geiste ahnen — aber diese verderben sie doch alsbald wieder mit ihren falschen Erdichtungen! Von der Wahrheit dessen, was das Gesetz hierüber sagt, wird man sie nie überzeugen können. Und da soll ich sagen, der Menschengeist besitze ein Erkenntnisvermögen — wo er doch aus sich weder richtig zu denken, noch auf Vermahnungen zu hören ver­mag?

Von den Geboten der zweiten Tafel versteht der Mensch etwas mehr, so­fern sie nämlich in näherer Beziehung zur Erhaltung der menschlichen Gesellschaft stehen. Freilich ist auch hier zuweilen großer Mangel erkennbar. So ist es auch für die erhabensten Geister etwas widersinniges, eine ungerechte und allzu gewalt­tätige Herrschaft zu ertragen, wenn sich günstige Gelegenheit findet, das Joch abzu­schütteln. Das Urteil der menschlichen Vernunft lautet hier: solche Herrschaft geduldig zu tragen, das ist ein Zeichen von feigem Knechtssinn, und anderseits zeigt sich ehrenhafte und edle Gesinnung darin, sie abzuschütteln. Auch gilt es bei den Philosophen nicht als Frevel, wenn einer für geschehenes Unrecht Rache nimmt. Aber der Herr verdammt diese gar zu große Hochgemutheit und gebietet den Seinigen die bei den Menschen verächtliche Geduld. Endlich aber entzieht sich allgemein bei der Betrachtung des ganzen Gesetzes die Verwerfung der bösen Lust unserer Erkenntnis. Denn dazu läßt sich der natürliche Mensch nicht bringen, daß er die mannigfaltigen Gebrechen seiner Begierden erkenne! Ehe er an die Tiefen dieses Ab­grundes gelangt, kommt das Licht der Natur zum verlöschen. Denn die Philosophen bezeichnen zwar die ungeordneten Triebe als Laster, aber sie meinen damit nur die äußerlichen und in groben Wirkungen sich bekundenden. Die bösen innerlichen Gelüste aber, die den Geist fein betören, achten sie für nichts.


Kapitel 2 Sektion 25


Wie wir also oben dem Platon widersprochen haben, weil er alle Sünde auf Un­kenntnis zurückführt, so müssen wir nun auch denen entgegentreten, die da meinen, in allen Sünden sei eine bewußte Bosheit und Verruchtheit am Werk. Denn wir merken viel zu deutlich, wie oft wir in bester Absicht fehlen! Unsere Vernunft wird von so vielerlei Täuschung überrannt, ist so viel Irrtum unterworfen, in so viel Hindernisse verstrickt, in so viel Ängsten gefangen, daß von sicherer Leitung gar keine Rede sein kann. Wie nichtig sie vor dem Herrn ist, und zwar in allen Stücken un­seres Lebens, das zeigt Paulus: „Wir sind nicht tüchtig, etwas zu denken von uns selber als von uns selber“ (2. Kor. 3,5). Er spricht hier nicht vom Willen oder vom Empfinden, sondern er spricht uns selbst ab, daß es uns überhaupt in den Sinn kom­men könnte, wie etwas recht zu machen sei. Ist denn all unser Eifer, all unser Scharfsinn, all unser Verstand, unsere Sorgfalt dermaßen verderbt, daß sie nichts zu erdenken oder zu erwägen vermöchten, das vor dem Herrn recht sei? Gewiß, wir haben es höchst ungern, wenn uns die Schärfe unserer Vernunft, die wir doch für die köstlichste Anlage halten, abgesprochen wird, und so scheint uns das allzu hart. Aber dem Heiligen Geiste dünkt es recht und billig, denn er weiß, daß alle Gedan­ken der weisen nichtig sind, und spricht es klar aus: „Alles Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist immerzu böse“ (Ps. 94,11; Gen. 6,5; 8,21). Wenn doch alles, was unser Geist bedenkt, beschließt, sich vornimmt und ins Werk setzt, immer­zu böse ist — wie soll es uns dann in den Sinn kommen, uns etwas vorzunehmen, was vor Gott recht ist, dem doch allein Heiligkeit und Gerechtigkeit wohlgefällig ist?

So ist also unsere Vernunft offenbar jämmerlich der Eitelkeit unterworfen, wo­hin sie sich auch wendet. Dieser Schwachheit war sich David bewußt, wenn er darum betete, es möchte ihm Verstand gegeben werden, um die Gebote des Herrn recht zu lernen (Ps. 119,34). Wenn er sich einen neuen Verstand erbittet, so zeigt er damit an, daß sein Geist nicht im mindesten ausreicht. Jene Bitte spricht er nicht nur ein einziges Mal aus, sondern er wiederholt sie in dem einen Psalm wohl zehnmal (Ps. 119,12.18.19.26.33.64.68.73.124.125.135.169). Diese Wiederholung macht ersichtlich, wie groß die Not ist, die ihn zu solcher Bitte drängt. Und was er für sich allein erbittet, das pflegt Paulus für alle Gemeinden zu erflehen: „Wir hören nicht auf, für euch zu beten und zu bitten, daß ihr erfüllet werdet mit der Er­kenntnis Gottes in allerlei Weisheit und Verstand, daß ihr wandelt würdiglich dem Herrn....“ (Phil. 1,9; Kol. 1,9). Und jedesmal, wenn er das als Wohltat Gottes rühmt, dann will er ja bezeugen, daß es nicht in des Menschen Vermögen steht. Dieses Unvermögen der Vernunft, die göttlichen Dinge zu erkennen, hat auch Augustin wohl bemerkt, und zwar derart, daß er meint, unser „Gemüt“ (Verstand) brauche die Gnade der Erleuchtung ebenso wie unser Auge das Licht. Ja, er gibt sich damit nicht zufrieden, sondern setzt gleich eine Verbesserung seines Satzes hinzu: nämlich daß wir doch die (leiblichen) Augen selber auftun, um das Licht zu schauen, die Augen unseres „Gemüts“ dagegen verschlossen bleiben, wenn der Herr sie nicht auftut. (Von Schuld und Vergebung der Sünden, II,5). Auch wird ja nach der Lehre der Schrift unser „Gemüt“ nicht an einem Tage ein für allemal erleuch­tet, um dann von selber zu sehen; denn das, was ich eben aus Paulus angeführt habe, bezieht sich auf ein dauerndes Fortschreiten und Wachsen. Das sagt Da­vid ausdrücklich: „Ich suche dich von ganzem Herzen, laß mich nicht abirren von deinen Geboten!“ (Ps. 119,10). Er war doch wiedergeboren, war doch in der wahren Frömmigkeit außergewöhnlich gewachsen — und doch bekennt er, für jeden einzelnen Augenblick besonderer Leitung zu bedürfen, um nicht von der Erkenntnis wieder ab­zukommen, die ihm zuteil geworden war! Deshalb bittet er auch anderswo, es möchte ihm — was er ja verloren hatte! — ein „neuer, gewisser Geist“ gegeben wer­den (Ps. 51,12); denn Gott, der uns den Geist im Anfang gegeben hat, der allein kann ihn uns wiedergeben, wenn er uns eine Zeitlang genommen ist.


Kapitel 2 Sektion 26


Nun müssen wir den Willen untersuchen, in dem, wenn überhaupt, am ehesten die „Freiheit der Willensentscheidung“ sich auswirken kann. Denn wir sahen ja be­reits, daß die Entscheidung mehr bei ihm als bei dem Verstande liegt. Nun wird von den Philosophen gelehrt, und die allgemeine Vorstellung hat es aufgenommen, alle Wesen begehrten aus natürlichem Triebe „das Gute“. Es darf aber nicht den Anschein erwecken, als habe das etwas mit der Vollkommenheit des menschlichen Willens zu tun; um das zu erkennen, wollen wir im Auge behalten: die Kraft des freien Willens ist nicht etwa in einem solchen Begehren zu suchen, das aus einer natür­lichen, im Wesen des Menschen begründeten Neigung, nicht aber aus (bewußter) Erwägung des „Gemüts“ hervorgeht. Denn auch die Scholastiker geben zu, daß der freie Wille nur da tätig wird, wo die Vernunft entgegengesetzten Möglichkeiten gegenübersteht. Das bedeutet: der Gegenstand des Begehrens muß der Entscheidung unterliegen, und es muß eine Überlegung vorausgehen, die der Entschei­dung den Weg bahnt. Betrachtet man nun jenes natürliche Streben zum „Gu­ten“ im Menschen näher, so findet man denn auch, daß er es mit den Tieren gemein­sam hat. Denn auch diese haben den Trieb, es sich gut sein zu lassen, und wo ihnen der Anschein des Guten begegnet, der ihr Empfinden berührt, da folgen sie ihm. Der Mensch dagegen erwählt tatsächlich mit seiner Vernunft nicht das, was wirklich gut für ihn ist und der Würde seiner unsterblichen Natur entspräche, um es dann mit Eifer durchzuführen. Auch zieht er weder seine Vernunft zu Rate, noch wendet er sonst die gehörige Aufmerksamkeit an die Sache. Nein, er folgt wie die Tiere ohne Vernunft, ohne rechten Plan der natürlichen Neigung. Die Frage, ob der Mensch vom natürlichen Empfinden (sensu naturae) dazu gebracht werde, das Gute zu begehren, hat also nichts mit dem freien Willen zu tun. Vielmehr er­fordert der freie Wille, daß er auf Grund richtiger und vernünftiger Überlegung (recta ratione) das Gute erkennt, sich für das richtig Erkannte entscheidet und diese Entscheidung auch ausführt!

Damit nun bei keinem Leser ein Zweifel bleibe, ist ein doppeltes Mißverständ­nis zu beachten. Denn einerseits bedeutet oben „Begehren“ nicht eine eigentliche Regung des Willens, sondern einen natürlichen Trieb, und anderseits bezeichnet das „Gute“ nicht etwas, das mit Tugend und Gerechtigkeit zu tun hätte, sondern einen bloßen Zustand, nämlich: das Wohlsein des Menschen! Und dann: mag der Mensch das „Gute“ auch noch so sehr zu erreichen wünschen, er geht ihm doch nicht nach; ebenso wie jedermann die ewige Seligkeit für etwas Schönes hält und doch ohne Antrieb des Geistes niemand sich recht danach ausstreckt. So besagt also das natürliche Begehren des Menschen, es gut zu haben, gar nichts für den etwaigen Beweis des freien Willens, nicht mehr als die natürliche Neigung in Metallen und Gesteinen, ihr Wesen zu vervollkommnen. Wir wollen also in anderer Richtung erwägen, ob denn der Wille in jeder Weise derart verderbt und verkommen ist, daß er nur noch Böses aus sich hervorbringt, oder ob ihm noch etwas Unverletztes innewohnt, aus dem rechtes Begehren hervorgehen könnte.


Kapitel 2 Sektion 27


Manche eignen der „ersten Gnade Gottes“ (prima Dei gratia) die Wirkung zu, daß wir wirksam wollen können. Damit deuten sie auf der anderen Seite auch an: die Seele hat von Natur die Fähigkeit, sich von selbst nach dem Guten auszustrecken, nur ist sie zu schwach, um eine starke innere Bewegung zu erzeugen oder einen wirk­lichen Tatantrieb (conatus) auszulösen. Diese Meinung, die von Origenes und eini­gen Alten stammt, haben ohne Zweifel die Scholastiker sämtlich aufgenommen; sie be­rufen sich auf das Wort des Apostels: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, das Böse aber, das ich nicht will, das tue ich. Wollen habe ich wohl, aber Vollbrin­gen das Gute finde ich nicht“ (Röm. 7,15.19). Der Mensch, den Paulus hier be­schreibt, befindet sich nach ihrem Urteil in rein natürlicher Lage (in puris naturalibus). – Aber damit verdrehen sie ganz und gar die Frage, von der Paulus an die­ser Stelle handelt. Denn er redet hier von dem Kampf des Christen, den er auch Gal. 5,17 kurz berührt, jenem Kampf, den die Gläubigen im Widerstreit von Fleisch und Geist immerzu durchleben. Nun ist uns aber doch der Geist nicht von Natur eigen, sondern aus der Wiedergeburt. (Porro Spiritus non a natura est, sed a regeneratione). Daß aber der Apostel von den Wiedergeborenen redet, geht auch daraus hervor, daß er dem Satze, daß nichts Gutes in ihm wohne, gleich zur Erläuterung zusetzt: „das ist, in meinem Fleische“ (Röm. 7,16). So ist es nach seinen Worten auch nicht er selber, der das Böse tut, sondern die in ihm wohnende Sünde (Röm. 7,20). Was soll aber dieser Zusatz: „In mir, das ist in meinem Fleische“? Doch offenbar dasselbe, als wenn er sagte: In mir wohnt von mir selber aus nichts Gutes, denn in meinem Fleisch ist nichts Gutes zu ent­decken. Daher folgt dann auch die Form der Entschuldigung: Nicht ich tue selber das Böse, „sondern die Sünde, die in mir wohnt“. Solche Entschuldigung kommt nur den Wiedergeborenen zu, die mit dem wichtigsten Teil ihrer Seele (praecipua animae parte) zum Guten hinneigen. Ganz deutlich wird dies alles aus den Schlußworten des Apostels: „Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen; ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte ...“ (Röm. 7,22.23). Wer anders soll einen solchen Widerstreit in sich tragen als der, der aus dem Geiste Gottes wiedergeboren ist, aber zugleich die Überbleibsel des Fleisches mit sich schleppt? So hat auch Augustin, der diese ganze Stelle anfangs auf die Natur des Menschen beziehen wollte, seine Auslegung als falsch und unsachgemäß zurückgenommen (An Bonifacius, I,10 und Retract, I,23; II,1). Wollen wir aber annehmen, der Mensch habe auch ohne die Gnade gewisse, wenn auch noch so geringfügige Regungen zum Guten — was sollen wir dann dazu sagen, daß der Apostel uns für unfähig erklärt, „etwas zu denken als von uns selber“? (2. Kor. 3,5). Was sollen wir dem Herrn antworten, der durch Mose sagen läßt, alles Dichten und Trachten des menschlichen Herzens sei immer nur böse? (Gen. 8,21). Die Verfechter des freien Willens haben sich hier bloß an eine von ihnen falsch verstandene Bibelstelle festgeklammert, und deshalb brauchen wir uns mit ihrer Auffassung nicht länger aufzuhalten. Wir halten uns lieber an Christi eigenes Wort: „Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht“ (Joh. 8,34). Und Sünder sind wir alle von Natur: deshalb leben wir auch alle unter ihrem Joch. Ist aber der ganze Mensch der Herrschaft der Sünde unterworfen, so ist notwendig erst recht der Wille, der ihr besonderer Wohnsitz ist, mit härtesten Fesseln gebunden. Auch würde das Wort des Paulus: „Gott ist es, der in uns wirket das Wollen ...“ (Phil. 2,13) nicht bestehen können, wenn der Wille irgendwie der Gnade des Helligen Geistes vorausginge! Deshalb soll fernbleiben, was viele Leute von der „Vor­bereitung“ (des Menschen auf das Heil) gefaselt haben! Gewiß beten zuweilen die Gläubigen darum, es möchte ihr Herz zum Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz be­reitet werden, wie es mehrmals David tut. Aber dabei ist doch zu bedenken, daß selbst der Wunsch zu beten von Gott kommt! Das geht auch aus Davids Worten hervor; denn wenn er begehrt, es möchte in ihm ein neues Herz geschaffen werden (Ps. 51,12), so schiebt er damit doch nicht sich selber die Urheberschaft solcher Neu­schöpfung zu! Wir wollen lieber das Wort Augustins gelten lassen: „Gott ist dir in allem zuvorgekommen — nun komm du auch seinem Zorn zuvor! Und wie? Be­kenne, daß du all dies von Gott hast, daß du alles, was du Gutes besitzest, von ihm empfangen hast, von dir selber aber, was Böses an dir ist.“ Oder kurz danach: „Un­ser ist nichts als die Sünde“ (Predigt 176,5).


Drittes Kapitel

Aus der verderbten Natur der Menschen kommt nichts als Verdammliches.

II,3,1

 

Der Mensch kann aber nach seinen beiden Seelenkräften (Verstand und Wille) am besten beurteilt werden, wenn er mit den Titeln, die ihm die Schrift gibt, ans Licht tritt. Wird er als Ganzes mit Christi Worten beschrieben „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch“ — und das wird gleich bewiesen werden! — dann ist er allerdings offenbar ein jämmerliches Wesen. Denn der fleischliche Sinn („fleischlich gesinnet sein“ Röm. 8,6f.) „ist der Tod, weil er eine Feindschaft wider Gott und deshalb dem Gesetz nicht Untertan ist, und vermag es auch nicht“. „Ist denn das Fleisch dermaßen verderbt, daß es mit der Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes nicht übereinkommen kann und nichts hervorzubringen vermag als den Tod?“ — Nimm an, daß des Menschen Natur nur fleischlich sei, und dann sieh zu, ob du daraus etwas Gutes ans Licht bringst! — „Aber das Wort ‘Fleisch’ bezieht sich doch nur auf den sinnlichen Bereich der Seele, nicht aber auf den höheren!“ — Das läßt sich aus den Worten Christi und des Apostels sattsam widerlegen! Der Herr will ja beweisen, daß der Mensch wiedergeboren werden muß — denn er „ist Fleisch“! (Joh. 3,6). Er gebietet keinerlei Wiedergeburt nach dem Leibe. Die Seele aber wird nicht dadurch wiedergeboren, daß in ihr irgendein Stück ge­bessert, sondern nur dadurch, daß sie ganz erneuert wird! Das beweist auch die an beiden Stellen (Joh. 3 und auch Röm. 8) zugefügte Aufstellung eines Gegen­satzes: der Geist wird dem Fleische dergestalt gegenübergestellt, daß nichts Drittes bleibt! Was also im Menschen nicht geistlich ist, das ist nach dieser Be­weisführung eben fleischlich zu nennen! Vom Geiste empfangen wir aber nur durch die Wiedergeburt etwas. Also ist das, was wir von Natur haben, Fleisch.

Sollte hierüber sonst noch ein Zweifel bestehen, so behebt ihn uns Paulus: er beschreibt zunächst den alten Menschen und sagt von ihm, er sei verderbt durch die Lüste des Irrtums (Eph. 4,22), und dann gebietet er, uns zu erneuern im Geist unseres Gemüts (Eph. 4,23). Da sieht man: er findet die verbotenen, bösen Lüste keineswegs bloß im sinnlichen Teil der Seele, sondern gerade auch im „Gemüt“ (mens) selber, und darum verlangt er auch dessen Erneuerung! Und dann hat er gar kurz vorher ein derartiges Bild von der menschlichen Natur gezeichnet, das uns an keinem Stück unverdorben und unverkehrt erscheinen läßt. Denn da schreibt er von allen Heiden: „Sie wandeln in der Eitelkeit ihres Sinnes, ihr ver­stand ist verfinstert, und wandeln ferne von dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch die Blindheit ihres Herzens“ (Eph. 4,17.18). Hier meint er ja offenbar alle, die Gott nicht zu rechtschaffener Weisheit und Gerechtigkeit neugebildet hat. Das wird dann auch noch klarer aus dem gleich hinzugefügten Vergleich: „Ihr habt Christum nicht also gelernt“ (Eph. 4,20). Denn in diesen Worten erscheint die Gnade Christi als das einzige Heilmittel, das uns von jener Blindheit und allem Bösen, das daraus folgt, frei macht. So hatte schon Jesaja über das Reich Christi geweissagt, wenn er die Verheißung gab, der Herr werde seiner Kirche ein ewiges Licht sein — während doch „Finsternis die Erde bedeckte und Dunkel die Völker“ (Jes. 60,19). Da bezeugt er, daß Gottes Licht allein über der Kirche aufgehen werde, und läßt also außerhalb der Kirche nichts als Finsternis und Blindheit übrig! Ich will hier nicht einzeln aufführen, was durchweg, besonders in den Psalmen und Propheten, über des Menschen Eitelkeit ge­sagt wird. Ganz inhaltsschwer ist Davids Wort, wenn er mit der Nichtigkeit auf die Waagschale gelegt würde, so wäre er doch noch nichtiger als sie (Ps. 62,10).

 

Fürwahr ein scharfer Schlag, mit dem er seinen Geist schwer trifft, wenn doch alle von ihm ausgehenden Gedanken als töricht, eitel, unsinnig und verkehrt ver­spottet werden!

 

 

 

II,3,2

Die Verurteilung unseres Herzens fällt auch nicht leichter aus, wenn es „ein rankevolles und verkehrtes Ding“ genannt wird (Jer. 17,9; nicht Luthertext, aber wörtlicher als er!). Aber ich möchte mich kurz fassen und will mich mit einer weiteren Stelle begnügen, die aber wie ein ganz klarer Spiegel ist, in dem wir das vollkommene Bild unserer Natur anschauen können. Um die Hoffart des Men­schen niederzuschlagen, bringt nämlich der Apostel folgende Zeugnisse vor: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer, da ist nicht, der verständig sei, da ist nicht, der nach Gott frage. Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden; da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer. Ihr Schlund ist ein offenes Grab, mit ihrer Zunge handeln sie trüglich; Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit; ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; in ihren Wegen ist eitel Elend und Verderbnis; es ist keine Furcht Gottes vor ihren Au­gen“ (Röm. 3,10-13; Jes. 59,7). Mit diesen Donnerschlägen fährt er nicht auf bestimmte einzelne Menschen, sondern auf alle Adamskinder los! Er schilt auch nicht auf die verdorbenen Sitten des einen oder anderen Zeitalters, sondern er klagt die dauernde Verderbnis der Natur an! Denn er hat ja gar nicht die Absicht, einfach Menschen zu tadeln, damit sie sich bessern; er will doch vielmehr lehren, daß alle in unüberwindlichem Elend sind, aus dem sie nur herauskommen können, wenn Gottes Barmherzigkeit sie herausreißt. Das konnte er nur beweisen, wenn er den Zerfall und das Verderben unserer Natur schilderte, und deshalb brachte er jene Schriftzeugnisse vor, aus denen überzeugend hervorgeht, daß unsere Natur völlig verloren ist. Es bleibt also dabei, daß die Menschen nicht etwa bloß durch böse Gewohnheit so geworden sind, wie sie hier beschrieben werden, sondern auch durch die Verderbnis ihrer Natur. Sonst hätte die Beweisführung des Apostels keinen festen Grund; denn er will ja zeigen, daß der Mensch nur von Gottes Barm­herzigkeit Heil erwarten kann, weil er ja in sich selber verloren und trostlos dahingegeben ist. Ich will mich hier nicht damit quälen, die sachgemäße Verwendung der von Paulus angeführten Schriftzeugnisse nachzuweisen, die vielleicht jemand unstatthaft finden könnte. Ich will so vorgehen, als ob diese Worte erstmalig von Paulus selbst gebraucht und nicht aus den Propheten entnommen wären. Zunächst spricht er dem Menschen die Gerechtigkeit, das heißt die Unschuld und Reinheit ab, dann den rechten Verstand. Dabei führt er den Mangel an Erkenntnis auf den Abfall von Gott zurück, denn es ist ja der erste Schritt der Weisheit, ihn zu suchen, und jener Verlust der Erkenntnis muß notwendig bei denen eintreten, die von Gott ab­gefallen sind. Dann setzt er hinzu, sie seien alle abgewichen und morsch geworden: „da ist keiner, der Gutes tue ...“ Darauf läßt er die Aufzählung der einzelnen Laster folgen, mit denen der Mensch, wenn er sich einmal der Bosheit hingegeben hat, seine einzelnen Glieder befleckt. Und zum Schluß bezeugt er, daß uns die Furcht Gottes abgeht, nach deren Maßstab sich eigentlich alle unsere Schritte richten müß­ten. Sind das die erblich überkommenen Gaben des Menschengeschlechts, dann wird man in unserer Natur vergebens etwas Gutes suchen! Gewiß gebe ich zu, daß nicht alle diese Laster in jedem einzelnen Menschen zutage treten. Aber es kann doch kei­ner leugnen, daß diese Hydra in aller Herzen heimlich wohnt! Es ist wie beim Leibe: hat er einmal den Keim und Anlaß einer Krankheit in sich und nährt sie, dann nennt man ihn nicht gesund, auch wenn er noch von keinen Schmerzen geplagt wird. Ebenso kann auch die Seele, in der solche Krankheit des Lasters reich­lich sich auswirkt, nicht für gesund erklärt werden. Allerdings paßt dieses Gleich­nis nicht in allen Punkten. Denn der Leib mag noch so krank sein, es bleibt doch immer noch Lebenskraft übrig; die Seele aber ist in einen derart verderblichen

 

Strudel geraten, daß sie sich aus ihren Lastern nicht herausarbeiten kann und gar alles Guten gänzlich verlustig gegangen ist.

 

 

 

II,3,3

 

Hier begegnet uns nun fast die gleiche Frage, die wir oben bereits gelöst ha­ben, von neuem. Denn es hat doch zu allen Zeiten Menschen gegeben, die unter Leitung ihrer natürlichen Anlagen ihr Leben lang nach der Tugend sich ausstreckten! Ich will mich auch nicht damit aufhalten, ob nicht auch in ihrem Verhalten man­cherlei Fehler zu bemerken wären. Sie haben eben doch mit ihrem Elfer um die Rechtschaffenheit den Beweis geliefert, daß in ihrer Natur etwelche Reinheit vor­handen war. Zwar müssen wir von der Frage, was derartige Tugenden vor Gott für einen Wert haben, noch ausführlicher sprechen, wenn wir von dem Verdienst der Werke zu reden haben. Aber es muß auch schon an dieser Stelle das gesagt wer­den, was zur Behandlung unseres gegenwärtigen Fragstücks erforderlich ist. Die angedeuteten Beispiele scheinen uns doch zu mahnen, die menschliche Natur nicht für gänzlich verdorben zu halten, weil ja aus ihrem Antrieb heraus einige Menschen nicht nur gewaltige Taten getan, sondern auch in ihrer gesamten Lebensführung höchste Ehrbarkeit an den Tag gelegt haben. Aber an dieser Stelle kann uns die Einsicht helfen, daß die Gnade Gottes auch innerhalb dieser Zerstörung der Natur doch noch Raum hat; freilich wirkt sie nicht reinigend, sondern innerlich hemmend. Denn wenn der Herr aller Menschen Gemüt in seine Gelüste dahinrennen und ihm den Zügel schießen ließe, dann müßte tatsächlich jedermann zugeben, daß all das Böse, das Paulus an der ganzen Natur verurteilt, in vollem Maße auf jeden von uns zuträfe! (Ps. 14,3; Röm. 3,12). Wie nun? Willst du dich aus der Zahl derer ausschließen, deren Füße „schnell“ sind, „Blut zu vergießen“, deren Hände mit Raub und Mord befleckt sind, deren „Mund ist wie ein offenes Grab“, deren „Zungen voll Falschheit, deren Lippen voll Gift“ (Röm. 3,13), deren Werke unnütz, ungerecht, verderbt, todbringend sind, deren Geist ohne Gott, deren Innerstes eitel Bosheit ist, deren Augen zu heimlicher Nachstellung und deren Herzen zu offenem Wider­stand bereit sind, kurz, deren ganzes Wesen zu unendlich vielfältigem Laster fähig ist? Ist nun jede einzelne Seele allen solchen schrecklichen Dingen unterworfen, wie der Apostel doch kühn ausspricht, so können wir recht sehen, wohin es führen müßte, wenn der Herr das menschliche Gelüste nach seiner eigenen Neigung sich entfalten ließe! Da wäre kein Raubtier, das sich rasender gebärdete, kein wilder Sturzbach, dessen Fluten furchtbarer die Ufer überschwemmten! Aber der Herr heilt bei seinen Auserwählten diese Gebrechen auf besondere Art, wie wir noch zeigen müssen. Und den anderen gegenüber braucht er den Zügel und hält sie wenigstens in Schran­ken, damit sie nur nicht allzusehr überschäumen, so wie es nach seiner Vorsehung dazu dient, alle Dinge zu erhalten. So werden also die einen aus Scham, die an­deren aus Furcht vor den Gesetzen daran gehindert, in wildem Losbrechen allerlei Schandtaten zu begehen, obwohl sie weithin ihre Unreinigkeit nicht verbergen können. Andere sind der Überzeugung, eine rechte Lebensführung sei etwas Nütz­liches und Gutes, und deshalb eifern sie doch einigermaßen danach. Andere wiederum erheben sich über den gewöhnlichen Zustand, um durch ihr Ansehen andere Leute in ihrem Amt, ihrem Beruf zu erhalten. So legt Gott in feiner Vorsehung der Verderbtheit der Natur Zügel an, damit sie nicht zur (vollen) Wirkung hervor­breche; aber inwendig macht er sie nicht rein.

 

 

 

II,3,4

Aber das Bedenken ist damit noch nicht behoben. Denn wir müssen nun den Camillus (Vorbild in aller Mannestugend) entweder mit Catilina (Typus des Ver­räters) auf eine Stufe stellen — oder aber wir haben gerade in Camillus einen Be­weis dafür, daß die Natur, wenn sie einer mit Eifer ausbildet, doch nicht alles Guten bar ist! Ich gestehe demgegenüber: die herrlichen Eigenschaften, die Camillus besaß, waren Gottes Geschenk und sind, wenn man sie an sich betrachtet, mit vollem Recht des Lobes wert. Aber wieso sollen sie denn ein Beweis natürlicher Recht-

 

schaffenheit des Camillus sein? Muß man zu solchem Beweise nicht auf das Herz zurückgehen? Man wird aber dann kaum anders schließen können, als es Augustin (Gegen Julian, Buch IV) getan hat: Wenn ein natürlicher Mensch sich durch solche Makellosigkeit der Sitten hervorgetan hat, so fehlt gewiß der Natur nicht eine gewisse Fähigkeit, nach der Tugend zu trachten. Wie aber, wenn das Herz böse und verschlagen war und sich ganz etwas anderes vorgenommen hatte als Rechtschaffenheit? Und so muß es unzweifelhaft gewesen sein, wenn man zugibt, Camillus sei ein natürlicher Mensch gewesen. Was will man mir also an diesem Stück die Fähig­keit der menschlichen Natur zum Guten predigen, wo es sich doch erweist, daß sie auch beim Anschein höchster Makellosigkeit stets zum Bösen hingezogen wird? Wie man also einen Menschen, dessen Laster unter der Larve der Tugend Eindruck machen, nicht etwa seiner Tugend halber erheben soll, so soll man auch dem menschlichen Willen nicht das Vermögen zuschreiben, nach dem Guten zu verlangen, solange er noch in der Gewalt der Sünde liegt!

 

Am sichersten und leichtesten aber läßt sich jene Frage so lösen: es handelt sich bei jenen Vorzügen (etwa des Camillus) nicht um natürliche Gaben, sondern um beson­dere Gnadengaben Gottes, die er in mannigfaltiger Weise und nach bestimmter Ord­nung auch ungläubigen Menschen zuteil werden läßt. Aus diesem Grunde haben wir gar kein Bedenken, in gewöhnlicher Redeweise von dem einen zu sagen, er habe ein edles, vom anderen, er habe ein niederträchtiges Wesen! Denn wir entziehen damit beide nicht der Anteilnahme an dem allgemeinen Zustande menschlicher Verderb­nis; sondern wir bezeichnen damit, was der Herr dem einen an besonderer Gnade hat zuteil werden lassen, deren er wiederum den anderen nicht gewürdigt hat. So hat Gott aus dem Saul, der König werden sollte, gewissermaßen einen neuen Men­schen gemacht (1. Sam. 10,6). Deshalb sagt auch Platon, auf die Fabel Homers anspielend, von den Königssöhnen, sie würden mit hervorragenden Fähigkeiten geschaffen. Denn Gott rüstet aus besonderer Fürsorge für das Menschengeschlecht öfters die, welche er zur Herrschaft bestimmt, mit heldischem Wesen aus. Aus dieser Werkstatt kommen all die großen Helden, von denen die Geschichte zu berichten weiß. Ebenso muß man auch über gewöhnliche Menschen (Privatpersonen) urteilen. So hervorragend aber einer auch ist, stets treibt ihn sein Ehrgeiz, und dieser Ma­kel verunreinigt alle Tugenden, so daß sie vor Gott allen Wert verlieren! So ist das, was an ungläubigen Menschen Lobenswertes sichtbar wird, tatsächlich für nichts zu achten. Auch fehlt doch das wichtigste Stück aller Rechtschaffenheit, wo nicht der Eifer vorhanden ist, Gottes Ehre zu verherrlichen — und der mangelt allen, die Gott nicht durch seinen Geist wiedergeboren hat! Nicht ohne Grund heißt es bei Jesaja, auf dem Christus ruhe der „Geist der Furcht Gottes“ (Jes. 11,2). Denen, die von Christus ferne sind, gebt also die Gottesfurcht ab, die doch „der Weisheit Anfang“ ist! (Ps. 111,10). Gewiß werden solche Tugenden, die uns mit ihrem eitlen Schimmer täuschen, im öffentlichen Empfinden und im allgemeinen Ur­teil der Menschen Lob ernten, aber vor dem himmlischen Richterstuhl werden sie keinen Wert haben, vermöge dessen der Mensch sich etwa die Gerechtigkeit verdienen könnte.

 

 

 

II,3,5

So wird der Wille unter der Knechtschaft der Sünde gefangengehalten, und deshalb kann er sich nicht zum Guten hin bewegen, geschweige denn es erfassen. Denn eine solche Bewegung ist der Anfang der Bekehrung zu Gott, die in der Schrift ganz der Gnade Gottes zugeschrieben wird. So betet Jeremia zu dem Herrn, er möchte ihn bekehren, wenn er ihn bekehren wolle (Jer. 31,13). Daher sagt der Prophet auch in dem gleichen Kapitel bei der Beschreibung der geistlichen Erlösung des gläubigen Volkes, es werde „errettet aus der Hand eines Mächtigen“ (Jer. 31,11). Damit zeigt er, in was für harten Fesseln der Sünder gebunden liegt, solange er von dem Herrn getrennt ist und unter dem Joch des Teufels lebt. Trotzdem

 

bleibt der Wille bestehen, der sich mit tiefster Neigung der Sünde zuwendet und geradezu auf sie zustürzt. Denn der Mensch ist, als er sich in diese Zwangsherrschaft hineinbegab, nicht etwa des Willens verlustig gegangen, sondern der Reinheit des Willens! Es ist nicht unangebracht, wenn Bernhard lehrt, das Wollen sei in uns allen da, und dann sagt: aber nur das Wollen des Guten sei ein Fortschreiten, das Wollen des Bösen jedoch ein Gebrechen. So stehe es beim Menschen, einfach zu wollen, bei der verderbten Natur, das Böse zu wollen, und bei der Gnade recht zu wollen! (Von der Gnade und dem freien Willen, 6,16).

 

Meine Behauptung nun, der Wille sei jetzt seiner Freiheit beraubt und werde daher notwendig zum Bösen hingezogen oder hingedrängt, finden einige Leute sonderbarerweise hart — obwohl sie nichts Unerweisliches enthält und auch von den alten Kirchenvätern durchaus gebraucht wird. Sie ist aber auch nur denen wider­wärtig, die nicht zwischen Notwendigkeit und Zwang unterscheiden können. Aber wenn sie nun einer fragt: „Ist denn Gott notwendig gut“ oder: „Ist der Teufel notwendig böse?“ — was wollen sie dann antworten? Denn Gottes Güte ist mit seiner Gottheit derart verbunden, daß sein Dasein als Gott ebensosehr notwen­dig ist wie sein Gut-Sein! Der Teufel aber ist durch seinen Fall derart von jeder Anteilnahme am Guten geschieden, daß er nur noch Böses tun kann. Nun könnte aber ein Spötter sagen, Gott komme um seiner Güte willen nicht viel Lob zu, da er diese ja aufrechtzuerhalten gezwungen sei. Dem wäre zu antworten: Daß Gott nichts Böses tun kann, das kommt von seiner unermeßlichen Güte, nicht aber von irgendwelchem Zwang! Daß also Gott notwendig gut handelt, schränkt sei­nen freien Willen über solchem guten Handeln nicht ein. Und auch der Teufel, der nur böse handeln kann, sündigt doch mit Willen! Wie sollte dann aber ein Mensch sagen, er sei ja der Notwendigkeit zu sündigen unterworfen und sün­dige deshalb nicht mit Willen?! Von dieser Notwendigkeit hat Augustin oft gesprochen; und auch als ihn der bittere Hohn des Caelestius traf, hatte er keine Bedenken, seine Lehre aufrechtzuerhalten. So sagt er: „Durch die Freiheit ist der Mensch zum Sünder geworden, aber die zur Strafe darauf folgende Sündhaftigkeit hat aus der Freiheit Notwendigkeit gemacht“ (Von der Vollendung der Gerechtig­keit ... 4,9). Sooft er auf diesen Zusammenhang zu sprechen kommt, redet er ohne Scheu wieder von der notwendigen Knechtschaft der Sünde. (So in der Schrift „Von Natur und Gnade“ und auch sonst.)

 

Der wesentliche Punkt bei jener Unterscheidung (zwischen Notwendigkeit und Zwang) liegt in folgendem: Der Mensch ist seit dem Fall verdorben, aber er sündigt mit Willen, nicht etwa gezwungen gegen seinen Willen, oder aus tiefster Neigung des Herzens und nicht aus gewaltsamem Zwang, aus dem Trieb eigener Lust und nicht auf äußeren Druck hin; aber wegen der Verdorbenheit der Natur kann er sich doch nur zum Bösen bewegen und nach ihm richten. Stimmt dieser Satz, so ist damit klar ausgedrückt, daß der Mensch der Notwendigkeit zu sündigen unterworfen ist.

Den eben genannten Gedanken Augustins stimmt auch Bernhard zu, wenn er schreibt: „Unter allen Lebewesen ist allein der Mensch frei, und doch hat das Da­zwischentreten der Sünde zur Folge, daß er einige Gewalt leidet. Dies aber ge­schieht aus seinem Willen, nicht aus der Natur, so daß er auch dadurch der ihm angeborenen Freiheit nicht verlustig geht. Denn was mit Willen geschieht, ist frei.“ Und gleich weiter: „So schafft sich der durch die Sünde verderbte Wille auf schlimme und wundersame Weise eine Notwendigkeit. Das geschieht aber so, daß die Notwendigkeit, die ja willentlich ist, nicht etwa dazu dienen kann, den (bösen) Willen zu entschuldigen, und daß anderseits das Vorhandensein des Willens, der ja doch betört ist, die Notwendigkeit nicht ausschließt. Denn diese Notwendigkeit ist sozusa­gen willentlich.“ Danach spricht er von einem Joch, das uns drücke; dies sei eben das Joch unserer willentlichen Knechtschaft, und deswegen seien wir im Blick auf

 

diese Knechtschaft zu bedauern, im Blick auf den noch immer vorhandenen Willen aber unentschuldbar, habe sich doch der Wille, als er noch frei war, zum Knecht der Sünde gemacht! Und zum Schluß kommt er zu dem Ergebnis: „So lebt die Seele auf merkwürdige und verkehrte Weise unter solcher willentlichen und in kläglicher Frei­heit eingegangenen Notwendigkeit als Magd und doch als Freie, als Magd um der Notwendigkeit willen und als Freie um des Willens willen. Und, was noch wunder­samer ist: sie ist schuldig, weil sie frei ist, und sie ist Magd, weil sie schuldig ist — und so ist sie eben deshalb Magd, weil sie frei ist!“ (Predigten zum Hohen Liede, 81). Hieraus wird nun der Leser gewiß erkennen, daß ich mit meiner Be­hauptung nichts Neues aufbringe, weil ja Augustin einst in Übereinstimmung mit allen Frommen das gleiche gesagt hat und seine Auffassung auch in Mönchsklöstern tausend Jahre hindurch nicht verlorengegangen ist. Petrus Lombardus hat jedoch die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Zwang nicht machen können und dadurch einem gefährlichen Irrtum Stoff und Anlaß gegeben.

 

 

 

II,3,6

Auf der anderen Seite trägt es zur Förderung unserer Aufgabe bei, wenn wir nun auf das Wesen der Arznei, nämlich der göttlichen Gnade, durch welche die Verdorbenheit der Natur gebessert und geheilt wird, unser Augenmerk richten. Denn der Herr gewährt uns ja durch seine Hilfe, was uns selbst mangelt; und deshalb wird, wenn uns das Wesen seiner Hilfe deutlich ist, zugleich auch dementsprechend unsere Armut recht sichtbar werden. Der Apostel sagt zu den Philippern: „Und bin desselbigen in guter Zuversicht, daß der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollenden bis auf den Tag Jesu Christi“ (Phil. 1,6). Damit versteht er unter dem „Ansang des guten Werks“ unzweifelhaft den im Willen sich voll­ziehenden Ursprung der Bekehrung. Das „gute Werk“ fängt nun Gott so in uns an, daß er in unserem Herzen Liebe, Verlangen und Trachten nach der Gerechtigkeit erregt, oder auch, um genauer zu reden: daß er unser Herz zur Gerechtigkeit hin­wendet, umbildet und lenkt. Er vollendet das gute Werk, indem er uns die Kraft zur Beharrlichkeit schenkt. Nun soll aber keiner die Ausflucht machen, der Herr sei dadurch der Anfänger des Guten, daß er unseren Willen, der in sich schwach sei, unterstütze. Deshalb zeigt der Heilige Geist an anderer Stelle, was denn der Wille, sich selbst überlassen, eigentlich fertigbringe. „Ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch legen, und werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben, und will mei­nen Geist in euch geben und solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln ...“ (Ez. 36,26ff.). Wer will da noch sagen, es werde bloß die Schwäche des menschlichen Willens durch Gottes Hilfe gestärkt, um mit Kraft und Wirkung nach dem Guten zu trachten — wo es sich doch darum handelt, daß der Wille ganz erneuert werden muß? Wollte man beweisen, daß ein Stein ein weiches Ding sei, das man mit guter Hilfe geschmeidiger machen und dann in bestimmter Richtung biegen könnte — dann wollte ich auch nicht leugnen, daß das Menschenherz dazu zu bringen wäre, dem Rechten zu folgen, sofern durch Gottes Gnade in ihm vollendet wird, was unvollkommen ist! Wenn aber jenes Gleichnis zeigen wollte, daß aus unserem Herzen niemals etwas Rechtes hervorkommen kann, wenn es nicht ganz und gar anders wird — dann sollen wir nicht das, was Gott sich allein zuschreibt, zwischen ihm und uns aufteilen: Wenn uns Gott zum Trachten nach dem Rechten bekehrt, dann ist das die Verwandlung eines Steins in Fleisch. So wird das abgetan, was unserem Willen eigen ist, und was an dessen Stelle tritt, stammt ganz und gar von Gott! Ich sage, der Wille werde abgetan. Das heißt nicht: er wird als Wille abgetan, denn was zur ersten (ursprünglichen) Natur gehört, das bleibt in der Be­kehrung des Menschen unangetastet. Ich meine es so: der Wille wird neu geschaf­fen, nicht um etwa erst anzufangen, Wille zu sein, sondern um vom Bösen zum Guten bekehrt zu werden! Und das geschieht, behaupte ich, rein von Gott her,

 

denn wir sind, wie der Apostel sagt, nicht einmal geschickt, etwas „zu denken aus uns selber“ (2. Kor. 3,5). Deshalb zeigt er auch sonstwo, daß Gott nicht etwa bloß unserem schwachen Willen Hilfe leiht oder unseren bösen Willen bessert, sondern daß er selbst in uns wirken will (Phil. 2,13). Daraus läßt sich mein Satz, was in un­serem Willen Gutes ist, das sei einzig ein Werk der Gnade, leicht folgern. In die­sem Sinn sagt er auch: „Denn Gott ist, der da wirkt alles in allen“ (1. Kor. 12,6). Er redet hier nicht von der allgemeinen Weltregierung, sondern läßt für alle Güter, an denen die Gläubigen reich sind, Gott allein das Lob zukommen. Wenn er sagt „alles“, so erklärt er damit gewißlich Gott für den Urheber alles geistlichen Lebens — vom Anbeginn der Welt bis ans Ende! Das gleiche lehrt er mit anderen Worten bereits vorher (1. Kor. 8,6; Eph. 1,1), wenn er sagt, die Gläubigen seien „von Gott her in Christo“; denn damit preist er doch offenkundig die neue Schöpfung, die da abtut, was zu unserer gewöhnlichen Natur gehört. Man muß auch die Gegen­überstellung von Adam und Christus berücksichtigen, die er an anderer Stelle klarer auseinandersetzt, wo er lehrt, wir seien „Gottes Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen“ (Eph. 2,10). Mit dieser Begründung will er beweisen, daß unser Heil „aus Gnaden“ (Eph. 2,5) uns zukommt, da ja alles Gute seinen Anfang bei der zweiten Schöpfung nimmt, die in Christo an uns geschieht. Hätten wir auch nur das mindeste Ver­mögen aus uns selber, so gebührte auch uns ein Teil des Verdiensts. Aber Paulus lehrt, um uns ganz und gar zunichte zu machen, daß wir gar kein Verdienst haben, da wir ja „in Christo geschaffen sind zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat ...“. Damit zeigt er wiederum, daß alles an den guten Werken, von der ersten Regung an, Gott allein eigen ist. So sagt auch der Prophet im 100. Psalm (Ps. 100,3) zunächst, wir seien Gottes Werk, fügt aber dann, um alle Aufteilung (zwischen ihm und uns) zu vermeiden, gleich hinzu: „Er hat uns gemacht und nicht wir selbst...“. Dabei ist aus dem Zusammenhang ganz klar, daß er von der Wiedergeburt redet, die der Anfang des geistlichen Lebens ist; denn es folgt gleich der Hinweis, daß wir „sein Volk“ sind und „Schafe seiner Weide“. Er ist also, wie wir sehen, nicht damit zufrieden, Gott das Lob für unser Heil darzu­bringen, sondern spricht uns auch ausdrücklich jede Beteiligung daran ab, als wollte er sagen: dem Menschen bleibt rein gar nichts, dessen er sich rühmen könnte — es ist ja alles von Gott!

 

 

 

II,3,7

Nun gibt es wahrscheinlich Leute, die gern zugestehen, daß der Wille, in sei­nem eigenen Wesen dem Guten entfremdet, allein durch des Herrn Kraft umgewan­delt werde — aber doch so, daß er, wenn er einmal bereitet ist, dann doch beim Wirken seinen Anteil hat! So lehrt Augustin, jedem guten Werke gehe die Gnade vorauf, und der Wille begleite sie, habe aber nicht die Führung, folge ihr nach, gehe ihr aber nicht voraus (Brief 186). Das ist kein übler Ausspruch des frommen Mannes, aber Petrus Lombardus hat ihn dann in verkehrter Weise mißdeutet (Sent. II,26,3). Nach meiner Überzeugung zeigen die oben angeführten Propheten­worte und noch weitere Stellen zweierlei: erstens bessert der Herr unseren bö­sen Willen, ja er schafft ihn ab, und zweitens setzt er von sich aus einen guten an seine Stelle. Insofern nun die Gnade dem Willen vorangeht, mag man diesen immerhin „nachfolgend“ nennen; aber weil der erneuerte Wille Gottes Werk ist, ist es verkehrt, wenn man dem Menschen zuschreibt, daß er der zuvorkommenden Gnade mit seinem nachfolgenden Willen sich hingebe. Es ist deshalb unrichtig, wenn Chrysostomus schreibt, die Gnade könne nichts ohne den Willen und der Wille nichts ohne die Gnade wirken. Als ob nicht die Gnade selbst auch den Willen wirkte, wie wir es doch eben bei Paulus sahen! (vgl. Phil. 2,13). Und wenn Augustin sagt, der Wille „folge“ der Gnade nach, so war es doch seine Absicht gar nicht, ihm ei­nen gewissen untergeordneten Anteil bei dem guten Werk zuzuschreiben. Er wollte

 

damit im Gegenteil die greuliche Lehre des Pelagius widerlegen, welche den ei­gentlichen Ursprung des Heils im Verdienst des Menschen meinte finden zu können. Demgegenüber zeigte er — und das war in dieser Sache auch ausreichend! —, daß die Gnade eher da sei als alles Verdienst; die weitere Frage, nämlich wie es sich mit der dauernden Wirkung der Gnade verhalte, ließ er dabei vorderhand aus — aber darüber redet er ja an anderen Stellen hervorragend! Denn sooft er etwa sagt, der Herr komme dem Nicht-Wollenden zuvor, damit er wolle, und dem Wollenden helfe er, damit er nicht vergeblich wolle, läßt er doch Gott klipp und klar den Urheber alles guten Werks sein! Aber Augustins Aussprüche in dieser Frage sind zu deut­lich, als daß sie eine längere Beweisführung erforderlich machten. So sagt er auch: „Da mühen sich die Menschen, um in unserem Willen zu finden, was unser Eigenes sei und nicht von Gott her käme — aber ich weiß nicht, wie man das finden soll!“ (Von Schuld und Vergebung der Sünden II,5). Im ersten Buch gegen Pelagius und Caelestius aber erläutert er Christi Wort: „Wer es nun höret von meinem Vater, der kommt zu mir“, und sagt dann: „Dem Willen wird so geholfen, daß er nicht nur erfährt, was zu tun ist, sondern (dann) auch tut, was er erfahren hat. Aber wenn Gott solche Lehre erteilt — nicht durch den Buchstaben des Gesetzes, sondern durch die Gnade des Heiligen Geistes —, so geschieht das so, daß jeder das, was er gelernt hat, nun nicht nur erkennt und sieht, sondern auch wollend ver­langt und handelnd vollbringt!“

 

 

 

II,3,8

 

Jetzt sind wir am Hauptpunkt der Erörterung angelangt. So wollen wir denn dem Leser diese Lehre in ihren wesentlichen Punkten mit nur wenigen, aber ganz klaren Schriftzeugnissen beweisen. Und dann wollen wir — damit uns keiner verleumde, wir legten der Schrift einen verkehrten Sinn unter! — noch darlegen, daß der Wahrheit, wie wir sie aus der Schrift nehmen und vertreten, auch das Zeugnis dieses frommen Mannes — ich meine den Augustin — nicht abgeht! Denn ich halte es einerseits nicht für nützlich, alle Schriftstellen, die man zur Bekräftigung unserer Überzeugung anführen könnte, der Reihe nach einzeln aufzuführen; viel­mehr soll mit Hilfe der auserlesensten Stellen der Weg zum Verständnis all der anderen gebahnt werden, die man verstreut findet. Und anderseits scheint es mir nicht unbesonnen gehandelt zu sein, wenn ich offenkundig mache, daß ich mit jenem Manne nicht übel zusammengehe, dem das einstimmige Urteil der Frommen mit vollem Recht höchste Autorität beimißt.

Aus leicht faßbaren und sicheren Gründen geht nun hervor, daß der Ursprung des Guten einzig und allein bei Gott selbst liegt. Denn ein dem Guten zugewandter Wille findet sich nur bei den Erwählten. Der Grund der Erwählung aber liegt außerhalb des Menschen, und daraus geht denn hervor, daß der Mensch rechtes Wollen nicht von sich selbst aus hat, sondern daß es aus dem nämlichen Wohlge­fallen uns zufließt, in dem wir vor Grundlegung der Welt erwählt worden sind. Dazu kommt ein anderer ähnlicher Grund, wenn der Ursprung rechten Wollens und Tuns im Glauben liegt, so müssen wir zusehen, woher nun wieder der Glaube kommt. Da aber gibt die ganze Schrift laut die Antwort: er ist Gottes Geschenk; und daraus ergibt sich, daß es aus Gottes reiner Gnade stammt, wenn wir, die wir von Natur ganz und gar zum Bösen geneigt sind, etwas Gutes zu wollen anfangen. Wenn der Herr sein Volk bekehrt, so bedeutet das (Ez. 36,26ff.) zweierlei: er nimmt ihm das steinerne Herz und er gibt ihm ein fleischernes. Dadurch bezeugt er also selbst, daß alles, was von uns selber kommt, abgetan werden muß, damit wir zur Gerechtigkeit hin bekehrt werden, und daß alles, was an seine Stelle tritt, von ihm selber kommt. Das spricht er aber nicht nur an jener einen Stelle aus, sondern er sagt auch bei Jeremia: „Ich werde ihnen ein Herz geben und einen Weg, da­mit sie mich fürchten ihr Leben lang“ (Jer. 32,39). Oder gleich darauf: „Ich will ihnen meine Furcht ins Herz geben, daß sie nicht von mir weichen“ (Jer. 32,40).

 

Oder wieder bei Ezechiel: „Ich will euch ein einträchtiges Herz geben und einen neuen Geist in euch geben, und will das steinerne Herz wegnehmen aus eurem Leibe und ein fleischern Herz geben“ (Ez. 11,19). Deutlicher kann er sich nicht alles, was in unserem Willen gut und recht ist, zuschreiben und es uns absprechen, als dadurch, daß er in diesem Zeugnis unsere Bekehrung für die Erschaffung eines neuen Geistes und eines neuen Herzens erklärt. Denn es ergibt sich ja immer der Schluß: Aus unserem Willen geht also, bevor er erneuert wird, nichts Gutes hervor, und nach der Erneuerung ist er, sofern er gut ist, von Gott und nicht von uns!

 

 

 

II,3,9

Dem entspricht auch die Gestalt der Gebete der Heiligen, wie wir sie (in der Schrift) lesen. „Der Herr möge unser Herz zu ihm neigen, daß wir seine Gebote hal­ten“, betet Salomo (1. Kön. 8,58; nicht Luthertext). Damit weist er auf die Hals­starrigkeit unsres Herzens hin, das von Natur zum Aufruhr wider Gottes Gesetz geneigt ist, wenn es nicht umgewandelt wird. So heißt es auch im 119. Psalm: „Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen“ (Ps. 119,36). Denn es muß immer der Ge­gensatz in Betracht gezogen werden zwischen dem verkehrten Trieb unseres Her­zens, der zur Verachtung und zum Trotz führt, und jener Erneuerung, die zum Ge­horsam nötigt. David, der, wie er selbst empfand, eine Zeitlang der Leitung der Gnade verlustig gegangen war, bittet Gott, er möchte in ihm „ein neues Herz“ schaffen und ihm einen „neuen, gewissen Geist“ geben (Ps. 51,12). Erkennt er nicht damit an, daß sein ganzes Herz voll Unreinigkeit und daß sein Geist von lauter Verkehrtheit verdreht ist? Und wenn er die Reinheit, die er erfleht, Gottes Schöp­fung nennt, schreibt er damit nicht alles, was er empfangen hat, ihm allein zu? Nun könnte jemand einwenden, dies Gebet sei ja schon selber Zeichen einer frommen und heiligen Regung. Darauf ist zu sagen: David war zwar schon einigermaßen zur Besinnung gekommen, verglich aber trotzdem seinen vorherigen Zustand mit jenem schrecklichen Fall, den er erlebt hatte. Er betrachtet sich also selbst als einen von Gott getrennten und entfremdeten Menschen und bittet deshalb mit Recht, es möchte ihm gewährt werden, was Gott seinen Auserwählten in der Wiedergeburt schenkt. So bittet er als ein gleichsam Toter um neue Erschaffung, damit aus einem Skla­ven des Satans ein Werkzeug des Heiligen Geistes werde! Die Gier unseres Stol­zes ist wahrhaft seltsam und ungeheuerlich. Nichts verlangt der Herr ernstlicher, als daß wir in höchster Ehrfurcht seinen Sabbattag halten, das heißt ruhen von allen unseren Werken. Und doch ist von uns nichts so schwer zu erreichen, als daß wir alle unsere Werke fahren lassen und Gottes Werken den ihnen zustehenden Platz einräumen! Stünde unsere Torheit nicht im Wege, so würde uns Christi ei­genes Zeugnis von seiner Gnade so deutlich sein, daß wir diese Gnade in unserer Bosheit nicht verdunkeln könnten: er sagt doch: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, mein Vater ist der Weingärtner. Gleichwie eine Rebe nicht kann Frucht bringen von ihr selber, sie bleibe denn am Weinstock, also auch ihr nicht, ihr bleibet denn an mir. Denn ohne mich könnet ihr nichts tun“ (Joh. 15,1.4ff.). Wir bringen also von uns aus nicht mehr Frucht, als eine Rebe, die aus der Erde gerissen und aller Lebenskraft beraubt ist, Frucht tragen kann! Da sollen wir nicht mehr weiter fragen, was für eine Eignung unsere Natur zum Guten hat! Erst recht unzweideutig ist der Schluß: „Ohne mich könnet ihr nichts tun!“ Er sagt nicht, wir wären zu schwach, um uns selbst genügen zu können, sondern er macht uns zu Nichts und nimmt jeder Meinung, wir hätten auch die mindeste Tüchtigkeit, den Boden! Wir bringen nur Frucht, wenn wir in Christum eingefügt sind; dann sind wir gleich einem Weinstock, der aus der Feuchtigkeit der Erde, dem Tau des Himmels, der Wärme der Sonne die Kraft zum Wachstum nimmt; aber eben dann bleibt doch bei dem guten Werke, das wir tun, nichts für uns übrig; wir bringen doch Gott nur ungekürzt dar, was sein ist! Vergebens ist auch der spitzfindige Einwurf, die Rebe habe doch selber auch Saft in sich und auch die Kraft, Frucht zu tragen, und

 

sie nehme deshalb doch nicht alles aus der Erde und der Urwurzel, da sie doch etwas Ei­genes dazubrächte. Aber Christus will nur zeigen, daß wir dürres und unbrauchbares Holz sind, solange wir von ihm getrennt sind, weil wir von uns selbst aus unfähig sind zum rechten Tun. So sagt er ja auch an anderer Stelle: „Jeder Baum, den mein Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet“ (Matth. 15,13). Deshalb schreibt der Apostel auch an der bereits angeführten Stelle alles miteinander ihm zu: „Gott ist es, der in euch wirket beides, das wollen und das Vollbringen“ (Phil. 2,13). Zu einem rechten Werk gehört zweierlei: der Wille und auch die rechte Kraft, es zu voll bringen — und beides kommt von Gott! Was wir also beim Wollen oder beim Vollbringen uns selber anmaßen, das rauben wir dem Herrn! Spräche Gott, er käme unserem schwachen Willen zu Hilfe, dann bliebe uns freilich einiges übrig. Aber er wirkt ja, wie es heißt, den Willen selbst — und so steht alles, was daran gut ist, außer uns! Nun wird ja außerdem auch der gute Wille vom Gewicht unsres Fleisches derart erdrückt, daß er nicht hochkommen kann. Deshalb fügt der Apostel hinzu, es werde uns die Beständigkeit des Ringens in solchem harten Streit bis zum wirklichen „Vollbringen“ dargereicht. Sonst könnte ja auch das Wort nicht bestehen, das er an anderer Stelle schreibt: „Es ist ein Gott, der da wirket alles in allen“ (1. Kor. 12,6). Denn wir sahen ja bereits, daß darunter der ganze Lauf des geistlichen Lebens zusammengefaßt wird. So bittet auch David, es möchten ihm Gottes Wege geoffenbart werden, damit er in seiner Wahrheit wandle, und fügt dann hinzu: „Erhalte mein Herz bei dem einen, daß ich deinen Namen fürchte“ (Ps. 66,11). Damit will er zeigen, wie auch die Wohlgesinnten dermaßen hin- und her­gerissen werden, daß sie gar leicht zunichte werden und sich verwirren, wenn sie nicht die Kraft zur Beständigkeit empfangen. Auch an anderer Stelle betet er zu­nächst: „Laß meinen Gang gewiß sein nach deinem Wort“, und bittet doch zugleich um Kraft zum Streite: „und laß kein Unrecht über mich herrschen“ (Ps. 119,133). So also erweist sich der Herr als Anfänger und Vollender des guten Werks in uns: Sein Werk ist es, wenn der Wille dazu kommt, das Rechte zu lieben, wenn er ge­neigt wird, danach zu trachten, wenn er gereizt und angeregt wird, darauf loszuge­hen. Sein Werk ist es aber auch, wenn Entscheidung, Eifer und Ringen nicht er­lahmen, sondern bis zum Erfolg weiterschreiten, wenn der Mensch in ihnen bestän­dig fortgeht und bis ans Ende beharrt.

 

 

II,3,10

Gott bewegt den Willen. Aber das geschieht nicht, wie Jahrhunderte lang ge­lehrt und geglaubt worden ist, so, daß es dann in unserer Entscheidung stünde, dieser Bewegung Gehorsam oder auch Widerstand zu leisten; sondern er bewegt ihn so kräftig, daß er folgen muß. Wenn also Chrysostomus immerzu wiederholt: „Gott zieht nur den, der da will“, so muß das abgelehnt werden. Denn er gibt damit zu verstehen, Gott strecke uns bloß die Hand entgegen und warte dann ab, ob es uns ge­falle, uns von ihm helfen zu lassen! Wir geben zu, daß wohl der noch nicht gefallene Mensch in der Lage war, das eine oder das andere zu wählen. Aber der hat doch gerade durch sein Beispiel gezeigt, wie jämmerlich es um den freien Willen bestellt ist, wenn Gott nicht in uns will und vermag, was sollte da aus uns werden, wenn Gott uns auf jene Weise seine Gnade zuwendete? Ja, wir verdunkeln und ver­kleinern sie durch unsere Undankbarkeit! Denn der Apostel lehrt ja nicht, die Gnade des guten Willens werde uns dargeboten, wenn wir sie annähmen, sondern: Er bringe in uns das Wollen hervor! Und das heißt doch nichts anderes, als daß der Herr durch seinen Geist unser Herz lenkt, leitet und regiert und in ihm als in sei­nem Besitztum sein Regiment führt. Auch lautet die Verheißung bei Ezechiel nicht bloß so: Gott werde seinen Auserwählten den neuen Geist dazu geben, daß sie in seinen Geboten wandeln könnten, sondern daß sie tatsächlich darin wandelten! (Ez. 11,19f.; 36,27). Und Jesu Wort: „Wer es höret von meinem Vater, der kommt zu mir“ (Joh. 6,45) kann doch auch nur so verstanden werden, daß er damit

 

die durch sich selbst wirksame Gnade lehrt, wie auch Augustin behauptet (Von der Prädestination 3,13). Diese Gnade erzeigt der Herr nicht allen miteinander auf gleiche Weise, so wie der allgemein verbreitete Ausspruch des Occam — wenn ich mich recht erinnere — meint: sie werde keinem versagt, der tue, was er könne. Gewiß sollen die Menschen gelehrt werden, daß Gottes Güte allen dargeboten ist, die nach ihr verlangen — ohne Ausnahme. Aber es fängt ja doch nur der an, nach ihr zu verlangen, an dem die Gnade, die himmlische Gnade, wirksam geworden ist — und so kann auch dies Stück von ihrem Ruhm nicht abgebrochen werden! Das ist für­wahr der Vorzug der Erwählten, daß sie, durch Gottes Geist wiedergeboren, nun auch durch seine Führung geleitet und regiert werden. So hat auch Augustin recht, wenn er die verlacht, die sich irgendeinen Anteil am Wollen selber anmaßen, und auch, wenn er anderen widersteht, die da meinen, das, was doch das besondere Zeug­nis der gnädigen Erwählung ist, werde unterschiedslos allen zuteil. „Was uns allen gemeinsam ist, das ist die Natur, nicht aber die Gnade“, sagt er, und er nennt es einen nichtigen Schimmer, der nur durch seine Eitelkeit einen Schein gibt, wenn man allgemein auf alle ausdehnt, was Gott doch gibt, wem er will (Predigt 26,7). Oder er sagt auch: „Wie bist du hierhergekommen? — Im Glauben. — Dann sieh zu, daß du dir nicht einbildest, selbst den rechten Weg gefunden zu haben, und ihn da­durch wieder verlierst! Oder du sagst: ich bin aus freiem Willen gekommen, aus eigenem Willen bin ich da. — Was bläsest du dich auf? Willst du wissen, daß auch das dir verliehen ist? So höre das Wort des Herrn selber, der da sagt: Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn mein Vater ziehe! (Joh 6,44)“ (Predigt 30). Daß Gott die Herzen der Frommen mit solcher Kraft lenkt, daß sie nun mit einer Neigung folgen, die sich nicht mehr hin und her bewegen läßt, das geht ohne Zweifel klar aus den Worten des Johannes hervor: „Wer aus Gott ge­boren ist, der kann nicht sündigen, denn sein Same bleibt in ihm“ (1. Joh. 3,9). Wenn uns also Gott ein Beharren schenkt, das wirksam und beständig ist, so ist damit die unentschiedene Regung („motus medius“), von der die Sophisten phan­tasieren, eine Regung also, der man folgen und auch widerstehen könnte, offenbar ausgeschlossen.

 

 

 

II,3,11

 

Daß die Beständigkeit für Gottes gnädiges Geschenk zu halten ist, wäre eben­falls ohne Zweifel geblieben, wenn nicht jener üble Irrtum aufgekommen wäre, sie werde nach dem Verdienst der Menschen ausgeteilt, ja nachdem sich jeder der „ersten“ Gnade gegenüber als dankbar erwiesen habe. Dieser irrige Satz ist nun aber aus der Meinung entstanden, es stehe in unserer Hand, die angebotene Gnade von uns zu weisen oder anzunehmen. Da die letztere Meinung aber bereits hinlänglich wider­legt ist, so fällt auch jener Irrtum von selbst dahin. Allerdings liegt hier ein doppel­ter Irrtum vor, nämlich einerseits die Lehre, unsere Dankbarkeit gegenüber der „ersten“ Gnade und deren rechte Anwendung werde durch das Nachfolgende be­lohnt, und dann noch anderseits der Zusatz, die Gnade sei nicht allein in uns am Werk, sondern sie wirke nur mit uns zusammen.

Zum ersten ist folgendes zu sagen. Der Herr erfüllt seine Knechte tagtäglich mit den Gaben seiner Gnade und überschüttet sie je und je mit neuen. Er findet denn auch in ihnen, was er noch größerer Gnadengaben für würdig erachtet, weil ihm ja das Werk, das er selbst in ihnen angefangen hat, angenehm und wohlgefällig ist. Dahin gehören Stellen wie etwa: „Wer da hat, dem wird gegeben“ oder „Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen“ (Matth. 25,21.23.29; Luk. 19,17.26). Aber dabei muß man sich vor zwei falschen Aussagen hüten: einerseits, daß die nachfolgenden Gnadengaben als Lohn für den rechtmäßigen Gebrauch der ersten Gnade erscheinen — als ob der Mensch Gottes Gnade erst durch seine eigene Anstrengung wirksam machte! —, und anderseits, daß man von dieser „Belohnung“ so redet, als ob sie etwas anderes als

 

ein Geschenk freier Gnade wäre. Ich gebe also zu, daß die Gläubigen eine solche Segnung erwarten dürfen und daß sie, je besser sie die vorigen Gnadengaben an­gewandt haben, auch nachher desto größerer Gaben teilhaftig werden. Aber ich sage: auch jene Anwendung (der früheren Gaben) kommt von dem Herrn, und diese Be­lohnung geht aus seinem gnädigen Wohlwollen hervor; so ist die viel verwendete Unterscheidung zwischen einer „wirkenden“ und einer „mitwirkenden“ Gnade (gratia operans und gratia cooperans) ungeschickt und unglücklich. Allerdings hat sie auch Augustin gebraucht; aber er hat sie durch eine geschickte Beschreibung gemildert: Gott vollende mitwirkend, was er wirkend begonnen habe, auch sei es die gleiche Gnade, die aber ihren Namen nach der verschiedenen Art ihrer Wirkung erhalte. Daraus folgt: er teilt nicht zwischen Gott und uns, als ob da ein beiderseits aus ei­genem Antrieb erfolgendes Zusammenwirken stattfände, sondern er will nur die Vielfältigkeit der Gnade zum Ausdruck bringen. Dahin gehört auch sein Ausspruch, viele Gaben Gottes gingen dem guten Willen des Menschen voraus — und dazu ge­höre auch dieser Wille selber! Er läßt dem Willen also nichts übrig, was er sich selber anmaßen könnte. Das ist auch die ausdrückliche Behauptung des Paulus. Denn er sagt zuerst: „Gott ist es, der in euch wirket beides, das Wollen und das Voll­bringen“ (Phil. 2,13), und dann setzt er gleich hinzu, beides tue er „nach seinem Wohlgefallen“. Dieses Wort soll bedeuten, daß es sich um eine aus freier Gnade kommende Wohltat handelt. — Man sagt dann auch, wenn wir der „ersten“ Gnade Raum gegeben hätten, so wirke unsere Bemühung sogleich mit der nach­folgenden Gnade zusammen. Darauf antworte ich: versteht man darunter, daß wir, wenn wir einmal durch die Kraft des Herrn zum Dienste der Gerechtigkeit gebracht sind, nun von selbst weitergehen und geneigt sind, dem Antrieb der Gnade zu fol­gen, so habe ich nichts dagegen. Denn wo die Gnade Gottes regiert, da ist ganz sicher auch eine solche Bereitschaft zum Gehorsam. Aber woher kommt das anders als da­her, daß der Geist Gottes, der sich überall gleichbleibt, die im Anfang von ihm erzeugte Regung zum Gehorsam nun auch zu fester Beharrlichkeit stärkt und kräf­tigt? Will man aber mit jenem Satz sagen, der Mensch nehme aus sich selber die Fähigkeit, mit der Gnade zusammenzuwirken, so ist das ein verderbenbringender Irrtum.

 

 

 

II,3,12

In der letztgenannten Weise wird nun im Unverstand das Apostelwort verdreht: „Ich habe mehr gearbeitet als sie alle, aber nicht ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist“ (1. Kor. 15,10). Diese Stelle versteht man so: der Apostel habe zuvor den Anschein einer gewissen Vermessenheit erregen können, wenn er sich allen gegenüber an die Spitze stellte; diesen Anschein aber erweise er als falsch, indem er der Gnade Gottes das Lob zuerkenne; aber das geschehe dann doch so, daß er sich selbst einen Mitarbeiter der Gnade nenne. Es ist verwunderlich, wie viele sonst nicht üble Leute sich an diesem Splitter gestoßen haben. Denn wenn der Apostel schreibt, die Gnade des Herrn habe mit ihm gewirkt, so tut er das nicht, um sich zu einem Mithelfer am Werk zu machen, sondern er überträgt das ganze Lob für seine Arbeit allein der Gnade, wenn er die Erklärung gibt: Nicht ich bin der, der gearbeitet hätte, sondern Gottes Gnade, die mir zur Seite stand! So hat man sich durch die Mehrdeutigkeit des Ausdrucks irreführen lassen, noch mehr aber durch die verkehrte Übersetzung (ins Lateinische), welche die Bedeutung des griechischen Artikels außer acht ließ. Übersetzt man wörtlich, so heißt es nicht, die Gnade habe mit ihm zusam­men gewirkt, sondern: die Gnade, die ihm zur Seite war, habe alles bewirkt! Das lehrt auch Augustin recht deutlich, freilich etwas kurz, wenn er sagt: „Der gute Wille des Menschen geht vielen Gaben Gottes voraus, aber nicht allen. Unter denen, denen er vorausgeht, befindet er sich auch selber.“ Als Beweis führt er dann an: „Sein Erbarmen kommt mir zuvor“ und dann wieder: „Gutes und Barm­herzigkeit werden mir folgen“ (Ps. 59,11 — nicht Luthertext; 23,6). „Denn

 

Gottes Gnade kommt dem, der nicht will, zuvor, daß er wolle, und dem, der da will, folgt sie, damit er nicht vergebens wolle.“ Damit stimmt auch Bernhard überein, wenn er die Kirche sprechen läßt: „O Herr, ziehe mich gegen meinen Willen, um mich wollend zu machen, ziehe mich, der ich lässig bin, und mache mich laufen“ (Predigten zum Hohen Liede, 21).

 

 

 

II,3,13

 

Damit nun nicht die Pelagianer unserer Zeit, nämlich die Klüglinge von der Sorbonne, nach ihrer Art den Vorwurf erheben, wir hätten die ganze Alte Kirche gegen uns, wollen wir jetzt Augustin selber hören. Unsere heutigen Pelagianer machen es ihrem Kirchenvater nach, der auch einst den Augustin zu ähnlichem Streite auf die Kampfbahn rief. Was er in der Schrift „Von der Züchtigung und Gnade an Valentinus“ (De correptione et gratia ad Valentinum) in größerer Ausführ­lichkeit darstellt, davon will ich einiges in Kürze, aber mit seinen eigenen Worten wiedergeben. So führt er aus, die Gnade, im Guten zu verharren, wäre dem Adam zuteil geworden, wenn er gewollt hätte. Uns aber werde sie geschenkt, damit wir wollen und mit dem Willen die Lust besiegen. Adam habe also gekonnt, wenn er gewollt hätte, aber das Wollen zum Können habe er nicht gehabt. Uns dagegen werde das Wollen und das Können gegeben. Die ursprüngliche Freiheit habe darin bestanden, daß der Mensch fähig war, nicht zu sündigen (posse non peccare). Unsere Freiheit sei aber viel größer: wir hätten nicht die Fähigkeit, zu sündigen (non posse peccare) (Kap. 12). Damit nun aber keiner auf die Meinung komme, er rede hier von der zukünftigen Vollkommenheit im ewigen Leben — so hat es nämlich Petrus Lombardus verkehrterweise bezogen! —, schaltet er gleich jeden Zweifel aus: „Der Wille der Gläubigen wird vom Heiligen Geiste derart entzündet, daß sie können, weil sie wollen, und daß sie wollen, weil eben Gott in ihnen bewirkt, daß sie so wollen! Sie befinden sich zwar in großer Schwachheit, in der sich zur Niederwerfung alles eigenen Ruhms seine Kraft vollendet! (2. Kor. 12,9). Aber wenn in dieser Schwachheit ihr Wille bestehen bliebe, so daß sie also mit Gottes Hilfe könnten, was sie wollten — und wenn (also) Gott nicht selbst das Wollen in ihnen wirkte, so müßte inmitten so vieler An­fechtungen ihr Wille doch unterliegen, und sie vermöchten also nicht zu beharren! Deswegen hat Gott der Schwachheit des menschlichen Willens so aufgeholfen, daß er nun durch seine Gnade unausweichlich und unablässig getrieben wird und auf diese Weise nicht versagt — wie schwach er auch ist!“ Dann spricht er ausführlich da­von, wie unser Herz der Regung Gottes, der an ihm wirkt, notwendig folgt, und sagt dann: gewiß ziehe der Herr den Menschen mit seinem eigenen Willen — aber eben den habe er selbst geschaffen! (14) So haben wir also aus Augustins eigenem Munde den Beweis für das, worauf es uns wesentlich ankam: der Herr bietet uns seine Gnade nicht nur an, so daß sie jeder nach freiem Ermessen annehmen oder auch von sich weisen könnte; sondern Gottes Gnade selber wirkt im Herzen Entschei­dung und Willen. Was also an guten Werken daraus hervorgeht, ist seine eigene Frucht und Wirkung! Und der Mensch hat seinen gehorsamen Willen nur daher, daß Gott selber ihn schafft. Wörtlich sagt Augustin an einer anderen Stelle: „Alles gute Werk in uns schafft allein die Gnade“ (Brief 194).

 

 

 

II,3,14

Aber Augustin sagt doch an anderer Stelle, die Gnade hebe den Willen nicht auf, sondern wandle ihn vom Bösen zum Guten und stehe ihm bei, wenn er gut ge­worden sei! Das bedeutet aber nur: der Mensch wird nicht so (vom Geiste Gottes) geführt, daß er ohne Regung des Herzens wie von einem äußeren Druck sich trei­ben ließe, sondern er wird eben innerlich so erfaßt, daß er von Herzen ge­horcht. Solche Gnade wird nach Augustin in besonderer Weise den Erwählten zuteil und aus freier Gnade gewährt. So schreibt er an Bonifacius: „Wir wissen, daß Gottes Gnade nicht allen Menschen gegeben wird; und wer sie empfängt, dem wird sie nicht nach dem Verdienst der Werke gegeben, auch nicht nach dem Verdienst des

 

Willens, sondern aus lauter Gnade (gratuita gratia); wem sie nicht gegeben wird, dem bleibt sie, wie wir wissen, nach Gottes gerechtem Urteil verwehrt“ (Brief 217). Im gleichen Brief geht er gehörig gegen die Meinung an, die „nachfolgende“ Gnade werde den Menschen als Belohnung für seine Verdienste zuteil, insofern er sich durch Nichtablehnung der „ersten“ Gnade als würdig erwiesen habe! Er will ja ge­rade den Pelagius zu dem Geständnis bringen, daß wir für alle einzelnen Hand­lungen die Gnade nötig haben, und daß sie nicht etwa eine Vergeltung für getanes Werk bedeute: sie soll wirklich als Gnade erscheinen! Indessen läßt sich dieser ganze Zusammenhang nicht kürzer zusammenfassen, als es im achten Kapitel der Schrift an Valentin „Von der Züchtigung und Gnade“ geschieht. Dort lehrt er zunächst: der menschliche Wille erlangt nicht etwa die Gnade kraft seiner Freiheit, sondern die Freiheit kraft der Gnade. Und weiter: Durch die gleiche Gnade wird der Mensch auch umgebildet und auf diese Weise standhaft gemacht; denn diese Gnade bestimmt ihn, das Gute freudig zu lieben. Drittens: So empfängt er die Kraft zu unüberwind­licher Tapferkeit. Viertens: Herrscht die Gnade in ihm, so steht er unerschüttert, ver­läßt sie ihn, so fällt er zu Boden. Fünftens: Durch des Herrn gnädiges Erbarmen wird er zum Guten hingekehrt, und das gleiche Erbarmen läßt ihn dann darin be­harren. Endlich: Daß der menschliche Wille sich dem Guten zuwendet und danach im Guten beharrt, hängt einzig von Gottes Willen und keineswegs von irgend­welchem eigenen Verdienst ab. Wie der „freie Wille“ — wenn man ihn so nennen will! — aussieht, der dem Menschen geblieben ist, das zeigt Augustin an einer an­deren Stelle: er kann sich ohne die Gnade weder zu Gott bekehren, noch in Gott beharren; ja, er vermag alles nur durch die Gnade! (Brief 214).

Viertes Kapitel

 

 

 

Wie Gott im Herzen des Menschen wirkt.

 

 

 

II,4,1

 

Wenn ich nicht irre, so ist jetzt hinreichend bewiesen, daß der Mensch derart unter dem Joch der Sünde steht, daß er von sich, aus seiner Natur heraus weder nach dem Guten trachten noch darum ringen kann. Ferner haben wir einen Unter­schied aufgestellt zwischen „Zwang“ und „Notwendigkeit“, aus welchem hervor­gehen sollte, daß der Mensch zwar notwendig sündigt, aber trotzdem mit Willen. Aber der Mensch ist ja der Knechtschaft des Teufels unterworfen und wird, wie es sich ansieht, mehr von dessen Willen als von seinem eigenen regiert. Deshalb müssen wir (1.) jetzt noch überlegen, wie diese doppelte Leitung aussieht. Dann müssen wir (2.) die Frage beantworten, ob denn bei den bösen Werken Gott ein Anteil zu­zuschreiben sei, da ja die Schrift immerhin eine gewisse Wirksamkeit Gottes dabei andeutet. Irgendwo vergleicht Augustin den menschlichen Willen mit einem Pferd, das sich nach dem Wink seines Reiters richtet; Gott und der Teufel sind in diesem Gleichnis die Reiter. „An Gott hat es einen ruhigen und geschickten Reiter, der es klug lenkt, seiner Langsamkeit den Sporn gibt und zu große Geschwindigkeit mäßigt, seinen Mutwillen und Übermut zügelt, seinen Trotz zähmt und es auf den rechten Weg leitet. Hat aber der Teufel von ihm Besitz ergriffen, so treibt er es wie ein toller und mutwilliger Reiter durch wegloses Land, läßt es in Sümpfe rennen, stürzt es Abgründe hinunter und reizt es zu Halsstarrigkeit und Wildheit.“ Mit diesem Gleichnis wollen wir uns, da uns kein besseres einfällt, vorderhand zu­frieden geben. Wenn es aber heißt, der Wille des natürlichen Menschen sei dem Befehl des Teufels unterworfen und werde von ihm regiert, so bedeutet das nicht: der Wille wird widerstrebend und unter Widerstand zum Gehorsam gezwun­gen — so wie wir einen Knecht gegen seinen Willen kraft des Herrschaftsrechtes zwingen, unserem Befehl zu gehorchen —, sondern vielmehr: er läßt sich durch die schmeichlerische Rede des Satans betören und leistet nun notwendig dessen ganzer Führung Folge. Denn wen der Herr nicht mit der Führung durch seinen Geist be­gnadet, den liefert er in gerechtem Urteil der Wirkung des Satans aus. Deshalb sagt der Apostel, der Gott dieser Welt habe der Ungläubigen, also der zum Ver­derben Verordneten, Sinn verblendet, damit sie das Licht des Evangeliums nicht sehen (2. Kor. 4,4). An anderer Stelle hören wir, der Teufel wirke in den Kindern des Unglaubens (Eph. 2,2). Da wird also die Verblendung der Gottlosen und alles, was sich daraus an Lastern ergibt, als Werk des Teufels bezeichnet; und doch ist deren Ursache nicht außerhalb des menschlichen Willens zu suchen, aus dem die Wurzel alles Bösen hervorwächst und in dem das Fundament des Satansreiches, nämlich die Sünde, seinen Sitz hat.

 

 

 

II,4,2

Ganz anders verhält es sich in solchen Fällen mit dem göttlichen Wirken. Um dies deutlicher gewahren zu können, wollen wir die Not ins Auge fassen, die dem heiligen Manne Hiob von Seiten der Chaldäer zustieß. Die Chaldäer erschlugen seine Hirten und raubten ihm mit Gewalt seine Herde. Ihre Übeltat liegt offen zu­tage. Aber auch der Satan ist bei diesem Werke nicht müßig, ja von ihm geht nach der Erzählung das alles aus. Hiob selbst aber erkennt darin das Werk des Herrn und sagt, er habe ihm genommen, was doch von den Chaldäern geraubt wor­den war! Wie sollen wir für die nämliche Tat Gott, den Satan und den Menschen als den Urheber ansehen, ohne den Satan damit zu entschuldigen, daß doch auch Gott beteiligt sei, oder aber Gott zum Urheber des Bösen zu erklären? Das ist leicht, wenn wir zunächst auf die Absicht der Handlung achten und dann auf die Art der Ausführung. Der Ratschluß des Herrn geht darauf hinaus, sei­nen Knecht durch die Not in der Geduld zu üben. Der Satan bemüht sich, ihn zur

 

Verzweiflung zu bringen. Und die Chaldäer möchten fremdes Gut wider alles Recht vor Gott und Menschen an sich reißen. Eine so große Verschiedenheit der Ab­sichten trägt nun auch tiefe Unterschiede in das Werk selbst hinein. Nicht geringer ist daher auch die Verschiedenheit in der Art der Ausführung. Der Herr lie­fert seinen Knecht dem Satan aus, daß er ihn plage; er übergibt dem Satan auch die Chaldäer, die er als Diener zu solchem Werk bestimmt hatte, damit er sie dazu treibe. Der Satan dagegen bringt mit seinem giftigen Stachel das böse Wesen der Chaldäer dazu, diese Untat zu vollbringen. Und die Chaldäer rennen wild ins Unrecht hinein, verstricken und beflecken sich an Leib und Seele mit Bosheit. Man kann deshalb recht eigentlich sagen: In den Verworfenen wirkt der Satan; denn in ihnen übt er ja seine Herrschaft, also das Regiment der Bosheit aus. Man kann aber auch sagen: hier handelt Gott; denn der Satan selber ist ja das Werkzeug seines Zorns und wendet sich nach seinem Wink und Befehl bald hierhin, bald dort­hin, um seine gerechten Gerichte zu vollstrecken. Dabei sehe ich hier von der all­gemeinen Regierung Gottes ab, die alle Geschöpfe hebt und trägt und ihnen Kräfte zum Wirken verleiht. Ich rede nur von der besonderen Wirksam­keit, die in jeder einzelnen Tat sich zeigt. Es ist also, wie wir bemerken, gar nicht widersinnig, wenn die gleiche Tat Gott, dem Satan und dem Menschen zugeschrie­ben wird; aber die Verschiedenheit in Absicht und Ausführung bewirkt doch, daß hier Gottes Gerechtigkeit unbescholten in Ehren bleibt und anderseits die Verworfen­heit des Satans und des Menschen sich zu ihrer eigenen Schande kundtut.

 

 

 

II,4,3

Die alten Kirchenlehrer haben in allzu großer Zurückhaltung zuweilen Scheu, in diesem Stück die Wahrheit schlicht zu bekennen; sie möchten eben nicht der Gott­losigkeit Raum geben, ehrfurchtslos von Gottes Werken zu reden. Diese Bescheidenheit halte ich in allen Ehren; aber ich bin doch der Überzeugung, daß keine Gefahr besteht, wenn wir nur schlicht festhalten, was die Schrift uns sagt. Selbst Augustin ist von jener abergläubischen Furcht zuweilen nicht frei; so sagt er zum Beispiel, Verstockung und Verblendung des Menschen gehörten nicht zum tätigen Wirken Gottes, sondern zu seinem Vorherwissen (Von der Prädestination und der Gnade, 5). Aber derartigen Spitzfindigkeiten widerstehen viele Stellen der Schrift, die zeigen, daß Gott hier anders wirksam ist als bloß mit seinem Vorherwissen! Auch Augustin selber vertritt im fünften Buche der Schrift gegen Julian in langer Ausführung den Satz, die Sünde geschehe nicht nur mit Gottes Zulassung und unter seiner Geduld, sondern unter seiner Machtwirkung, nämlich zur Strafe für die früheren Sünden. Was man dann in gleicher Absicht von der „Zu­lassung“ Gottes redet, ist zu gehaltlos, um bestehen zu können. Denn wir hören doch sehr oft, daß Gott die Verworfenen verblendet und verstockt, daß er ihr Herz wendet, leitet und antreibt — wie ich das oben ausführlicher dargelegt habe. Man wird aber nie klarmachen können, um was es sich da handelt, wenn man seine Zuflucht zu Wörtern wie „Vorherwissen“ oder „Zulassung“ nimmt. Wir antworten also, daß dies (das Verblenden und Verstocken der Verworfenen) auf zweierlei Weise geschehe. Zunächst: Nimmt Gott sein Licht weg, so bleibt um uns nichts als Finsternis und in uns nur Blindheit! Zieht er seinen Geist zurück, so wird unser Herz hart wie Stein. Hört seine Führung auf, so verwirrt und verirrt es sich. Wenn er also einem Menschen das Vermögen nimmt, zu sehen, zu gehorchen und das Rechte zu tun, so kann man mit Recht sagen, er verblende, er verstockt, er bringe ihn vom rechten Wege ab! Das Zweite kommt dem eigentlichen Sinn der genannten Worte noch näher: Gott lenkt, um seine Gerichte zu vollstrecken, durch den Satan, den Diener seines Zorns, der Verworfenen Ratschlüsse nach seinem Wohlgefallen, erweckt ihre Entschlüsse und bekräftigt sie in der Tat. So berichtet auch Mose, der König Sihon habe das Volk nicht durch sein Land ziehen lassen, weil Gott seinen Geist verhärtet und sein Herz verstockt hatte; dann fügt er als Absicht bei diesem

 

Ratschluß hinzu: „Um ihn in eure Hände zu geben“ (Deut. 2,30). Gott wollte ihn also verderben, und deshalb war die Halsstarrigkeit seines Herzens Gottes Vorbereitung zu seinem Untergang.

 

 

 

II,4,4

 

Dem ersten Gedankengang entspricht etwa das Wort: „Er entzieht die Sprache den Bewährten und nimmt weg den Verstand der Alten“ (Hiob 12,20; Ez. 7,26). Oder: „Er nimmt weg die Weisheit von den Obersten des Volkes im Lande und führt sie irre durch wegloses Land“ (Ps. 107,40; nicht Luthertext). Ferner: „War­um lässest du uns, Herr, irren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, daß wir dich nicht fürchten?“ (Jes. 63,17). Denn diese Stellen zeigen eher, was Gott aus dem Menschen macht, wenn er ihn verläßt, als etwa, wie er (aktiv) sein Werk in ihnen tut. Aber andere Schriftzeugnisse gehen weiter. So besonders die, welche von der Verstockung des Pharao reden: „Ich will sein Herz verstocken, daß er das Volk nicht ziehen lassen wird“ (Ex. 4,21; 7,3). Nachher sagt er, er habe sein Herz steif und hart gemacht (Ex. 10,1). Bedeutete dies Verhärten einfach das Unterlassen des Erweichens? Gewiß: das auch. Aber er tat noch etwas mehr: er trug dem Satan auf, sein Herz zu verhärten, wie er zuvor gesagt hatte: „Ich will sein Herz halten.“ Dann zog das Volk aus Ägypten aus. Aber da traten ihm feind­liche Bewohner des Landes in den Weg. Wer hatte sie aufgestachelt? Mose jedenfalls behauptet dem Volke gegenüber, daß es der Herr war, der ihre Herzen verhärtet hatte (Deut. 2,30). Und der Prophet, der das nämliche Ereignis berührt, sagt, Gott habe ihr Herz verkehrt, daß sie seinem Volke gram wurden (Ps. 105,25). Nun kann man also nicht mehr sagen, sie seien bloß angelaufen, weil ihnen des Herrn Rat gefehlt habe. Denn wenn sie verhärtet und verkehrt wurden, so hieß das: sie wurden mit Vorbedacht in dieser Richtung geleitet! Und weiter: oft genug gefiel es dem Herrn, das Volk für seine Übertretung zu strafen — wie hat er denn da sein Werk in den Gottlosen getan? Jedenfalls so, daß man sehen kann: das Wirken stand bei ihm, und jene haben ihm nur Dienst geleistet. So droht er, die Feinde mit seinem Zischen herbeizurufen (Jes. 5,26; 7,18), sie als Netz zu gebrauchen, um Israel darin zu fangen (Ez. 12,13; 17,20), sie als Hammer zu schwingen, um sein Volk zu zerschlagen (Jer. 50,23). Daß er aber in den Feinden selbst nicht un­tätig ist, gab er vor allem dadurch kund, daß er den Sanherib eine Axt nannte (Jes. 10,15), die er mit seiner Hand führte und schwang, um damit das Volk zu zerhauen. Nicht übel gibt Augustin irgendwo die Beschreibung: Was sie sündigen, ist ihre Sache; aber daß sie mit ihrem Sündigen dies oder das tatsächlich voll­bringen, das kommt aus Gottes Kraft, der die Finsternis zerteilt, wie es ihm gefällt (Von der Prädestination der Heiligen, 16).

 

 

 

II,4,5

Nun dient der Satan dazu, die Gottlosen anzustacheln, sooft der Herr sie in seiner Vorsehung zu diesem oder jenem Werk bestimmt. Das läßt sich aus einer einzigen Stelle hinreichend ersehen. Im 1. Samuelbuche heißt es nämlich öfters, der „böse Geist des Herrn“ oder ein „böser Geist vom Herrn“ habe den Saul ergriffen, bzw. sei wieder von ihm gewichen (1. Sam. 16,14; 18,10; 19,9). Dies auf den Hei­ligen Geist zu beziehen, wäre frevelhaft. Es wird also ein böser Geist als Gottes Geist bezeichnet, weil er ja seinem Wink und seiner Macht Untertan ist und daher bei seinem Wirken eher Gottes Werkzeug als etwa sein eigener Meister ist! Zugleich ist zuzufügen, was Paulus lehrt: Gott sende kräftige Irrtümer und allerlei Ver­führung (zur Ungerechtigkeit), damit alle, die der Wahrheit nicht gehorcht haben, nun der Lüge glauben (2. Thess. 2,11). Und doch besteht bei dem gleichen Werk ein tiefer Unterschied zwischen dem, was der Herr tut und dem, was der Satan und die Gottlosen ins Werk setzen. Er läßt die bösen Werkzeuge, die er in der Hand hat und lenken kann, wohin er will, seiner Gerechtigkeit dienstbar sein. Sie dagegen sind ja böse und bringen mit ihrer Tat nur die Bosheit ihres Wesens, die sie in ihrer Verworfenheit ausgebrütet haben, ans Licht. Was sonst noch zu sa-

 

gen wäre, um Gottes Majestät gegen alle Lästerung zu verteidigen und den Gott­losen jede Ausflucht abzuschneiden, ist in dem Kapitel „Über die Vorsehung“ be­reits ausgeführt. Hier hatte ich nur die Absicht, kurz zu zeigen, wie der Satan in einem verworfenen Menschen regiert — und wie doch der Herr selbst in beiden am Werke ist.

 

 

 

II,4,6

 

Aber wir haben noch nicht auseinandergesetzt, was für eine Freiheit der Mensch in solchen Handlungen besitzt, die an sich weder gerecht noch böse sind und also mehr das leibliche als das geistliche Leben betreffen; diese Frage haben wir erst kurz be­rührt. Manche haben dem Menschen in solchen Dingen die freie Entscheidung zu­gesprochen. Nach meiner Ansicht haben sie das mehr darum getan, weil sie über diese wenig wichtige Frage keinen großen Streit haben mochten, als etwa deshalb, weil sie mit Sicherheit jenes von ihnen gemachte Zugeständnis festhalten wollten. Ich gestehe nun: wer erkennt, daß er keinerlei Vermögen zur Gerechtigkeit besitzt, der weiß damit das, was zum Heil vor allem zu wissen nötig ist. Aber ich glaube doch, daß auch dieses Lehrstück nicht vernachlässigt werden darf. Wir müssen er­kennen: wenn es uns einfällt, uns für das zu entscheiden, was uns zugute kommt, wenn der Wille sich dem zuwendet, und wenn anderseits Verstand und Gemüt dem aus dem Wege gehen, was schaden müßte, so ist das eine besondere Gnade des Herrn! Die Kraft der göttlichen Vorsehung geht so weit, daß die Dinge sich so auswirken, wie Gott es als gut ersehen hat, und daß auch der Wille der Menschen sich nach diesem Plan richten muß! Denken wir nach unserem Sinn über die Leitung des äußerlichen Geschehens nach, so werden wir ohne Bedenken sagen, dies unterstünde dem menschlichen Willen. Leihen wir aber jenen vielen Schriftzeugnissen das Ohr, die deutlich darauf hinweisen, daß der Herr auch in diesen Dingen die Menschenher­zen regiert, so zwingen uns diese, auch hier unseren Willen der besonderen gött­lichen Leitung zu unterstellen. Wer soll denn zum Beispiel den Willen der Ägyp­ter den Israeliten geneigt gemacht haben, so daß sie ihnen alle die kostbarsten Ge­räte liehen? (Ex. 11,2f.). Sie selbst waren von sich aus nie auf den Gedanken gekommen! Also unterstand auch ihr Herz der Leitung des Herrn und nicht eben ihrer eigenen Führung! So sagt Jakob von seinem Sohne Joseph, den er für irgendeinen Ägypter hält: „Gott lasse euch Barmherzigkeit vor diesem Manne finden“ (Gen. 43,14). Das hätte er nicht getan, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß Gott nach seinem Wohlgefallen in den Menschen die verschiedenen Empfindungen erweckt. So bekennt auch die ganze Kirche im Psalm (106,46), der Herr habe sich ihrer er­barmen wollen und deshalb das Herz grimmiger Völker zur Milde gewandelt. Fer­ner heißt es von Saul, sein Zorn sei entbrannt, so daß er sich zum Kriege rüstete — und als Ursache wird der Antrieb des Geistes Gottes angegeben! (1. Sam. 11,6). Wer hat das Herz des Absalom vom Rate des Ahitophel abgebracht, der doch sonst für ihn geradezu als göttlicher Spruch galt? (2. Sam. 17,14). Wer verkehrte den Sinn Rehabeams, daß er sich vom Rate der Jungen überzeugen ließ? (1. Kön. 12,10; 11,15). Wer hat Völker, die zuvor von großer Tapferkeit waren, vor den Israeli­ten in Schrecken gejagt? Die Hure Rahab jedenfalls erklärt das für ein Werk des Herrn! (Jos. 2,9). Und wer hat denn anders Israels Herz in Furcht und Schrecken versinken lassen als der, der im Gesetz gedroht hatte, dem Volk ein erschrockenes Herz zu geben, wenn es nicht gehorchte? (Lev. 26,36; Deut. 28,65).

 

 

 

II,4,7

Nun wird vielleicht jemand einwenden, das seien Einzelbeispiele, aus denen man keine allgemeine Regel machen sollte. Ich erwidere: diese Beispiele sind mir ein voll­gültiger Beweis für meine Behauptung, daß Gott, wenn er seiner Vorsehung Raum schaffen will, auch in äußeren Dingen den Willen der Menschen leitet und wendet, so daß also auch ihnen gegenüber nicht in dem Sinne eine freie Entscheidung besteht, daß etwa Gottes Wille die Herrschaft über unsere Freiheit einbüßte! Daß unser Wille von Gottes Lenken und nicht eben von unserer eigenen Entscheidungsfreiheit

 

abhängt, lehrt, ob man will oder nicht, selbst die tagtägliche Erfahrung: oft fehlt uns in recht verständlichen Dingen Urteilskraft und Verstand, oder bei einfachen Auf­gaben ermattet der Mut, oder es zeigt sich uns anderseits in ganz verwickelten Angelegenheiten auf einmal ein lösender Plan, oder unser Mut gewinnt auch in großer Gefahr die Überlegenheit über alle Schwierigkeiten. In dieser Weise verstehe ich das Wort des Salomo: „Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge — beide macht der Herr“ (Spr. 20,12). Er scheint mir da nämlich nicht von der Schöpfung zu sprechen, sondern von der Gnade, unsere Anlagen im besonderen Fall recht anzu­wenden. Wenn er dann schreibt: „Des Königs Herz ist in der Hand des Herrn wie Wasserbäche; und er neigt es, wohin er will“ (Spr. 21,1), so faßt er sicherlich unter der einen Person des Königs das ganze Menschengeschlecht zusammen. Denn wäre überhaupt der Wille eines Menschen von aller Abhängigkeit frei, so träfe das doch sicher auf den König zu, der doch sozusagen den Willen anderer Menschen regiert. Wird also der Wille des Königs von Gott geleitet, so gilt das sicher­lich erst recht von dem unsrigen! Hierüber gibt es einen ausgezeichneten Satz des Augustin: „Forscht man sorgfältig in der Schrift, so zeigt sie nicht nur, daß der gute Wille des Menschen, der zuvor böse war und von Gott gut gemacht worden ist und nun von ihm zu guten Handlungen und zum ewigen Leben hingelenkt wird, in Gottes Gewalt steht. Sie zeigt, daß auch jeder Wille, der zur gegenwärtigen Kreatur gehört, in Gottes Hand ist, so daß er ihn leiten kann, wohin er will und wann er will, Wohltaten zu erweisen oder auch nach seinem verborgenen, aber doch so ge­rechten Urteil Strafen zu vollstrecken!“ (Von der Gnade und dem freien Willen, 20).

 

 

 

II,4,8

 

Hier möge nun der Leser bedenken, daß die Kraft unseres menschlichen Willens nicht etwa nach dem sichtbaren Ergebnis beurteilt werden darf, wie das einige unkundige Leute in ihrer Torheit tun. Sie meinen die Abhängigkeit des mensch­lichen Willens dadurch fein und kunstvoll beweisen zu können, daß ja nicht einmal den höchsten Herrschern alles nach ihren Wünschen gerät. Die Fähigkeit aber, von der wir zu reden hatten, ist im Menschen selbst zu sehen, nicht aber am äußeren Erfolg zu messen. Der Streit um den freien Willen dreht sich nicht um die Frage, ob der Mensch, was er innerlich bei sich beschlossen hat, nun auch durch alle äußeren Hemmnisse hindurch ausführen und durchsetzen könne. Es geht vielmehr darum, ob der Mensch überhaupt in irgendeiner Sache freie Entscheidung in sei­nem Urteil und freie Triebkraft seines Willens habe. Muß diese Frage bejaht wer­den, so hat Attilius Regulus in seinem engen, genagelten Fasse ebensoviel Freiheit wie Julius Cäsar, dessen Wink ein gut Teil des Erdkreises regierte!

Fünftes Kapitel

 

 

 

Abwehr der Einwürfe, die man zur Verteidigung des freien Willens vorzubringen pflegt.

 

 

 

II,5,1

 

Über die Unfreiheit des menschlichen Willens wäre nun anscheinend genug ge­sagt, wenn da nicht Leute wären, die den Menschen durch den Aberglauben an seine Freiheit ins Unheil zu stürzen sich bemühen und zu diesem Zweck einige Gegengründe vorbringen, um unserer Meinung zu widerstehen. Da sammeln sie nun zunächst einige (angebliche) Widersinnigkelten auf, die diese Lehre in Verruf bringen sollen, als sei sie dem gesunden Menschenverstand zuwider. Alsdann aber führen sie auch Schriftzeugnisse ins Treffen. Wir werden beide Versuche der Reihe nach widerlegen. Also zunächst: Sie sagen: Ist die Sünde etwas Notwendiges, so hört sie da­mit auf, Sünde zu sein, ist sie aber etwas Willentliches, so läßt sie sich eben auch vermeiden. Nun waren das auch die Waffen, mit denen einst Pelagius gegen Augustin anging. Aber wir wollen unsere Gegner nicht von vornherein mit seiner Autorität belasten, ehe wir nicht selbst unsre Behauptung gerechtfertigt haben. Ich bestreite also, daß die Sünde deshalb weniger zuzurechnen sei, weil sie notwendig ist. Und ich bestreite ebenfalls ihre Folgerung, die Sünde sei vermeidbar, weil sie willentlich sei. Will nämlich jemand mit Gott rechten und sich hinter dem Vor­wand verstecken, er habe ja nicht anders gekonnt, so erhält er die Antwort, die wir bereits beigebracht haben: Daß die Menschen unter die Sünde versklavt sind und nur noch das Böse wollen können, ist nicht Schuld der Schöpfung, sondern der Verderbnis der Schöpfung! Woher kommt denn jenes Unvermögen, das die Gottlosen so gerne vorschützen, anders als daher, daß sich Adam aus freien Stücken der Tyrannei des Teufels unterwarf! Die Sündhaftigkeit, deren Ketten wir an uns tragen, rührt doch daher, daß der erste Mensch von seinem Schöpfer abfiel. Alle Menschen werden also mit vollem Recht dieses Abfalls für schuldig erklärt — und deshalb soll man sich doch nicht mit der Notwendigkeit entschuldigen zu können wähnen, die doch gerade der deutliche Grund unserer Verdammnis ist. Das habe ich ja auch oben deutlich auseinandergesetzt; ich habe sogar den Teufel selbst als Beispiel genommen und gezeigt, daß der, welcher notwendig sündigt, deshalb nicht weniger willentlich sündigt. So ist ja auch bei den erwählten Engeln zwar ein unentwegt dem Guten zugewandter Wille da, aber der hört doch deshalb nicht auf, Wille zu sein! So lehrt auch Bernhard, wie wir bereits anführten, recht gut, wir seien um so jämmerlicher daran, weil ja diese Notwendigkeit willentlich sei — und uns doch so fest bezwungen halte, daß wir Knechte der Sünde seien (Predigten zum Hohen Liede, 81). — Der zweite Teil der gegnerischen Schlußfolgerung ist verkehrt, weil sie vom „Willen“ gleich auf die „Freiheit“ schließen, was doch nicht angeht. Wir haben demgegenüber bereits dargelegt, daß etwas willentlich geschehen kann, ohne doch freier Entscheidung zu unterliegen.

 

 

 

II,5,2

 

Dann machen sie den Einwand: Wenn Tugend und Laster nicht aus der Entschei­dung des freien Willens hervorgehen, so ist es nicht richtig, daß man Strafen ver­hängt oder Belohnungen austeilt. Das ist ein Beweisstück des Aristoteles; aber es ist, das gebe ich zu, auch von Chrysostomus und Hieronymus da und dort ge­braucht worden. Trotzdem war es auch den Pelagianern völlig geläufig; das leugnet auch Hieronymus nicht, und er berichtet sogar ihre Ausdrücke: „Wenn Gottes Gnade in uns handelt, so wird eben sie gekrönt werden, nicht aber wir, die wir gar nichts schaffen“ (Brief an Ktesiphon, 135 und Dialog 1).

Betreffs der Strafen gebe ich die Antwort: sie werden uns mit Recht auf­erlegt, weil ja auch die Sündenverschuldung von uns ausgeht. Denn was macht es auch, ob da mit freiem oder geknechtetem Urteil gesündigt wird — es geschieht doch

 

mit willentlicher Begierde! Zumal der Mensch ja gerade dadurch als Sünder erwiesen ist, daß er eben unter der Knechtschaft der Sünde steht! — Was nun die Belohnung der Gerechtigkeit angeht, so soll es nun (nach ihrer Meinung) widersinnig sein, wenn wir bekennen, daß sie von Gottes Güte und nicht von un­serem eigenen Verdienst abhängt. Wie oft kehrt aber doch bei Augustin die Wendung wieder, Gott kröne nicht unser Verdienst, sondern seine eigenen Gaben; Lohn hieße das, nicht weil es unserem Verdienst zukomme, sondern weil er den von ihm selbst uns geschenkten Gnadengaben Vergeltung zuteil werden ließe! Sie bemerken nun scharfsinnig, es bliebe ja für Verdienste gar kein Raum mehr, wenn sie nicht aus der Quelle des freien Willens hervorsprudelten. Aber sie sind tief im Irrtum, wenn sie hier einen so großen Widerspruch sehen. Denn Augustin lehrt ja selbst an so vielen Stellen ohne Bedenken, was er nach ihrer Anschauung für freventlich erklären müßte; so z. B. sagt er: „Was sind denn die Verdienste der Menschen? Jesus ist doch nicht mit verdientem Lohn, sondern mit freier Gnade zu uns gekommen, und so hat er, der allein von der Sünde frei war und frei machte, alle Menschen als Sünder vorgefunden“ (Brief 155). Oder: „Wenn du nach Verdienst erhältst, dann mußt du Strafe leiden. Was geschieht also? Gott legt dir nicht die verdiente Strafe auf, sondern schenkt dir unverdiente Gnade. Willst du aber ohne Gnade sein, so berufe dich auf dein Verdienst!“ (Zu Psalm 31). Oder end­lich: „Von dir aus bist du nichts. Dir gehören deine Sünden. Die Verdienste sind Gottes Sache. Was dir mit Recht zukäme, wäre die Strafe. Kommt dir aber Lohn zu, so krönt Gott seine eigenen Gaben, nicht aber deine Verdienste“ (Zu Psalm 70). In diesem Sinne lehrt er auch, die Gnade komme nicht aus dem Ver­dienst, sondern das Verdienst aus der Gnade! Und gleich darauf kommt er zu dem Schluß, Gott gehe mit seinen Gaben allem Verdienst voran, um dann aus jenen ein Verdienst abzuleiten; da er nichts Verdienstliches finde, so schenke er sein Heil ganz aus Gnaden (Predigt 169).

 

Aber was sollen wir da eine lange Liste zusammenstellen, wo doch in Augustins Schriften immer wieder solche Sätze uns begegnen? Viel besser wird aber der Apostel unsere Gegner von ihrem Irrtum befreien, wenn sie hören, aus welchem Ursprung er die Ehre der Heiligen herleitet. „Welche er erwählt hat, die hat er auch berufen; welche er aber berufen hat, die hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerecht­fertigt hat, die hat er auch herrlich gemacht“ (Röm. 8,29f.). Weshalb werden also nach dem Zeugnis des Apostels die Gläubigen gekrönt? (2. Tim. 4,8). Weil sie durch Gottes Barmherzigkeit ohne all ihr Bemühen erwählt, berufen und ver­herrlicht sind! Hinweg also mit jener unbegründeten Furcht, es gäbe keine Verdienste mehr, wenn der freie Wille abgetan würde. Denn es ist die größte Torheit, vor dem voll Schrecken zu fliehen, zu dem uns die Schrift hinruft! „So du es aber emp­fangen hast, was rühmst du dich denn, als ob du es nicht empfangen hättest?“, sagt der Apostel (1. Kor. 4,7). Offensichtlich wird unserem freien Willen alles abge­sprochen, damit für Verdienst kein Raum mehr bleibt. Aber doch ist Gottes Wohltätigkeit und Freigebigkeit so unerschöpflich und vielfältig, daß er die Gnadengaben, die er uns zuteil werden läßt, eben weil er sie zu unserem Eigentum macht, ge­radezu als unsere Tugenden belohnt!

 

 

 

II,5,3

Den dritten Einwand entnehmen unsere Gegner anscheinend dem Chrysostomus: Liegt es nicht im Vermögen unseres Willens, sich für Gut oder Böse zu entscheiden, so müssen entweder alle Menschen als Teilhaber an der gleichen natür­lichen Art böse oder aber alle gut sein (23. Predigt über die Genesis). Von dieser Anschauung ist auch der Verfasser der Schrift „Von der Berufung der Heiden“, die unter dem Namen des Ambrosius umgeht, nicht weit ab. Er folgert so: Es würde doch noch nie ein Mensch vom Glauben abgekommen sein, wenn uns nicht Gottes Gnade wandelbar gelassen hätte. Dabei ist doch verwunderlich, daß sich

 

solche Männer so vergessen konnten! Warum ist dem Chrysostomus nicht der Ge­danke gekommen, es sei eben Gottes Erwählung, die den Unterschied zwischen den Menschen herstelle (den er vermißte)? Wir wollen jedenfalls ohne Ängstlichkeit zugeben, was Paulus in so hartem Streit bewährte, nämlich daß wir allzumal Sün­der sind und der Bosheit unterworfen. Aber wir fügen auch mit ihm hinzu: es sei das Werk der Barmherzigkeit Gottes, daß nicht alle in der Verderbnis bleiben! Wir leiden also von Natur alle an dem gleichen Gebrechen, und so kommen nur die zur Gesundung, denen der Herr nach seinem Wohlgefallen seine heilende Hand reicht. Die anderen, an denen er in gerechtem Gericht vorübergegangen ist, quälen sich in ihrer Krankheit, bis es zu Ende geht. Daß einige bis ans Ende beharren, an­dere dagegen den Lauf beginnen und dann doch stürzen, kommt aus der gleichen Ur­sache. Denn die Beharrung ist ja selber ein Geschenk Gottes, das er nicht allen in gleicher Welse gewährt, sondern zuteilt, wem er will. Sucht man also den Grund für diesen Unterschied, fragt man also, warum die einen beständig ausharren, die anderen in Unbeständigkeit wanken, so bleibt nur das eine: die einen stärkt der Herr mit seiner Kraft und verleiht ihnen so die Beständigkeit, daß sie nicht um­kommen; die anderen sollen Beispiele der Unbeständigkeit sein, und darum verleiht ihnen der Herr nicht die gleiche Kraft.

 

 

 

II,5,4

Viertens kommt man mit der Entgegnung: Hätte der Sünder keine Möglichkeit zu gehorchen, so wären alle Ermahnungen vergebens, alle Ermunterungen über­flüssig, alle Verweise lächerlich! Solche Einwürfe hat man einst auch gegen Augustin erhoben, und er sah sich durch sie gezwungen, sein Büchlein „Von der Züchtigung und Gnade“ zu schreiben. Dort gibt er eine sehr weitläufige Widerlegung und redet dann seine Gegner zusammenfassend so an: „O Mensch, erkenne doch am Gebot, was du tun sollst, an der Züchtigung sieh’, daß du durch deine Schuld nicht hast, was du haben solltest — und merke am Gebet, woher du erhältst, was du haben möchtest!“ Ähnlich ist auch die Beweisabsicht in dem Buche „Vom Geist und Buch­staben“. Da lehrt er: Gott bemißt seine Gebote nicht nach den menschlichen Kräften; sondern er gebietet, was recht ist, und gibt dann in freier Gnade seinen Erwählten die Fähigkeit, es zu erfüllen. Eines langen Streits bedarf jener Einwand nicht. Denn hier sind nicht nur wir die Angegriffenen, sondern zugleich Christus und alle Apostel. Und unsere Gegner sollen zusehen, wie sie in einem Streite obsiegen, in dem sie es mit solchen Widersachern zu tun haben! Christus spricht aus: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. 15,5). Tadelt er deshalb weniger die, welche ohne ihn etwas Böses tun? Unterläßt er deshalb etwa die Ermahnung, daß jeder sich guter Werke befleißigen solle? Wie scharf geht Paulus gegen die Korinther vor, die die Liebe vernachlässigten! Und doch bittet er schließlich den Herrn, ihnen die Liebe ins Herz zu geben! Im Römerbrief bezeugt er: „So liegt es denn nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Röm. 9,16). Aber er unterläßt es doch nachher keineswegs, zu ermuntern, zu ermahnen und zu stra­fen! Weshalb fallen denn unsere Gegner nicht dem Herrn ins Wort, er solle doch keine vergeblichen Anstrengungen machen, indem er vom Menschen fordere, was er doch nur selber geben kann, oder an ihm tadele, was doch nur beim Fehlen seiner Gnade vorkommen kann? Weshalb wenden sie sich nicht an Paulus, er solle doch die Menschen mit Ermahnungen und Tadel verschonen, da sie es ja doch nicht in der Hand haben, zu „wollen“ oder zu „laufen“, wenn nicht Gottes Erbarmen ihnen zuvorkommt — das ihnen nun eben fehlt? Als hätte der Herr zu seiner Lehre nicht klare Ursache, die sich dem, der in Frömmigkeit danach fragt, auch klar erweist! Was Ermahnung und Strafe an sich ausrichten können, um das Herz zu wandeln, das beschreibt Paulus selber: „Nicht der da pflanzet, ist etwas, auch nicht, der da be-

 

gießt, sondern der Herr, der das Gedeihen gibt ...“ (1. Kor. 3,7) So schärft auch Mose die Gebote des Gesetzes mit Nachdruck ein, und die Propheten begegnen den Übertretern mit Eifer und Drohung. Und dabei bekennen sie doch, daß der Mensch erst dann zur Vernunft kommt, wenn ihm ein verständiges Herz gegeben wird, daß es Gottes eigenes Werk ist, das Herz zu beschneiden und ein fleischernes statt des steinernen zu schenken, sein Gesetz den Menschen ins Innere einzuschreiben, end­lich die Seele zu erneuern und so der Lehre Wirkung zu verschaffen!

 

 

 

II,5,5

 

Wozu nun also Ermahnungen? Sie werden einst gegen die Gottlosen, die sie jetzt starrsinnig verachten, als Zeugnis auftreten, wenn es zu des Herrn Gericht kommt; ja sie geißeln und peinigen schon jetzt ihr Gewissen — denn spotten mag ihrer ein verwegener Narr, aber abweisen kann er sie nicht! Aber man fragt: Was soll denn solch armer Mensch machen, wenn ihm die Zugänglichkeit des Herzens ver­sagt bleibt, die doch zum Gehorsam unerläßlich ist? — Gewiß, aber was will der Mensch denn für eine Ausflucht suchen, da er sich doch seine Herzenshärtigkeit sel­ber zuschreiben muß? So werden also die Gottlosen, die nach Möglichkeit solche Ermahnungen zum Spott halten, ob sie wollen oder nicht, von ihrer Kraft zu Bo­den geworfen.

Als das wesentlichste ist aber der Nutzen solcher Ermahnungen für die Gläubigen anzusehen. An ihnen wirkt der Herr alles durch seinen Geist, aber er be­nutzt ebenso auch das Werkzeug seines Wortes, und das nicht ohne Wirkung. Es ist also eine unumstößliche Wahrheit, daß alle Rechtschaffenheit der Gläubigen allein in Gottes Gnade besteht, nach dem Wort des Propheten: „Ich will ihnen ein neues Herz geben, daß sie in meinen Geboten wandeln“ (Ez. 11,19.20). Nun könnte aber jemand einwenden: warum werden denn die Gläubigen an ihre Pflicht er­innert und nicht einfach der Leitung des Geistes überlassen? Weshalb werden sie durch Ermahnungen aufgemuntert, wenn sie doch nicht mehr zu eilen vermögen, als der Heilige Geist ihnen Antrieb verleiht? Weshalb werden sie gestraft, wenn sie vom Wege gewichen sind, wo doch solches Fallen nur die Folge der notwen­digen Schwachheit ihres Fleisches ist? O Mensch, wer bist du, daß du Gott ein Gesetz auflegen willst? Wenn uns doch Gott zum Empfang der Gnade selber, die uns in den Stand setzt, der Vermahnung zu gehorchen, durch eben diese Vermahnung vorbereiten will, was soll denn an dieser Ordnung zu tadeln oder zu be­spötteln sein? Und wenn die Ermahnungen bei den Frommen nichts anders er­reichten, als daß sie sie von der Sünde überführten, so wären sie schon deshalb nicht als gänzlich nutzlos anzusehen! Nun aber dienen sie vermöge der inneren Wirk­samkeit des Geistes hervorragend dazu, das Trachten nach dem Guten zu entzün­den, die Faulheit zu beheben, die Freude an der Bosheit und deren vergiftete Süßigkeit zu verderben und anderseits Haß und Ekel gegen sie zu erzeugen; wer wollte sie da noch für überflüssig erklären? Will jemand eine klarere Antwort ha­ben, so will ich mich so ausdrücken: Gott handelt in seinen Auserwähl­ten stets auf doppelte Weise: im Inneren durch seinen Geist, von außen durch sein Wort. Durch den Geist erleuchtet er den Verstand, bringt das Herz zur Liebe und Verehrung gegenüber der Gerechtigkeit und macht solchermaßen aus dem Menschen eine neue Kreatur. Durch das Wort reizt er ihn, diese Erneuerung zu begehren, zu suchen und zu erlangen. In beiden übt er das wirken seiner Hand nach dem Maß, das er bei der Verteilung seiner Gaben inne­hält. Das gleiche Wort läßt er auch den Gottlosen zukommen; hier schafft es zwar keine Besserung, aber er läßt es doch zu einer anderen Auswirkung kommen: es ist das Zeugnis, das schon jetzt ihr Gewissen bedrücken und sie am Tage des Gerichts um so mehr unentschuldbar machen soll. So lehrt Christus gewiß, daß niemand zu ihm kommen kann, es ziehe ihn denn der Vater, und daß die Erwählten zu ihm kommen, nachdem sie es vom Vater gehört und gelernt haben (Joh. 6,44.45). Aber

 

er waltet deshalb doch recht seines Lehramts und lädt mit seiner Stimme unablässig alle zu sich ein, obwohl sie doch alle der inneren Belehrung des Heiligen Geistes bedürfen, um irgendwie vorwärtszukommen! Und Paulus zeigt, daß die Lehre auch bei den Gottlosen nicht wirkungslos ist, weil sie ihnen „ein Geruch des Todes zum Tode“ ist, „Gott aber ein guter Geruch“ (2. Kor. 2,16).

 

 

 

II,5,6

 

In der Aufzählung von Schriftzeugnissen entwickeln unsere Gegner rege Geschäftigkeit, die vor allem deshalb so groß ist, weil sie uns, da es diesen Stellen an Beweiskraft fehlt, wenigstens durch deren große Zahl überrennen möch­ten. Aber wie in der Schlacht, wenn es zum Handgemenge kommt, eine große, aber kriegsuntüchtige Menge, so prunkvoll und prahlerisch sie sich auch ausnimmt, doch mit wenigen Schlägen ganz durcheinandergeworfen und in die Flucht gejagt wird, so wird es auch uns leicht sein, unsere Gegner samt ihrem großen Heer auseinanderzutreiben. Nun lassen sich all die Schriftstellen, die sie mißbräuchlich gegen uns an­führen, eigentlich in wenigen Hauptpunkten zusammenfassen, und deshalb können wir, nachdem wir sie in Gruppen eingeteilt, mehreren mit einer Antwort Genüge tun. Es wird also nicht erforderlich sein, sie einzeln zu widerlegen.

 

Besonders berufen sie sich auf die Gebote. Sie meinen, diese seien doch un­seren Fähigkeiten derart angemessen, daß wir also notwendig das, was von ihnen nachweislich angeordnet ist, auch zu leisten vermöchten. So gehen sie die Gebote einzeln durch und messen danach das Ausmaß unserer Kräfte. Dabei sagen sie so: entweder hat uns Gott verspottet, wenn er Heiligkeit, Frömmigkeit, Gehorsam, Keuschheit, Liebe und Sanftmut fordert und Unreinigkeit, Götzendienst, Unkeuschheit, Zorn, Räuberei, Stolz und dergleichen untersagt — oder aber er hat nur verlangt, was in unserer Macht steht!

 

Nun kann man all die Gebote, die sie anhäufen, in drei Gruppen einteilen. Die erste Gruppe fordert die Bekehrung zu Gott, die zweite spricht einfach von der Beobachtung des Gesetzes, die dritte trägt uns auf, in der empfangenen Gnade Gottes zu beharren. Wir wollen zunächst über alle drei Arten zusammen sprechen und dann die drei Ausgestaltungen einzeln durchgehen.

 

Der Versuch, die Fähigkeiten des Menschen in ihrem Maß nach den Geboten des göttlichen Gesetzes zu bestimmen, ist schon seit langer Zeit in Gebrauch gekom­men und hat auch einen Schein der Wahrheit für sich, stammt aber doch aus grober Unkenntnis des Gesetzes. Unsere Gegner halten es für einen furchtbaren Frevel, wenn man sagt, die Erfüllung des Gesetzes sei unmöglich; sie haben es dabei auf den „schlagenden“ Beweis abgesehen: in diesem Falle wäre nämlich das Gesetz umsonst gegeben! Sie reden geradezu, als ob Paulus nie etwas vom Gesetz gesagt hätte! Was sollen denn solche Aussagen bedeuten, wie: das Gesetz sei um der Übertretung willen dazugekommen (Gal. 3,19), durch das Gesetz komme Erkenntnis der Sünde (Röm. 3,20), das Gesetz errege die Sünde (Röm. 7,7ff.), es sei nebeneingekommen, damit die Sünde mächtiger würde (Röm. 5,20)? Kann man da sagen, Gott hätte das Gesetz unseren Kräften anpassen müssen, damit es nicht umsonst gegeben würde? Nein, es geht weit über unsere Kräfte, eben um uns unsere Ohnmacht zum Be­wußtsein zu bringen! Gewiß ist nach der Beschreibung desselben Paulus das Ziel und die Erfüllung des Gesetzes die Liebe (1. Tim. 1,5). Aber er spricht doch auch den Gebetswunsch aus, es möchten die Herzen der Thessalonicher mit Liebe erfüllt werden (1. Thess. 3,12), und macht damit deutlich, daß das Gesetz ohne Wirkung an unser Ohr klingt, wenn nicht Gott seinen ganzen Inhalt in unserem Herzen lebendig macht.

 

 

 

II,5,7

Wenn die Schrift nichts anderes lehrte, als daß das Gesetz die Richtschnur un­seres Lebens sei, nach der wir all unseren Eifer richten müßten, so würde auch ich mich ohne Zögern der Ansicht meiner Gegner anschließen. Aber die Schrift entfaltet uns doch gründlich und deutlich eine mehrfache Anwendung des Gesetzes, und des-

 

halb müssen wir aus ihrer Auslegung erkennen, was das Gesetz im Menschen be­wirkt. Was unsere Frage betrifft, so schreibt uns die Schrift einerseits vor, was wir tun sollen, und anderseits lehrt sie uns doch gleichzeitig, die Kraft zum Ge­horsam komme aus Gottes Güte, und fordert uns zum Gebet auf, durch das wir um solches Geschenk bitten sollen. Wäre da nur der Befehl und keinerlei Verhei­ßung, so müßten wir unsere Kräfte prüfen, ob sie zur Erfüllung des Gebots hin­reichten. Aber es sind doch tatsächlich mit den Geboten die Verheißungen verbunden, die uns zurufen, daß uns die Hilfe der göttlichen Gnade nicht bloß Unterstützung, sondern überhaupt alle Kraft verleiht; und gerade diese Verheißungen be­zeugen uns also mehr als genug, daß wir viel zu schwach, ja gänzlich untüchtig sind, das Gesetz zu halten. Deshalb soll jetzt keiner mehr behaupten, unsere Kräfte seien nach dem Maße der Forderung des Gesetzes vorhanden, als ob der Herr die Richtschnur der Gerechtigkeit, die er in dem Gesetz geben wollte, nach dem Maß unserer Schwachheit bemessen hätte! Vielmehr müssen wir aus den Verheißungen lernen, wie unfähig wir von uns selbst aus sind, da wir ja in jeder Hinsicht so sehr der Gnade Gottes bedürfen!

 

Aber man erwidert: wer soll denn annehmen, der Herr habe sein Gesetz für Klötze und Steine bestimmt? Allerdings, das will auch niemand zu glauben ver­langen! Denn weder die Gottlosen sind Steine oder Klötze — das Gesetz überführt sie ja, daß ihre Begierden sich gegen Gott richten, und so sind sie nach ihrem eige­nen Zeugnis schuldig — noch auch die Frommen, wenn sie im Bewußtsein ihrer Ohnmacht zur Gnade ihre Zuflucht nehmen! Hierhin gehören auch einige gewichtige Aussprüche Augustins. „Gott befiehlt, was wir nicht können, damit wir erkennen, was wir von ihm erbitten sollen“ (Von der Gnade und vom freien Willen, 116). „Groß ist der Nutzen der Gebote, wenn man dem freien Willen soviel gibt, daß Gottes Gnade um so mehr geehrt werde“ (Brief 167). „Der Glaube erlangt, was das Gesetz verlangt“ (Handbüchlein, 117), „ja darum verlangt das Gesetz, damit der Glaube erlange, was durch das Gesetz verlangt wurde; den Glauben selbst ver­langt Gott von uns, und er wird nicht finden, was er sucht, wenn er nicht selber gibt, was er finden will“ (Johannespredigten, 32). „Gott gebe, was er befiehlt, und dann mag er befehlen, was er will“ (Bekenntnisse, 10).

 

 

 

II,5,8

 

Das kann man alles bei der Betrachtung der drei Arten von Geboten, die wir oben kurz berührten, klarer erkennen.

 

(1.) Der Herr gebietet im Gesetz wie in den Propheten öfters, wir sollten uns zu ihm bekehren (Joel 2,12; Ez. 13,30-32; Hos. 14,2f.). Aber auf der anderen Seite seufzt der Prophet: „Bekehre du mich, Herr, so werde ich bekehrt; da ich bekehret ward, da tat ich Buße ...“ (Jer. 31,18f.). Er gebietet uns ja auch, die Vorhaut unseres Herzens zu beschneiden (Deut. 10,16); aber durch Mose ver­kündigt er, solche Beschneidung geschehe durch seine Hand! (Deut. 30,6). Öfters verlangt er die Erneuerung des Herzens — aber an einer Stelle bezeugt er, er werde sie uns selbst zuteil werden lassen! (Ez. 36,26). „Was aber Gott verheißen hat“, sagt Augustin, „das tun wir nicht selbst aus unserem Willen oder unserer Natur, sondern das tut er selbst durch seine Gnade!“ (Von der Gnade Christi und der Erbsünde, I,30f.). Und unter den Regeln des Ticonius zählt er an fünfter Stelle auch die Bemerkung auf, wir sollten fein unterscheiden zwischen Gesetz und Verhei­ßung, Gebot und Gnade (Von der christlichen Unterweisung, III,33). Hinweg also mit denen, die aus den Geboten schließen wollen, der Mensch sei irgendwie zum Gehorsam befähigt; sie tun es ja nur, um Gottes Gnade aufzuheben, welche die Ge­bote selbst erfüllt!

(2.) Zur zweiten Art gehören die gewöhnlichen Gebote, in welchen uns be­fohlen wird, Gott zu verehren, seinem Willen dienstbar zu sein und anzuhangen, das zu beachten, was ihm wohlgefällt, und seiner Lehre zu folgen. Aber unzählige

 

Stellen bezeugen doch auch, daß es sein Geschenk ist, was man an Gerechtigkeit, Heiligkeit, Frömmigkeit und Reinheit haben kann!

 

(3.) Zur dritten Gruppe gehören solche Ermahnungen, wie sie Paulus und Barnabas nach dem Bericht des Lukas den Gläubigen erteilen, nämlich sie sollten in der Gnade Gottes verharren (Apg. 13,43). Aber derselbe Paulus zeigt an anderer Stelle auch, woher man die Kraft zu solcher Beständigkeit erbitten soll. „Zuletzt, meine Brüder, seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke ...“ (Eph. 6,10) Und an anderer Stelle verbietet er uns, den Geist des Herrn zu betrüben, mit dem wir „versiegelt sind auf den Tag unserer Erlösung“ (Eph. 4,30). Aber was er da fordert, kann ja von den Menschen nicht geleistet werden, und so bittet er den Herrn für die Thessalonicher, er möge sie „würdig machen ihrer heiligen Berufung und in ihnen allen guten Vorsatz seiner Güte er­füllen, dazu das Werk des Glaubens“ (2. Thess. 1,11). In gleicher Weise rühmt er im zweiten Korintherbriefe, wo er von den Liebesgaben spricht, öfters den from­men und guten Willen der Gemeinde, dankt aber doch gleich darauf Gott, der es dem Titus ins Herz gegeben habe, sie zu ermahnen (2. Kor. 8,11.16). Wenn Titus nicht einmal seinen Mund in Dienst stellen konnte, um die anderen zu ermahnen, ohne daß Gott ihn dazu trieb — wie sollten dann die anderen zum Handeln willig geworden sein, ohne daß Gott selber ihre Herzen geneigt machte?

 

 

 

II,5,9

Aber all diese Zeugnisse der Schrift erklären unsere Gegner in ihrer Arglist für unzureichend; sie meinen, es stehe doch nichts dagegen, daß wir eben selbst unsere Kräfte daransetzten und Gott dann unseren schwachen Versuchen Unterstützung leihe. Sie bringen sogar Stellen aus den Propheten bei, wo das Zustandekommen unserer Bekehrung zwischen Gott und uns aufgeteilt scheint. So zum Beispiel: „Bekehret euch zu mir, so will ich mich wieder zu euch kehren“ (Sach. 1,3). Welcher Art nun des Herrn Hilfe ist, die er uns schenkt, ist bereits oben behandelt worden und bedarf hier nicht der Wiederholung. Nur das eine soll man mir zugestehen: daß es vergebens ist, im Menschen deshalb das Vermögen zur Erfüllung des Ge­setzes finden zu wollen, weil der Herr von uns den Gehorsam verlangt. Denn es steht doch fest, daß zur Erfüllung aller Gebote Gottes die Gnade des Gesetzgebers selbst notwendig ist — und daß eben diese uns verheißen ist! Ist das zuge­geben, so leuchtet wenigstens ein, daß mehr von uns verlangt wird, als wir zu leisten vermögen. Man kann sich noch so listig stellen, so läßt sich doch das Wort des Jeremia nicht auflösen, wonach der Bund, der einst mit dem alten Volke geschlossen war, zunichte geworden ist, weil er doch bloß in Buchstaben bestand — während der neue Bund nur dann in Wirksamkeit tritt, wenn der Geist hinzukommt, der die Herzen zum Gehorsam bringt (Jer. 31,32ff.). Selbst der Spruch: „Bekehret euch zu mir, so will ich mich zu euch kehren“ kann der Ansicht meiner Widersacher nicht zur Stütze dienen. Denn da ist nicht von der Hinkehr Gottes zu uns die Rede, in der er unser Herz zu rechter Buße erneuert, sondern von jener anderen, in der er sich durch Schickung glücklicher Zeiten wohlwollend und hilfreich erweist, so wie er ja auch sein Mißfallen zuweilen durch Mißgeschick zu erkennen gibt. Weil nun ja das Volk, geplagt von allerlei Jammer und Not, Klage erhebt, Gott habe sich von ihm abge­wandt, so gibt er zur Antwort, seine Freundlichkeit werde ihm nicht fehlen, wenn es zur Rechtschaffenheit des Lebens und zu ihm, der doch das Urbild der Gerechtig­keit ist, sich bekehrte. Es bedeutet daher eine üble Verdrehung des Textes, wenn man ihn so auslegt, daß das Werk der Bekehrung halb von Gott und halb vom Menschen getan scheint! Dies haben wir deshalb kürzer berühren können, weil diese Untersuchung eigentlich mehr zur Lehre vom Gesetz gehört und deshalb auch dort behandelt werden soll.

 

II,5,10

 

In engster Beziehung zu diesem ersten Beweisstück der Widersacher steht die zweite Gruppe von Schriftbeweisen. Man nennt Verheißungen, in denen der Herr mit unserem Willen gleichsam einen Vertrag macht. So zum Beispiel: „Suchet das Gute und nicht das Böse, so werdet ihr leben“ (Am. 5,14). „Wollet ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen, weigert ihr euch aber und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwerte gefressen werden, denn der Mund des Herrn sagt es“ (Jes. 1,19.20). „So du deine Greuel wegtust von meinem An­gesicht, so sollst du nicht vertrieben werden“ (Jer. 4,1). „Wenn du der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorchen wirst, daß du hältst und tust alle seine Gebote, so wird dich der Herr, dein Gott, zum höchsten machen über alle Völker der Erde“ (Deut. 28,1). Dazu kommen noch andere Stellen, wie z. B. auch Lev. 26,3ff.

 

Man meint nun: All diese Wohltaten, die Gott in seinen Verheißungen anbietet, werden ja nur zu merkwürdigem Spott und Hohn an unseren Willen geknüpft, wenn wir nicht die Fähigkeit haben, sie uns anzueignen oder von uns zu weisen! Und das kann man dann gewiß auch mit redseligen Klagen ausweiten, wir würden vom Herrn grausam zu Narren gehalten, wenn er verkünde, seine Wohltaten hingen von unserem Willen ab, — wo doch unser Wille gar nicht in unserer Macht stehe! Das wäre wirklich eine herrliche Freigebigkeit Gottes, wenn er uns so seine Wohl­taten anböte, daß wir sie gar nicht genießen könnten! Eine merkwürdige Gewißheit um seine Verheißungen wäre das, wenn diese, damit sie doch nie in Erfüllung gin­gen, von einer unerfüllbaren Bedingung abhingen!

 

Wir werden von solchen Verheißungen, denen eine Bedingung beigegeben ist, an anderer Stelle zu reden haben. Da wird denn auch deutlich werden, daß in der Unmöglichkeit der Erfüllung dieser Bedingungen nichts Widersinniges liegt. Im vorliegenden Falle leugne ich, daß Gott mit uns grausam Possen treibe, wenn er uns auffordert, seine Gaben zu verdienen, wo er doch weiß, wie gar unvermö­gend wir sind. Denn diese Verheißungen werden den Gläubigen zugleich mit den Ungläubigen gegeben und haben beiden gegenüber eine ganz verschiedene Wirkung. Denn wie Gott durch seine Gebote das Gewissen der Gottlosen aufrüttelt, damit sie sich in ihren Sünden nicht zu wohl fühlen — und ohne Erinnerung an Gottes Gericht würden sie das eben doch tun! —, so bezeugt er ihnen durch seine Verheißungen, wie unwürdig sie seiner Freundlichkeit sind! Denn wer wollte es nicht für das Gerechteste und Angemessenste von der Welt halten, daß der Herr denen wohltäte, die ihn verehren, und dagegen an den Verächtern seiner Majestät mit aller Strenge Vergeltung übte? Deshalb handelt Gott recht und ordnungsmäßig, wenn er den Gottlosen, die in den Fesseln der Sünde gebunden liegen, in seinen Verheißungen die Bedingung bekanntgibt, sie würden erst dann seine Wohltaten empfangen, wenn sie von der Bosheit abließen; sei es auch nur, damit sie erkennen: sie sind mit vollem Recht von dem geschieden, was den wahren Verehrern Gottes zukommt!

Auf der anderen Seite wendet er doch viele Mittel an, um die Gläubigen dazu zu bringen, seine Gnade zu erbitten; und da ist es keineswegs unsinnig, wenn er das, was er augenscheinlich mit seinen Geboten mit viel guter Wirkung an uns tut, auch mit seinen Verheißungen versucht. Durch die Gebote erfahren wir Gottes Willen und werden so an unseren Jammer erinnert, da wir ja von ganzem Herzen diesem Willen zuwider sind. Zugleich werden wir auch angetrieben, seinen Geist anzurufen, der uns den rechten Weg leiten möge. Aber die Gebote reichen noch nicht aus, uns in unserer Bequemlichkeit aufzustören, und deshalb kommen die Verhei­ßungen hinzu, die uns gewissermaßen durch ihre Lieblichkeit Lust zu den Geboten machen! Je stärker aber in uns das Trachten nach der Gerechtigkeit ist, desto heißer suchen wir Gottes Gnade. Mit solchen Aufforderungen: „Wenn ihr wollt“ oder „Wenn ihr höret“ mißt uns der Herr also nicht die freie Fähigkeit bei, zu wollen

 

oder zu hören, hält uns aber auch keineswegs angesichts unserer Ohnmacht zu Narren!

 

 

 

II,5,11

 

Auch die dritte Gruppe (von angeblichen Schriftbeweisen der Gegner) hat mit den beiden ersten viel Ähnlichkeit. Da bringen sie nämlich Stellen bei, in denen Gott seinem undankbaren Volk Vorwürfe macht, des Inhalts, es trage allein die Schuld daran, wenn es nicht aus seiner Freundlichkeit allerlei Gutes empfangen habe. Dazu gehören etwa folgende Stellen. „Die Amalekiter und Kanaaniter sind vor euch daselbst, und ihr werdet durchs Schwert fallen, darum daß ihr euch vom Herrn gekehrt habt“ (Num. 14,43). „Weil ich euch gerufen habe, und ihr habt nicht geantwortet, so will ich diesem Hause tun, gleichwie ich Silo getan habe“ (Jer. 7,13f.). „Dies ist das Volk, welches den Herrn, seinen Gott, nicht hören wollte, noch sich nicht bessern will, ... darum ist es von dem Herrn verworfen“ (Jer. 7,28f.). „Weil ihr euer Herz verhärtet habt und wolltet nicht dem Herrn gehorchen, so sind alle diese Übel über euch gekommen“ (Jer. 5,3; Vulgata). Nun sagen die Gegner: Wie sollen denn solche Vorwürfe einem Volk gegenüber am Platze sein, das gleich antworten könnte: „Unser Wohlergehen lag uns zwar sehr am Herzen, und wir fürchteten das Unglück; daß wir aber, um glücklich zu werden und Unheil zu vermeiden, dem Herrn nicht gehorcht haben noch auf seine Stimme geachtet — das kommt daher, daß wir ja der Herrschaft der Sünde unterworfen sind und nicht frei waren, das Gebotene zu tun! Deshalb wird uns das Böse ohne Grund zum Vorwurf gemacht, weil es ja gar nicht in unserer Macht stand, ihm aus dem Wege zu gehen.“

 

Ich will aber diese Ausflucht, die sich auf die Notwendigkeit der Sünde beruft, übergehen, weil sie bloß eine nichtsnutzige und oberflächliche Ausrede ist. Nur möchte ich fragen, ob jene Menschen wirklich die Schuld von sich abwälzen können. Wenn sie nämlich schuldig sind, so macht ihnen der Herr nicht ohne Ursache den Vorwurf, es sei Folge ihrer Verkehrtheit, wenn sie die Frucht seiner Freund­lichkeit nicht geschmeckt haben. Sie sollen mir also antworten, ob sie abstreiten kön­nen, daß die Ursache ihrer Halsstarrigkeit ihr eigener böser Wille war! Finden sie aber die Quelle des Bösen in sich selber, wozu forschen sie denn so eifrig nach äu­ßeren Ursachen, um nur ja nicht selbst als Urheber des eigenen Verderbens zu er­scheinen? Wenn es doch wahr ist, daß der Sünder durch seine eigene, nicht durch fremde Schuld der göttlichen Gaben verlustig geht und der Strafe Gottes verfällt, so besteht wahrhaftig Grund genug, solche Vorwürfe aus Gottes Mund zu hören. Gehen nämlich die Menschen halsstarrig ihren Weg weiter, so sollen sie in der Not lernen, ihre eigene Bosheit zu verklagen und zu beschuldigen, statt etwa Gott ver­leumderisch ungerechte Schärfe vorzuwerfen. Sind sie aber noch einigermaßen lenksam, so soll der Überdruß an der Sünde, von der sie sich in Jammer und Verder­ben gestürzt sehen, über sie kommen, und so sollen sie auf den rechten Weg zurück­kehren und solchermaßen in ernstem Bekenntnis selbst anerkennen, was der Herr in seinen Vorwürfen in Erinnerung ruft!

Dazu haben jene oben erwähnten Tadelworte der Propheten bei den Frommen auch tatsächlich gedient, wie das aus dem herrlichen Gebet hervorgeht, das uns im neunten Kapitel des Buches Daniel überliefert wird. Die zuerst beschriebene Wir­kung sehen wir am Beispiel der Juden, denen Jeremia auf Gottes Geheiß die Ur­sache all ihres Jammers aufweisen sollte, obgleich die Ereignisse nicht anders kommen sollten, als es der Herr vorhergesagt hatte! „Du sollst ihnen das alles sagen, und sie werden dich nicht hören, rufe ihnen zu, und sie werden dir nicht antworten!“ (Jer. 7,27; nicht Luthertext). Wozu wird denn hier Tauben etwas gesungen? Sie sollen ohne und gegen ihren Willen einsehen, daß es doch wahr ist, was sie ge­hört haben, daß es frevelhafte Gotteslästerung ist, wenn sie die Schuld für ihre Bosheit, die doch in ihnen selber liegt, Gott zuschreiben! Mit diesen wenigen Widerlegungen kann man sich der ganzen Unmenge von Schriftzeugnissen erwehren,

 

welche die Feinde der Gnade Gottes zur Errichtung eines Götzenbildes für den freien Willen aus den Geboten wie auch aus den Drohungen gegen die Übertreter des Gesetzes so emsig anhäufen. Vorwurfsvoll heißt es im 78. Psalm von den Juden: „Eine abtrünnige und ungehorsame Art, welchen ihr Herz nicht fest war ...“ (Ps. 78,8) Und in einem anderen Psalm mahnt der Prophet die Menschen seiner Zeit, ihr Herz nicht zu verhärten (Ps. 95,8) — denn für alle Halsstarrigkeit trägt ja der Mensch in seiner Bosheit selbst die Schuld! Aber es wäre närrisch, wenn man daraus folgerte, das Herz könne sich nach beiden Seiten wenden, wo doch Gott allein es bereitet! Es sagt der Prophet: „Ich neige mein Herz, zu tun nach deinen Rechten“ (Ps. 119,112), weil er sich nämlich willig und in freudiger Bereitschaft Gott zu Dienst gegeben hat. Aber damit erhebt er nicht den Anspruch, selbst der Ur­heber seiner Bereitwilligkeit zu sein, sondern er bekennt im gleichen Psalm, daß diese Gottes Geschenk ist (Ps. 119,36). Deshalb müssen wir uns an das Wort des Paulus halten, der die Gläubigen ermahnt: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern; denn Gott ist’s, der da wirket beides, das Wollen und das voll­bringen“ (Phil. 2,12.13). Er schreibt ihnen hier einen Anteil am Wirken zu, damit sie nicht dem Fleisch in seiner Faulheit Raum geben; aber er gebietet ihnen zugleich Furcht und Zittern und demütigt sie so, daß sie daran denken: dies, was sie selbst zu tun geheißen werden, ist eigentlich Gottes eigenes Werk. Er erklärt also aus­drücklich, daß die Gläubigen sozusagen passiv tätig sind, da ihnen ja das Vermögen zum Handeln vom Himmel her eingesenkt wird, damit sie sich selbst gar nichts anmaßen! Wenn uns ferner Petrus ermahnt, „im Glauben Tugend darzureichen“ (2. Petr. 1,5), so schreibt er uns damit nicht das Vermögen zu, sozusagen von uns aus selbständig neben Gott die zweite Rolle im Handeln zu übernehmen, sondern er will uns nur aus der Bequemlichkeit des Fleisches aufstören, in der oft selbst der Glaube erstickt wird. Die gleiche Absicht hat auch das Wort des Paulus: „Den Geist dämpfet nicht“ (1. Thess. 5,19), weil ja oft genug die Faulheit auch über die Gläubigen kommt, wenn sie nicht zurückgewiesen wird. Will aber trotzdem jemand daraus den Schluß ziehen, es stehe also dann in dem freien Willen der Gläubigen, das dargebotene Licht zu bewahren, so ist solche unkundige Redeweise leicht zurück­zuweisen: denn eben dieser Eifer, den Paulus verlangt, kommt nur von Gott! (2. Kor. 7,1). Wir werden ja auch öfters geheißen, uns von aller Unreinigkeit zu rei­nigen, obwohl doch der Geist sich das Amt der Heiligung vorbehalten hat! Endlich geht aus den Worten des Johannes: „Wer aus Gott geboren ist, der bewahret sich“, (1. Joh 5,18) ganz deutlich hervor, daß etwas, das an sich Gott zukommt, durch besonderes Zugeständnis (von Gottes Seite) auf uns übertragen wird. Jenes Wort des Johannes verwenden die Herolde des freien Willens für sich — als ob solches Bewahren teils aus Gottes, teils aus unserer Kraft geschähe, als ob wir nicht gerade diese Bewahrung, die der Apostel erwähnt, vom Himmel hätten! Deshalb bittet auch Christus den Vater, er möge uns vor dem Bösen bewahren (Joh. 17,15); und die Frommen erlangen doch, wie wir wissen, den Sieg in ihrem Krieg gegen den Satan nicht anders als mit Gottes Waffen! So gebietet auch Petrus: „Reiniget eure Seelen im Gehorsam der Wahrheit“ (1. Petr. 1,22) — fügt dann aber zur Ver­hütung jedes Mißverständnisses gleich hinzu: „Durch den Geist“! Wie gar nichts in dem geistlichen Kampfe alle menschlichen Kräfte sind, das zeigt Johannes kurz, wenn er sagt, alles, was aus Gott geboren sei, könne nicht sündigen, weil der Same Gottes in ihm bleibe (1. Joh. 3,9)! Die Ursache dazu gibt er dann später an: „Denn unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1. Joh. 5,4).

 

 

 

II,5,12

Nun führt man aber aus dem Gesetz des Mose ein Zeugnis an, das meiner Be­hauptung kräftig zu widersprechen scheint. Denn Mose erklärt nach der Kundmachung des Gesetzes dem Volke gegenüber: „Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen, noch zu ferne, noch im Himmel, sondern es ist dir nahe, in deinem

 

Munde und in deinem Herzen, daß du darnach tuest!“ (Deut. 30,11.12.14). Muß man annehmen, daß hier von den bloßen Geboten die Rede ist, so gebe ich zu, daß die Stelle für unsere Frage von nicht geringer Bedeutung ist. Es wäre zwar nicht schwer, die Stelle beiseitezuschieben, weil doch hier nicht von der Fähigkeit und Neigung zur Befolgung, sondern bloß zur Erkenntnis der Gebote die Rede ist. Selbst dann freilich entsteht vielleicht manches Bedenken. Aber der Apostel macht in eindeutiger Weise allem Zweifel ein Ende: er behauptet, daß Mose hier von der Lehre des Evangeliums redet! (Röm. 10,8). Nun könnte freilich ein widerspenstiger Kopf behaupten, diese Beziehung auf das Evangelium habe Paulus nur durch gewaltsame Behandlung des Textes erreicht. Obwohl es ein Zeichen von Gottlosigkeit ist, wenn jemand eine so kühne Behauptung ausspricht, so besteht doch auch die Möglichkeit, ihn ohne Berufung auf die Autorität des Apostels zu wider­legen. Spräche hier nämlich Mose nur von den Geboten, so müßte er dem Volke ein ganz eitles Selbstvertrauen einblasen! Denn es wäre doch ganz gewiß in den Abgrund gestürzt, wenn es unternommen hätte, aus seinen eigenen Kräften das Ge­setz zu beobachten, als ob das eine Kleinigkeit wäre! Wo aber bleibt die angenom­mene Leichtigkeit der Gesetzeserfüllung, wenn gar kein Zugang bleibt ohne ver­derbenbringenden Fall? Deshalb ist es völlig sicher, daß Mose hier den Bund der Barmherzigkeit meint, den er ja zusammen mit der Verkündung des Gesetzes kundgemacht hatte! Er hatte auch wenige Verse vorher gelehrt, es be­dürfe der Beschneidung unseres Herzens durch die Hand Gottes, damit wir ihn liebten (Deut. 30,6). Er begründete also jene Leichtigkeit, von der er gleich darauf spricht, nicht auf die Kraft des Menschen, sondern auf des Heiligen Geistes Hilfe und Schutz, der mit Macht sein Werk in unserer Schwachheit tut! Indessen ist die Stelle eben nicht so zu verstehen, daß sie einfach von den Geboten redete, sondern sie spricht vielmehr von den Verheißungen des Evangeliums, die solches Vermögen, die Gerechtigkeit zu erlangen, in uns nicht sowohl aufrichten, als vielmehr von Grund auf umstoßen! Paulus weist nun darauf hin, daß uns im Evangelium das Heil nicht unter solch harten und schweren Bedingungen angeboten wird, wie sie das Gesetz an uns stellt, nach welchem ja nur der das Heil erlangt, der alle Gebote er­füllt hat, sondern vielmehr leicht und frei und auf gebahntem Weg — und das be­kräftigt er mit jenem Wort (in Röm. 10). Zur Verteidigung der Freiheit des mensch­lichen Willens ist dieses Zeugnis also nicht verwendbar.

 

 

 

II,5,13

Viertens pflegt man uns auch einige Worte entgegenzuhalten, nach welchen Gott den Menschen zuweilen seine Gnadenhilfe entzieht, um sie auf diese Weise auf die Probe zu stellen und zuzusehen, wohin sie nun ihr Trachten richten. So hören wir bei Hosea: „Ich will wiederum an meinen Ort gehen, bis sie ihre Schuld er­kennen und mein Angesicht suchen“ (Hos. 5,15). Dazu sagt man: Es wäre lächerlich, wenn der Herr zusehen wollte, ob Israel sein Angesicht suchen würde, wo doch das Herz sich gar nicht wenden und also gar nicht aus eigener Entscheidung nach bei­den Seiten sich neigen könnte! Als ob sich nicht bei den Propheten Gott immer wie­der den Anschein gäbe, als verachte und verwerfe er sein Volk, bis es sein Leben besserte! Aber was wollen unsere Gegner denn in aller Welt aus solchen Drohungen für Folgerungen ziehen? Wollen sie sagen, das von Gott verlassene Volk könne von sich aus an Umkehr denken, so haben sie die ganze Schrift gegen sich! Wollen sie aber zugeben, daß Gottes Gnade zur Umkehr notwendig ist, warum streiten sie dann mit uns? Aber sie geben einerseits zu, daß die Gnade erforderlich sei — und wollen dabei doch anderseits dem Menschen seine Freiheit erhalten! Woher bewei­sen sie das aber? Aus dieser Stelle sicher nicht und auch nicht aus ähnlichen ihrer Art! Denn es ist etwas ganz anderes, ob sich Gott vom Menschen zurückzieht und dann zusieht, was er, sich selbst überlassen, eigentlich schaffe, oder ob er ihm seine „Beihilfe“ leiht, um seine schwachen Kräfte zu „unterstützen“!

 

Nun könnte aber jemand fragen: Was sollen dann aber solche Redewendungen? Ich antworte: Sie bedeuten dasselbe, als wenn Gott sagte: Ich habe nun durch Mahnen, Ermuntern und Schelten bei diesem Volke in seiner Halsstarrigkeit nichts erreicht, so will ich mich denn ein wenig zurückziehen, es der Anfechtung überlassen — und dazu schweigen! Ich will zusehen, ob es einst nach langer Not sich meiner er­innern wird und mein Angesicht sucht. Denn dieses Beiseitegehen des Herrn be­deutet die Wegnahme der Prophetie. Und jenes „Zusehen, was die Menschen tun wer­den“, bedeutet, daß er das Volk schweigend und sozusagen sich verstellend mit man­cherlei Trübsal prüft. Beides tut er, um uns mehr zu demütigen; denn unter den Schlägen der Not werden wir viel eher zerschmettert als zurechtgebracht, sofern Gott uns nicht durch seinen Geist gelehrig macht. Wenn uns also der Herr, durch unseren ungebrochenen Starrsinn beleidigt und sozusagen seiner überdrüssig, durch Wegnahme seines Wortes, in dem er uns ja sozusagen nahe zu sein pflegt, eine Zeitlang losläßt und die Probe anstellt, was wir denn ohne seine Gegenwart tun würden, — so ist es völlig verkehrt, von hier aus auf irgendwelche Kräfte des freien Willens zu schließen, die er etwa feststellen oder prüfen sollte. Denn er tut das alles ja nur, um uns zur Erkenntnis unserer Nichtigkeit zu bringen!

 

 

 

II,5,14

 

Fünftens führt man gegen uns auch eine dauernde Redeweise ins Feld, die in der Schrift wie auch im gewöhnlichen menschlichen Gespräch zu beobachten ist: Die guten Werke werden doch „unsere“ Werke genannt, und sofern etwas vor dem Herrn heilig und wohlgefällig ist, so gelten da wir ebensosehr als die „Täter“, wie wir ja auch als die „Täter“ der Sünde erscheinen. Werden uns aber mit Recht die sündigen Werke zugeschrieben, weil sie ja nun einmal von uns getan sind — so muß uns auch bei den guten Werken aus dem gleichen Grunde ein Anteil zu­kommen. Denn es wäre ja nicht vernunftgemäß, wenn uns das Tun von Werken zugeschrieben würde, die wir gar nicht aus eigenem Antrieb zu verrichten in der Lage wären, sondern zu denen wir gleich Steinen von Gott in Bewegung gesetzt werden müßten. Gewiß sollen wir also den ersten Anteil der Gnade Gottes zuschreiben, aber der genannte Sprachgebrauch zeigt doch selbst, daß wir wenigstens in zweiter Linie auch das Unsere tun. (Soweit der gegnerische Einwand!)

 

Läge unseren Gegnern nur daran, daß die guten Werke als „unsere“ Werke be­zeichnet werden, so würde ich ihnen meinerseits erwidern, das Brot, das wir von Gott erbitten, heiße auch „unser“ Brot! Was will man denn aus dem Wörtlein „unser“ anders entnehmen, als daß etwas, das uns an sich keineswegs zusteht, durch Gottes Güte und freie Gabe „unser“ wird? Deshalb muß man also entweder auch diese Bitte („unser“ täglich Brot gib uns heute) im Gebet des Herrn als widersinnig belächeln — oder aber auch darin nichts Abgeschmacktes finden, daß die guten Werke, an denen uns nur durch Gottes freundliche Gewährung etwas eigen ist, als „unsere“ Werke bezeichnet werden!

Etwas beweiskräftiger ist die Bemerkung, daß ja die Schrift oft behauptet, daß wir Gott verehren, Gerechtigkeit bewahren, dem Gesetz gehorchen und nach guten Werken trachten. (Da sagt man nun:) Das sind doch eigentliche Aufgaben des Ver­stands und des Willens, und wie sollte es möglich sein, daß sie einerseits auf den Heiligen Geist bezogen, anderseits aber uns beigemessen werden — wenn nicht zwischen unserem Trachten und der Kraft Gottes irgendeine Gemeinsamkeit be­stünde? Diesen Einwürfen werden wir uns aber ohne große Mühe entziehen, wenn wir recht auf die Weise achten, wie der Geist des Herrn in den Gläubigen sein Werk tut. Die Ähnlichkeit, die man uns entgegenhält, ist doch bloß äußerlich: wer wollte denn so töricht sein, zwischen der Regung in einem Menschen und dem Wurf eines Steins keinen Unterschied anzuerkennen? Dergleichen kann man auch unserer Lehre in keiner Weise entnehmen. Zu den natürlichen Fähigkeiten des Menschen rech­nen wir: Anerkennen, Verwerfen, Wollen und Nichtwollen, Streben und Widerstreben

 

nämlich Anerkennung der Eitelkeit, Verwerfen des Rechten und Guten, Wollen des Bösen, Nichtwollen des Guten, Streben zur Bosheit, Widerstreben gegenüber der Gerechtigkeit! Wie handelt da der Herr? Bedient er sich solcher Verderbtheit als Werkzeug seines Zorns, so leitet und lenkt er sie, wohin er will, um so durch eine böse Hand doch sein gutes Werk durchzuführen! Sollen wir nun einen solchen lasterhaften Menschen, der auf diese Weise Gottes Macht dienstbar wird, obwohl er selbst währenddessen einzig danach trachtet, seine eigene Lust zu befriedigen — sollen wir einen solchen Menschen mit einem Stein vergleichen, der durch fremden Wurf in Bewegung versetzt wird, aber selbst ohne Bewegung, ohne Regung, ohne Willen dahingetragen wird? Wir sehen doch, wie groß der Unterschied ist!

 

Wie aber verhält es sich mit den Guten, von denen hier ja besonders die Rede ist? Wenn Gott sein Reich in einem Menschen aufgerichtet hat, so hält er durch sei­nen Geist unseren Willen in Schranken, damit er nicht nach seiner natürlichen Nei­gung von seinen Begierden hin- und hergerissen werde; und damit er nach Heiligkeit und Gerechtigkeit sich ausstrecke, lenkt, fügt, formt und richtet er ihn nach der Richtschnur seiner Gerechtigkeit; damit er endlich nicht wankt und stürzt, stärkt und kräftigt er ihn durch die Kraft seines Geistes! Aus diesem Grund sagt Augustin: „Du meinst: wir werden also gewirkt und wirken selbst nicht! Ja, du wirkst und wirst gewirkt, und du wirkst dann gut, wenn du vom Guten gewirkt wirst! Der Geist Gottes, der dich treibt, der ist ein Helfer in dem, der da wirkt; der Name ‚Helfer’ aber bringt mit sich, daß auch du etwas wirkst!“ (Predigt 156). Im ersten Teil erinnert er daran, daß die Tätigkeit des Menschen durch den An­trieb des Geistes nicht aufgehoben wird, weil der Mensch ja den Willen, der dahin gelenkt wird, daß er nach dem Guten trachtet, von Natur hat (quia a natura est voluntas, quae regitur, ut ad bonum aspiret). Wenn er dann hinzufügt, der Be­griff „Hilfe“ bringe es mit sich, daß auch wir etwas wirken, so hat das nicht die Bedeutung, daß er uns an uns selber etwas zuschriebe; er will nur unsere Bequem­lichkeit nicht unterstützen und bringt Gottes Wirken dergestalt mit dem unsrigen zusammen, daß unser Wollen von Natur da ist, unser rechtes Wollen aber aus der Gnade kommt. In diesem Sinne hatte er kurz zuvor gesagt, ohne Gottes Hilfe könnten wir nicht nur nicht siegen, sondern nicht einmal kämpfen.

 

 

 

II,5,15

 

Die Gnade Gottes — in dem Sinne, wie der Ausdruck in der Lehre von der Wiedergeburt verwendet wird — dient danach offenbar dem Geiste als Richt­schnur zur Leitung und Regierung des menschlichen Willens. Er kann aber nur re­gieren, wenn er zurechtbringt, umschafft, erneuert — wir sagen deshalb ja auch, der Anfang der Wiedergeburt sei darin zu sehen, daß das Unsere abgetan werde! —, und wenn er zugleich bewegt, wirkt, treibt, trägt und festhält! Deshalb sagen wir mit Recht, alle Wirkungen, die daraus hervorgehen, seien tatsächlich seine Sache. Indessen leugnen wir auch nicht die Richtigkeit des Ausspruchs Augustins, wonach der Wille durch die Gnade nicht zerstört, sondern vielmehr wiederherge­stellt wird. Denn es ist beides sehr wohl miteinander zu vereinbaren: einer­seits heißt es, der Wille werde wiederhergestellt, insofern ja seine Ver­dorbenheit und Verkehrtheit aufgehoben und er damit zum rechten Maßstab der Gerechtigkeit hingeleitet wird. Und doch muß man anderseits sagen: der Wille wird neugeschaffen, weil er ja dermaßen verderbt und verkehrt ist, daß er eine ganz neue Art annehmen muß.

So besteht also kein Hindernis, zu sagen, daß wir wirklich (rite) tun, was der Heilige Geist in uns wirkt, obwohl unser Wille von sich aus nichts dazu tut, was etwa von der Gnade des Heiligen Geistes zu trennen wäre. Deshalb darf man nie vergessen, was wir oben bereits aus Augustin anführten: es sei vergebliche Mühe, wenn etliche Leute sich immerzu damit quälten, im Menschen irgend etwas Gutes zu finden, das ihm eigen sei. Denn alles Gemische, das die Menschen aus der

 

Kraft des freien Willens an die Gnade Gottes anzuflicken sich bemühen, ist doch nur deren Verfälschung, genau wie wenn jemand schmutziges, bitteres Wasser unter Wein mischen wollte! Was also Gutes an unserem Willen ist, das kommt rein aus dem Antrieb des Geistes; aber da uns das Wollen von Natur angeboren ist, so ist es doch nicht unsachgemäß, wenn man sagt, wir täten selbst das Werk, obwohl sich doch Gott mit Recht den Lobpreis dafür vorbehält. Denn erstens ist ja das, was er in uns wirkt, durch seine Güte unser, nur daß wir es nicht als unsere Sache ansehen dürfen. Und zweitens ist es ja unser Verstand, unser Wille und unser Trachten, was von ihm zum Guten gelenkt wird!

 

 

 

II,5,16

 

Was unsere Gegner nun weiter an Zeugnissen hie und da zusammenkratzen, das braucht selbst weniger geschickten Leuten kaum Mühe zu machen, wenn sie nur die oben gegebenen Widerlegungen recht in sich aufgenommen haben. So führen sie den Satz aus der Genesis an: „Ihre Lust soll dir unterworfen sein, und du sollst über sie herrschen“ (Gen. 4,7; nicht Luthertext). Diese Stelle beziehen sie dann auf die Sünde, als hätte der Herr dem Kain versprochen, die Sünde werde in sei­nem Herzen nicht herrschen, wenn er sich nur bemühen wollte, sie zu zähmen. Wir halten es aber dem Zusammenhang nach für angemessener, die Stelle auf Abel zu beziehen. Gott hat doch hier die Absicht, den ungerechten Neid zu tadeln, den Kain gegen seinen Bruder gefaßt hatte. Das tut er auf doppelte Weise. Erstens gibt er ihm zu verstehen, es sei vergebens, wenn er daran denke, durch eine böse Tat vor Gott höher dazustehen als sein Bruder, denn vor Gott gibt es ja keine Ehre als die, die aus der Gerechtigkeit kommt. Und zweitens zeigt er ihm, wie undankbar er gegen Gott sei, angesichts der bereits empfangenen Wohltaten, wenn er seinen Bruder nicht einmal dann ertragen könne, wenn dieser seiner Herrschaft unterworfen sei.

 

Aber es soll nicht den Anschein haben, als wendeten wir diese Deutung nur an, weil uns die entgegengesetzte nicht in unseren Beweis paßte. So wollen wir denn zugeben, Gott habe hier tatsächlich von der Sünde geredet. Ist es so, dann ist das, was der Herr ausspricht, entweder eine Verheißung oder ein Gebot. Ist es ein Gebot, so ergibt sich ja schon aus unserer obigen Beweisführung, daß daraus kein Beleg für das Vermögen des Menschen folgt. Ist es eine Verheißung — wo ist sie denn in Erfüllung gegangen, wo doch Kain, der über die Sünde herrschen sollte, ihr tatsächlich unterliegt? Man wird aber sagen, in die Verheißung sei eine stillschwei­gende Bedingung eingeschlossen gewesen, als hieße es: Du wirst den Sieg da­vontragen — sofern du kämpfst! Aber wer wird solche Ausflüchte gutheißen? Denn wenn dieses „Herrschen“ auf die Sünde bezogen ist, so ist es unstreitig als Befehl zu nehmen; dieser spricht dann freilich nicht aus, was wir tatsächlich vermögen, sondern was wir — ob es auch über unsere Kraft geht — eigentlich tun sollen. Indessen verlangt hier die Geschichte selber und auch die grammatische Regel die Annahme einer Vergleichung Kains mit Abel, insofern ja der ältere Bruder dem jüngeren niemals nachgeordnet worden wäre, wenn er sich nicht durch eigene Untat unter ihn gestellt hätte.

 

 

 

II,5,17

 

Man beruft sich gar auf das Zeugnis des Apostels (Paulus), der da spricht: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Röm. 9,16). Daraus entnimmt man, es sei doch an unserem Willen und unserer Bemühung auch etwas gelegen, das zwar an sich selbst schwach sei, aber unter der Hilfeleistung des Erbarmens Gottes doch zum guten Ende kommen könne.

 

Hätte man aber nüchtern erwogen, was denn Paulus an dieser Stelle für eine Frage behandelt, so hätte man die Stelle nicht so unbedenklich mißbraucht. Ich weiß wohl: die Gegner können sich auf Origenes (Kommentar zum Römerbrief, Buch VII) und Hieronymus (Zwiegespräche gegen die Pelagianer, 1) als Beweishelfer berufen. Ich könnte dann aber anderseits Augustin gegen sie anführen. Indessen kommt es ja nicht darauf an, was diese Männer gemeint haben, wenn die Absicht des Paulus feststeht! Er lehrt hier: allein denen sei das Heil bereitet, die der Herr seines Erbarmens gewürdigt hat, denen aber, welche er nicht erwählt habe, bleibe nur Zusammenbruch und Untergang. Das Geschick der Verworfenen hat er zu­vor am Beispiel des Pharao deutlich gemacht. Ebenso hat er die Gewißheit gnä­diger Erwählung mit dem Zeugnis des Mose bekräftigt: „Wessen ich mich erbarme, des erbarme ich mich“ (Röm. 9,15; Ex. 33,19). Er kommt dann zu dem Schluß: „So liegt es denn nicht an jemandes Wollen oder Laufen, fondern an Gottes Erbar­men!“ Will man das nun so auffassen, Wille und Bemühung seien unzureichend, weil sie einer solchen Belastung nicht gewachsen seien, so hätte sich Paulus sehr wenig sachgemäß ausgedrückt. Deshalb fort mit der Spitzfindigkeit: „Es liegt nicht an jemandes Wollen oder Laufen — also muß es doch irgendeinen Willen, irgendein Laufen geben!“ Paulus denkt viel einfacher: Nicht der Wille, nicht das Laufen verschafft uns den Zugang zum Heil, sondern hier herrscht allein des Herrn Erbarmen! Er spricht hier nichts anderes aus als im Brief an Titus: „Es ist erschienen die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unseres Heilandes — nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit ...“ (Tit. 3,4.5). Die Gegner meinen zwar in ihrer Spitz­findigkeit, Paulus deute doch immerhin das Dasein eines Wollens oder Laufens an, wenn er leugnet, daß es auf Wollen und Laufen ankomme. Aber selbst sie würden mir ja doch nicht gestatten, die Schlußfolgerung dergestalt anzustellen, daß wir ir­gendwelche guten Werke getan hätten — da ja Paulus ausdrücklich bestreitet, daß wir durch Werke, die wir getan hätten, der Güte Gottes teilhaftig würden. Erklären sie aber diese Schlußfolgerung für verkehrt, so sollen sie ihre Augen aufmachen — und sie werden sehen, daß die ihre den gleichen Fehler in sich trägt! Sehr wohlbegründet ist auch die Beweisführung des Augustin: „Hätte der Satz ‚So liegt es nicht an jemandes Wollen oder Laufen’ seinen Sinn darin, daß Wollen und Laufen unzureichend wären, so könnte man auf der anderen Seite behaup­ten: ‚so liegt es nicht an Gottes Erbarmen’ — weil dies ja nicht allein wirk­sam wäre!“ Dies Zweite ist aber widersinnig, und deshalb schließt Augustin mit Recht, jenes Wort des Paulus sei deshalb gesagt, weil der Mensch keinerlei guten Willen habe, sofern ihn nicht der Herr bereite, nicht, als brauchten wir gar nicht zu wollen oder zu laufen, sondern weil Gott beides in uns wirkt! (Brief 217).

 

Ebenso unsinnig drehen einige unserer Gegner das Pauluswort zurecht: „Wir sind Gottes Mitarbeiter“ (1. Kor. 3,9). Dabei bezieht sich dieses Wort unzweifel­haft ausschließlich auf die Diener (des Herrn). Diese heißen „Mitarbeiter“ nicht etwa, weil sie aus sich etwas beitrügen, sondern weil Gott ihre Arbeit gebraucht, nachdem er sie geeignet gemacht und mit den erforderlichen Gaben versehen hat.

 

 

 

II,5,18

Dann führen sie auch das Buch Sirach an, von dem man doch weiß, daß es von zweifelhafter Autorität ist. Nun, wir wollen es nicht gleich verwerfen — obwohl wir es mit Fug und Recht wohl könnten! Was für ein Zeugnis legt es denn für den freien Willen ab? Es sagt, der Mensch sei gleich nach seiner Erschaffung seinem eigenen Entschluß überlassen worden, es seien ihm Gebote gegeben, die ihn be­wahren sollten, wenn er sie bewahrte ..., vor den Menschen seien Leben und Tod hingelegt worden, Gut und Böse, und er habe empfangen können, was er wollte ... (Jes. Sir. 15,14-17). Geben wir also zu, daß der Mensch in seiner Erschaffung die Fähigkeit erhalten habe, sich Leben oder Tod zuzuziehen. Wenn ich aber nun

 

dagegen behaupte, daß er diese Fähigkeit verloren hat? Ich habe allerdings nicht die Absicht, dem Salomo zu widersprechen, wenn er sagt: „Ich habe gefunden, daß Gott den Menschen hat aufrichtig gemacht; aber sie suchen viele Künste“ (Pred. 7,30). Aber der Mensch ist ja von seinem Ursprung abgewichen und hat mit sich und mit all seinen Gütern Schiffbruch erlitten. Wenn also etwas der ersten Schöpfung (prima creatio) zukommt, so folgt daraus nicht, daß es auch für die verderbte und entartete Natur gilt. Deshalb gebe ich meinen Widersachern und auch dem Sirach — er sei, wer er wolle — zur Antwort: Willst du den Menschen anweisen, bei sich selbst das V ermögen zur Erlangung des Heils zu suchen, so ist mir dein Ansehen zu gering, als daß es irgendein Vorurteil gegen das unzweifelhafte Wort Gottes be­gründen könnte. Willst du aber nur die böse Neigung des Fleisches in Schranken halten, das ja so gern seine Bosheit Gott zuschiebt und sich daraus eine nichtige Verteidigung machen möchte, und sagst du deshalb, der Mensch sei von Natur „aufrichtig“ geschaffen und er sei selbst an seinem Untergange schuld, so stimme ich dir bei. Nur muß dann auch anderseits darüber unter uns Übereinstimmung be­stehen, daß der Mensch jener herrlichen Zier, mit der ihn der Herr im Anfang ver­sehen hatte, jetzt gänzlich verlustig gegangen ist, und zwar durch seine Schuld — und so wollen wir gemeinschaftlich das Bekenntnis ablegen: es bedarf jetzt des Arztes, nicht aber eines Advokaten (der unsre Unschuld behauptet)!

 

 

 

II,5,19

 

Am meisten führen sie aber das Gleichnis Christi im Munde von dem Mann, der unter die Räuber fiel, die ihn halbtot auf der Straße liegen ließen (Luk. 10,30). Ich weiß wohl: beinahe alle Kirchenlehrer sehen unter dem Bilde dieses Wande­rers das ganze Menschengeschlecht in seiner Not dargestellt. Hieraus nehmen nun unsere Gegner einen „Beweis“: der Mensch sei doch von Sünde und Teufel nicht gar so ausgeraubt, daß ihm nicht wenigstens ein Rest seiner früheren Güter geblie­ben wäre — denn es hieße ja in diesem Gleichnis, der Wanderer sei „halbtot“ liegengeblieben! Denn wo — (so fährt man fort) — wäre dieses halbe Leben, wenn nicht auch ein Stück rechter Vernunft und rechten Willens übrig wäre?

Wenn ich nun aber zunächst ihrer sinnbildlichen (allegorischen) Deutung gar keinen Raum geben will — was wollen sie dann machen? Denn diese ist doch un­zweifelhaft ohne Begründung im klaren Sinn der Rede des Herrn von den Kirchen­vätern ausgeklügelt worden! Sinnbildliche Deutungen dürfen nicht weiter gehen, als ihnen die Richtschnur der Schrift vorausgeht; zur Begründung von Lehren sind sie also an sich völlig unzureichend. Auch fehlt es nicht an Gründen, mit denen ich gern dieses ganze Hirngespinst zerstören könnte. Denn Gottes Wort läßt den Men­schen nicht „halb“ am Leben, sondern lehrt, daß er mit Bezug auf die Seligkeit gänzlich zugrunde gegangen sei. Wenn Paulus von unserer Erlösung spricht, so sagt er nicht, wir wären noch halb am Leben gewesen und geheilt worden, sondern wir wären tot gewesen und auferweckt! (Eph. 2,5). Nicht Halbtote beruft er zum Empfang der Erleuchtung durch Christus, sondern Entschlafene und Begrabene! (Eph. 5,14). Und ebenso macht es der Herr selber, wenn er sagt, die Stunde sei da, wo die Toten auf sein Wort hin erstehen würden (Joh. 5,25). Woher nimmt man die Schamlosigkeit, so vielen klaren Aussprüchen eine unerhebliche „heimliche Deutung“ entgegenzustellen? Aber selbst wenn wir die sinnbildliche Deutung als gewisses Zeugnis gelten lassen — was will man dadurch für ein Zugeständnis von uns gewinnen? Der Mensch ist noch halb am Leben — er hat also noch etwas Le­ben in sich; freilich, er hat noch ein der Erkenntnis fähiges „Gemüt“, obwohl er in die himmlische, geistliche Weisheit nicht einzudringen vermag; er hat ein gewisses Urteil über Recht und Unrecht; er hat eine Ahnung von dem Göttlichen (sensus divinitatis), obwohl er zur wahren Gotteserkenntnis nicht gelangt. Aber was folgt denn daraus? Dies alles wird doch gewiß den Ausspruch Augustins, der auch im allgemeinen Urteil der Schultheologie anerkannt worden ist, bei uns nicht wankend

 

machen, wonach dem Menschen nach dem Fall die Gnadengüter weggenommen sind, von denen das Heil abhängt, und zugleich die natürlichen Gaben der Verderbnis und Befleckung verfallen sind. Die Wahrheit aber, die kein Anlauf erschüttern kann, soll uns ohne Zweifel stehen bleiben: der Menschengeist ist von Gottes Ge­rechtigkeit so vollständig abgekommen, daß all sein Wollen, Begehren und Tun nur gottlos, verrucht, befleckt, unrein und lästerlich ist; sein Herz ist dermaßen vom Gift der Sünde durchdrungen, daß es nur noch verweslichen Gestank von sich geben kann. Und wenn auch zuweilen ein Schein des Guten sichtbar wird, so bleibt doch das „Gemüt“ mit Heuchelei und Trug umhüllt, und der Geist liegt innerlich in den Fesseln der Verderbnis.

Sechstes Kapitel

 

 

 

Der verlorene Mensch muß in Christus seine Erlösung suchen.

 

 

 

II,6,1

So ist also das ganze Menschengeschlecht in Adam zugrunde gegangen. Und all jener ursprüngliche Vorrang und Adel, den wir erwähnten, würde uns rein gar nichts einbringen, ja nur noch schrecklicher unsere Schande offenbar machen, wofern nicht Gott, der die von der Sünde befleckten und verderbten Menschen nicht als sein Werk anerkennt, in der Gestalt seines eingeborenen Sohnes als der Erlöser erschienen wäre. Seitdem wir also vom Leben zum Tode übergegangen sind, würde uns all jene Erkenntnis Gottes als unseres Schöpfers, von der wir gesprochen haben, rein nichts mehr nützen, wenn nicht der Glaube hinzukäme, der uns Gott in Christus als unseren Vater vor Augen stellt! Die ursprüngliche Ordnung war es, daß das Gebäu der Welt für uns die Schule wäre, in der wir rechte Gottesfurcht lernten, um dann von da zum ewigen Leben und zu vollkommener Seligkeit über­zugehen. Aber seit dem Abfall ist es anders: wohin wir auch blicken, allenthalben tritt uns Gottes Fluch entgegen; der trifft durch unsere Schuld gar die unschuldige Kreatur und zieht sie mit ins Verderben; so muß er notwendig unsere Seele in die Verzweiflung stürzen! Denn Gott läßt zwar noch immer auf vielerlei Weise seine väterliche Huld gegen uns merken; aber es ist doch aus dem Anschauen der Welt nicht möglich, zu erfassen, daß er der Vater ist; denn das Gewissen plagt uns innerlich und hält uns vor, daß die Sünde die gerechte Ursache dazu sei, daß Gott uns verstoße und uns nicht mehr als Kinder ansehe oder achte. Dazu kommt auch unsere Trägheit und Undankbarkeit; denn unser „Gemüt“ ist ja verblendet und vermag nicht zu erkennen, was wahr ist, auch sind ja alle unsere Sinne verderbt, und darum berauben wir Gott in boshafter Weise seiner Ehre. Wir müssen also zu dem Ausspruch des Paulus kommen: „Da die Welt in ihrer Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, so gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben“ (1. Kor. 1,21). Unter der Weisheit Gottes versteht Paulus das herrliche Bild Himmels und der Erde, wie es erfüllt ist mit unzähl­baren Wundern, ein Bild, aus dessen Anschauen Gott hätte weislich erkannt werden sollen; aber weil wir ihn daran so wenig erkannt haben, so ruft uns der Apostel zum Glauben an Christus. Dieser Glaube ist freilich den Ungläubigen lächerlich, da er den Schein der Torheit an sich trägt. Obwohl also die Predigt vom Kreuze dem menschlichen Stolz nicht entspricht, müssen wir sie doch in Demut an­nehmen, wenn wir zu Gott, unserem Schöpfer und Wirker, von dem wir abgekommen sind, zurückkehren wollen, daß er wieder von neuem unser Vater sei! Denn nach dem Fall des ersten Menschen hat ganz sicher keine Erkenntnis Gottes etwas zum Heil gegolten ohne den Mitt­ler. Christus redet ja nicht bloß von seiner Zeit, sondern umfaßt alle Jahrhunderte, wenn er spricht: „Das ist das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, erkennen, und den du gesandt hast, Jesum Christum“ (Joh. 17,3). Um so schnö­der ist der Unverstand solcher Leute, die den Himmel allen Unfrommen und Ungläu­bigen öffnen, abseits von der Gnade Christi, der doch nach der Lehre der Schrift die einzige Pforte ist, durch die wir zum Heil gelangen können. Wollte aber jemand dieses Wort Jesu bloß auf die Ausbreitung des Evangeliums beziehen, so kann man ihn sofort widerlegen; denn allen Zeiten und Völkern war der Grundsatz bekannt, daß wir Menschen, da wir von Gott abgekommen sind und deshalb verfluchte und Kinder des Zorns heißen, nicht ohne Versöhnung Gott gefallen können. Auch muß man hierzu das Wort Jesu an das samaritanische Weib beachten: „Ihr betet an, was ihr nicht wißt, wir aber wissen, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden“ (Joh. 4,22). Mit diesen Worten erklärt er die Religionen aller

 

Völker für falsch, er gibt auch den Grund an: allein dem auserwählten Volke war im Gesetz der Erlöser verheißen. Daraus folgt, daß Gott nie an einer Gottesver­ehrung Gefallen gehabt hat, die nicht auf Christus ausgerichtet war. Daher be­hauptet ja auch Paulus, alle Völker seien ohne Gott gewesen und ohne Hoffnung auf das Leben (Eph. 2,12). Und wenn Johannes lehrt, wie das Leben im Anfang in Christus gewesen sei und doch die ganze Welt davon abgefallen sei, so müssen wir zu dieser Quelle zurückkehren. So nennt sich Christus ja auch selber das „Leben“ (Joh. 11,25; 14,6), weil er der Versöhner ist. Und zwar gehört das Erbe des Him­mels nur den Kindern Gottes. Man kann aber unmöglich solchen Menschen die Stel­lung und den Stand der Kinder zusprechen, die nicht in den Leib des eingeborenen Sohnes eingefügt sind. Auch Johannes bezeugt das klar: die an seinen Namen glau­ben, die werden Gottes Kinder! (Joh. 1,12). Ich habe aber hier noch nicht vor, eigent­lich über den Glauben an Christus zu reden, und so muß diese Berührung im Vorbei­gehen vorerst genügen.

 

 

 

II,6,2

Deswegen also hat sich Gott dem Volke des Alten Bundes nie gnädig gezeigt und ihm nie Hoffnung auf das Heil gemacht ohne den Mittler. Ich gehe hier nicht näher auf die vom Gesetz geforderten Opfer ein: da wurden ja die Gläubigen klar und deutlich darüber belehrt, daß das Heil nirgendwo anders zu suchen sei als in der Versöhnung, die ja einzig in Christo vollzogen worden ist! Ich will hier nur dies aussprechen: Seligkeit und Glück der Kirche sind stets auf die Person Christi be­gründet gewesen. So hat Gott gewiß die gesamte Nachkommenschaft des Abraham mit in seinen Bund aufgenommen; und doch zieht Paulus weislich die Folgerung: im eigentlichen Sinn sei Christus dieser „Same, in welchem sollten gesegnet sein alle Völker“ (Gal. 3,16). Denn wir wissen ja, daß nicht etwa alle, die dem Fleische nach von Abraham abstammen, zu dessen Samen gerechnet wurden. Ich will von Ismael und anderen schweigen. Aber wie ist es denn geschehen, daß von den beiden Söhnen des Isaak, nämlich den Zwillingsbrüdern Jakob und Esau, als sie noch im Mutterleibe beieinander waren, der eine erwählt und damit der andere verworfen wurde? Ja, wie ist es dazu gekommen, daß nach Verwerfung des Erstgeborenen nun allein der Jüngere in volle Rechte kam? Woher kam es, daß der größere Teil (des Volkes) verstoßen wurde? Da ist es doch klar, daß Abrahams Same nur in einem Haupte seine hohe Würde empfängt, und daß jenes verheißene Heil einzig und allein in Erfüllung gehen konnte, als Christus erschien, dessen Amt es ist, das Zer­streute zu sammeln! Es hing also die Annahme des erwählten Volkes von Anfang an von der Gnade des Mittlers ab. Dies wird zwar bei Mose nicht mit ganz klaren Worten ausgedrückt; aber es ist doch offenbar allen Frommen gemeinhin bekannt gewesen. Denn ehe überhaupt im Volke ein König eingesetzt war, sang Hanna, die Mutter Samuels, um die Seligkeit der Frommen zu beschreiben, in ihrem Liede: „Gott wird Macht geben seinem Könige, und erhöhen das Horn seines Gesalbten“ (1. Sam. 2,10). Darunter versteht sie, daß Gott seine Kirche segnen wird. Dem ent­spricht auch die kurz danach erwähnte Verheißung: „Ich will mir einen treuen Prie­ster erwecken, daß er vor meinem Gesalbten wandele immerdar“ (1. Sam. 2,35). So wollte ohne Zweifel der himmlische Vater in David und seinen Nachfolgern das le­bendige Bild Christi anschaulich machen. So gebietet er auch, um die Frommen zur Furcht Gottes zu ermuntern: „Küsset den Sohn“ (Ps. 2,12) — und dazu paßt die Stelle aus dem Evangelium: „Wer den Sohn nicht ehret, der ehret den Vater nicht“ (Joh. 5,23). So konnte zwar das Reich (Davids) durch den Abfall der zehn Stämme zusammenbrechen, aber der Bund, den Gott mit David und seinen Nach­folgern gemacht hatte, mußte bestehen bleiben. Deshalb heißt es bei dem Propheten: „Ich will nicht das ganze Reich abreißen um Davids, meines Knechts, willen, und um Jerusalems willen, die ich erwählet habe, sondern deinem Sohne wird ein Stamm übrigbleiben“ — eine Verheißung, die zwei- und dreimal wiederholt wird

 

(1. Kön. 11,13.34). Ausdrücklich wird hinzugesetzt: „Ich will den Samen Davids demütigen, doch nicht ewiglich“ (1. Kon. 11,39). Nach Ablauf einiger Zeit hören wir dann: „Um seines Knechtes David willen gab Gott ihm eine Leuchte zu Jerusalem, daß er seinen Sohn nach ihm erweckte und Jerusalem erhielt“ (1. Kön. 15,4). Selbst als die Ereignisse bereits dem Untergange zutrieben, hieß es wieder: „Es wollte Gott Juda nicht verderben um Davids, seines Knechtes willen, wie er ihm ver­heißen hatte, ihm zu geben eine Leuchte unter seinen Kindern ewiglich“ (2. Kön. 8,19). So findet alles darin seine Zusammenfassung: Vor allen anderen hat Gott allein den David erwählt, daß sein Wohlgefallen auf ihm ruhen sollte. So heißt es denn auch: „Er ließ fahren die Hütte zu Silo und verwarf die Hütte Joseph und er­wählte nicht den Stamm Ephraim (Ps. 78,60.67), sondern erwählte den Stamm Juda, den Berg Zion, welchen er liebte (V. 68), er erwählte seinen Knecht David, daß er sein Volk weiden sollte und sein Erbe Israel“ (V. 70f.). Kurz, Gott wollte seine Kirche so erhalten, daß ihr Bestehen und ihr Heil einzig von jenem Haupte abhinge. So ruft David aus: „Der Herr ist seines Volkes Schutz, er ist der Heils­helm seines Gesalbten“ (Ps. 28,8; nicht Luthertext). Und dann bittet er: „Hilf dei­nem Volk und segne dein Erbe“ (Ps. 28,9), um zu zeigen, wie das Bestehen der Kirche durch ein unzerreißbares Band mit dem Reiche Christi (des Gesalbten) ver­bunden ist. Im gleichen Sinne sagt er an anderer Stelle: „Hilf, Herr, der König er­höre uns an dem Tage, da wir rufen“ (Ps. 20,10; Luthertext anders). Da lehrt er deutlich: wenn die Gläubigen zu Gottes Hilfe ihre Zuflucht nahmen, so kamen sie zu diesem Vertrauen nur dadurch, daß sie unter dem Schutze des Königs sich sicher wußten, wie auch ein anderer Psalm zeigt: „O Herr, hilf, ... Gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Ps. 118,25.26). Daraus geht ja deutlich hervor, daß die Gläubigen zu Christus gerufen wurden, um die Hoffnung zu gewinnen, sie empfingen Hilfe durch Gottes Hand. Dahin führt auch ein anderes Gebet, in wel­chem die ganze Kirche Gott um Erbarmen anfleht: „Deine Hand schütze den Mann deiner Rechten, den Menschensohn, den du dir bereitet“ (Ps. 80,18; Luthertext an­ders). Der Verfasser dieses Psalms beklagt zwar die Zerstreuung des ganzen Vol­kes, aber er erbittet doch dessen Wiederherstellung allein durch sein Haupt. Und als dann das Volk in die Verbannung geführt, das Land verwüstet und alles offen­bar zu Ende war, da beklagte Jeremia das Elend der Kirche und sprach es in dieser Klage aus, daß vor allem der Untergang des Königtums den Gläubigen alle Hoff­nung abschneide. So sagt er: „Der Gesalbte, der der Geist unseres Mundes war, ist gefangen worden um unserer Sünden willen, er, zu dem wir sagten: In deinem Schatten werden wir leben unter den Völkern“ (Klagel. 4,20). Hier wird es nun vollends klar: Gott kann dem Menschengeschlecht nicht gnädig sein ohne den Mittler, und deshalb ist den heiligen Vätern unter dem Gesetz stets Christus vorgehalten worden, auf den sie ihren Glauben richten sollten.

 

 

 

II,6,3

Wo dann in der Trübsal Trost verheißen, insbesondere wo die Befreiung der Kirche beschrieben wird, da wird den Gläubigen in Christus selber das Panier des Vertrauens und der Hoffnung vor die Augen gestellt: „Gott ist ausgezogen, zu helfen seinem Volk, zu helfen mit seinem Gesalbten“ (Hab. 3,13; nicht Luthertext). Und allemal, wenn die Propheten auf die Wiederaufrichtung der Kirche zu sprechen kom­men, dann erinnern sie das Volk an die Verheißung, die dem David die beständige Dauer seines Reiches zusagte. Das ist kein Wunder; denn sonst hätte der Bund keinen Bestand gehabt. Dazu gehört vor allem die herrliche Antwort, die einst Jesaja gab, als er dem ungläubigen Könige Ahab die Aufhebung der Belagerung Jerusalems und baldige Hilfe angekündigt hatte und er doch sah, wie der König das nicht annahm; da kam er sozusagen unvermittelt auf den Messias zu sprechen: „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger werden ...“ (Jes. 7,14). Da deutet er klar an: Mögen auch König und Volk in ihrer Bosheit die dargebotene Verheißung von sich

 

weisen, als ob sie geradezu mit fester Absicht sich bemühten, die Zusage Gottes ab­zuschwächen: so wird dennoch der Bund nicht abgetan werden und zu seiner Zeit doch der Erlöser kommen!

 

Kurzum, alle Propheten wollten ja zeigen, daß Gott die Versöhnung wollte, und des­halb lag es ihnen an, stets jenes Reich Davids anzuführen, von dem Erlösung und ewiges Heil abhing. So lesen wir bei Jesaja: „Ich will mit euch einen Bund ma­chen, daß ich euch gebe die gewissen Gnaden Davids; siehe, ich habe ihn zum Zeu­gen gestellt ... den Völkern“ (Jes. 55,3. 4). Denn in so verzweifelter Lage konnte das Volk nur dann glauben, Gott werde sich von ihm erbitten lassen, wenn dieser Zeuge ins Mittel trat. Gleicherweise spricht auch Jeremia, um die Verzweifelten aufzurichten: „Siehe, es kommt die Zeit, daß ich dem David ein gerechtes ‘Gewächs’ erwecken will, und soll dann Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen“ (Jer. 23,6f.). Und Ezechiel sagt: „Ich will meiner Herde einen einigen Hirten erwecken ..., nämlich meinen Knecht David ... Ich, der Herr, will ihr Gott sein, und mein Knecht David soll der Fürst unter ihnen sein ... Und ich will einen Bund des Friedens mit ihnen machen“ (Ez. 34,23-25). Oder auch an anderer Stelle, nachdem er von der allen Glauben übersteigenden Erneuerung des Volkes geredet hat: „Mein Knecht David soll ihr König und ihrer aller einiger Hirte sein ... Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens machen, das soll ein ewiger Bund sein mit ihnen“ (Ez. 37,24.26). Ich wähle nur wenige Stellen aus vielen aus; denn ich will die Leser nur daran erinnern, daß je und je die Hoffnung aller Gläubigen einzig und allein auf Christus beruht hat. Dem stimmen auch alle anderen Propheten bei. So heißt es bei Hosea: „Es werden die Kinder Juda und die Kinder Israel zuhauf kom­men und werden sich miteinander an ein Haupt halten ...“ (Hos. 2,2). Später setzt er das noch klarer auseinander: „Danach werden sich die Kinder Israel bekeh­ren und den Herrn, ihren Gott, und ihren König David suchen ...“ (Hos. 3,5). Und Micha, der von der Heimkehr des Volkes redet, drückt es deutlich so aus: „Und ihr König wird vor ihnen hergehen, und der Herr vornean“ (Micha 2,13). Genau so schreibt auch Amos, um die Erneuerung des Volkes anzukündigen: „Zur selben Zeit will ich die zerfallene Hütte Davids wieder aufrichten und ihre Lücken verzäunen. und was abgebrochen ist, wieder aufrichten ...“ (Amos 9,11); das heißt: Ich will die königliche Würde des Hauses David, die doch das einzige Panier des Heils war, wieder emporkommen lassen — was ja in Christus in Erfüllung gegangen ist! Sacharjas Zeit war der Offenbarung Christi bereits näher, und so konnte er be­reits deutlicher sagen: „Freue dich, du Tochter Zion, und du Tochter Jerusalem, jauchze; siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer“ (Sach. 9,9). Das entspricht der bereits genannten Psalmstelle: „Der Herr ist ihre Stärke, er ist die Stärke, die seinem Gesalbten hilft. Hilf, Herr ...“ (Ps. 28,8f.), wo ja das Heil vom Haupte auf den ganzen Leib ausgedehnt wird.

 

 

 

II,6,4

Diese Weissagungen sollten die Juden nach Gottes Willen so in sich aufnehmen, daß sie ihre Augen stracks auf Christum richteten, wenn sie nach Befreiung begehr­ten. Und obwohl sie schändlich aus der Art schlugen, konnte doch die Erinnerung an die Hauptlehre nicht verlöschen, daß nämlich Gott, wie er dem David verheißen hatte, durch die Hand Christi die Kirche befreien werde und daß der Gnadenbund, in den Gott seine Erwählten aufgenommen hatte, auf diese Weise erst zu rechtem Bestand kommen werde. So kam es, daß bei Jesu Einzug in Jerusalem kurz vor seinem Sterben im Munde der Kinder der Gesang erscholl: „Hosianna dem Sohne Davids“ (Matth. 21,9). Denn wenn es schon die Kinder sangen, so muß es doch all­gemein bekannt und gerühmt gewesen sein, daß das einzige Unterpfand der Barmherzigkeit Gottes auf die Ankunft des Erlösers aufbehalten sei! Deshalb gebietet auch Christus selber den Jüngern, um sie zum klaren und vollkommenen Glauben an Gott zu führen: „Glaubet an Gott — und glaubet an mich!“ (Joh. 14,1).

 

Gewiß gelangt eigentlich der Glaube durch Christus zum Vater; aber Christus will doch andeuten: selbst wenn der Glaube sich an Gott hält, muß er doch allmählich zunichte werden, wenn er nicht ins Mittel tritt und ihn in rechter Beständigkeit er­hält. Auch ist ja Gottes Majestät viel zu erhaben, als daß sterbliche Menschen, die doch wie Würmlein am Boden kriechen, zu ihr hindurchdringen könnten. Die allgemeine Redeweise, daß der Glaube sich allein an Gott halte, nehme ich an, doch so, daß sie einer Verbesserung bedarf, weil ja Christus nicht umsonst das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ heißt (Kol. 1,15); wir werden doch eben durch die­sen Lobpreis Christi daran gemahnt: erst wenn Gott uns in Christus begegnet, können wir ihn zu unserem Heil erkennen. Obwohl die Schriftgelehrten bei den Juden die Verheißungen der Propheten über den Erlöser mit falschen Erdichtungen verfinstert hatten, betrachtete es Christus doch als gewiß und sozusagen anerkannt, daß in dem allgemeinen Verderben keine andere Arznei da sei, auch kein anderer Weg zur Befreiung der Kirche, als die Erscheinung des Mittlers. Was Paulus lehrt: „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Röm. 10,4), war zwar im Volke nicht nach Gebühr bekannt, aber doch geht gerade aus dem Gesetz und den Propheten aufs deutlichste hervor, wie wahr und gewiß es ist. Ich rede hier aber noch nicht näher über den Glauben, weil das besser an anderer Stelle geschieht. Nur soll der Leser dies unbedingt festhalten: Der erste Schritt zur Gottesfurcht ist es, Gott als unseren Vater anzuerkennen, der uns schützt, lenkt und erhält und uns schließlich zur ewi­gen Erbschaft seines Reiches versammelt; hieraus aber wird offenbar, was wir be­reits ausführten, nämlich: es gibt keine heilbringende Erkenntnis Gottes ohne Christus, und deshalb ist seit Anbeginn der Welt er allen Erwählten vor Augen ge­stellt worden, daß sie auf ihn schauten und ihr Vertrauen auf ihn setzten.

 

In diesem Sinne schreibt Irenäus: der Vater, der ja unendlich ist, sei im Sohne endlich geworden, weil er sich unserem Maße anpaßte, damit nicht die Unermeßlichkeit seiner Herrlichkeit unser Herz ganz verzehre. Diesen nützlichen Ausspruch haben die Schwärmer nicht genügend bedacht, und deshalb zwängen sie ihn in ihre gott­lose Phantasterei hinein, wonach in Christus bloß ein Teil der Gottheit sich befinde, der aus der ganzen Vollkommenheit Gottes herabflösse. Und dabei wollte doch Ire­näus nichts anderes sagen, als daß Gott einzig in Christus begriffen werden könne. Es ist allezeit das Wort des Johannes wahr gewesen: „Wer den Sohn nicht hat, der hat auch den Vater nicht“ (1. Joh. 2,23). Denn es haben sich zwar viele Men­schen gerühmt, die höchste Gottheit oder den Schöpfer Himmels und der Erden zu verehren; aber weil ihnen der Mittler fehlte, so konnten sie Gottes Barmherzigkeit nicht recht erkennen und darum auch nicht zu der Gewißheit gelangen, daß Gott ihr Vater sei. Sie hatten das Haupt nicht, nämlich Christus — und darum war die Erkenntnis Gottes bei ihnen leer und nichtig; daher kommt es, daß sie in groben und schändlichen Aberglauben verfallen sind und damit ihre Unwissenheit ans Licht brachten. So verkündigen heutzutage die Türken mit vollen Backen, ihr Gott sei der Schöpfer Himmels und der Erden, und doch setzen sie an des wahren Gottes Statt einen Götzen, weil sie mit Christus nichts zu tun haben wollen!

Siebentes Kapitel

 

 

 

Das Gesetz ist nicht dazu gegeben, um das Volk des Alten Bundes bei sich selbst festzuhalten, sondern um die Hoffnung auf das Heil in Christus bis zu seinem Kommen zu bewahren.

 

 

 

II,7,1

 

Das Gesetz ist etwa vierhundert Jahre nach dem Tode des Abraham (Anklang an Gal. 3,17) hinzugetan; aber es kam, wie man aus der langen Reihe von Zeugnissen, die wir anführten, ersehen kann, nicht, um das erwählte Volk von Christus wegzuführen, sondern vielmehr um sein Herz bis zu dessen Ankunft in Erwartung zu halten, sein Verlangen immer neu zu entfachen und es im Warten zu stärken, damit es nicht bei dem langen Verzug vom Wege abkomme! Unter „Gesetz“ verstehe ich nicht bloß die zehn Gebote, welche die Richtschnur bilden, wie man fromm und gerecht leben soll, sondern die ganze Gestalt der Gottesverehrung, wie sie Gott durch Moses Hand eingerichtet und gelehrt hat. Auch ist Mose als Gesetzgeber nicht dazu eingesetzt worden, die dem Abraham gewordene Verheißung des Heils aufzuheben. Ja, wir sehen, wie er immer wieder die Juden an jenen Gnadenbund erinnert, der einst mit ihren Vätern geschlossen war und dessen Erben sie waren; so war er gewissermaßen zur Erneuerung dieses Bundes gesandt. Das wurde vor allem aus den Zeremonien deutlich. Was konnte denn nichtiger und frevelhafter sein, als daß Menschen, um sich mit Gott zu versöhnen, ihm den garstigen Geruch vom Fett ihrer Tiere darbrachten, daß sie, um den Unflat ihrer Seele abzuwaschen, zur Be­sprengung mit Wasser oder gar mit Blut ihre Zuflucht nahmen? Kurzum, der ganze gesetzliche Gottesdienst wäre doch — wenn man ihn an sich betrachtete und er nicht Schatten und Bilder enthielte, mit welchen die Wahrheit tatsächlich übereinstimmte — geradezu eine Lächerlichkeit! Deshalb wird nicht ohne sachlichen Grund in der Rede des Stephanus (Apg. 7,44) und auch im Hebräerbrief (8,5) mit so besonde­rer Aufmerksamkeit jene Stelle in Betracht gezogen, in welcher Gott dem Mose ge­bietet, alles zur „Stiftshütte“ Gehörige nach dem Urbild zu gestalten, das ihm auf dem Berge gezeigt worden war (Ex. 25,40). Hätte den Juden nicht ein geist­liches Ziel sich dargeboten, nach dem sie sich ausrichten sollten, so hätten sie mit ihrem Gottesdienst ebensosehr Possenspiel getrieben wie die Heiden in ihren törich­ten Unternehmungen! Unfromme Menschen, die sich nie ernstlich um rechte Frömmigkeit bemüht haben, können nur mit Verdruß von soviel verschiedenen gottesdienst­lichen Gebräuchen hören; und sie wundern sich nicht nur, warum denn Gott das Volk des Alten Bundes mit einer solchen Menge von Zeremonien geplagt habe, sondern sie verachten sie und machen sich über sie lustig wie über kindisches Spiel! Das ist ver­ständlich: sie achten ja nicht auf das Ziel, ohne das die im Gesetz gegebenen Bilder notwendig dem Urteil verfallen müssen: sie sind nichtig!

Aber jenes Urbild zeigt, daß Gott die Opfer nicht geboten hat, um seinen Verehrern mit irdischen Verrichtungen zu schaffen zu geben, sondern um ihr Herz emporzurichten. Das läßt sich schon aus Gottes Wesen ganz klar ersehen: es ist geist­lich, und darum hat er auch nur an geistlicher Verehrung Wohlgefallen. Das bezeugen soviel Prophetenworte, welche den Juden ihre Torheit vorhalten, weil sie wähnen, vor Gott hätten irgendwelche Opfer irgendeinen Wert. Oder wollten die Propheten etwa dem Gesetz sein Ansehen rauben? Nicht im geringsten: sondern sie waren vielmehr seine rechten Ausleger und wollten auf diese Weise die Augen auf den eigentlichen Sinn und den entscheidenden Gesichtspunkt richten, von dem das Volk abirrte. Schon aus der den Juden dargebotenen Gnade kann man mit Sicherheit entnehmen, daß das Gesetz nicht ohne Christus gewesen ist. Denn Mose stellte ihnen als Zweck ihrer gnädigen Annahme eben dies vor Augen, daß sie „ein priesterlich Königreich“ sein sollten (Ex. 19,6), und das konnten sie doch gewiß nur erreichen, wenn

 

eine stärkere und wirksamere Versöhnung zustande kam als aus dem Blut von Tie­ren! Denn was wäre sinnloser, als daß Adamskinder, die doch in erblicher Verderb­nis allesamt als Knechte der Sünde zur Welt kommen, zur Königswürde erhoben und solchermaßen Teilhaber der Herrlichkeit Gottes würden — wenn ihnen solch ein herrliches Gut nicht von ganz anderer Seite zukäme? Wie sollte auch die priesterliche Würde Menschen zuteil werden können, die doch im Unflat ihrer Laster Gott wider­wärtig waren — sofern sie nicht in dem heiligen Haupte geweiht worden wären? Sehr fein kehrt daher Petrus diese Stelle bei Mose um, um zu zeigen, wie die Fülle der Gnade, von der die Juden unter dem Gesetz einen Vorgeschmack empfangen hatten, in Christus offenbar geworden ist: „Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum“ (1. Petr. 2,9). Die Umkehrung der Wörter („priesterliches Königreich“ — „königliches Priestertum“) soll zeigen, daß die, welchen Christus durch das Evangelium erschienen ist, mehr empfangen haben als ihre Väter, weil sie ja alle der priesterlichen und königlichen Würde teilhaftig geworden sind, so daß sie also im Vertrauen auf ihren Mittler frei vor Gottes Angesicht erschei­nen dürfen!

 

 

 

II,7,2

 

Hier ist noch beiläufig zu erwähnen, daß ja auch das Königtum, das schließlich im Geschlechte Davids aufgerichtet wurde, ein Teil des Gesetzes und unter dem Amt des Mose mit beschlossen war. So ergibt sich, daß Christus im ganzen levitischen Gesetz wie auch unter den Nachkommen des David dem Alten Volke wie in einem doppelten Spiegel vor die Augen gestellt war. Denn ohne ihn hätten sie ja, wie ich schon sagte, vor Gott gar nicht als Könige oder Priester dastehen können, da sie doch Knechte der Sünde und des Todes waren, befleckt von ihrer Verderbnis. Pau­lus selbst bezeugt, daß dieser Satz wahr ist, wenn er sagt, die Juden seien gewisser­maßen unter der Aufsicht eines „Zuchtmeisters“ gehalten worden (Gal. 3,24), bis der „Same“ gekommen sei, dem die Verheißung galt. Denn weil Christus den Män­nern des Alten Bundes noch nicht näher bekannt war, so waren sie noch Kindern gleich, die in ihrer Schwachheit die volle Kunde von den himmlischen Dingen noch nicht ertragen konnten. Wie sie aber mittels der Zeremonien zu Christus geführt wurden, das wurde bereits ausgeführt und läßt sich außerdem aus sehr vielen Zeug­nissen der Propheten noch besser erkennen. Die Leute mußten zwar alle Tage mit neuen Opfern vor Gott treten, um ihn zu versöhnen — und doch verheißt Jesaja, all ihre vergehen würden mit einem einzigen Opfer gesühnt werden (Jes. 53,5). Dieser Verheißung stimmt auch Daniel bei (Dan. 9,26f.). So gingen zwar die Hohenpriester aus dem Stamme Levi, die dazu verordnet waren, ins Allerheiligste; aber von dem einen Hohenpriester heißt es einmal, daß er durch einen Eid Gottes erkoren sei zu einem Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks (Psalm 110,4). Damals geschah die Salbung äußerlich, mit Öl — Daniel dagegen weissagt auf Grund eines Gesichts, die künftige Salbung werde anders aussehen! Ich will nicht mehr aufzählen: der Verfasser des Hebräerbriefes bringt ja vom vierten bis zum elften Kapitel seines Briefes den völlig ausgeführten und klaren Nachweis, daß die Zeremonien nichtig und leer waren, ehe man zu Christus kam.

Was die Zehn Gebote angeht, so müssen wir hier die entsprechende Aussage des Paulus festhalten. Er sagt nämlich: „Christus ist des Gesetzes Ende, wer an ihn glaubt, der ist gerecht“ (Röm. 10,4) und „Der Herr ist der Geist“ (2. Kor. 3,17), der den Buchstaben „lebendig macht“, der doch an sich tödlich wäre (2. Kor. 3,6). An der ersteren Stelle zeigt er: die Gerechtigkeit, die in den Geboten zum Ausdruck kommt, lehrt man solange vergeblich, bis sie uns Christus durch gnädige Zurechnung und durch den Geist der Wiedergeburt zuteil werden läßt. Deshalb nennt er Christus mit Recht die „Erfüllung“ oder auch das „Ende“ des Gesetzes; denn es würde uns ja gar nichts helfen, zu wissen, was Gott von uns verlangt, wenn uns nicht Christus, während wir unter untragbarem Joch und niederdrückender Last uns zerarbeiten

 

und zu Boden gedrückt werden, zu Hilfe käme. An anderer Stelle lehrt Paulus, das Gesetz sei „um der Übertretungen willen“ gegeben (Gal. 3,19), nämlich um die Menschen ihrer Verdammnis zu überführen und sie demütig zu machen. Da nun dies die wahre und einzige Vorbereitung ist, um Christus zu suchen, so stimmen die Aus­drücke, die Paulus braucht, trotz ihrer Verschiedenheit tadellos zusammen. Aber weil er mit verkehrten Lehrern zu kämpfen hatte, die so taten, als verdienten wir uns die Gerechtigkeit durch Gesetzeswerke, so mußte er, um ihrem Irrtum entgegenzu­treten, zuweilen das bloße Gesetz streng für sich nehmen, obwohl es sonst von dem Bunde, der uns aus Gottes Gnaden die Kindschaft verleiht, nicht zu trennen ist.

 

 

 

II,7,3

 

Jetzt ist es aber der Mühe wert, zu überdenken, wie wir gerade dadurch, daß wir im Sittengesetz (lex moralis) unterwiesen sind, nur um so unentschuldbarer werden, damit uns unsere eigene Schuldverhaftung dazu antreibt, Vergebung zu suchen. Ist es wahr, daß uns im Gesetze vollkommene Gerechtigkeit gelehrt wird, so folgt daraus, daß nur dessen gänzliche Erfüllung vor Gott vollkommene Gerechtigkeit ist, kraft deren der Mensch vor dem himmlischen Gericht als gerecht gilt und behan­delt wird. So ruft Mose nach der Verkündung des Gesetzes ohne Bedenken Him­mel und Erde zu Zeugen darüber an, daß er Israel vorgelegt habe „Leben und Tod, Gut und Böse“ (Deut. 30,19). Auch läßt sich nicht leugnen, daß der rechte Gesetzes-gehorsam die ewige Seligkeit als Belohnung erwarten kann, so wie sie der Herr verheißen hat. Aber auf der anderen Seite müssen wir dann auch zusehen, ob denn wir solchen Gehorsam irgendwie leisten, auf dessen Verdienst sich jene Zuversicht auf eine Belohnung gründen ließe. Denn was soll es uns helfen, wenn wir sehen, daß auf der Erfüllung des Gesetzes der Lohn des ewigen Lebens liegt — wenn nicht auch klar ist, ob wir denn auf diesem Wege zum ewigen Leben gelangen können!

 

Aber an dieser Stelle zeigt sich die Schwachheit des Gesetzes — denn es wird ja in keinem von uns jene Erfüllung des Gesetzes gefunden, und deshalb sind wir von den Verheißungen des Lebens ausgeschlossen und dem Fluch preisgegeben. Ich sage dabei nicht, was nur tatsächlich geschieht, sondern was notwendig ist; denn das, was das Gesetz lehrt, geht weit über Menschenkraft — und so kann der Mensch wohl von ferne die dem Gesetz beigelegten Verheißungen erschauen, aber keinerlei Frucht aus ihnen ziehen. Da bleibt also allein dies, daß er aus der Größe dieser Verheißungen sein eigenes Elend besser erkenne, indem er erwägt, daß ihm alle Hoffnung auf die Seligkeit abgeschnitten ist und der Tod ihm unausweichlich droht. Und dann stehen da auf der anderen Seite die furchtbaren Drohungen, die nicht einzelne von uns, sondern uns alle rettungslos binden und umstricken — sie stehen da und verfolgen uns mit unerbittlicher Härte, so daß wir im Gesetz den Tod unmittelbar vor Augen haben!

 

 

 

II,7,4

Schauen wir also allein auf das Gesetz, so müssen wir unabwendbar verzagen, zuschanden werden und verzweifeln: denn es verdammt und verflucht uns alle und hält uns von der Seligkeit, die es denen verheißt, die es recht halten, gerade weitab! „So treibt also der Herr“, mag vielleicht jemand sagen, „auf diese Weise mit uns Spott? Denn was ist das anders als Spott, uns Hoffnung auf die Seligkeit zu machen, zu ihr einzuladen und zu ermuntern, sie uns zu bezeugen, als ob sie uns be­reitet wäre — wo doch währenddessen der Zugang dazu verschlossen und unzugäng­lich ist?“ Ich antworte: Gewiß hängen die Verheißungen des Gesetzes, die ja an Bedingungen geknüpft sind, von dem vollkommenen Gesetzesgehorsam ab, der tat­sächlich nirgendwo zu finden ist. Aber trotzdem sind sie nicht ohne Absicht gegeben. Haben wir nämlich einmal die Erfahrung gemacht, daß sie an uns ohne Kraft und Wirkung sind, wenn uns nicht Gott selber, abseits von allem Blick auf die Werke, aus lauter Güte in Gnaden annimmt, und haben wir diese Gnade, die uns im Evan­gelium dargeboten wird, im Glauben angenommen — so bleiben diese Verhei­ßungen mitsamt der an sie geknüpften Bedingung nicht unwirksam. Denn dann lässt

 

uns Gott alles aus freier Gnade zuteil werden und beweist seine Freundlichkeit auch darin, daß er unseren unvollkommenen Gehorsam nicht verwirft, uns erläßt, was an der Erfüllung noch mangelt, und uns, als hätten wir selbst die gestellte Bedingung erfüllt, an der Frucht der Gesetzesverheißungen teilhaben läßt. Aber diese Frage muß bei der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben noch näher behandelt werden, und deshalb wollen wir sie vorerst nicht weiter treiben.

 

 

 

II,7,5

 

Wir sagten aber: es ist uns unmöglich, das Gesetz zu erfüllen. Das muß noch mit wenigen Worten näher beleuchtet und zugleich bekräftigt werden. Denn es gilt im allgemeinen als ein ganz widersinniger Satz, so daß Hieronymus ihn gar ohne Bedenken mit dem „Anathema“ (Verfluchungswort) belegt hat. Ich will mich aber nicht mit der Ansicht des Hieronymus aufhalten, sondern nach der Wahrheit fragen. Ich will auch hier keine langen Umschweife machen mit der Frage, wievielerlei Arten von „Möglichkeiten“ es gibt. Ich nenne das „unmöglich“, was nach Gottes Ordnung und Ratschluß weder je hat sein können, noch je wird sein können. Gehen wir auch in die äußerste Vergangenheit zurück, so werden wir doch nie einen Heiligen finden, der — in diesem Todesleibe! — in der Liebe zu solchem Grad von Vollkommenheit gelangt wäre, daß er wirklich Gott liebe „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus ganzem Gemüte und aus allen seinen Kräften“, ja wir werden nie einen finden, der nicht mit seiner Begierde zu kämpfen gehabt hätte! Wer will da widersprechen? Ich weiß freilich, was für Heilige uns törichter Aberglaube vor­stellen will — denen kommen gewiß die Engel im Himmel an Reinheit kaum gleich! Aber das steht mit der Schrift und der Erfahrung im Widerspruch. Ich behaupte aber weiter: es wird auch in Zukunft keiner zum Ziel der Vollkommenheit ge­langen, wenn er nicht der Last des Körpers entledigt ist!

Dafür sind zunächst klare Zeugnisse der Schrift vorhanden. So sagt Salomo: „Es ist kein Mensch auf Erden gerecht, daß er nicht sündige“ (1. Könige 8,46). Und David bekennt: „Vor dir ist kein Lebendiger gerecht“ (Ps. 143,2). Das gleiche be­stätigt Hiob an sehr vielen Stellen (z. B. Hiob 9,2; 25,4). Am deutlichsten redet Paulus: „Das Fleisch gelüstet wider den Geist und den Geist wider das Fleisch“ (Gal. 5,17). Den Nachweis dafür, daß alle, die unter dem Gesetze sind, dem Fluch unterworfen sind, führt er damit, daß ja geschrieben steht: „verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in allem dem, was gefordert wird im Buche des Gesetzes, daß er es tue“ (Gal. 3,10; Deut. 27,26). Damit deutet er natürlich an, ja, er betrachtet es als allgemein zugestanden, daß niemand darin bleiben kann. Was aber in der Schrift gesagt ist, das muß fortdauernd als bleibend und notwendig gelten. Mit einer ähn­lichen Spitzfindigkeit quälten die Pelagianer den Augustin: Gott tue Unrecht, wenn er mehr befehle, als die Gläubigen vermöge seiner Gnade leisten könnten. Augustin gestand ihnen, um dieser Schmähung aus dem Wege zu gehen, zu, der Herr könne gewiß, wenn er wolle, den sterblichen Menschen bis zur Reinheit der Engel erheben, aber er habe es eben nie getan und werde es auch nie tun, weil er es in der Schrift anders ausgesprochen habe. Das leugne ich auch nicht; aber ich füge doch hinzu, daß man nicht die Befugnis hat, unangemessen über Gottes Macht zu reden, um damit seiner Wahrheit sich zu widersetzen. Deshalb ist es ganz unzweideutig geredet, wenn man sagt, unmöglich sei das, was nach dem Zeugnis der Schrift nicht geschehen werde. Wird aber über das Wort selbst gestritten, so bedenke man, daß der Herr seinen Jüngern, die ihn fragen, wer denn überhaupt selig werden könne, zur Ant­wort gibt: „Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge mög­lich (Matth. 19,25f.). Für die Behauptung, daß wir in diesem Fleische Gott nie die Liebe erweisen, die wir ihm schuldig sind, bringt Augustin einen sehr gut begrün­deten Beweis: „Die Liebe folgt der Erkenntnis, so daß also niemand Gott vollkom­men lieben kann, der nicht zuvor seine Güte voll und ganz erkannt hat. Solange wir aber in der Welt auf der Wanderschaft sind, schauen wir ‚durch einen Spiegel und

 

in einem dunklen Wort’ — und deshalb muß unsere Liebe auch unvollkommen blei­ben!“ (Am Ende der Schrift „Vom Geist und Buchstaben“ und auch sonst öfters). Es soll deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß uns in diesem Fleische die Erfüllung des Gesetzes unmöglich ist, sofern wir auf die Ohnmacht unserer Natur schauen. Das werden wir auch an anderer Stelle noch mit den Worten des Apostels Paulus (Röm. 8,3) beweisen.

 

 

 

II,7,6

 

Aber damit dies alles klarer ins Licht trete, wollen wir das Amt und die Anwen­dung des Gesetzes, das man das „sittliche“ nennt, in kurzer Ordnung durchgehen. Es besteht, soweit ich erkennen kann, in drei Stücken.

 

Die erste Anwendung des Gesetzes besteht darin, daß es uns Gottes Ge­rechtigkeit anzeigt, also was vor Gott wohlgefällig ist, und auf diese Weise jeden einzelnen an seine Ungerechtigkeit erinnert, sie ihm zur Gewißheit macht und ihn schließlich überführt und verdammt. So muß der Mensch in seiner Blindheit und im Rausche seiner Selbstliebe zur Erkenntnis und zugleich auch zum Bekenntnis seiner Schwachheit und Unreinigkeit gebracht werden; denn wenn er nicht deut­lichst seiner Nichtigkeit überführt wird, so bläht er sich in toller Zuversicht auf seine eigene Kraft auf und läßt sich nie dazu bringen, die Ohnmacht dieser Kraft zu empfinden, da er sie nach seinem eigenen Gutdünken einschätzt. Sobald er aber seine Kraft mit der Schwere des Gesetzes vergleicht, findet er genug Anlaß, seinen Stolz abzulegen. Denn mag er von seiner Kraft auch eine noch so hohe Meinung haben, so merkt er doch, wie sie unter solcher Last alsbald keucht, danach wankt und glei­tet und schließlich niedersinkt und ermattet. Hat so das Gesetz an ihm sein Lehramt ausgeübt, so legt er jene Anmaßung ab, die ihn zuvor blendete. So kann er auch von dem anderen Gebrechen, mit dem er, wie wir sagten, zu kämpfen hat, nämlich der Hoffart (superbia), heil werden. Solange er sein eigener Richter sein darf, hält er Heuchelwerke für Gerechtigkeit; damit gibt er sich zufrieden und lehnt sich nun mit wer weiß welcher selbstgemachten Gerechtigkeit gegen Gottes Gnade auf. Wird er aber genötigt, sein Leben auf der Goldwaage des Gesetzes zu prüfen, so zerfällt der Wahn erträumter Gerechtigkeit, und er gewahrt, wie er durch einen unermeßlichen Abstand von der wahren Heiligkeit getrennt und auf der anderen Seite von zahllosen Lastern befleckt ist, von denen er zuvor rein schien. Denn die bösen Begierden sind im Menschen so tief verborgen und so undurchsichtig, daß sie seinen Blick leicht täuschen. So sagt auch der Apostel nicht ohne Grund, er habe von der Lust nichts gewußt, wenn ihm das Gesetz nicht gesagt hätte: Laß dich nicht ge­lüsten (Röm. 7,7). Denn wenn das Gesetz die Lust nicht aus ihrem Schlupfwinkel hervorholte, so richtete sie den armen Menschen im verborgenen zugrunde, ehe er ihr tödliches Geschoß bemerkt.

 

 

 

II,7,7

So ist also das Gesetz einem Spiegel gleich, in dem wir unsere Ohnmacht und aus ihr unsere Ungerechtigkeit, wiederum aus diesen beiden unsere Verdammnis erblicken sollen, so wie uns ein Spiegel die Flecken und Runzeln unseres leiblichen Angesichts vor Augen hält. Denn wer nicht befähigt ist, den Weg der Gerechtigkeit zu gehen, der muß notwendig im Schlamm der Sünde steckenbleiben. Der Sünde aber folgt stets die Verdammnis. Je größer also die Übertretung ist, deren uns das Ge­setz zeiht und überführt, desto schwerer ist auch das Gericht, dessen es uns schuldig erscheinen läßt. Hierhin gehört auch das Wort des Apostels: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm. 3,20); denn er beschreibt an dieser Stelle bloß das erste Amt des Gesetzes, insofern es sich an solchen Sündern erzeigt, die noch nicht wiedergeboren sind. Dazu sind auch Stellen zu nehmen wie: „Das Gesetz ist zwischen­eingekommen, damit die Sünde mächtiger würde“ (Röm. 5,20), oder auch die Be­merkung, es sei ein „Amt des Todes“ (2. Kor. 3,7), das da „Zorn anrichtet“ (Röm. 4,15) und „tötet“. Denn ohne Zweifel wird die Ungerechtigkeit desto größer, je deut­licher das Gewissen um sie weiß: denn jetzt kommt zur Übertretung noch der bewußte

 

Widerstand gegen den Gesetzgeber hinzu. So erregt das Gesetz also schließlich Gottes Zorn zum Verderben des Sünders, denn aus sich vermag es ja nichts anders als anzuklagen, zu verdammen und zugrunde zu richten. Es geht, wie Augustin schreibt: „Fehlt die Gnade des Heiligen Geistes, so ist das Gesetz nur da, um anzuklagen und zu töten“ (Von der Züchtigung und Gnade 1,2). Wenn man das sagt, so geschieht damit dem Gesetz kein Eintrag, und es verliert auch nichts von seiner hohen Würde. Ja, wenn unser Wille befähigt und geeignet wäre, ihm gänzlich zu gehorchen, so würde ja seine Kenntnis allein schon voll und ganz zur Seligkeit ausreichen; da aber unsere fleischliche, verderbte Natur mit Gottes geistlichem Gesetze sich in Feind­schaft und offenem Streit befindet und auch durch seine Zucht nicht gebessert wird, so kann das Gesetz nur eine Ursache zur Sünde und zum Tode werden, obwohl es — sofern es geeignete Hörer gefunden hätte — doch zum Heil gegeben ist (Vergleiche Ambrosius, Von Jakob und dem seligen Leben, 1). Denn wir werden ja alle als Ge­setzesübertreter überführt: je klarer das Gesetz uns also Gottes Gerechtigkeit vor Augen stellt, desto mehr deckt es anderseits unsere eigene Ungerechtigkeit auf; und je gewisser es der Gerechtigkeit Leben und Seligkeit als Lohn verheißt, desto sicherer macht es auch das Verderben der Ungerechten!

 

Jene Sprüche sind also dem Ansehen des Gesetzes nicht im mindesten abträglich, ja sie dienen sogar in hervorragender Weise dazu, Gottes Wohltat zu loben und zu erheben. Denn gerade aus ihm geht ja klar hervor, daß unsere eigene Bosheit und Verderbtheit uns hindert, die Seligkeit des Lebens zu genießen, die uns im Ge­setz öffentlich verheißen wird! Um so herrlicher wird uns die Gnade Gottes, die uns ohne Mitwirkung des Gesetzes zu Hilfe kommt, um so liebenswerter wird uns Gottes Barmherzigkeit, die uns die Gnade zuwendet; aus ihr lernen wir, daß er nimmermehr müde wird, uns Gutes zu tun und uns alle Tage neu mit seiner Gnade zu überschütten.

 

 

 

II,7,8

 

Wenn uns nun im Zeugnis des Gesetzes unser aller Ungerechtigkeit und Verdammnis versichert wird, so geschieht das — wenn wir es recht anzuwenden lernen — nicht dazu, daß wir in Verzweiflung versinken und uns trostlos ins Verderben stürzen. Gewiß werden die Gottlosen auf diese Weise verängstigt, aber das geschieht doch wegen ihrer inneren Verhärtung. Bei den Kindern Gottes muß doch wohl eine an­dere Erziehungsabsicht bestehen. Wir sind gewiß nach dem Zeugnis des Apostels durch das Urteil des Gesetzes verdammt, „auf daß aller Mund gestopft werde und alle Welt Gott schuldig sei“ (Röm. 3,19). Aber der gleiche Apostel lehrt doch an anderer Stelle: „Gott hat alle verschlossen unter den Unglauben“ — nicht daß er alle zugrunde richte oder umkommen ließe, sondern —, „daß er sich aller erbarme!“ (Röm. 11,32) — nämlich, daß sie alle die törichte Meinung von ihrer eigenen Kraft fahren lassen und einsehen, daß sie allein durch Gottes Hand stehen und Bestand haben — daß sie nackt und bloß zu seiner Barmherzigkeit ihre Zuflucht nehmen, auf sie allein sich stützen, sich in ihr gänzlich bergen, sie allein als Gerechtigkeit und Verdienst für sich in Anspruch nehmen, da sie doch in Christus allen dargeboten wird, die nach ihr im rechten Glauben verlangen und wartend ausschauen. Gott erscheint in den Vorschriften des Gesetzes allein als Vergelter für vollkommene Gerechtig­keit, deren wir alle ermangeln — und auf der anderen Seite erscheint er als der strenge Richter für alle Vergehen. In Christus aber ist sein Angesicht voll Gnade und Freundlichkeit und leuchtet elenden und unwürdigen Sündern!

 

 

 

II,7,9

Wieso nun das Gesetz dahin wirkt, daß wir Gott um Hilfe und Gnade anrufen, das beschreibt Augustin häufig. So schreibt er an Hilarius: „Das Gesetz gebietet, damit wir versuchen, das Gebotene zu tun, und in unserer Schwachheit unter dem Gesetz ermatten, um dann die Hilfe der Gnade anrufen zu lernen“ (Brief 157). Wei­ter schreibt er an Asellicus: „Der Nutzen des Gesetzes besteht darin, daß es den Menschen von seiner Schwachheit überführt und ihn antreibt, als Heilmittel die

 

Gnade anzurufen, die in Christus ist“ (Brief 196). Ähnlich an den Römer Innocentius: „Das Gesetz gebietet — und die Gnade reicht die Kraft zum Wirken dar!“ (Brief 177). Oder an Valentinus: „Es gebietet Gott, was wir nicht vermögen, da­mit wir erkennen, was wir von ihm erbitten sollen“ (Von der Züchtigung und Gnade — tatsächlich „Von der Gnade und dem freien Willen“, 16). Oder: „Das Ge­setz ist gegeben, um euch schuldig zu machen; seid ihr schuldig, so sollt ihr euch fürchten, in eurer Furcht aber um Vergebung bitten — und alles Vertrauen auf eigene Kraft verlieren“ (Zu Psalm 70). Auch wieder: „Das Gesetz ist dazu gegeben, das Große klein zu machen, um dir zu zeigen, daß du aus dir selber nicht die Kräfte hast zur Gerechtigkeit, so daß du ohnmächtig, unwürdig und arm deine Zuflucht zur Gnade nimmst.“ Danach richtet er sich an Gott selber: „So laß es geschehen, Herr, so mache es, barmherziger Herr: gebiete, was nicht erfüllt werden kann, ja gebiete, was nur durch deine Gnade erfüllt werden kann, so daß, wenn die Menschen es in eigener Kraft nicht erfüllen können, jeder Mund gestopft werde und niemand sich groß erscheine. So sollen alle ganz klein werden, und alle Welt soll vor Gott schul­dig sein!“ (Zu Psalm 118, Predigt 27). Aber es ist eigentlich verkehrt, daß ich so viele Zeugnisse aufführe, wo doch der fromme (sanctus!) Mann (Augustin) ein be­sonderes Buch über diese Dinge geschrieben hat, dem er den Titel „Vom Geist und Buchstaben“ gab. In diesem Büchlein macht er indessen die zweite Anwendung des Gesetzes nicht hinreichend deutlich, weil er sie vielleicht von dieser ersten abhängig dachte oder sie auch nicht richtig verstanden oder nicht über die Worte verfügt hat, um sein sonst sichtbares rechtes Verständnis klar und lichtvoll darzustellen.

 

Indessen vollbringt das Gesetz dies sein erstes Amt auch in den Gottlosen. Sie kommen zwar nicht soweit wie die Kinder Gottes, daß sie ihr Fleisch erniedrigen, am inneren Menschen wiedergeboren werden und neu aufblühen, sondern verfallen auf den ersten Schrecken hin in tiefe Verzweiflung; aber die Gerechtigkeit des gött­lichen Urteils tut sich doch darin kund, daß auch ihr Gewissen in solche tiefe Erregung gerät. Sie möchten wohl immer gern gegen Gottes Urteil eine Ausflucht suchen — aber selbst jetzt, wo das Gericht selber noch nicht sichtbar ist, geraten sie doch durch das Zeugnis des Gesetzes und ihres eigenen Gewissens in Schrecken und beweisen an sich selbst, was sie verdient haben!

 

 

 

II,7,10

Das zweite Amt des Gesetzes besteht darin, daß Menschen, die nur gezwungen um Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sich kümmern, beim Hören der harten Drohungen in ihm schließlich wenigstens durch die Furcht vor der Strafe im Zaum gehalten werden. Das geschieht aber nicht etwa, weil ihr Herz innerlich bewegt oder berührt würde, sondern weil ihnen gleichsam ein Zügel angelegt ist, so daß sie ihre Hand vom Vollzug des äußeren Werks zurückhalten und ihre Bosheit in sich selbst verschließen, die sie sonst mutwillig würden losbrechen lassen. Sie werden da­durch gewiß nicht besser, auch nicht gerechter vor Gott. Denn sie wagen zwar aus Angst und Beschämung nicht auszuführen, was sie in ihrem Herzen bedacht haben, oder ihren wilden Begierden freien Lauf zu lassen — aber ihr Herz ist doch nicht bereit, Gott zu fürchten und ihm zu gehorchen; ja, je mehr sie sich zurückhalten, desto heftiger entbrennen, glühen, kochen sie inwendig, wären bereit, alles zu tun und zu jeder Tat zu schreiten, wenn der Schrecken des Gesetzes sie nicht zurückhielte. Aber nicht allein dies: sie hassen auch das Gesetz selber aufs heftigste, verfluchen Gott, den Gesetzgeber, und möchten ihn, wenn sie könnten, am liebsten zunichte machen — denn sie können es nicht ertragen, daß er von uns verlangt, zu tun, was recht ist, und daß er den Verächtern seiner Majestät vergilt. Alle, die noch nicht wiederge­boren sind, freilich die einen versteckter, die anderen offener, sind so gesinnt, daß sie

 

nicht etwa in freiwilligem Gehorsam, sondern gegen ihren Willen und Widerstand einzig und allein durch die Übergewalt der Angst dazu kommen, sich um das Gesetz Mühe zu geben.

 

Und doch ist diese erzwungene und herausgepreßte Gerechtigkeit zur Erhaltung der öffentlichen Gemeinschaft der Menschen erforderlich; für ihren Frieden wird hier Vorsorge getroffen, indem verhindert wird, daß alles im Tumult durcheinander­kommt; denn dies würde geschehen, wenn jeder tun dürfte, was er wollte. Indessen ist diese Erziehung auch für die Kinder Gottes heilsam, solange sie vor ihrer Be­rufung des Geistes der Heiligung ermangeln und sich in der Torheit ihres Fleisches wohl sein lassen. Solange sie nämlich durch die Angst vor der göttlichen Vergeltung vor der größten Leichtfertigkeit bewahrt werden, sind sie zwar im Herzen noch ungezähmt und kommen deshalb zunächst sehr wenig vorwärts, aber sie gewöhnen sich doch gewissermaßen daran, das Joch der Gerechtigkeit zu tragen, so daß ihnen also, wenn sie berufen werden, die Zucht nicht etwas Unbekanntes ist und sie ihr nicht unkundig als Neulinge gegenüberstehen. An dieses Amt des Gesetzes scheint der Apostel zu denken, wenn er sagt, das Gesetz sei nicht dem Gerechten gegeben, „sondern den Ungerechten und Ungehorsamen, den Gottlosen und Sündern, den Unheiligen und Ungeistlichen, Vatermördern und Muttermördern, Totschlägern, Hurern, Knaben­schändern, den Menschendieben, Lügnern, Meineidigen, und so etwas mehr der heil­samen Lehre zuwider ist“ (1. Tim. 1,9f.). Damit zeigt er, daß es bestimmt ist, um die wilden und sonst maßlos ausbrechenden Begierden des Fleisches zurückzuhalten.

 

 

 

II,7,11

 

Auf die beiden (bisher geschilderten) Ämter des Gesetzes läßt sich der Satz des Paulus anwenden, das Gesetz sei für die Juden „ein Zuchtmeister auf Christum“ ge­wesen (Gal. 3,24). Denn es gibt zweierlei Menschen, die es durch seine Zucht zu Christus führt. Von den Menschen der ersten Art haben wir zuerst gesprochen: die sind übervoll vom Vertrauen auf ihre eigene Kraft oder Gerechtigkeit und können Christi Gnade nicht empfangen, wenn sie nicht zuvor zunichte werden. So bringt sie also das Gesetz zur Erkenntnis ihres Elendes und dadurch zur Demut, und so werden sie bereitgemacht, zu erbitten, was ihnen nach ihrer bisherigen Selbst­beurteilung gar nicht fehlte. Die zweite Art Menschen brauchen einen Zaum, der sie bändigt, damit sie dem Gelüst ihres Fleisches nicht die Zügel schießen lassen und so gänzlich von allem Trachten nach der Gerechtigkeit abkommen. Denn wo der Geist Gottes noch nicht regiert, da brechen die Begierden zuweilen derart heftig hervor, daß die Seele, die ihnen unterworfen ist, in Gefahr gerät, in Vergessen und Ver­achtung Gottes zu versinken — und das würde auch tatsächlich eintreten, wenn der Herr nicht mit dieser Arznei dem entgegenwirkte. Wenn er also die, welche er zu Erben seines Reiches bestimmt hat, nicht gleich zur Wiedergeburt kommen läßt, so bewahrt er sie doch bis zur Zeit seiner gnädigen Heimsuchung durch den Dienst des Gesetzes unter der Furcht — die zwar nicht so zuchtvoll und rein ist, wie sie in seinen Kindern sein soll, aber doch dazu verhilft, daß sie nach dem Maß ihres Verständ­nisses zur rechten Gottesfurcht erzogen werden. Dafür gibt es so viele Belege, daß es keiner Beispiele bedarf. Denn alle, die eine Zeitlang ohne Erkenntnis Gottes ge­lebt haben, bekennen ja, daß sie durch den Zaum des Gesetzes in einer Art Gottes­furcht und Gehorsam gehalten wurden, bis sie dann, durch den Geist wiedergeboren, anfingen, Gott von Herzen zu lieben.

 

II,7,12

 

Die dritte Anwendung des Gesetzes ist nun die wichtigste und bezieht sich näher auf seinen eigentlichen Zweck: sie geschieht an den Gläubigen, in deren Herz Gottes Geist bereits zu Wirkung und Herrschaft gelangt ist. Ihnen ist zwar mit Gottes Finger das Gesetz ins Herz geschrieben, ja eingemeißelt; das bedeutet: sie sind durch die Leitung des Geistes innerlich so gesinnt und gewillt, daß sie Gott gern gehorchen möchten. Aber trotzdem haben sie noch einen doppelten Nutzen vom Gesetz.

 

Denn es ist (1.) für sie das beste Werkzeug, durch das sie von Tag zu Tag besser lernen, was des Herrn Wille sei, nach dem sie ja verlangen, und durch das sie auch in solcher Erkenntnis gefestigt werden sollen. Wenn ein Knecht auch noch so sehr von ganzem Herzen danach trachtet, sich bei seinem Herrn recht zu bewähren, so hat er doch noch immer nötig, die Eigenart seines Herrn genauer zu erforschen und zu beachten, der er sich ja recht anpassen will. So ist es auch bei den Gläubigen, von dieser Notwendigkeit kann sich niemand von uns frei machen; denn keiner ist schon so weit in der Weisheit vorgedrungen, daß er nicht durch die tagtägliche Erzie­hungsarbeit des Gesetzes neue Fortschritte zur reineren Erkenntnis des Willens Gottes machen könnte.

 

Wir bedürfen aber nicht nur der Belehrung, sondern auch (2.) der Ermah­nung; und auch den Nutzen wird der Knecht Gottes aus dem Gesetze ziehen, daß er durch dessen häufige Betrachtung zum Gehorsam angetrieben, in ihm gestärkt und von dem schlüpfrigen Weg der Sünde und des Ungehorsams weggezogen wird. Eines solchen Antriebs bedürfen die Heiligen durchaus; denn sie mögen zwar nach dem Geiste mit noch solchem Eifer nach der Gerechtigkeit Gottes sich aus­strecken — es belastet sie doch immer noch die Trägheit des Fleisches, so daß sie nicht mit der erforderlichen freudigen Bereitwilligkeit ihren Weg gehen! So ist das Gesetz für das Fleisch gleich einer Geißel, die es wie einen faulen und lang­samen Esel zur Arbeit treibt, ja auch für den geistlichen Menschen, der von der Last des Fleisches noch nicht ledig ist, ist es immerzu ein Stachel, der ihm nicht zu ruhen verstattet. Sicherlich dachte David an diese (dritte) Anwendung des Gesetzes, wenn er schrieb: „Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele; ... die Befehle des Herrn sind richtig und erfreuen das Herz; die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen ... (Ps. 19,8f.). Oder auch: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (Ps. 119,105) und unzählige andere Worte in diesem ganzen (119.) Psalm. Diese Worte stehen nicht mit denen des Paulus im Widerspruch. Denn in ihnen ist ja nicht von der Anwendung des Ge­setzes gegenüber den Wiedergeborenen die Rede, sondern von der Frage, was das Gesetz dem Menschen an und für sich zu helfen vermöchte. Hier dagegen besingt der Prophet, wieviel Segen uns der Herr zuteil werden läßt, wenn er Menschen, denen er innerlich die Bereitschaft zum Gehorsam eingegeben hat, dadurch erzieht, daß sie sein Gesetz lesen dürfen; und dabei gedenkt er nicht allein der Gebote, sondern auch der ihnen beigegebenen Gnadenverheißung, die allein das Bittere süß machen kann. Denn was ist weniger liebenswert als das Gesetz, wenn es bloß durch Forderungen und Drohen das Herz erschreckt und mit Angst bedrängt? Vor allem aber zeigt David, daß er im Gesetz den Mittler kennengelernt hat, ohne den keine Freude und keine Erquickung aufkommen kann.

 

 

 

II,7,13

Diesen Unterschied kennen einige unerfahrene Leute nicht, und deshalb ver­werfen sie grimmig das ganze Gesetz und lassen beide Tafeln fahren; denn es ist nach ihrer Meinung mit dem Wesen eines Christen nicht vereinbar, einer Lehre anzu­hangen, die doch das „Amt des Todes“ in sich trägt (Anklang an 2. Kor. 3,7). Aber solch eine gottlose Meinung soll ferne von unserem Herzen sein; denn Mose lehrt selbst sehr klar, daß das Gesetz zwar bei den Sündern nichts als den Tod erzeugen kann, aber bei den Heiligen doch eine besondere und herrlichere Anwendung finden

 

müsse. So gebot er dem Volke unmittelbar vor seinem Tod: „Nehmet zu Herzen alle Worte, die ich euch heute bezeuge, daß ihr sie euren Kindern befehlet und sie lehret halten und tun alle Worte dieses Gesetzes; denn es ist nicht ein vergebliches Wort an euch, sondern es ist euer Leben“ (Deut. 32,46f.). Wenn wirklich unleugbar im Gesetz ein vollkommenes Urbild der Gerechtigkeit vor uns hintritt, so haben wir notwendig entweder gar keine Richtschnur für ein rechtes, gerechtes Leben — oder aber es ist unrecht, von diesem Gesetz zu weichen. Denn es gibt ja nicht meh­rere solche Maßstäbe, sondern nur einen, der dauernd und unwandelbar in Geltung ist. Wenn also David zeigt, wie das Leben des Gerechten in steter Betrachtung des Gesetzes besteht (Ps. 1,2), so sollen wir das nicht auf ein bestimmtes Zeitalter be­ziehen, denn das geziemt sich sehr wohl zu allen Zeiten bis zum Ende der Welt! Des­halb sollen wir uns nicht von der Unterweisung im Gesetz abwenden oder vor ihr die Flucht ergreifen, etwa unter Berufung darauf, daß es uns ja eine viel voll­kommenere Heiligkeit gebietet, als wir sie je zu leisten vermögen, solange wir das Gefängnis unseres Fleisches mit uns herumtragen. Denn es wirkt an uns nicht wie ein harter Treiber, der nur zufrieden ist, wenn das volle Maß erreicht ist, sondern es zeigt uns bei aller Ermahnung zur Vollkommenheit das Ziel, zu dem alle Zeit unseres Lebens zu laufen nützlich und unseres Amtes ist. Lassen wir in diesem Lauf nicht ab, so ist es gut. Denn dies ganze Leben ist ein Lauf auf der Kampfbahn; haben wir diesen Lauf vollendet, so wird uns der Herr schenken, daß wir jenes Ziel, auf welches wir jetzt noch von ferne unser Sinnen und Trachten richten, erreichen!

 

 

 

II,7,14

 

Nun hat also das Gesetz gegenüber den Gläubigen die Macht, sie zu ermahnen — nicht um ihr Gewissen mit Verdammnis zu binden, fondern um in fleißigem An­halten die Trägheit zu bannen und sie an ihre Unvollkommenheit zu erinnern. Des­halb behaupten nun viele, um zu zeigen, daß wir von jener Verdammung durch das Gesetz befreit sind, das Gesetz — ich rede noch vom sittlichen Gesetz! — sei für die Gläubigen abgetan, nicht etwa, weil es nicht auch ihnen gebiete, was recht ist, sondern nur, weil es ihnen nicht mehr gegenübersteht wie zuvor, d. h. ihr Gewissen nicht mehr in Schrecken und Wirrnis jagt, sie verdammt und zugrunde richtet. Auch Paulus lehrt die Abschaffung des Gesetzes völlig klar. Der Herr selber aber muß sie auch ver­kündigt haben: das zeigt sich daran, daß er jener Meinung, er werde etwa das Gesetz auflösen (Matth. 5,17), wohl nicht entgegengetreten wäre, wenn sie nicht unter den Ju­den vorhanden gewesen wäre. Diese Meinung (der Juden) konnte aber nicht von selbst, ohne jeden Anschein aufkommen, und daher muß man annehmen, daß sie aus einer verkehrten Auslegung seiner Lehre stammte — wie ja fast alle Irrtümer ihren An­laß an der Wahrheit haben! Damit wir nun aber nicht an denselben Stein stoßen, wollen wir sehr sorgfältig unterscheiden, was denn am Gesetz abgetan ist und was noch Bestand hat. Der Herr bezeugt ja: „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz ... aufzulösen ..., sondern zu erfüllen“, und „Bis daß Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe ... am Gesetz, bis daß es alles ge­schehe“ (Matth. 5,17f.). Damit stellt er klar und deutlich fest, daß durch seine An­kunft der Beobachtung des Gesetzes nichts entzogen werden sollte. Und das mit vollem Recht: denn er ist doch vielmehr gekommen, um der Übertretung zu wehren! So bleibt also jene Lehre des Gesetzes durch Christus unverletzt, die uns mit Lehren, Ermahnen, Tadeln, Züchtigen zu allem guten Werke bereiten und geschickt machen soll.

 

 

 

II,7,15

Was aber Paulus von dem Fluche des Gesetzes sagt, das bezieht sich offen­kundig nicht auf dessen Lehramt, sondern allein auf seine Kraft, die Gewissen zu binden. Denn das Gesetz lehrt ja nicht allein: es fordert und befiehlt gebieterisch. Wird das Verlangte nicht geleistet, ja wird es auch nur in irgendeinem Stück verfehlt, so fällt es sogleich das Verdammungsurteil über den Übertreter. Deshalb sagt der Apostel: „Die mit des Gesetzes Werken umgehen, sind unter dem Fluch; denn es stehet geschrieben, verflucht sei jedermann, der nicht bleibet in alledem

 

... daß er’s tue“ (Gal. 3,10; Deut. 27,26). Unter dem Gesetz stehen aber nach seinen Worten alle, die ihre Gerechtigkeit nicht auf die Vergebung der Sünden gründen, durch die wir der Strenge des Gesetzes entnommen werden. Wir müssen also nach seiner Lehre von den Fesseln des Gesetzes erlöst werden, wenn wir in ihnen nicht jämmerlich umkommen wollen. Aber was sind das für Fesseln? Doch offenbar die harten und feindseligen Forderungen, die von dem vollkommenen An­spruch rein nichts nachlassen und keinerlei Übertretung ungestraft lassen. Damit uns Christus von diesem Fluch loskaufte, ist er für uns zum Fluch geworden. Denn es steht geschrieben: „Verflucht ist jedermann, der am Holze hanget“ (Gal. 3,13; Deut. 21,23). Im darauffolgenden Kapitel bezeugt der Apostel, Christus sei „unter das Gesetz getan“ worden, „auf daß er die, so unter dem Gesetze sind, erlöste“ (Gal. 4,4f.) — aber das sagt er im gleichen Sinne (wie oben), und deshalb setzt er gleich hinzu: „daß wir die Kindschaft empfingen“ (ebenda). Was heißt das nun? Doch wohl dies: daß wir nicht immerdar in solcher Knechtschaft behaftet blieben, die unser Ge­wissen immerzu in Todesangst befangen hielt. Indessen ist doch immer noch unbe­weglich wahr, daß von dem Ansehen des Gesetzes nichts abgegangen ist, so daß es auch von uns stets mit der gleichen Verehrung und dem gleichen Gehorsam anzu­nehmen ist.

 

 

 

II,7,16

 

Anders verhält es sich freilich mit den Zeremonien: sie sind nicht ihrer Bedeutung, sondern nur ihrem Vollzug nach abgetan. Daß ihnen aber Christus durch seine Ankunft ein Ende gesetzt hat, nimmt ihnen nichts von ihrer Heiligkeit, ja preist und verherrlicht sie nur um so mehr! Denn wie sie einst dem alten Bundesvolk ein eitles Schaubild geboten hätten, wenn in ihnen nicht die Kraft des Sterbens und Auferstehens Christi abgebildet gewesen wäre — so würde jetzt, wenn sie nicht aufgehört hätten, gar nicht mehr zu erkennen sein, warum sie eigentlich eingesetzt worden sind. So will auch Paulus nachweisen, daß ihre Be­obachtung für uns nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich wäre, und sagt von ihnen, sie seien „der Schatten von dem, das zukünftig war; aber der Körper selbst ist in Christo“ (Kol. 2,17). Wir sehen also, daß durch ihre Abschaffung die Wahr­heit besser aufleuchtet, als wenn sie noch aus der Ferne und wie hinter einem Vor­hang verborgen Christum darstellten, der doch öffentlich erschienen ist! So ist ja auch bei dem Tode Christi der Vorhang im Tempel in zwei Stücke zerrissen (Matth. 27,51); denn es war ja schon das lebendige und deutliche Bild der himmlischen Gü­ter ans Licht getreten, das zuvor, in den Zeremonien, bloß in undeutlichem Schatten­bild da war, wie der Verfasser des Hebräerbriefs sagt (Hebr. 10,1). Hierhin ge­hört auch Christi Wort, das Gesetz und die Propheten seien bis auf Johannes da gewesen, aber seither habe man angefangen, das Evangelium zu predigen (Luk. 16,16). Das bedeutet nicht, daß die Väter etwa der Predigt, die die Hoffnung auf das Heil und ewiges Leben in sich trägt, entbehrt hätten; aber sie haben doch nur aus der Ferne und unter Schattenbildern erblickt, was wir heute in vollem Lichte er­strahlen sehen. Den Grund aber, weshalb die Kirche von diesen Anfangsgründen aus fortschreiten mußte, zeigt Johannes der Täufer: „Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade aber und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden“ (Joh. 1,17). Denn obwohl in den alten Opfern die Versöhnung wahrhaft angekündigt war und obwohl die Lade des Bundes ein sicheres Unterpfand der väterlichen Huld Gottes war, so wäre dies doch alles bloß schattenhaft gewesen, wenn es nicht in Christi Gnade gegründet gewesen wäre, die wirklich ein fester, ewiger Grund ist. Das bleibt also fest bestehen: Obwohl die gesetzlichen Gottesdienstformen aufgehört haben, so wird doch gerade aus deren Ende deutlich, wie wichtig sie vor der Ankunft Christi waren, der ihre Anwendung aufgehoben, aber ihre Kraft und Wirkung durch seinen Tod versiegelt hat.

 

II,7,17

 

Etwas schwieriger ist folgende Beweisführung des Paulus: „Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, da ihr tot wäret in den Sünden und in eurem unbe­schnittenen Fleisch, und hat uns geschenkt alle Sünden und ausgetilgt die Hand­schrift, so wider uns war, welche durch Satzungen entstand und uns entgegen war, und hat sie aus dem Mittel getan und an das Kreuz geheftet ...“ (Kol. 2,13.14). Hier scheint Paulus die Abschaffung des Gesetzes so weit auszudehnen, daß wir über­haupt nichts mehr mit seinen Vorschriften zu tun hätten. Denn es ist irrig, wenn einige die Stelle einfach auf das sittliche Gesetz beziehen, obwohl sie erklären, es sei eher dessen unerbittliche Strenge, als seine Lehre selbst abgeschafft. Andere erwägen diesen Ausspruch des Paulus sorgfältiger und kommen zu der Einsicht, daß die Stelle sich eigentlich auf das Zeremonialgesetz bezieht; sie zeigen auch, daß der Ausdruck „Satzung“ bei Paulus häufig das Zeremonialgesetz meint. Denn Paulus spricht zu den Ephesern: „Denn er ist unser Friede, der aus beiden eines hat ge­macht .... indem er wegnahm ... das Gesetz, so in Satzungen gestellet war, auf daß er aus zweien einen neuen Menschen in ihm selber schüfe...“ (Eph. 2,14.15). An dieser Stelle redet er ohne Zweifel von den Zeremonien: denn er nennt sie eine Scheidewand, die zwischen Juden und Heiden schied. Deshalb werden nach mei­ner Ansicht die Vertreter der ersteren Auffassung der Stelle von denen der letzteren mit gutem Recht getadelt; aber auch diese scheinen mir die Absicht des Apostels noch nicht gut zu erläutern. Denn es geht keineswegs an, diese beiden Stellen für völlig gleich zu erklären. Paulus wollte die Epheser von ihrer Aufnahme in die Gemeinschaft des Volkes Israel überzeugen, und deshalb belehrt er sie, daß das Hindernis, das sie einst fernhielt, nun abgetan sei. Dies Hindernis waren die Zere­monien. Die Übung von Waschungen und Opfern, durch welche die Juden dem Herrn geheiligt wurden, sonderte sie von den Heiden ab. Aber wer bemerkt nicht, daß im Kolosserbrief ein noch tieferes Geheimnis berührt wird? Denn da geht der Streit um die Beobachtung des Gesetzes Moses, zu der die falschen Apostel die Christenheit zu führen versuchten; und wie Paulus im Galaterbrief diese Frage in größere Tiefe führt und sie sozusagen bis an die Quelle verfolgt, so geschieht es auch hier. Will man nämlich unter den Gebräuchen bloß eine Nötigung zu ihrem Vollzug verstehen, wie kann dann von einer „Handschrift“ die Rede sein, „so wider uns“ ist? Und wie sollte erst recht beinahe unsere ganze Erlösung damit gegeben sein, daß sie außer Geltung gesetzt würde? So bezeugt doch die Sache selber laut genug, daß es sich hier um etwas Tieferes handeln muß.

 

Ich glaube aber den rechten Sinn der Worte des Paulus verstanden zu haben, wenn man mir nur die Wahrheit dessen zugesteht, was Augustin sehr richtig ge­schrieben hat, ja was er aus deutlichen Worten des Apostels selber schöpft: in den jüdischen Zeremonien habe es sich mehr um ein Bekenntnis der Sünden als um deren Tilgung gehandelt (Hebr. 7.9.10). Was taten die Juden denn mit ihren Opfern anders, als daß sie sich als todesschuldig bekannten, indem sie an ihrer Statt die Opfertiere hingaben? Was bezeugten ihre Reinigungen anders als eben ihre Un­reinigkeit? So wurde jedesmal die „Handschrift“ ihrer Schuld und Unreinigkeit er­neuert; eine Befreiung aber bot dieses Bekenntnis nicht. Aus diesem Grunde schreibt der Apostel, erst durch den Tod Christi sei die Erlösung von den Übertretungen geschehen, die unter dem Alten Bunde bestehen geblieben waren (Hebr. 9,15). Mit vollem Recht nennt Paulus die Zeremonien „eine Handschrift“, die den Verehrern des Gesetzes „entgegen war“; denn durch sie bescheinigten sie ja öffentlich ihre Ver­dammnis und Unreinigkeit.

Gewiß spricht das nicht dagegen, daß auch die Alten mit uns zusammen an der gleichen Gnade Anteil hatten. Dazu sind sie aber in Christo gekommen, nicht durch

 

die Zeremonien, die Paulus ja an dieser Stelle gerade von Christus unterscheidet, da sie ja — wenn man sie jetzt wieder in Übung kommen ließe — Christi Herrlich­keit verdunkelten. Also werden die Zeremonien, sofern man sie an und für sich be­trachtet, sehr gut und passend als „Handschrift“ bezeichnet, welche dem Heil der Menschen entgegenstand; denn sie waren ja feierliche Beweisakte (solennia instrumenta), die ihre Verschuldung bezeugen sollten. An diese Zeremonien wollten die falschen Apostel die christliche Kirche wieder verknechten, und so erinnert Paulus, nachdem er ihre Bedeutung noch einmal dargestellt hat, die Kolosser nicht ohne Grund daran, wohin sie geraten müßten, wenn sie sich dieses Joch wieder auf den Hals bringen ließen! Denn damit müßte ihnen die Gnadengabe Christi geraubt werden: der einmalige Vollzug der ewigen Versöhnung hat die täglichen Zeremonien abgetan, die ja doch nur dazu taugten, die Sünde öffentlich zu bezeugen, aber keine Kraft hatten, sie zu tilgen.

Achtes Kapitel

 

 

 

Auslegung des sittlichen Gesetzes (der Zehn Gebote).

 

 

 

II,8,1

 

Hier, meine ich nun, wird es am Platze sein, die Zehn Gebote mit einer kurzen Auslegung einzufügen. Daraus wird nämlich erstens deutlicher werden, daß — wie ich schon andeutete — die Verehrung Gottes, die er selbst einst vorgeschrieben hat, noch heute in Geltung ist. Zweitens wird sich daraus auch eine Bestätigung des weiteren Hauptpunktes ergeben, wonach die Juden aus dem Gesetz nicht bloß gelernt haben, wie die rechte Frömmigkeit beschaffen sei, sondern auch, da sie sich zur Erfüllung ungeeignet fanden, durch den Schrecken vor dem Gericht Gottes dazu genötigt wurden, sich gegen ihren Willen zum Mittler hinziehen zu lassen. Weiter: als ich auseinandersetzte, was alles zur wahren Erkenntnis Gottes gehört, da lehrte ich auch, daß Gott in seiner Größe von uns gar nicht erfaßt werden kann, ohne daß uns seine Majestät sogleich entgegentritt und in seinen Dienst zwingt. Und bei unse­rer Selbst-Erkenntnis ist es nach meiner Überzeugung das Wichtigste, daß wir ohne alles Vertrauen auf eigene Kraft, frei von aller Zuversicht auf eigene Gerechtigkeit, dagegen zerbrochen, zermalmt von dem Bewußtsein unserer Armut, die rechte Demut lernen und jene rechte Selbst-Erniedrigung. Dies beides will der Herr mit seinem Gesetz schaffen. Denn da eignet er sich erstens selbst alle ihm ja auch zustehende Befehlsgewalt zu und fordert uns zur Ehrerbietung gegen seine göttliche Majestät auf, gebietet uns auch, wie sich diese Ehrerbietung zu erweisen habe. Und zwei­tens verkündet er die Regel seiner Gerechtigkeit, deren gerechter Forderung wir nach unserer Art, die ja böse und verkehrt ist, immerzu widerstreben und deren Voll­kommenheit unser Vermögen, das ja schwach ist und zum Guten gänzlich untüchtig, nicht von ferne erreicht; so überführt er uns unserer Ohnmacht und Ungerechtigkeit.

 

Eben das, was wir aus den beiden Tafeln des Gesetzes lernen sollen, sagt uns gewissermaßen jenes innere Gesetz, das nach unserer obigen Darstellung allen Men­schen ins Herz geschrieben und sozusagen eingeprägt ist. Denn unser Gewissen läßt uns nicht immerzu ohne Empfinden schlafen, sondern es ist in unserem Innern ein Zeuge und Mahner an das, was wir Gott schuldig sind, es hält uns den Unterschied zwischen Gut und Böse vor und klagt uns an, wenn wir vom Wege abweichen. Der Mensch ist indessen von einer solchen Finsternis des Irrtums umhüllt, daß er vermöge dieses natürlichen Gesetzes kaum eine geringe Ahnung von der Verehrung bekommt, die Gott wohlgefällig ist, jedenfalls aber weit von deren wirklichem Sinne entfernt bleibt. Dabei ist der Mensch aber von seiner Anmaßung und Hoffart der­maßen aufgeblasen, in seiner Selbstliebe derart verblendet, daß er sich gar nicht ohne weiteres recht anschauen oder in sich gehen kann, um Gehorsam und Selbst­verleugnung zu lernen und sein Elend offen zu gestehen. Deshalb hat also der Herr — und das war angesichts unserer Schwachsichtigkeit wie auch unserer Halsstarrig­keit nötig! — uns sein geschriebenes Gesetz gegeben: dies bezeugt uns genauer, was im natürlichen Gesetz zu dunkel blieb, und es vertreibt uns auch die Faulheit und erfüllt Herz und Gemüt mit frischerer Bewegung!

 

 

 

II,8,2

Nun können wir auch gleich sehen, was wir aus dem Gesetz lernen sollen. Eben dies: Gott ist unser Schöpfer und deshalb hat er auch Vater- und Herrenrecht an uns. Darum gebührt ihm von uns aus Ruhm, Ehrfurcht, Liebe und Furcht. Wir sind also nicht unsere eigenen Herren, sollen nicht der Lust folgen, wohin sie uns treibt, sondern allein von seinem Winke abhängen und in dem bleiben, was ihm wohlgefällt. Er liebt ja Gerechtigkeit und Heiligkeit von Herzen und haßt die Un­gerechtigkeit; so sollen wir denn, wollen wir nicht in frevlerischer Undankbarkeit von unserem Schöpfer abfallen, unser Leben lang auf die Gerechtigkeit unser Sinnen

 

und Trachten richten. Denn wir beweisen ihm ja dadurch erst die gebührende Ehr­furcht, daß wir seinen Willen über den unseren stellen, und deshalb gibt es nur eine rechte Gottesverehrung, nämlich das Trachten nach Gerechtigkeit, Heiligkeit und Reinheit. Da darf auch nicht die Entschuldigung vorgebracht werden, dazu fehle uns die Fähigkeit und wir wären ja gleich zahlungsunfähigen Schuldnern nicht in der Lage, das zu leisten. Denn Gottes Ehre läßt sich nicht nach unserem Ver­mögen bemessen — wir mögen sein, wer wir wollen, so bleibt er doch sich selber gleich: ein Freund der Gerechtigkeit und ein Feind der Ungerechtigkeit! Was er auch von uns fordert — denn er kann nur das Rechte fordern! —: auf uns liegt kraft natürlicher Gebundenheit die Pflicht zum Gehorchen; vermögen wir etwas nicht, so ist das unser eigener Mangel. Werden wir von der eigenen Begehrlichkeit, in der die Sünde die Herrschaft führt, in Fesseln gehalten, so daß wir unserem Vater nicht den freien Gehorsam leisten können, so können wir uns nicht mit der auf uns lastenden Notwendigkeit entschuldigen — denn das Übel liegt in uns und ist uns zuzurechnen.

 

 

 

II,8,3

 

Sind wir nun durch das Gesetz bis zu dieser Erkenntnis vorgedrungen, so müssen wir nun auch wiederum unter seiner Leitung zu uns selber kommen; und daraus folgt für uns zweierlei. Erstens gewahren wir, wenn wir die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, mit unserem Leben vergleichen, daß wir bei weitem nicht dem Willen Gottes entsprechen, ja daß wir deshalb unwürdig sind, noch zu seinen Geschöpfen zu zählen, geschweige denn zu seinen Kindern. Und wenn wir dann zweitens unsere Kräfte betrachten, so finden wir, daß diese nicht etwa zu schwach, sondern gänzlich untüchtig sind, das Gesetz zu erfüllen. Aus solcher Einsicht folgt notwendig das Mißtrauen gegenüber der eigenen Kraft, zugleich auch innere Angst und Bangigkeit. Denn das Gewissen kann die Last der Ungerechtigkeit nicht ertra­gen, ohne sich alsbald vor Gottes Gericht gestellt zu sehen. Dies aber ist nicht mög­lich, ohne daß die Todesangst über uns kommt. In gleicher Weise aber wird das Gewissen durch die Beweise unserer Ohnmacht überführt und gerät so notwendig in die völlige Verzweiflung an den eigenen Kräften. Jede von diesen beiden Widerfahrnissen (Todesangst und Verzweiflung an der eigenen Kraft) bringt uns nun zu Demut und Selbstverwerfung, — und so kommt der Mensch endlich unter dem Empfinden des ewigen Todes, dem er um seiner Ungerechtigkeit willen mit Recht entgegensieht, doch dazu, zu der Barmherzigkeit Gottes als dem einzigen Hafen des Heils seine Zuflucht zu nehmen, zu fühlen, daß es nicht in seiner Macht steht, der Forderung des Gesetzes Genüge zu tun, an sich selbst zu verzweifeln und dann nach einer Hilfe zu verlangen, die er von anderswoher erflehen und erwarten muß!

 

 

 

II,8,4

Aber der Herr gibt sich nicht damit zufrieden, seiner Gerechtigkeit die gebührende Ehrfurcht zu verschaffen; er will uns auch die Liebe zur Gerechtigkeit und zugleich den Haß gegen die Ungerechtigkeit ins Herz senken und hat dazu die Verheißungen und Drohungen dem Gesetz beigegeben. Unser inneres Auge ist ja so verfinstert, daß es von der Schönheit des Guten nicht mehr berührt wird; und darum hat der Vater in seiner großen Güte und Barmherzigkeit uns durch die Süßigkeit der Belohnungen dazu reizen wollen, ihn zu lieben und nach ihm zu verlangen. Er ver­kündet also, daß das rechte Tun bei ihm Belohnungen zu erwarten habe und daß keiner, der seinen Geboten folgt, sich umsonst gemüht haben soll. Er läßt aber ander­seits auch wissen, daß die Ungerechtigkeit ihm abscheulich ist und auch nicht unge­straft davonkommen soll, ja, daß er selber für die Verachtung seiner Majestät als strenger Vergelter auftreten wird. Und um keine Ermunterung zu unterlassen, ver­spricht er denen, die seine Gebote halten, Segnungen im zeitlichen Leben wie auch die ewige Seligkeit, den Übertretern aber droht er ebenso gegenwärtige Not und auch die Strafe des ewigen Todes. Die Verheißung: „Wer das tut, der wird dadurch leben“ (Lev. 18,5) entspricht der Drohung: „Welche Seele sündiget, die soll ster-

 

ben“ (Ez. 18,4.20), und diese beiden Sprüche beziehen sich zweifellos auf die zu­künftige und immerwährende Unsterblichkeit, bzw. auf den künftigen und nicht en­denden Tod! Freilich wird überall, wo Gottes Wohlwollen oder Gottes Zorn er­wähnt wird, zugleich damit auch das ewige Leben oder der ewige Tod umfaßt. Was aber die gegenwärtigen, zeitlichen Segnungen und Strafen betrifft, so gibt uns das Gesetz eine lange Aufzählung (Lev. 26,3-39; Deut. 28,1-68). So bewährt sich in den Strafen Gottes unendliche Heiligkeit, welche die Ungerechtigkeit nicht zu ertragen vermag, in den Verheißungen aber seine höchste Gerechtigkeitsliebe, die es nicht an Belohnung fehlen läßt, und erst recht seine wundersame Güte. Denn wir sind doch seiner Majestät mit allem, was wir haben, verpfändet, und er hat volles Recht, alles, was er von uns fordert, als Schuld zurückzufordern — die Rück­erstattung einer Schuld aber ist keiner Belohnung wert! Er läßt also sein eigenes Recht fahren, wenn er unserem Gehorsam Lohn darreicht, obwohl dieser doch gar nicht freiwillig geschieht — als ob wir nicht ohnehin dazu verpflichtet wären! Was uns aber die Verheißungen und Drohungen selbst nützen, das wurde zum Teil be­reits gesagt, zum Teil wird es an seiner Stelle noch klarer werden. Vorerst ist es genug, wenn wir festhalten und bedenken, daß in den Verheißungen des Gesetzes die Gerechtigkeit ganz besonders gerühmt wird, damit wir desto besser erkennen, wie sehr Gott der Gehorsam gefällt. Ferner wollen wir nicht vergessen, daß die Stra­fen dazu dienen sollen, daß die Ungerechtigkeit desto fluchwürdiger erscheine, da­mit der Sünder sich von der Schmeichelei des Lasters nicht betören lasse, das ihm bereitete Gericht des Gesetzgebers zu vergessen!

 

 

 

II,8,5

Indem uns der Herr die Regel vollkommener Gerechtigkeit vorlegt, führt er sie in allen Stücken immer wieder auf seinen Willen zurück und bezeugt dadurch, daß ihm nichts wohlgefälliger ist als der Gehorsam. Darauf muß um so genauer geachtet werden, als die Zuchtlosigkeit des Menschengeistes immerzu allerhand Gottes­dienst sich erdenkt, um damit vor Gott sich etwas zu verdienen. Zu allen Zeiten hat sich diese unfromme Frömmigkeitsmacherei, die ja dem Menschengeiste von Natur innewohnt, offenbart, und sie tut es noch heute: es zeigt sich nämlich, daß die Men­schen immer eine ganz besondere Neigung haben, sich abseits von Gottes Wort eine eigene Art zu erdenken, um gerecht zu werden. Deshalb finden bei den sogenannten „guten Werken“ die Gebote des Gesetzes wenig Raum, weil ja dieser gewaltige Schwarm menschlicher „Gebote“ den ganzen Platz einnimmt! Mose aber wollte gerade diesem Mutwillen wehren; und deshalb redet er nach der Verkündigung des Gesetzes das Volk an: „Sieh zu und höre alle diese Worte, die ich dir gebiete, auf daß dir’s wohlgehe und deinen Kindern nach dir ewiglich, weil du getan hast, was recht und gefällig ist vor dem Herrn, deinem Gott“ (Deut. 12,28). Und: „Alles, was ich euch gebiete, das sollt ihr halten ... Ihr sollt nichts dazutun noch davontun“ (Deut. 13,1). Zuvor hatte er ausgesprochen, das sei des Volkes Weisheit und Verstand vor allen Völkern, daß es von dem Herrn die Urteile, Rechte und Zeremonien empfangen hätte; da fügt er denn gleich zu: „Hüte dich nur und bewahre deine Seele wohl, daß du nicht vergessest der Geschichten, die deine Augen gesehen haben, und daß sie nicht aus deinem Herzen kommen...“ (Deut. 4,9). Gott sah ja voraus, daß die Israeliten sich mit dem Empfang des Gesetzes nicht zu­frieden geben, ja daß sie, wenn ihnen nicht gewehrt würde, immer neue, eigene Wege erfinden würden, um Gott zu dienen, und deshalb verkündet er ihnen: Hier ist die vollkommene Gerechtigkeit beschlossen! Das mußte notwendig ein sehr starkes Hemm­nis sein — und doch haben sie sich von dieser so streng verbotenen Vermessenheit nicht abbringen lassen! Und wir? Auch für uns ist dieses Wort bindend; denn daß der Herr seinem Gesetz allein das Recht gibt, uns vollkommene Gerechtigkeit zu lehren, das ist doch ewig gültig! Wir indessen sind damit nicht zufrieden und machen uns eine abergläubische Mühe, immer neue gute Werke zu ersinnen und zusammen-

 

zuschmieden! Das beste Mittel, um dies Gebrechen zu heilen, wird es sein, wenn wir immer daran denken: Das Gesetz hat uns Gott gegeben, damit es uns die voll­kommene Gerechtigkeit lehre, hier wird keine andere Gerechtigkeit von uns ver­langt, als daß wir uns nach der Vorschrift des Willens Gottes richten sollen, und deshalb ist es umsonst, neue Arten von Werken zu erdenken, um damit vor Gott ein Verdienst zu erwerben; denn er will nach seinem Recht einzig durch Gehorsam verehrt sein. Ja, ein Eifer nach guten Werken, der über Gottes Gesetz hinausgeht, ist sogar eine unerträgliche Entheiligung der göttlichen, wahren Gerechtigkeit. Es ist sehr recht, wenn Augustin den Gehorsam gegen Gott bald die Mutter und Wächterin aller Tugenden, bald auch deren Wurzel nennt (Vom Gottesstaat, XIV,12 u.a.).

 

 

 

II,8,6

Ist uns aber das Gesetz des Herrn erklärt, so wird sich auch recht und mit besse­rer Wirkung bestätigen, was ich oben von dem Amt und der Anwendung des Ge­setzes ausgeführt habe. Bevor wir aber dazu übergehen, das Gesetz in seinen einzel­nen Stücken auszulegen, muß zunächst noch einiges gesagt werden, was zu seinem allgemeinen Verständnis erforderlich ist. Da muß zunächst festgestellt wer­den, daß das Gesetz unser menschliches Leben nicht etwa bloß zu einer äußeren Ehrbarkeit erzieht, sondern zu einer inneren, geistlichen Gerechtigkeit. Das kann zwar niemand ab­streiten, aber nur sehr wenige beachten es nach Gebühr. Das geschieht, weil sie ihren Blick nicht auf den Gesetzgeber richten, nach dessen Wesen und Geist auch die Natur des Gesetzes zu beurteilen ist. Wenn ein König Hurerei, Mord oder Diebstahl verbietet und nun jemand bloß in seinem Herzen die Begierde hat, zu huren, zu mor­den oder zu stehlen, aber nichts von alledem tatsächlich vollführt hat, so wird ihn sicherlich keine Strafe treffen. Denn die Maßnahmen des irdischen Gesetzgebers gehen ja nur auf die Erhaltung der äußeren bürgerlichen Ordnung (civilitas), und deshalb werden seine Verordnungen auch nur durch wirkliche Übeltaten übertreten. Gottes Auge aber entgeht ja nichts, und er bleibt nicht bei äußerem Schein stehen, sondern sieht auf wirkliche Reinheit des Herzens; wenn er also Hurerei, Mord und Diebstahl verbietet, so ist damit zugleich auch die Begierde, der Zorn, der Haß, das Begehren nach fremdem Gut, die böse Absicht und alles dergleichen untersagt! Denn er ist ja ein geistlicher Gesetzgeber, und darum gilt sein Wort der Seele wie dem Leibe. Denn schon Zorn und Haß ist ein Mord der Seele, böses Begehren und Habgier ist bereits Diebstahl, böse Lust bereits Hurerei! Nun wird jemand einwen­den: Die menschlichen Gesetze haben doch auch auf Absicht und Willen Bezug und nicht nur auf das zufällige Ergebnis. Das gebe ich zu, aber es gilt doch nur, sofern diese äußerlich sichtbar werden! Sie ziehen in Betracht, in was für einer Absicht diese oder jene Tat geschehen ist, aber sie erforschen doch nicht die geheimsten Ge­danken! Deshalb wird ihnen Genüge getan, wenn jemand seine Hand bloß von der Übertretung fernhält. Aber da das himmlische Gesetz unserer Seele gegeben ist, so gehört zu dessen rechter Beobachtung vor allem die innere Zucht. Der gewöhnliche Mensch dagegen, auch wenn er tapfer leugnet, ein Verächter des Gesetzes zu sein, stellt wohl Augen, Füße, Hände und alle Körperteile gewissermaßen in den Dienst der Beobachtung des Gesetzes — nur sein Herz bleibt weit vom Gehorsam entfernt und meint schon genug getan zu haben, wenn es vor den Menschen recht ver­heimlicht, was es doch vor Gottes Auge tut. Solche Menschen hören: Du sollst nicht töten, Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht stehlen — und sie recken auch das Schwert nicht zum Morde, halten ihren Leib rein vom Umgang mit Dirnen, lassen ihre Hand von fremdem Gut. Bis dahin ist also alles recht und gut. Aber in ihrem Herzen sind sie voller Mordgedanken, glühen sie vor Lust, schauen aller Leute Hab und Gut mit schiefen Augen an und verschlingen es vor Begehrlichkeit!

 

Es fehlt ihnen eben an dem, was am Gesetz die Hauptsache ist. Denn woher kann dieser große Unverstand anders kommen als daher, daß sie am Gesetzgeber vorbei­gehen und ihre Gerechtigkeit mehr nach ihrem eigenen Wesen einrichten? Diesem Wahn widersteht Paulus und behauptet: „Das Gesetz ist geistlich“ (Röm. 7,14). Das heißt: es fordert nicht nur den Gehorsam der Seele, des Gemüts und des Willens, sondern Engelsreinheit, befreit von allen Befleckungen des Fleisches, die nach nichts trachtet als nach dem, was geistlich ist.

 

 

 

II,8,7

 

Wenn wir dies für die Absicht des Gesetzes erklären, so bringen wir damit nicht von uns aus eine neue Auslegung vor, sondern folgen dem besten Ausleger des Ge­setzes: Christus! Die Pharisäer hatten dem Volke die verkehrte Meinung bei­gebracht, das Gesetz erfülle der, welcher nichts Gesetzwidriges getan hätte. Gegen diesen verderbenbringenden Irrtum ging Christus an und verkündigte: „Wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe mit ihr gebrochen“, be­zeugte auch: „Wer seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger.“ Ja, er erklärt den des Gerichts schuldig, der in seinem Herzen dem Zorn Raum gibt, und den des Rates schuldig, der durch Murmeln und Griesgram ein Zeichen gibt, daß er beleidigt sei, und den gar des höllischen Feuers schuldig, der mit Lästerworten und Schelten offen seinen Zorn ausbrechen läßt (Matth. 5,21f.28.43ff.). Leute, die das nicht ver­standen haben, haben aus Christus einen zweiten Mose gemacht, der das „Evan­gelische Gesetz“ gegeben hätte, das den Mangel des mosaischen Gesetzes ausgefüllt hätte. Daher kommt denn auch der bekannte Satz von der Vollkommenheit des „Evangelischen Gesetzes“, das weit über das alte Gesetz emporrage — ein in vieler Beziehung sehr gefährlicher Satz! Denn aus dem Gesetz Moses selber wird sich bei unserer noch folgenden Feststellung seines Hauptinhaltes ergeben, was für eine unwürdige Schmähung jener Satz ihm aufbrennt. Er bringt wenigstens die Heilig­keit der Väter in den Verdacht der Heuchelei und führt uns zugleich von jener ein­zigen und bleibenden Richtschnur der Gerechtigkeit ab. Indessen ist dieser Irrtum sehr leicht zurückzuweisen: man glaubte nämlich, Christus füge dem Gesetz etwas hinzu, während er es doch tatsächlich nur in seiner ursprünglichen Reinheit wieder­herstellte, indem er es von dem Lügenwerk und dem Sauerteig der Pharisäer frei machte und säuberte.

 

 

 

II,8,8

 

Zweitens wollen wir beachten, daß in den Geboten und Verboten stets mehr enthalten ist, als mit Worten ausgedrückt wird; dabei müssen wir jedoch Maß hal­ten und das Gesetz nicht als Lesbische Regel behandeln, auf Grund deren man die Schrift nach seiner Willkür auslegen und aus allem alles machen könnte. Einige Leute gehen in ihrer Anmaßung derart zügellos über den Inhalt hinaus, daß nun das Ansehen des Gesetzes bei manchen ganz verfällt und andere wiederum daran verzweifeln, es je begreifen zu können. Man muß also, soweit wie möglich, auf einen Weg zu kommen suchen, der uns in geradem und festem Gang zur Erkenntnis des Willens Gottes führt. Es muß eben nach meiner Ansicht untersucht werden, inwie­fern die Erläuterung über die Worte hinausgehen darf, so daß also offensichtlich nicht etwa das göttliche Gesetz einen Anhang von menschlichen Anmerkungen erhält, sondern der reine und klare Sinn des Gesetzgebers selbst getreu wiedergegeben wird. Gewiß gibt es beinahe in allen Geboten Ausdrücke, die offenbar vieles Weitere mitumfassen (manifestae sunt synekdochae), so daß es also lächerlich wäre, wenn jemand den Sinn des Gesetzes auf den engen Raum der Wörter zusammen­drängen wollte.

Daß man also bei einer verständigen Auslegung des Gesetzes über die Wörter hinausgehen darf, liegt auf der Hand; aber wie weit das möglich ist, bleibt dunkel, wenn nicht irgendein Maß und Ziel gesetzt wird. Dazu dient aber nach mei­ner Ansicht am besten die Überlegung über die Ursache und den Zweck des Gebotes; bei jedem Gebot müssen wir also erwägen, wozu es uns gegeben sei. Als Beispiel:

 

Jedes Gebot ist entweder ein Gebot oder ein Verbot. Der wahre Inhalt zeigt sich nun in jedem Falle sogleich, wenn wir auf die Ursache oder die Absicht unser Au­genmerk richten. So ist zum Beispiel die Absicht des fünften Gebots: es soll denen Ehre zuteil werden, denen Gott sie beigelegt hat. Der wesentliche Inhalt (summa) dieses Gebots ist also der: es ist recht und Gott wohlgefällig, daß wir die Menschen ehren, denen er irgendwie eine besondere Würde verliehen hat; bringen wir ihnen Verachtung oder Ungehorsam entgegen, so ist das dem Herrn ein Greuel. Die Ab­sicht des ersten Gebots ist: Gott soll allein geehrt werden. Daher wird der Haupt­inhalt dieses Gebots sein: Wahre Frömmigkeit, das heißt Verehrung seiner gött­lichen Majestät ist nach Gottes Herzen, Unfrömmigkeit ist ihm ein Greuel. So muß bei jedem Gebot zunächst zugesehen werden, wovon es eigentlich handelt, dann ist die Absicht aufzusuchen — bis wir finden, was denn hier nach des Gesetzgebers Kundmachung ihm gefällt oder mißfällt. Zum Schluß müssen wir dann auf das Ge­genteil schließen, etwa so: Wenn dies oder jenes Gott gefällt, so mißfällt ihm das Gegenteil, mißfällt ihm dies oder das, so gefällt ihm das Gegenteil, gebietet er das eine, so verbietet er damit das Entgegengesetzte, verbietet er dies, so verordnet er damit das Gegenteil!

 

 

 

II,8,9

 

Was jetzt bloß etwas undeutlich berührt ist, das wird bei der Erklärung der Gebote selbst aus der Übung völlig klar werden. Deshalb genügt im allgemeinen die bloße kurze Erwähnung; nur der letzte Satz, der sonst entweder gar nicht be­griffen oder aber selbst dann im Anfang vielleicht als recht widersinnig erscheinen könnte, muß doch noch kurz bewiesen und bekräftigt werden. Der Satz: Wenn das Gute geboten wird, so ist damit das Gegenteil, nämlich das Böse, verboten — be­darf keines Beweises; seine Richtigkeit gesteht jedermann zu. Auch daß mit dem Ver­bot des Bösen das Gegenteil als Pflicht befohlen wird, wird man allgemein ohne Widerspruch annehmen. Daß Tugenden dadurch gepriesen werden, daß ihr Gegen­teil als Laster verdammt wird, ist gewöhnliche Meinung. Aber wir verlangen noch etwas mehr, als diese Redensarten gemeinhin bedeuten. Denn unter der Tugend, die dem Laster entgegensteht, begreift man gemeinhin bloß die Enthaltung von dem betreffenden Laster; nach meiner Meinung ist darunter aber mehr zu ver­stehen: nämlich die tatsächliche Leistung der (dem Laster entgegengesetzten) pflichtmäßigen Aufgabe! So versteht der gewöhnliche Menschenverstand unter der Forderung des Gebotes: „Du sollst nicht töten“ nur dies, daß man sich von jeder Freveltat und auch der Lust dazu zu enthalten habe. Ich meine aber, daß außerdem noch damit gesagt ist: wir sollen unseres Nächsten Leben mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln erhalten. Das soll nicht ohne Begründung ausgesprochen sein. Denn Gott verbietet, den Bruder unbillig zu verletzen oder ihm Gewalt anzutun, weil nach seinem Willen dessen Leben uns teuer und wert sein soll; also fordert er zugleich auch den Dienst der Liebe zur Erhaltung dieses Lebens! Und so werden wir immer aus der Absicht eines Gebotes erkennen können, was wir zu tun oder zu lassen haben!

 

 

 

II,8,10

Wie kommt es nun, daß Gott auf solche Weise die Gebote eigentlich bloß zur Hälfte nennt und insofern seinen Willen weniger ausdrücklich kundmacht, als viel­mehr unter stillschweigender Hinzunahme weiterer Forderungen (per synecdochas) bloß andeutet? Dafür pflegt man mancherlei Gründe anzuführen; besonders aber gefällt mir einer: Das Fleisch gibt sich ja immer Mühe, die Abscheulichkeit der Sünde, wenn sie nicht mit Händen zu greifen ist, zu verkleinern und mit gewaltig scheinenden Vorwänden zu schmücken; deshalb hat Gott gerade die schrecklichste und frevelhafteste Art der Übertretung des betreffenden Gebots als Beispiel deut­lich ausgesprochen; da soll nun unsere Empfindung schon beim Hören erschaudern und unserem Herzen eine um so größere Abscheu gegen die Sünde in jeder Ge­stalt eingeflößt werden. Wenn wir ein Laster beurteilen, so täuscht uns oft die Nei-

 

gung, es leichter zu nehmen, wenn es weniger offen sich zeigt. Dergleichen Täuschung verhütet der Herr, indem er uns daran gewöhnt, alle Laster miteinander auf diese Hauptlaster zurückzuführen, die am deutlichsten darstellen, was in der betreffenden Hinsicht Gott zuwider ist. Ein Beispiel: Zorn und Haß gelten nicht als besonders abscheuliche Sünde, wenn sie unter ihrem eigenen Namen auftreten; werden sie aber als Mord untersagt, so sehen wir klarer, wie sehr sie Gott zu­wider sind, dessen Wort sie mit einer solchen Untat auf eine Stufe stellt, und wir lassen uns durch dies Urteil Gottes daran gewöhnen, die Schwere dieser vergehen, die wir zuvor geringschätzten, ernster zu nehmen.

 

 

 

II,8,11

 

Dann müssen wir drittens bedenken, was die Einteilung des göttlichen Gesetzes in zwei Tafeln bedeutet; diese ist so oft feierlich erwähnt, und jeder vernünf­tige Mensch sieht doch ein, daß dies nicht ohne Grund oder ins Blaue hinein ge­schieht. Der Grund ist aber schnell bei der Hand, so daß wir hier nicht länger zu zweifeln brauchen. Denn Gott hat sein Gesetz in der Weise in zwei Teile geteilt — die nun alle Gerechtigkeit umschließen! — daß der erste Teil die (eigentlichen) Pflichten der Gottesverehrung, die also in besonderer Weise die Verehrung seiner göttlichen Majestät betreffen, der zweite dagegen die Pflichten der Liebe um­faßt, die sich also auf die Menschen beziehen.

 

Die vornehmste Grundlage aller Gerechtigkeit ist gewiß die Verehrung Gottes; ist diese zerstört, so fallen alle anderen Stücke der Gerechtigkeit wie die auseinandergerissenen und zerbrochenen Teile eines Gebäudes zusammen. Denn was soll das für eine Gerechtigkeit sein, wenn einer zwar den Menschen mit Steh­len und Rauben in Ruhe läßt, aber unterdessen Gott in greulichem Frevel seine Majestät, seine Ehre raubt, wenn einer seinen Leib nicht mit Hurerei verunreinigt, aber mit Lästerungen Gottes heiligen Namen entheiligt — oder wenn einer zwar keinen Menschen ums Leben bringt, aber jeden Gedanken an Gott zu ertöten und auszulöschen sucht? Ohne Gottesverehrung ist es umsonst, sich der Gerechtigkeit zu rühmen: es ist genau so unsinnig, wie wenn man einen Rumpf ohne Kopf als Bild der Schönheit darstellen wollte! Denn die Frömmigkeit ist nicht nur das vornehmste Stück der Gerechtigkeit, sondern geradezu ihre Seele, die selbst alles durchweht und belebt; und ohne Gottesfurcht können die Menschen auch unter sich nicht Gerechtig­keit und Liebe bewahren. Wir nennen daher die Verehrung Gottes den Anfang und die Grundlage der Gerechtigkeit; ist sie nämlich nicht mehr da, so ist alles, was die Menschen unter sich an Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit, Mäßigkeit noch haben, vor Gott nichtig und unnütz! Wir nennen die Verehrung Gottes die Quelle und den Geist der Gerechtigkeit; denn die Menschen lernen nur dann in Zucht und ohne Übeltat untereinander zu leben, wenn sie Gott als den Richter über Recht und Un­recht verehren. Deshalb hat uns Gott in der ersten Tafel in der Frömmigkeit unterwiesen und in den eigentlichen Pflichten der Religion, mit denen seine göttliche Majestät verehrt werden soll. Die zweite Tafel schreibt uns dann vor, wie wir uns um der Furcht seines Namens willen in der Gemeinschaft der Menschen ver­halten sollen. So hat auch unser Herr (Christus) nach dem Bericht der Evangelisten das ganze Gesetz in zwei Hauptstücken zusammengefaßt: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und von allen deinen Kräften — und deinen Nächsten als dich selbst“ (Matth. 22,37ff.; Luk. 10,27). Da läßt er also das Gesetz in zwei Stücken bestehen und bezieht das erste auf Gott, das zweite auf die Men­schen.

 

 

 

II,8,12

So besteht zwar das ganze Gesetz eigentlich in zwei Stücken; aber unser Gott wollte uns doch jeden Vorwand für eine Selbst-Entschuldigung nehmen und hat deshalb in zehn Geboten näher bezeichnet, wie wir ihn recht ehren, fürchten und lieben und dann auch die Menschen recht lieben sollen, wie er uns das ja um seinetwillen aufträgt. Es ist auch keine falsch angewandte Mühe, über die Einteilung der Gebote

 

nachzudenken; nur müssen wir dabei erwägen, daß in dieser Hinsicht jeder sein freies Urteil haben muß und man mit dem Andersdenkenden nicht gleich feindlich an­einandergeraten soll! Wir müssen auf diese Frage notwendig eingehen, damit der Leser angesichts unserer eigenen Einteilung, die noch folgen muß, nicht etwa ver­ächtlich oder verwundert von einer neuen und eben ausgedachten Sache redet.

 

Außer allem Streit steht, daß das Gesetz aus zehn „Worten“ besteht; das be­stätigt Gott öfters selber. Deshalb geht die Meinungsverschiedenheit nicht um die Zahl, sondern um die Art der Einteilung. Einige teilen so, daß der ersten Tafel drei, der zweiten die übrigen sieben zufallen; wer das tut, der tilgt das Bilder­verbot (2. Gebot) aus der Zahl der Gebote aus oder verbirgt es unter dem ersten, obgleich der Herr es doch unzweifelhaft als besonderes Gebot gegeben hat; ferner muß man dann das 10. Gebot, also „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut ...“, unpassenderweise in zwei Gebote zerreißen. Dazu kommt, wie wir bald sehen werden, daß diese Einteilungsweise der Kirche in ihrer unverdorbenen Zeit unbekannt war. Andere zählen mit uns vier Gebote zur ersten Tafel, nennen aber an Stelle des 1. Gebots allein die (dort gegebene) Zusage, ohne Gebot. Ich verstehe aber, sofern ich nicht durch einleuchtende Gründe vom Gegenteil überzeugt werde, die zehn „Worte“ bei Mose als zehn Gebote, und es scheint mir auch, daß sie in solcher Zahl tadellos abgeteilt sind. Ich lasse also den anderen ihre Über­zeugung und folge meinerseits der, die mir die richtigste scheint: Was einige zum ersten Gebot haben machen wollen, scheint mir eine Vorrede zum ganzen Gesetz zu sein; dann folgen zunächst vier Gebote der ersten und dann die sechs der zweiten Tafel, in der Reihenfolge, wie sie nachher aufgezählt werden sollen. Von die­ser Einteilung berichtet Origenes, daß sie zu seiner Zeit ohne Streit allgemein an­genommen war (Predigten über Exodus, 8). Dazu stimmt auch Augustin; er hält bei der Aufzählung der Gebote folgende Ordnung ein: Wir sollen Gott allein dienen und gehorchen, die Götzen nicht verehren, den Namen Gottes nicht unnütz führen —, wobei er vorher für sich allein von dem alten Sabbatgebot gesprochen hat (An Bonifacius, Buch III). Freilich erklärt er an anderer Stelle auch seinen Gefallen an der erstgenannten Einteilung, aber nur aus dem allzu unerheblichen Grunde, bei der Aufteilung der ersten Tafel in drei Gebote komme in der Dreizahl das Ge­heimnis der Dreieinigkeit besser zum Ausdruck. Jedoch leugnet er auch an der Stelle nicht, daß ihm von den anderen Einteilungen am meisten die auch von uns vorge­brachte gefalle (Fragen zum Heptateuch). Auch der Verfasser des „unvollendeten Werkes über Matthäus“ ist mit uns einer Meinung. Josephus teilt unzweifelhaft im Anschluß an die allgemeine Ansicht seiner Zeitgenossen jeder der beiden Tafeln fünf Gebote zu. Das widerspricht aber der Vernunft, indem nun die Verehrung Gottes und die Liebe zum Nächsten ungeschieden bleiben. Auch widerspricht ein sol­ches Verfahren der Autorität des Herrn selber, der das Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren ...“ mit zur zweiten Tafel zählt (Matth. 19,19).

 

Aber jetzt wollen wir Gott selber hören, wie er in seinem Wort zu uns redet:

 

 

 

Erstes Gebot.

 

Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause geführt habe; du sollst nicht andere Götter haben neben mir.

 

 

 

II,8,13

Ob man den ersten Satz zu einem Teil des ersten Gebotes macht oder ihn für sich allein liest, ist mir gleichgültig; nur soll man mir nicht abstreiten, daß er eine Art Vorrede auf das ganze Gesetz darstellt. Wenn Gesetze gegeben werden, so ist zu allererst darauf zu sehen, daß sie nicht bald in Verachtung geraten und abgetan werden. So sorgt auch Gott zunächst dafür, daß die Würde seines Gesetzes, wie er

 

es gibt, nicht der Geringschätzung anheimfalle; so macht er es mit einer dreifachen Begründung unverletzlich. Er mißt sich erstens die Macht und das Recht bei, zu befehlen, um das erwählte Volk zu unbedingtem Gehorsam zu verpflichten. Dann gibt er zweitens seine Gnadenverheißung, um durch deren Süßig­keit das Volk zum Trachten nach der Heiligkeit zu locken. Und er erinnert drittens an seine bereits geschehene Wohltat, um die Juden ihrer Undankbarkeit zu überführen, wenn sie sich nicht so verhielten, wie es seiner Güte angemessen war. Der Name „Herr“ („Jehova“) bezeichnet sein Herrschaftsrecht und seine Ge­walt. Wenn von ihm alle Dinge sind und auch alle Dinge in ihm ihr Dasein haben, so muß auch alles auf ihn bezogen werden, wie Paulus sagt (Röm. 11,36). So werden wir durch dies eine Wort voll und ganz unter das Joch der göttlichen Majestät gebracht; denn es wäre ja ungeheuerlich, wollten wir uns der Gewalt dessen entziehen, außer dem wir gar nicht sein können!

 

 

 

II,8,14

 

So hat sich der Herr als den erzeigt, der das Recht hat zu gebieten und dem man gehorchen muß. Aber er will nicht, daß wir uns allein gezwungen fühlen sollen, und deshalb lockt er uns freundlich und nennt sich den Gott seiner Kirche. Denn dieser Satz („Ich bin der Herr, dein Gott ...“) bezeichnet eine gegenseitige Beziehung, wie sie in der Verheißung ausgesprochen ist: „Ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein“ (Jer. 31,33). So erweist ja auch Christus die Unsterblichkeit Abrahams, Isaaks und Jakobs daraus, daß der Herr sich als ihren Gott bezeugt hat (Matth. 22,32). Es ist also, als ob er spräche: Ich habe mir euch als Volk erlesen, dem ich nicht nur in diesem Leben Gutes tun, sondern auch die Seligkeit des ewigen Lebens zuteil werden lassen will. Wohin das führen soll, bemerkt das Gesetz an verschiedenen Stellen. Hat uns der Herr solcher Barm­herzigkeit für wert geachtet, zu seinem Volke zu gehören, so gilt auch, was Mose sagt: „Er hat uns erwählt, daß wir ihm sein sollten ein Volk des Eigentums, ein heiliges Volk, und daß wir halten sollen seine Gebote“ (Deut. 7,6; 14,2; 26,18f.; summarisch). Daraus ergibt sich auch die Mahnung: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig“ (Lev. 19,2). Aus diesen zwei Zeugnissen ergibt sich dann auch der Vor­wurf bei dem Propheten Maleachi: „Ein Sohn soll seinen Vater ehren und ein Knecht seinen Herrn. Bin ich nun Vater, wo ist meine Ehre? Bin ich Herr, wo fürchtet man mich?“ (Mal. 1,6).

 

 

 

II,8,15

Ferner gedenkt Gott der Wohltat, die er dem Volke erwiesen hat. Das hat um so größere Kraft, uns zum Gehorsam zu bringen, als selbst unter den Menschen die Undankbarkeit als schlimmer Frevel gilt. Zwar erinnerte Gott das Volk Israel an dieser Stelle an eine ihm neuerdings widerfahrene Wohltat, die aber wegen ihrer wundersamen Größe in alle Zeit denkwürdig und auch noch den Nachfahren gegen­über in Kraft bleiben sollte. Sie eignet sich aber zudem auch ganz besonders zur An­wendung auf die vorliegende Sache. Denn der Herr deutet an, daß sein Volk von der elenden Knechtschaft dazu frei geworden ist, daß es nun seinen Befreier in freudiger Bereitschaft gehorsam verehre. Um uns bei der rechten Verehrung zu halten, die ihm allein zukommt, pflegt er sich aber auch bestimmte Namen beizu­legen, um seine heilige göttliche Majestät (sacrum eius numen) von allen Götzen und allen ersonnenen Göttern zu unterscheiden. Denn wir sind ja — wie ich bereits zeigte — dermaßen zur Eitelkeit und Vermessenheit geneigt, daß wir den Namen „Gott“ gar nicht hören können, ohne notwendig gleich auf irgendein leeres Hirn­gespinst zu verfallen. Gegen dies Übel will nun Gott selber Abhilfe schaffen; und deshalb ziert er seine Gottheit mit bestimmten Titeln und setzt uns gewissermaßen einen Zaun, damit wir nicht hin- und herschweifen und uns vermessen irgendeinen neuen Gott erdenken, also den lebendigen Gott verlassen und uns selber ein Götzen­bild aufrichten! Wenn deshalb die Propheten Gott besonders bezeichnen wollen, so umkleiden, ja umschließen sie ihn gewissermaßen mit den Kennzeichen, unter denen

 

er sich dem Volke Israel offenbart hatte. Wenn er der „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ genannt wird (Ex. 3,6), wenn man seine Wohnung im Tempel zu Jerusalem unter den Cherubim sucht (Am. 1,2; Hab. 2,20; Ps. 80,2; 99,1; Jes. 37,16), — so binden ihn derartige Ausdrücke nicht etwa an einen Ort oder an ein Volk; sie dienen vielmehr nur dazu, die Gedanken der Gläubigen unbeweglich auf den Gott zu richten, der sich in seinem Bunde, den er mit Israel schloß, der­gestalt dargestellt hat, daß man von diesem Bilde unter keinen Umständen mehr abweichen darf.

 

Das muß indessen festgehalten werden: jene Erlösung (aus der Knechtschaft) wird erwähnt, damit die Juden sich in größerer Bereitwilligkeit Gott hingeben sollten, der sie sich nach seinem Rechte erkauft hatte. Wir sollen indessen nicht meinen, diese Erlösung ginge uns nichts an; und deshalb müssen wir in Betracht ziehen, daß die ägyptische Knechtschaft Israels ein Vorbild der geistlichen Gefangenschaft ist, in der wir alle uns befinden, bis uns der himmlische Befreier durch die Gewalt seines Arms losmacht und in das Reich der Freiheit führt. Wie also Gott einst­mals die Israeliten, um sie aus ihrer Zerstreuung zur Anbetung seines Namens zu versammeln, aus der untragbaren Herrschaft des Pharao, die sie bedrückte, heraus­riß, so schützt er auch heute alle die, als deren Gott er sich bezeugt, vor der furchtbaren Gewalt des Teufels, für die jene leibliche Knechtschaft ein Abbild war. Des­halb müßte doch jeder in seinem Herzen entbrennen, dies Gesetz zu hören, wenn er vernimmt, daß es von dem höchsten Herrn gegeben ist, von dem doch alles seinen Ursprung hat, und in dem nun billigerweise auch alles sein Ziel sehen soll, nach dem es sich bestimmen lassen und ausrichten muß! Da müßte doch jeder von der Liebe zu diesem Gesetzgeber durchdrungen werden, wenn er hört, daß er dazu erwählt ist, seine Gebote zu halten, die Gebote dieses Gesetzgebers, von dessen Freundlichkeit er alles Gute im Überfluß, ja auch die Herrlichkeit des ewigen Lebens erwartet, durch dessen wunderbare Kraft er sich doch aus dem Rachen des Todes gerissen weiß!

 

 

 

II,8,16

Nachdem also Gott die Autorität seines Gesetzes begründet und fest ausgerichtet hat, gibt er das erste Gebot: daß wir keine anderen Götter haben sollen „vor ihm“. Der Zweck dieses Gebotes ist der: Gott will in seinem Volke ganz allein groß sein und sein Recht voll und ganz ausüben. Dazu soll nach seinem Gebot alle Unfrömmigkeit von uns weichen und aller Aberglaube, der die Herrlichkeit seiner gött­lichen Majestät mindert oder verfinstert. Und aus dem gleichen Grunde gebietet er uns, ihn mit wahrer Frömmigkeit zu verehren und anzubeten. Das ergibt sich schon aus dem schlichten Wortsinn; denn wir können ihn nicht zum Gott haben, ohne ihm zugleich alles zuzueignen, was ihm gehört. Wenn er uns also verbietet, andere Götter zu haben, so macht er uns damit kund: wir sollen nicht das, was ihm eigen ist, auf einen anderen übertragen. Was wir Gott schuldig sind, ist nun zwar sehr mannigfaltiger Art; aber es läßt sich doch recht gut auf vier Hauptstücke zusammen­fassen. Das ist (1.) die Anbetung, zu der gewissermaßen als Zusatz der geistliche Ge­horsam im Gewissen kommt, dann (2.) das Vertrauen, (3.) die Anrufung und endlich (4.) die Danksagung. (1.) Unter Anbetung verstehe ich die Huldigung und Ver­ehrung, die wir ihm alle erweisen, wenn wir uns seiner Größe unterwerfen. Des­halb ist es auch begründet, wenn ich die Unterwerfung unseres Gewissens unter sein Gesetz zu einem Stück dieser Anbetung machte. (2.) Das Vertrauen ist die ge­wisse Zuversicht unseres Herzens zu ihm, wie wir sie gewinnen, wenn wir ihn und seine herrlichen Tugenden recht erkennen, wenn wir bei ihm allein Weisheit und Gerechtigkeit, Macht, Wahrheit und Güte suchen und in der Gemeinschaft mit ihm allein unsere Seligkeit sehen. (3.) Die Anrufung geschieht, indem unser Herz in aller Not, die uns umdrängen mag, zu seiner Treue als einziger Hoffnung sich flüchtet. (4.) Die Danksagung ist der Ausdruck unserer Dankbarkeit, die ihm

 

allein Lob und Preis für all seine Guttaten darbringt. Denn der Herr will dies alles keinem anderen geben und gebietet uns deshalb, es ihm allein darzubringen!

 

Es ist auch keineswegs genug, uns bloß vor allen fremden Göttern zu hüten, nein, wir sollen ihm wirklich anhangen; es finden sich ja nichtswürdige Gottesver­ächter, die über alle und jede Religion in Bausch und Bogen ihren Spott ausgie­ßen! Wollen wir dies Gebot recht halten, so muß wahre Gottesverehrung in uns schon da sein, die uns dahin treibt, uns dem lebendigen Gott gänzlich zu ergeben. Ist uns auf solche Weise die Erkenntnis Gottes zuteil geworden, so sollen wir in unserem ganzen Leben nur dies eine als unser Ziel im Auge haben, seine Majestät zu achten, zu ehren, zu verehren, an seinen Gütern teilzuhaben, alle Hilfe bei ihm zu suchen, die Größe seiner Werke zu erkennen und recht zu preisen! Dann sollen wir auch allem bösen Aberglauben aus dem Wege gehen, der das Herz von Gott abbringt und es bald hierhin, bald dorthin zu allerlei Göttern zerrt. Wollen wir wirklich an dem einen Gott unser Genüge haben, so müssen wir, wie gesagt, alle erdichteten Götter fahren lassen und uns hüten, den Gottesdienst, den er sich doch allein vorbehalten hat, zu zertrennen. Denn es darf von seiner Ehre auch nicht das Geringste genommen werden, sondern er muß wirklich empfangen, was ihm zukommt.

 

Der Zusatz „vor mir“ (Luthertext: „neben mir“) erhöht die Verwerflichkeit des Lasters. Denn wir reizen ihn zum Eifer, wenn wir ersonnene Götter an seine Statt setzen, wie ja auch eine schamlose Frau ihren Mann noch mehr in Zorn ver­setzt, wenn sie vor seinen Augen mit ihrem Buhlen umgeht. Gott hat ja verheißen, mit gegenwärtiger Kraft und Gnade bei dem erwählten Volke zu sein und auf es zu achten, um es desto mehr von dem Frevel des Abfalls abzuschrecken, und so erinnert er jetzt daran: es ist unmöglich, zu fremden Göttern überzugehen, ohne daß er solchen Frevel sieht und sein Zeuge ist! Solche Vermessenheit aber wächst zu schrecklicher Gottlosigkeit, wenn man meint, mit seinem Abfall vor Gott verborgen bleiben zu können. Auf der anderen Seite macht uns der Herr kund, daß alles, was wir sinnen, ins Werk setzen und tun, vor sein Angesicht kommt. Des­halb muß unser Gewissen auch von dem verborgensten abtrünnigen Gedanken frei sein, wenn unser Gottesdienst dem Herrn gefallen soll. Denn er will seinen Ruhm nicht bloß dadurch rein erhalten und unverdorben wissen, daß wir bloß ein äußer­liches Bekenntnis ablegen, sondern er will solch Bekenntnis vor seinen Augen haben, die das Verborgenste unseres Herzens erschauen.

 

 

 

Zweites Gebot.

 

Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, noch des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht ...

 

 

 

II,8,17

 

Wie Gott im vorigen Gebot kundtat, daß er der eine ist, außer welchem keiner­lei andere Götter zu denken oder zu verehren sind, so gibt er jetzt deutlich zu ver­stehen, was für ein Gott er ist und welcher Gottesdienst ihm zu seiner Ver­ehrung wohlgefällt, damit wir ihm nicht etwas Fleischliches anzudichten wagen! Die Absicht dieses Gebotes geht dahin, daß er seine rechte Verehrung nicht durch abergläubische Gebräuche entweihen lassen will. Deshalb will er uns — und das ist im wesentlichen der Inhalt des Gebots — von allen fleischlichen Vorstellungen, die unser Sinn, wenn er Gott nach seiner eigenen, groben Art denken will, notwendig aufbringt, gänzlich wegrufen und abziehen und uns zu dem rechtmäßigen Gottes­dienst, der da geistlich ist und den er selbst angeordnet hat, bereit machen. Das scheußlichste Laster, das bei der Übertretung dieses Gebots eintreten kann, nennt er mit Namen: den offenen Götzendienst.

Das Gebot zerfällt in zwei Teile. Im ersten Teil wird unser Leichtsinn an den Zügel genommen, damit wir nicht Gott, der doch unbegreiflich ist, unseren Sinnen

 

unterwerfen und unter irgendwelchem Bilde darzustellen wagen. Im zweiten Teil wird uns untersagt, irgendwelche Bilder in gottesdienstlicher Absicht (religionis causa) anzubeten. Dabei nennt Gott in Kürze alle die Arten von Bildern, unter denen er gemeinhin unter unfrommen und abergläubischen Heiden dargestellt wurde. Unter dem, „was oben im Himmel ist“, versteht er Sonne, Mond, andere Gestirne und auch wohl die Vögel; wie er ja bei der Erläuterung des Gesetzes im vierten Kapitel des Deuteronomiums die Vögel wie die Gestirne ausdrücklich nennt (Deut. 4,17.19). Das letztere hätte ich nicht erwähnt, wenn nicht einige, wie ich sehe, diese Stelle auf die Engel bezögen! Die übrigen Stücke sind ja aus sich selbst wohl zu verstehen; deshalb will ich sie hier übergehen. Ich habe ja auch schon im ersten Buche klar genug dargelegt, daß alle sichtbare Gestalt, die der Mensch Gott andichtet, ganz und gar mit Gottes Wesen im Widerspruch steht, und daß jegliche Aufstellung von Götzenbildern die wahre Religion verderbt und verfälscht.

 

 

 

II,8,18

 

Die Worte der Drohung, die nun zugefügt sind, sollen uns aus unserer Trägheit aufrütteln. Da droht Gott:

 

Denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied derer, die mich hassen, und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich liebhaben und meine Gebote halten.

Das bedeutet soviel, als wenn er sagte: Ich bin der einzige, an dem ihr hangen sollt! Um uns dazu zu bringen, stellt er uns seine Macht vor Augen, die sich nicht ungestraft verachten oder geringschätzen läßt. Er verwendet hier den Gottesnamen „El“, d. h. Gott; indessen ist dieser Name von „Stärke“ abgeleitet, und ich habe, um das deutlicher zum Ausdruck zu bringen, dieses „stark“ ohne Bedenken auch über­setzt und in den Zusammenhang eingefügt. Ferner nennt er sich „eifrig“ oder eifersüchtig, d. h. er kann keinen anderen an seiner Seite dulden! Und zum dritten erzeigt er sich als der Rächer seiner Majestät und Herrlichkeit gegen jeden, der diesen Ruhm der Kreatur oder einem Menschengebild zuteil werden läßt, und zwar nicht in einfacher und kurzer Vergeltung, sondern dauernd, bis hin zu den Kindern und Enkeln und Urenkeln, die natürlich die väterliche Gottlosigkeit nachmachen! In gleicher Weise verheißt er denen, die ihn lieben und sein Gesetz halten, auch seine Barmherzigkeit und Freundlichkeit bis auf Kindeskind! Gott vergleicht sich uns gegenüber oft mit einem Ehegatten; denn die Verbindung, die er mit uns durch un­sere Aufnahme in den Schoß der Kirche eingegangen ist, ähnelt dem heiligen Ehe­stande, der ja auf gegenseitiger Treue beruht. Wie er selbst allen Gläubigen gegenüber das Amt eines wahrhaften Ehegatten ausübt, so verlangt er wiederum von uns Liebe und eheliche Zucht. Und das heißt: wir sollen unsere Seele nicht dem Satan, der Begierde und den schmutzigen Lüsten des Fleisches zum Ehebruch preis­geben. Wenn Gott die Abtrünnigkeit der Juden straft, so klagt er sie an, alle Scham von sich geworfen und sich mit Hurerei befleckt zu haben. Und wie ein Gatte, je rechtschaffener und zuchtvoller er selber lebt, desto heftiger in Zorn gerät, wenn er das Herz seines Weibes zu einem Nebenbuhler sich neigen sieht — so kündigt uns auch der Herr, der sich uns ja „verlobt hat“ in Wahrheit (Anklang an Hos. 2,21f.), seinen eifersüchtigen Zorn an, wenn wir die Reinheit seines heiligen Ehebundes mit uns vergessen und in frevlerischer Lust dem Ehebruch verfallen. Und das geschieht besonders dann, wenn wir die Verehrung seiner göttlichen Majestät, die doch ihm

 

ganz allein zukommt, einem anderen geben oder sonst mit irgendeinem Aberglauben beflecken. Denn solchermaßen verletzen wir nicht nur die schuldige eheliche Treue, sondern verunreinigen den Bund selber in ehebrecherischer Schande.

 

 

 

II,8,19

 

Wir müssen aber noch zusehen, was es bedeutet, wenn es in der Drohung heißt, Gott werde die Missetat der Väter an den Kindern heimsuchen bis ins dritte und vierte Glied. Denn es liegt doch der göttlichen Gerechtigkeit fern, einen Unschul­digen für die Übeltat eines andern zu bestrafen. Und dazu hat doch Gott selber ver­sichert: „Der Sohn soll nicht tragen die Missetat seines Vaters“ (Ez. 18,20). Und doch wird der Satz, wie er sich im Gebot findet, mehr als einmal wiederholt, nämlich daß die Strafe für die Missetat der Väter auch auf künftige Geschlechter kommen soll. So redet Mose Gott mehrfach so an: „Herr, Herr, der du heimsuchst die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied“ (Num. 14,18). Und ebenso auch Jeremia: „Der du Barmherzigkeit tust an Tausenden und die Missetat der Väter auf die Söhne bringst, die nach ihnen sind“ (Jer. 32,18). Einige, die auf die Lösung dieses Knotens viel Schweiß verwenden, möchten das nur auf die zeitlichen Strafen bezogen sehen; sie finden es nicht widersinnig, daß die Kinder für die Missetaten der Väter leiden, da sie ja oft zu ihrem eigenen Heil in Trübsal geraten! Das ist an sich wahr; denn Jesaja hat ja dem Hiskia angedroht, seine Söhne würden das Reich verlieren und in die Verbannung gehen müssen, und zwar wegen der Sünde, die er begangen hatte! (Jes. 39,6.7). Es wird ja auch das Haus des Pharao und des Abimelech in Not gebracht — wegen des dem Abraham zuge­fügten Unrechts (Gen. 12,17; 20,3) usw. Will man aber diese Tatsachen verwenden, um diese Frage zu lösen, so ist das mehr ein Ausweichen als eine rechte Auslegung. Denn die Vergeltung, die hier und an anderen Stellen angedroht wird, ist doch viel zu schwer, um auf das gegenwärtige Leben eingegrenzt zu werden. Man muß also annehmen, daß des Herrn gerechter Fluch nicht nur auf dem Haupte des Übeltäters selber, sondern auch auf seiner ganzen Familie ruht. Wo aber der Fluch waltet, ist da etwas anderes zu erwarten, als daß der Vater, vom Geiste Gottes verlassen, ein frevelhaftes Leben führt, daß der Sohn, wegen der Bosheit seines Vaters gleichermaßen vom Herrn verlassen, den gleichen verderblichen Weg einschlägt — und der Enkel und Urenkel, verworfener Same verworfener Leute, nun auch nach ihnen ins Unheil stürzt?

 

 

 

II,8,20

Wir wollen zunächst erwägen, ob eine derartige Vergeltung der göttlichen Gerechtigkeit zuwiderläuft. Wenn die ganze menschliche Natur verdammungswürdig ist, so wissen wir, daß denen, die der Herr des Empfangs seiner Gnade nicht wür­digt, notwendig der Untergang bereitet ist. Trotzdem gehen sie an ihrer eigenen Ungerechtigkeit, nicht aber an ungerechtem Haß Gottes zugrunde. Hier können sie auch nicht klagen, warum sie denn nicht auch, wie andere, durch Gottes Gnade zum Heil geführt werden. Wenn also Gottlose und Übeltäter wegen ihrer Freveltat die Strafe trifft, daß ihr Haus auf viele Geschlechter hinaus der Gnade Gottes ver­lustig geht, wer will dann Gott wegen solcher gerechten Vergeltung zur Rechenschaft ziehen? — „Aber der Herr hat doch anderseits“ — entgegnet man — „kundgetan, daß der Sohn die Missetat des Vaters nicht tragen soll“ (Ez. 18,20)! — Man muß darauf achten, um was es sich hier handelt. Die Israeliten wurden ja lange Zeit und heftig mit allerlei Not geplagt, und da kam unter ihnen das Sprichwort auf: „Unsere Väter haben Herlinge gegessen, und den Söhnen sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Das sollte heißen: unsere Väter haben Sünde getan — und wir, die wir doch gerecht sind und keine Strafe verdient haben, müssen die Strafe er­leiden — wobei also Gott unversöhnlich zürnt und nicht mit Maßen Strenge übt! Solchen Leuten verkündet nun der Prophet: so ist es nicht! Denn sie werden ja um ihrer eigenen Sünde willen geplagt, wie er zeigt, und es entspricht der Gerechtigkeit Gottes nicht, daß ein gerechter Sohn für die Übeltat eines verbrecherischen Va-

 

ters die Strafe leide; das ist aber bei der hier zur Besprechung stehenden Drohung auch nicht der Fall. Denn diese „Heimsuchung“, von der die Rede ist, kommt ja da­durch zustande, daß der Herr der Nachkommenschaft der Gottlosen seine Gnade, das Licht der Wahrheit und alle übrige Hilfe zum Heil entzieht; und eben weil die Söhne in ihrer Verblendung und Gottverlassenheit den Spuren der Väter beharr­lich folgen, unterliegen sie der Strafe für die Missetaten der Väter. Daß sie aber zeitlichem Unglück unterworfen werden und schließlich ewig verlorengehen, das ge­schieht nach Gottes gerechtem Urteil nicht um fremder Sünde, sondern um ihrer eigenen Bosheit willen.

 

 

 

II,8,21

 

Auf der anderen Seite steht die Verheißung Gottes, Barmherzigkeit zu tun an vielen Tausenden. Diese findet sich auch häufig in der Schrift, und gar zu dem feier­lichen Bundesschluß Gottes mit seiner Kirche gehört sie: „Ich will dein Gott sein — und deines Samens nach dir“ (Gen. 17,7). Darauf nimmt auch Salomo Bezug und schreibt, den Kindern der Gerechten werde es nach deren Tode wohl ergehen (Spr. 20,7). Das hat seinen Grund nicht nur in der rechten Erziehung, die freilich auch an sich keine geringe Bedeutung hat, sondern in der im Bunde Gottes verheißenen Segnung, daß Gottes Gnade über Kindern und Kindeskindern der Frommen ewig­lich walte! Das ist für die Frommen ein gewaltiger Trost, für die Gottlosen ein furchtbarer Schrecken; denn wenn selbst nach dem Tode noch bei Gott die Erinnerung an Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Kraft bleibt, so daß also sein Fluch wie sein Segen auch die Nachfahren noch trifft, so muß beides ja noch viel mehr auf den Häuptern derer ruhen, die das Gute oder Böse selbst getan haben! Daß übrigens zuweilen die Kinder Gottloser wohlgeraten, die Kinder von Frommen aber entarten, besagt nichts gegen das eben Ausgeführte; denn der Gesetzgeber hat hier nicht eine undurchbrechliche Regel geben wollen, die seiner freien Erwählung Eintrag tun könnte. Es genügt zum Trost des Gerechten und zum Schrecken des Sünders, daß diese Drohung nicht leer oder unwirksam ist, wenn sie auch nicht immer zur An­wendung kommt. Denn die zeitlichen Strafen, die einige wenige Gottlose treffen, sind ja ein Zeugnis des göttlichen Zorns gegen die Sünde und auch des kommenden Ge­richts gegen alle Sünder, obwohl viele bis an ihr Lebensende gut davonkommen. Und ebenso: wenn der Herr ein Beispiel dieser Segnung gibt, daß er den Sohn um des Vaters willen mit seiner Barmherzigkeit und Freundlichkeit verfolgen werde, so ist das ein Zeugnis seiner beständigen, dauernden Gnade gegenüber den Seinen. Und wenn er des Vaters Missetat einmal an dem Sohne straft, so zeigt er damit, was für ein Gericht aller Gottlosen wegen ihrer bösen Taten wartet; auf diese Gewißheit kommt es hier vor allem an. Zugleich macht er uns aber auch bei dieser Gelegenheit auf die Größe seiner Barmherzigkeit aufmerksam, die er auf tausend Geschlechter ausdehnt, während seine Rache nur über vier Glieder ergeht!

 

 

 

Drittes Gebot.

 

Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.

 

 

 

II,8,22

Die Absicht dieses Gebots ist die: Gott will, daß uns die Majestät seines Na­mens heilig sei! Der Hauptinhalt wird also sein, daß wir diese Majestät nicht verachten oder durch Unehrbietigkeit entheiligen. Diesem Verbot entspricht nach der von uns aufgestellten Regel das Gebot: wir sollen es uns angelegen sein las­sen, Gottes Majestät mit frommer Ehrerbietung zu begegnen. Deshalb müssen wir also Herz und Zunge hüten, nichts über Gott selber und seine Geheimnisse zu denken oder zu reden ohne die schuldige Ehrfurcht und Scheu, und auch bei der Betrachtung seiner Werke in allem unserem Denken ihm die Ehre geben. Daraus ergeben sich dreierlei Pflichten, die wir sehr ernstlich zu beachten haben. Zuerst: was un­ser Verstand von ihm denkt, unsere Zunge ausspricht, das muß seine Würde

 

bezeugen, der Herrlichkeit seines heiligen Namens angemessen sein und endlich zur Erhöhung seines Ruhms dienen. Zweitens sollen wir sein heiliges Wort und seine anbetungswürdigen Geheimnisse nicht leichtsinnig oder verkehrt anwenden, etwa zur Befriedigung unseres Ehrgeizes oder unserer Habgier oder auch zum Scherz; vielmehr tragen sie ja seinen Namen mit seiner ganzen Würde an sich und müssen deshalb von uns aller Ehren wert gehalten werden. Und drittens sollen wir seine Werke nicht tadeln oder herabwürdigen, wie ja einige elende Menschen tun, die sie immerzu lästern; sondern sooft wir seiner Werke und Taten gedenken, sollen wir seine Weisheit, Gerechtigkeit und Güte preisen! Das heißt: den Namen Gottes „heiligen“; im anderen Falle wird er durch eitlen und bösartigen Mißbrauch befleckt, weil er ja aus dem von Gott geordneten Gebrauch, für den er allein gehei­ligt war, herausgerissen wird und eben dadurch, selbst wenn ihm sonst keine Schmach widerführe, allmählich in Verachtung gerät. Ist aber schon dieser leichtsinnige und unnütze Gebrauch des Namens Gottes etwas so Böses, so natürlich noch viel mehr, wenn man sich des Namens Gottes zu allerlei schändlichen, sündigen Dingen bedient, wie zu abergläubischer Totenbefragung, Flüchen und Verwünschungen, unerlaubten Geisterbeschwörungen und dergleichen gottloser Zauberei.

 

Besonders aber ist in diesem Gebot der Eid gemeint, in welchem ein Mißbrauch des göttlichen Namens ganz außerordentlich verabscheuenswert ist; dadurch sollen wir nun wieder von jeglicher anderen Entheiligung dieses Namens abgeschreckt werden. Indessen handelt es sich hier um ein Gebot, das Gottes Verehrung und die Ehrfurcht vor seinem Namen betrifft, nicht aber die Billigkeit, die unter den Menschen sein muß; das ergibt sich daraus, daß Gott in der zweiten Tafel des Gesetzes dann den Meineid und das falsche Zeugnis verdammt, die die mensch­liche Gemeinschaft zerstören: das wäre eine überflüssige Wiederholung, wenn schon dieses Gebot von der Pflicht der Liebe handelte. Schon die Unterscheidung (der beiden Tafeln) erfordert das; denn Gott hat uns, wie gesagt, das Gesetz nicht grund­los in zwei Tafeln gegeben. So ergibt sich, daß dies dritte Gebot die Absicht enthält, Gottes Recht zu schützen und die Heiligkeit seines Namens zu verteidigen, nicht aber die Menschen zu lehren, was sie einander schuldig sind.

 

 

 

II,8,23

Zuerst müssen wir nun vom Wesen des Eides sprechen. Er ist die Anrufung Gottes als Zeugen, mit welcher wir die Wahrheit unserer Rede bekräftigen wollen. Denn die Verwünschungen enthalten ja eine offene Gotteslästerung und können des­halb nicht zu den Eidschwüren gerechnet werden. Wo dagegen solche Anrufung Got­tes als Zeugen recht geschieht, da ist sie, wie an vielen Stellen der Schrift sich zeigt, eine Gestalt der Verehrung Gottes. So weissagt Jesaja die Berufung der Assy­rer und Ägypter in die Gemeinschaft des Bundes mit Israel. „Sie werden die Sprache Kanaans sprechen und bei dem Namen des Herrn schwören“ (Jes. 19,18). Das heißt: diese Völker legen durch dieses Schwören beim Namen des Herrn das Bekenntnis ab, daß er ihr Gott ist! Ebenso sagt Jesaja auch, um die künftige Aus­breitung des Reiches Gottes zu bezeugen: „Wer sich Heil erfleht, wird es bei dem Gott der Gläubigen tun, und wer schwören wird auf Erden, der wird bei dem wahren Gott schwören“ (Jes. 65,16; nicht Luthertext). Ähnlich auch Jeremia: „Wenn sie von meinem Volk lernen werden, daß sie schwören bei meinem Namen, wie sie zuvor mein Volk gelehrt haben schwören bei Baal, so sollen sie unter mei­nem Volk erbaut werden (Jer. 12,16). Und man kann ja auch mit Recht sagen, daß wir durch die Anrufung des Namens des Herrn zum Zeugnis — unsere Ver­ehrung dieses Herrn bezeugen. Denn damit bekennen wir: Er ist die ewige und un-

 

trügliche Wahrheit, ihn rufen wir nicht nur an als den vor allen anderen ausge­zeichneten Zeugen der Wahrheit, sondern auch als deren einzigen Beschützer, der das Verborgene ans Licht bringen kann, kurz als den Herzenskünder! Wo nämlich das Zeugnis der Menschen fehlt, da nehmen wir unsere Zuflucht zu Gott als unserem Zeugen, und zwar eben besonders, wo offenbar werden soll, was im Gewissen ver­borgen liegt. Deshalb entbrennt auch des Herrn Zorn so heftig über die, welche bei anderen Göttern schwören, und er bezeichnet diese Art Eidschwur als Zeichen des offenkundigen Abfalls von ihm. „Deine Kinder verlassen mich und schwören bei denen, die nicht Götter sind“ (Jer. 5,7). Wie schwer dieser Frevel vor ihm wiegt, das kommt in der Strafdrohung zum Vorschein: „Ich will verderben, die bei dem Herrn schwören und zugleich bei Milkom“ (Zeph. 1,5).

 

 

 

II,8,24

 

Wir sahen, wie nach des Herrn Willen unsere Eidschwüre als ein Stück seiner Verehrung anzusehen sind. Um so mehr müssen wir darauf achthaben, daß sie nicht statt zur Verehrung zur Schmähung, Verachtung und Entweihung seines Namens dienen. So ist es eine Lästerung seines Namens, wenn man bei ihm einen falschen Eid tut; das heißt deshalb im Gesetz auch „Entheiligung“ des Namens Gottes (Lev. 19,12). Denn was bleibt dem Herrn, wenn man ihm seine Wahrheit nimmt? Er hört auf, Gott zu sein! Aber man nimmt ihm doch wirklich die Wahrheit, wenn man ihn zum Zeugen und Bestätiger der Lüge macht! Deshalb sagt auch Josua, um den Achan zum Geständnis der Wahrheit zu bringen: „Mein Sohn, gib dem Herrn, dem Gott Israels, die Ehre!“ (Jos. 7,19); damit deutet er an, daß der Herr aufs schwerste entehrt wird, wenn man bei seinem Namen falsch schwört: Das ist auch kein Wunder, denn von uns aus wird ja auf diese Weise geradezu seinem heiligen Namen der Makel der Lüge eingebrannt! Jene Redeweise, die Josua verwendet, scheint bei den Juden allgemein im Gebrauch gewesen zu sein, wenn man jemanden zur Ablegung des Eides auffordern wollte; das ergibt sich aus der Tat­sache, daß sich im Evangelium Johannis auch die Pharisäer dieser Formel bedienen (Joh. 9,24). Zu jener Vorsicht mahnen uns auch andere Redewendungen, die in der Schrift Verwendung finden, wie „So wahr der Herr lebt“ (1. Sam. 14,39), oder „Der Herr tue mir dies und das“ (2. Sam. 3,9), oder „Gott sei Zeuge über meine Seele“ (2. Kor. 1,23). Alle diese Redewendungen beim Eide deuten an: wir können Gott nicht zum Zeugen für unsere Aussage anrufen, ohne ihn zugleich zur Rache für den Meineid aufzufordern, sofern wir falsch schwören.

 

 

 

II,8,25

 

Herabgewürdigt und gemein gemacht wird Gottes Name auch dann, wenn wir ihn zu überflüssigen, wenn auch nicht unwahren Eidschwüren gebrauchen. Denn auch da­bei wird er unnützlich geführt. Deshalb genügt es nicht, den Falscheid zu meiden; wir müssen zugleich bedenken, daß der Eid nicht um der Lust willen oder zum Ver­gnügen, sondern um der Not willen erlaubt und eingerichtet ist. Wer also unnöti­gerweise den Eid zur Anwendung bringt, der geht über den erlaubten Gebrauch hinaus. Erforderlich ist aber der Eid dann, wenn es gilt, der Religion oder der Liebe zu dienen. Hierin wird heutzutage sehr leichtsinnig gesündigt, und das ist um so schlimmer, als man infolge der eingerissenen Gewohnheit solches leichtsinnige Schwören gar nicht mehr für Sünde hält, obwohl es doch vor Gottes Richter­stuhl gewiß nicht gering angeschlagen wird. So wird der Name Gottes allenthalben auch in albernem Geschwätz leichtsinnig zum Schwur gebraucht; und dabei meint man nicht einmal, etwas Unrechtes zu tun, weil man durch lange geübte und unge­straft gebliebene Vermessenheit geradezu rechtmäßig in den Besitz dieses Lasters gekommen zu sein glaubt! Und doch bleibt des Herrn Gebot in Kraft, auch bleibt die Strafdrohung fest bestehen — und sie wird einst zur Wirkung kommen, wenn alle, die seinen Namen mißbrauchen, ihre besondere Strafe erhalten werden.

Man sündigt aber noch in einem anderen Stück: nämlich wenn man beim Schwö­ren an Gottes Stelle seine heiligen Knechte setzt. Das ist offenbare Gottlosigkeit:

 

denn auf diese Weise überträgt man Gottes Ehre auf die Heiligen! (Ex. 23,13). Auch ist es ja nicht ohne Grund geschehen, daß der Herr in besonderem Gebot be­fiehlt, bei seinem Namen zu schwören, und uns in besonderem Verbot unter­sagt, beim Schwören den Namen anderer Götter hören zu lassen (Deut. 6,13; 10,20). Und der Apostel bezeugt das auch ganz deutlich: er schreibt, die Menschen leiste­ten den Eid bei einem Höheren, als sie selber sind, Gott aber, über dem ja in seiner Herrlichkeit niemand steht, habe bei sich selbst geschworen (Hebr. 6,16f.).

 

 

 

II,8,26

 

Solches Maßhalten im Gebrauch des Eides genügt den Wiedertäufern nun nicht, sondern sie verwerfen den Eid vollständig, weil ja Christi Verbot des Schwörens von allgemeiner Geltung sei: „Ich aber sage euch, ihr sollt allerdinge nicht schwören ... Eure Rede aber sei: Ja, ja, nein, nein, was darüber ist, das ist vom Übel“ (Matth. 5,34-37). Aber auf diese Weise rennen sie unbedacht gegen Christus an, indem sie ihn nämlich dem Vater entgegenstellen — als ob er auf die Erde gekommen sei, die Gebote des Vaters abzuschaffen! Denn der ewige Gott hat in seinem Gesetz den Eid nicht nur als etwas Rechtmäßiges erlaubt — was schon für sich ein aus­reichender Beweis für die Zulässigkeit des Schwörens wäre — sondern für den Fall der Not geboten! (Ex. 22,10). Christus aber betont doch seine Einheit mit dem Vater (Joh. 10,30), bezeugt auch, daß er nichts beibringt, als was ihm der Vater aufgetragen (Joh. 10,16), daß seine Lehre nicht sein ist, sondern des, der ihn ge­sandt hat (Joh. 7,16) usw. Wie nun? Will man Gott mit sich selber in Wider­spruch setzen, daß er also einmal ein Gebot gegeben und dann das zuvor Gebotene verboten und verdammt habe?

Aber in den Worten Christi steckt tatsächlich eine gewisse Schwierigkeit; des­halb wollen wir sie kurz erläutern. Wir werden dabei jedoch nie das Richtige erken­nen, wenn wir nicht Christi Hauptabsicht und den eigentlichen Inhalt seiner Worte fest im Auge behalten. Er hat ja nicht vor, das Gesetz zu erweichen oder einzuschrän­ken, sondern es auf seinen rechten und reinen Sinn zurückzuführen, den die Schrift­gelehrten und Pharisäer mit ihren Phantastereien übel entstellt hatten. Halten wir das fest, so werden wir gar nicht auf den Gedanken verfallen, Christus hätte den Eid gänzlich verworfen: er verwirft nur den Eid, der die im Gesetz gegebene Richt­schnur verläßt. Aus seinen eigenen Worten ersieht man, daß das Volk dazumal bloß einige Scheu vor dem Meineid hatte, während doch das Gesetz nicht nur den falschen, sondern auch den leichtfertigen, überflüssigen Eidschwur ver­bietet! Der Herr erklärt also als zuverlässigster Ausleger des Gesetzes nicht nur das Falschschwören, sondern jegliches Schwören für Sünde. Aber welches? Offen­kundig doch das leichtfertige Schwören! Den Eid, der vom Gesetz empfohlen wird, läßt er unberührt und frei. Die Wiedertäufer aber haben sich, um ihre Lehre zu verteidigen, ganz auf das Wörtlein „allerdinge“ festgebissen; dies gehört aber gar nicht zu „schwören“, sondern es bezieht sich auf die nachfolgenden Beteuerungs­formeln. Denn zu dem damals verbreiteten Irrtum gehörte auch die Neigung, bei Himmel und Erde zu schwören, in der Ansicht, damit den Namen Gottes zu um­gehen. So schneidet ihnen der Herr außer der hauptsächlichen Übertretung auch alle Ausflüchte ab, so daß sie also nicht wähnen sollen, sie gingen frei aus, wenn sie Gottes Namen verschwiegen und dafür Himmel und Erde zu Zeugen anriefen! Denn hier muß im Vorbeigehen doch bemerkt werden: der Mensch schwört auch dann tatsächlich bei Gott, wenn er seinen Namen nicht ausdrücklich nennt, sondern unter allerlei Formeln versteckt, wie z. B. wenn einer bei dem Lebenslicht, bei dem Brote, das ihn nährt, bei seiner Taufe oder anderen Pfändern der göttlichen Freundlich­keit seinen Eid tut. Wenn also Christus in der Bergpredigt das Schwören bei dem Himmel oder der Erde oder der Stadt Jerusalem untersagt, so will er damit nicht, wie einige fälschlich annehmen, dem Aberglauben wehren; er will vielmehr die scheinkluge Spitzfindigkeit der Juden widerlegen, die ja meinten, solche leichtfertigen

 

Eidschwüre seien nicht so schlimm, wenn sie bei irgendwelchen Dingen, nicht bei Gottes Namen geschehen wären, als ob man also dabei sozusagen Gottes Namen ge­schont hätte — der doch all den einzelnen Wohltaten aufgeprägt ist! Eine andere Sache ist es, wenn beim Schwören an Gottes Stelle ein sterblicher Mensch oder ir­gendein Toter oder auch ein Engel tritt; so hat man bei den Heiden die üble, schmeichlerische Redeweise erdacht: „Bei dem Leben des Königs“ oder auch: „Bei dem Genius des Königs“. Das ist nun eine falsche Menschenvergötterung und dient dazu, die Ehre des einen Gottes zu verdunkeln oder geringzumachen! Aber auch wo man nur die Absicht hat, von dem Namen Gottes selbst eine Bekräftigung der eigenen Rede zu erwarten, da bedeuten solche leichtfertigen Schwüre — selbst wenn es ohne ausdrückliche Nennung des Namens Gottes zugeht — eine Verletzung seiner Ma­jestät. Diesem Leichtsinn nimmt Christus seinen nichtigen Vorwand, indem er „allerdinge“ zu schwören verbietet. Ähnlich ist auch die Absicht des Jakobus, der die oben erwähnten Worte Christi aufnimmt (Jak. 5,12) — denn jener Leichtsinn ist zu allen Zeiten in der Welt groß gewesen, obwohl er doch eine Entheiligung des Na­mens Gottes ist. — Würde sich das Wörtlein „allerdinge“ auf den Eid als solchen beziehen, als ob also jedwedes Schwören ohne Ausnahme unzulässig wäre — wozu dann noch die Erklärung, die dann folgt: „weder bei dem Himmel ... noch bei der Erde ...“? Daraus wird genugsam deutlich, daß Christus hier Ausreden ent­gegentritt, mit denen die Juden ihr Vergehen zu verharmlosen suchten.

 

 

 

II,8,27

 

Vernünftige Beurteiler werden es also völlig eindeutig finden, daß der Herr in der Bergpredigt nur solche Eidschwüre verbietet, die auch durch das Gesetz unter­sagt waren. Denn er hat sich ja auch selbst, obwohl er doch in seinem Leben das rechte Vorbild der von ihm gelehrten Vollkommenheit bot, nicht gescheut, zu schwö­ren, wenn die Lage es erforderte, und die Jünger, die doch ihrem Meister unzweifel­haft in allen Dingen nachgefolgt sind, haben sich diesem Beispiel angeschlossen. Wer würde sagen, Paulus könnte geschworen haben, wenn das Schwören gänzlich verbo­ten gewesen wäre? Und doch hat Paulus, wo die Umstände es verlangten, ohne jedes Bedenken geschworen, ja er setzt zuweilen noch eine Formel bei, nach der er verflucht sein will, wenn er falsch aussagt (Röm. 1,9; 2. Kor. 1,23).

 

Indessen ist unsere Frage noch nicht völlig gelöst. Es gibt nämlich Leute, die von dem Eidesverbot einzig den öffentlichen Eid ausgenommen wissen wollen, also zum Beispiel den Eid, den wir auf Anforderung der Obrigkeit leisten, oder den Schwur, wie ihn Fürsten bei dem Abschluß von Bündnissen anwenden oder wie ihn das Volk leistet, wenn es dem Fürsten Treue schwört, oder auch der Soldat, wenn er dem Kriegsherrn schwört oder dergleichen. Zu dieser Art von Eidschwüren rechnet man dann — und zwar mit Recht! — auch die Eidschwüre bei Paulus, die dazu die­nen, die Würde des Evangeliums zu verteidigen. Denn die Apostel sind in ihrem Amt keine Privatleute, sondern öffentlich beglaubigte Diener Gottes! Ich leugne auch nicht, daß man dergleichen Eide mit fester Sicherheit ablegen darf, da sie das un­zweideutige Zeugnis der Schrift für sich haben. Die Obrigkeit soll in zweifelhafter Sache den Zeugen unter Eid vernehmen, und dieser soll ihn schwören, wobei der Eid nach dem Wort des Apostels „ein Ende macht alles Haders“ (Hebr. 6,16). In diesem Gebot haben die Obrigkeit, die den Eid fordert, und auch der Mensch, der ihn leistet, eine feste Bestätigung ihres Tuns. So kann man auch bei den alten, heid­nischen Völkern sehen, daß sie den öffentlichen, feierlichen Eid in hohen Ehren hiel­ten; den privaten dagegen, den sie tagtäglich übten, schätzten sie für nichts oder zum mindesten sehr gering, ganz als ob solches Schwören Gottes Majestät nichts an­ginge.

Trotzdem wäre es gefährlich, den außergerichtlichen Eidschwur, sofern er doch in der gebührenden Bescheidenheit, Heiligkeit und Gottesfurcht und nur im Falle der Not geleistet wird, zu verdammen; denn solche Eide lassen sich aus der Vernunft

 

und auch aus allerlei Beispielen rechtfertigen. Wenn doch Einzelpersonen bei wich­tigen und ernsten Sachen Gott zum Richter zwischen sich anrufen dürfen, so dür­fen sie ihn doch sicher zum Zeugen anrufen! Da wirft dir dein Bruder Treulosig­keit vor; du willst dich von diesem Vorwurf um der Liebe willen reinigen; er aber läßt sich durch keinerlei Gründe überzeugen. Wenn nun dein guter Ruf durch seine beharrlichen Verdächtigungen leidet, so kannst du ohne Bedenken Gott als Richter anrufen, er möge deine Unschuld zu seiner Zeit ans Licht bringen. Wollen wir die Worte wägen, so ist es gar etwas Geringeres, Gott bloß zum Zeugen anzurufen. Ich kann also nicht einsehen, was denn bei solcher Anrufung Unzulässiges sein sollte. Es gibt doch auch viele Schriftzeugnisse dafür. Vielleicht daß man behauptet, der Eidschwur des Abraham und des Isaak mit Abimelech trage öffentlichen Charakter (Gen. 21,24; 26,31). Aber Jakob und Laban waren sicher Privatpersonen, und doch haben sie unter beiderseitiger Eidesleistung einen Bund miteinander gemacht! (Gen. 31,53f.). Auch Boas war ein Privatmann, und doch bekräftigte er sein Ehever­sprechen an Ruth mit einem Eid (Ruth 3,13). Auch Obadja, ein gerechter und gottesfürchtiger Mann, der einen Eid tat, er wolle Elias Herz erweichen, war eine Privatperson (1. Kön. 18,10).

 

Ich weiß also keine bessere Regel als die: unsere Eide müssen wir so in Maß halten, daß wir weder leichtsinnig, noch unnötig, noch in böser Absicht, noch mutwillig schwören. Vielmehr soll unser Eid der gerechten Notdurft dienen, wenn es gilt, des Herrn Ehre zu verteidigen oder unserem Nächsten beizustehen, wie es das Gesetz mit diesem Gebot ja auch will.

 

 

 

Viertes Gebot.

 

Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken. Aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du kein Werk tun ...

 

 

 

II,8,28

 

Der Zweck dieses Gebotes ist: wir sollen unseren eigenen Begierden und Werken absterben, nach Gottes Reich trachten und uns in diesem Trachten nach den Regeln, die er uns gab, üben. Da nun aber das Gebot einen besonderen und von den anderen geschiedenen Gegenstand behandelt, so erfordert es auch eine ganz besondere Aus­legungsweise. Die Alten nennen es gewöhnlich „schattenhaft“, weil es ja die äußere Heilighaltung eines Tages zum Inhalt hat, der durch Christi Ankunft mit den üb­rigen Vorbildern abgeschafft wurde. Das ist sehr richtig gesagt, erschöpft aber die Sache nur zur Hälfte. Deshalb muß die Auslegung noch tiefer gehen; dabei sind denn drei Vorschriften zu bedenken, die dieses Gebot nach meiner Ansicht enthält. Erstens wollte der himmlische Gesetzgeber unter der Ruhe am siebenten Tage dem Volke Israel ein Bild der geistlichen Ruhe geben, also dies, daß die Gläubigen von allen eigenen Werken feiern und Gott in sich wirken lassen sollen. Zweitens sollte nach seinem Gebot ein bestimmter Tag da sein, an dem man zum Hören des Gesetzes und zum Vollzug der gottesdienstlichen Ge­bräuche zusammenkommen sollte, oder der wenigstens der besonderen Betrachtung seiner Werke gewidmet war; diese Betrachtung sollte der Übung in der Frömmig­keit dienen. Und drittens wollte Gott den Knechten und denen, die unter anderer Leute Herrschaft standen, einen Ruhetag gönnen, damit sie sich ein wenig von ihrer Arbeit erholen könnten.

 

 

 

II,8,29

Daß die Vorbildung der geistlichen Ruhe die wichtigste Aufgabe des Sabbats war, erfahren wir auf vielerlei Weise. Fast kein Gebot hat der Herr so streng befolgt sehen wollen wie dies (Num. 15,32-36). Will er durch die Propheten die völlige Zerstörung der Gottesfurcht andeuten, so klagt er, daß seine Sabbate befleckt, verletzt, nicht gehalten, nicht geheiligt sind: fehlt hier der Gehorsam --

 

will er andeuten —, dann bleibt nichts, womit er geehrt werden könnte! (Ez. 20,12; 22,8; 23,38; Jer. 17,21.22; 17,27; Jes. 56,2). Anderseits findet das Halten des Sabbats höchstes Lob. Deshalb rühmen die Gläubigen auch die Offenbarung des Sabbats als eine besondere Tat Gottes. So sprachen die Leviten im Nehemiabuche in feierlicher Versammlung: „Du hast deinen heiligen Sabbat ihnen kundgetan und Gebote, Sitten und Gesetz ihnen geboten durch deinen Knecht Mose“ (Neh. 9,14). So wurde also das Sabbatgebot unter allen Geboten des Gesetzes besonderer Ehre gewürdigt. Dies alles dient dazu, die hohe Würde dieses Geheimnisses anzuzeigen, das Mose und Ezechiel so herrlich darstellen. So lesen wir im Buche Exodus: „Sehet zu, haltet meinen Sabbat; denn derselbe ist ein Zeichen zwischen mir und euch auf eure Nachkommen, daß ihr wisset, daß ich der Herr bin, der euch heiliget. Darum haltet meinen Sabbat, denn er soll euch heilig sein“ (Ex. 31,13.14; 35,2). „Darum sollen die Kinder Israel den Sabbat halten, daß sie ihn auch bei ihren Nachkommen halten zum ewigen Bund; er ist ein ewiges Zeichen ...“ (Ex. 31,16f.). Ausführ­licher redet Ezechiel vom Sabbat; ihm ist die Hauptsache, daß der Sabbat für Israel ein Zeichen sei, an dem es erkennen solle: Gott ist es, der da heiliget (Ez. 20,12). Besteht unsere Heiligung in der Abtötung des eigenen Willens, so zeigt sich schon die Ähnlichkeit zwischen dem äußeren Zeichen und der Sache selbst, die ja innerlich ist. Wir müssen gänzlich ruhen, damit Gott in uns wirke, wir müssen von unserem Willen abstehen, unser Herz hingeben, allen Lüsten des Fleisches absagen. Endlich müssen wir von allen selbsteignen Werken feiern, damit Gott in uns wirke und wir in ihm ruhen, wie der Apostel sagt (Hebr. 3,11ff.; 4,9).

 

 

 

II,8,30

 

Dies ewige Ablassen von den eigenen Werken stellte Gott den Juden in der Ge­stalt der Heiligung des siebenten Tages dar. Damit dieser Tag noch größere Würde gewinne, hat ihn der Herr mit seinem eigenen Beispiel uns anempfohlen. Denn der Mensch läßt sich doch ganz besonders zum Eifer anspornen, wenn er weiß, daß er dem Beispiel des Schöpfers selber nachleben soll.

 

Manche wollen nun auch in der Siebenzahl eine verborgene Bedeutung fin­den, weil ja sieben in der Schrift die Zahl des Vollkommenen, Vollendeten ist; und diese Zahl ist ja auch sicherlich nicht ohne Absicht gewählt, um die beständige Dauer dieses Ruhens der Gläubigen anzudeuten. Dazu stimmt auch, daß Mose mit dem siebenten Tage, an welchem der Herr nach seinem Bericht „ruhete von allen seinen Werken“, die sonst immer vorkommende Bemerkung: „Und es ward aus Abend und Morgen ...“ nicht mehr anbringt. Eine andere Deutung der Zahl ist auch nicht zu verwerfen: der Herr hätte andeuten wollen, daß der Ruhetag erst dann vollkommen werden könnte, wenn der letzte Tag da sei. Wir fangen gewiß hier unsere selige Sabbatruhe an und schreiten alle Lage in ihr fort; aber der Kampf mit dem Fleische hört nicht auf und kann nicht zu Ende kommen, ehe jene Verheißung des Jesaja in Erfüllung geht, es solle sich Neumond an Neumond, Sabbat an Sabbat reihen (Jes. 66,23), — ehe eben Gott ist alles in allen (1. Kor. 15,28). Es könnte also der Herr seinem Volke in dem siebenten Tage die künftige Vollendung seines Ruhetages angedeutet haben, damit es durch stetiges Achthaben auf den Sabbat in seinem ganzen Leben nach dieser Vollkommenheit sich ausstrecke.

 

 

 

II,8,31

Will nun jemand diese Deutung der Siebenzahl als allzu spitzfindig verwerfen, so hindere ich ihn nicht, eine einfachere anzunehmen. So etwa die: der Herr hat einen bestimmten Tag angesetzt, an dem sich das Volk unter der Zucht des Gesetzes in der fleißigen Betrachtung der geistlichen Ruhe üben sollte. Den siebenten Tag hat er genommen, weil er diesen schon für genügend hielt, oder auch in der Absicht, durch das eigene Beispiel und Gleichnis das Volk stärker anzuspornen oder es wenigstens daran zu erinnern, daß der Sabbat nur den Sinn hat, daß der Mensch seinem Schöpfer gleichartig werde. Es ist ziemlich gleich, welche Deutung man an­nimmt, — wenn nur das vornehmlich angedeutete Geheimnis bestehen bleibt: näm-

 

lich daß es sich hier um unser stetiges Ruhen von den eigenen Werken handelt. Darauf zu achten ermahnten auch alle Propheten die Juden, wenn sie sie warnten, nur ja nicht zu meinen, es sei mit fleischlicher Ruhe genug getan. Außer den schon angeführten Stellen wollen wir noch ein Jesajawort nennen: „So du deinen Fuß von dem Sabbat kehrest, daß du nicht tust, was dir gefällt, an meinem heiligen Tage, und den Sabbat eine Lust heißest und den Tag, der dem Herrn der Herrlich­keit heilig ist, ehrest, so du ihn also ehrest, daß du nicht tust deine Wege, noch darin gefunden werde, was dir gefällt oder leeres Geschwätz, alsdann wirst du Lust haben am Herrn ...“ (Jes. 58,13. 14).

 

Indessen ist durch das Kommen des Herrn Christus alles, was an diesem Gebot äußerliche Übung war, abgetan worden. Denn er ist selbst die Wahrheit, durch deren Gegenwart alle Bilder verschwinden, er ist der Leib, durch dessen Sichtbar­werden alle Schattenbilder aufgehört haben. Er ist damit die wahre Erfüllung des Sabbats! Durch die Taufe sind wir mit ihm begraben, Mitgenossen seines Todes geworden, um auch Teilhaber an seiner Auferstehung zu sein und in Neuheit des Lebens zu wandeln (Röm. 6,4). So schreibt der Apostel an anderer Stelle, der Sab­bat sei ein Schattenbild der künftigen Dinge gewesen, in Christus aber sei der Leib da (Kol. 2,16.17), das heißt, die eigentliche, wesenhafte Wahrheit, wie er sie an jener Stelle ausführlich darstellt. Und diese Wahrheit ist nicht mit einem einzigen Tage zufrieden, sondern verlangt unser ganzes Leben, bis wir an uns selber gänzlich tot und mit Gottes Leben erfüllt sind! Deshalb sollen die Christen mit der aber­gläubischen Einhaltung von Tagen nichts zu schaffen haben!

 

 

 

II,8,32

Indessen gehören die beiden letzten Vorschriften unseres Gebots (nämlich die Ab­sonderung eines Tages für den Gottesdienst der Gemeinde und der Ruhetag für die Dienstleute!) nicht zu den Abbildern, sondern sie behalten ihre Geltung für alle Zeit. Auch nach und trotz der Abschaffung des Sabbats sollen doch bei uns be­stimmte Tage da sein, an denen wir zum Hören des Wortes, zum Brechen des hei­ligen Brotes (ad mystici panis fractionem!) und zum gemeinsamen Gebet zusam­menkommen. Auch muß den Knechten und Arbeitern ihre Erholung von der Arbeit zuteil werden! Und für dies beides hat der Herr mit dem Sabbatgebot unzweifel­haft Vorsorge treffen wollen. Das erste hat schon allein im Gebrauch bei den Ju­den eine ausreichende Bezeugung. Das zweite deutet Mose im Deuteronomium an: „Daß dein Knecht und deine Magd ruhe gleichwie du, denn du sollst bedenken, daß auch du Knecht in Ägyptenland warst“ (Deut. 5,14f.). Ähnlich auch im Buche Exodus: „Auf daß dein Ochse und Esel ruhe und deiner Magd Sohn sich erquicke“ (Ex. 23,12). Das betrifft uns beides unleugbar genau so wie die Juden. Gottes Wort schreibt uns ja vor, daß die Kirche zusammenkommen soll, und wie nötig das ist, wird uns schon durch die gewöhnliche Erfahrung im Leben ausreichend klar. Wie soll man aber solche Zusammenkünfte der Kirche aufrechterhalten ohne be­stimmte Ordnung und festgesetzte Tage? Nach der Anweisung des Apostels soll doch bei uns alles schicklich und ordentlich zugehen (1. Kor. 14,40). Nun kann aber diese Schicklichkeit und Ordnung ohne solche öffentliche Regelung nicht erhalten werden, so daß im anderen Falle der Kirche unmittelbar die größte Verwirrung und Auflö­sung drohte. Wir stehen also unter der gleichen Not, zu deren Überwindung der Herr den Juden den Sabbat gegeben hat, und deshalb soll keiner sagen, mit dem hätten wir nichts zu schaffen. Denn der Vater wollte in seiner herrlichen Vorsehung und Freundlichkeit unserer Not nicht weniger abhelfen als der der Juden. Nun könnte man aber fragen: Warum kommen wir denn nicht alle Tage zusammen, um jene Unterscheidung der Tage (die doch nicht sein soll) zu vermeiden? Ja, wenn es nur so wäre! Denn die geistliche Weisheit wäre wohl wert, daß wir ihr alle Tage ein Stück unserer Zeit widmeten! Aber die Schwachheit vieler läßt solche tagtäglichen Zusammenkünfte nicht möglich werden, und wir können von ihnen auch nicht mehr

 

verlangen, ohne lieblos zu werden. Weshalb sollen wir uns da nicht in die Ordnung fügen, die Gottes Wille uns selber gewiesen hat?

 

 

 

II,8,33

 

Ich muß hier gezwungenermaßen etwas länger verweilen; denn heutzutage er­heben unruhige Geister wegen des Herrntages (Sonntages) viel Lärm. Sie beklagen sich heftig, die Christenheit werde durch die Beobachtung bestimmter Tage im Ju­dentum festgehalten! Ich antworte demgegenüber: es hat gar nichts mit dem Juden­tum zu schaffen, wenn wir solche Tage feiern, denn wir unterscheiden uns in dieser Hinsicht von den Juden sehr beträchtlich. Wir behandeln doch den Herrntag nicht wie eine Zeremonie, die wir mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit einhielten, etwa weil uns darin ein geistliches Geheimnis abbildlich vor Augen gestellt würde, sondern wir ver­stehen ihn als ein Mittel, das zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Kirche notwendig ist! Aber man erwidert weiter: Paulus sagt doch, man solle dem Christen wegen der Beobachtung „bestimmter Feiertage“ kein „Gewissen machen“, weil die doch nur Schatten der zukünftigen Dinge sind (Kol. 2,16.17), ja er fürchtet, an den Galatern vergebens gearbeitet zu haben, weil diese noch bestimmte Tage beobach­teten (Gal. 4,10.11); auch schreibt er den Römern, es sei Aberglaube, wenn jemand zwischen Tag und Tag einen Unterschied mache (Röm. 14,5). — Aber wer — außer diesen wilden Männern! — sieht denn nicht, was Paulus hier im Auge hat, wenn er vom Halten bestimmter Tage spricht? Die Leute hatten damals als Ziel nicht die rechte öffentliche, kirchliche Ordnung vor Augen, sondern sie hielten die Tage als Schattenbilder der geistlichen Dinge bei und verdunkelten insofern Christi Ehre und das Licht des Evangeliums. So feierten sie nicht deshalb von ihrer Berufsarbeit, weil diese sie heiligem Eifer, heiliger Betrachtung entzog, sondern in einer gewissen religiösen Scheu, weil sie nämlich träumten, mit ihrem Feiern das Gedächtnis einst hochgerühmter Geheimnisse zu wahren. Gegen diese verkehrte Unterscheidung von Tagen geht der Apostel vor, nicht aber gegen die rechtmäßige Ordnung, die dem Frieden der christlichen Gemeinde (societas christiana) dient. Denn auch in den von ihm selbst geordneten Gemeinden wurde in diesem Sinne der Sabbat gehal­ten. Er verordnet den Korinthern ja selbst diesen Tag, damit sie an ihm die Bei­steuer zur Hilfe für die Brüder in Jerusalem einsammelten (1. Kor. 16,2). Fürchtet man den Aberglauben: da waren die jüdischen Feiertage gefährlicher als der Herrn­tag, den die Christen feiern! Denn weil es zur Abschaffung des Aberglaubens erfor­derlich war, wurde den Juden ihr heiliger Tag genommen — und weil es zur Wahrung der guten Sitte, der Ordnung und des Friedens in der Kirche nötig war, wurde ein anderer Tag an seine Stelle gesetzt!

 

 

 

II,8,34

 

Die Alten haben den Herrntag, wie wir ihn nennen, mit voller Absicht an die Stelle des Sabbats gesetzt. Denn die wahre Ruhe, die der alte Sabbat vorbildete, ist ja in der Auferstehung des Herrn zum Ziel und zur Erfüllung gelangt; und so erinnert schon dieser Tag, der allen Schattenbildern ein Ende setzte, die Christen daran, daß sie sich bei solchen schattenhaften Zeremonien nicht aufhalten sollen. Übrigens ist mir die Siebenzahl nicht so wichtig, daß ich die Kirche zwingen würde, sie anzuwenden; ich will auch keine Gemeinde verdammen, die zu ihren Zusammen­künften andere Tage wählt, wenn es nur ohne Aberglauben geschieht. Den vermeidet man am besten, wenn man die Feiertage ausschließlich der Aufrechterhaltung von Zucht und rechter Ordnung dienen läßt.

Die Hauptsache ist: wie den Juden einst die Wahrheit unter Schattenbildern dargeboten wurde, so tritt sie uns ohne Schatten herrlich entgegen. So sollen wir denn erstens unser ganzes Leben lang nach der völligen sabbatlichen Ruhe von allen eigenen Werken trachten, damit der Herr in uns wirke durch seinen Geist. Zweitens soll sich jeder, sooft er Zeit hat, in der frommen Erkenntnis der Werke Gottes üben; wir sollen aber auch alle miteinander die rechtmäßige Ordnung der Kirche wahren, die dazu eingerichtet ist, daß wir das Wort hören, die Sakramente üben

 

und öffentlich miteinander beten. Und zum dritten sollen wir unsere Untergebenen nicht unmenschlich bedrücken. Von dieser Freiheit schreibt Sokrates in der „Historia tripartita“ (Hist. trip. XI, 38).

 

Damit verschwinden denn auch die Redereien der Lügenpropheten, die in den vergangenen Jahrhunderten das Volk mit jüdischem Wahn erfüllt haben. Sie stell­ten nämlich den Satz auf, an diesem Gebot sei einzig und allein das „Zeremonielle“ abgeschafft — sie nannten es die „Schätzung des siebenten Tages“ —, es bleibe da­gegen das Moralische bestehen, das heißt, man müsse einen Tag in der Woche feiern. Das bedeutet dann also gar nichts anderes, als daß man den Juden zum Är­ger einen anderen Tag nimmt, dagegen die abergläubische Heilighaltung des Tages in gleicher Weise beibehält wie sie. Auf diese Weise bliebe uns dann die gleiche geheimnisvolle Unterscheidung der Tage, wie sie bei den Juden stattfand. Und man kann ja auch wirklich sehen, was die Lügenpropheten mit ihrer Lehre erreicht haben: die Leute, die in ihren Anordnungen befangen sind, gehen in ihrem groben, fleischlichen Sabbataberglauben noch dreimal weiter als die Juden selber, so daß die Strafreden des Jesaja (Jes. 1,13; 58,13) ihnen ebenso gelten wie den Zeitgenossen des Propheten! Wir wollen aber unterdessen als allgemeine Lehre wohl beachten: damit die Frömmigkeit in uns nicht zerfalle oder erschlaffe, sollen wir die Versammlungen der Kirche fleißig besuchen und uns überhaupt um all die äußerlichen Hilfen recht Mühe geben, die dazu dienen, die Verehrung Gottes zu erhalten.

 

 

 

Fünftes Gebot.

 

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt.

 

 

 

II,8,35

 

Was ist der Zweck dieses Gebots? Gott, der Herr, will seine Ordnung erhalten, und deshalb sollen die von ihm festgesetzten Stufen der Überordnung für uns un­verletzlich sein. Die Hauptsache ist also: wir sollen die, welche uns der Herr zu Vorgesetzten gemacht hat, annehmen und ihnen mit Ehrfurcht, Gehorsam und Dank­barkeit begegnen. Dem entspricht denn auch das Verbot: wir sollen ihrer Würde nichts abbrechen, weder durch Verachtung, noch durch Halsstarrigkeit oder Undank­barkeit. Denn das Wort „Ehre“ hat in der Schrift einen sehr weiten Geltungsbe­reich. Wenn der Apostel zum Beispiel sagt: „Die Ältesten, welche wohl vorstehen, halte doppelter Ehre wert“ (1. Tim. 5,17), so denkt er dabei nicht nur an die ihnen zustehende Ehrfurcht, sondern auch an die Belohnung, die ihnen für ihren Dienst gebührt. Nun liegt aber dieses Gebot, das ja Gehorsam verlangt, mit der mensch­lichen Vernunft und ihrer Bosheit sehr im Streite; denn der Mensch ist dermaßen aufgeblasen in seiner Herrschsucht, daß er sich nicht gern unterordnen läßt! Deshalb wird hier die Obrigkeit als Beispiel genommen, die von Natur am lieblichsten und am wenigsten verhaßt ist (nämlich Vater und Mutter); denn sie könnte uns innerlich noch am leichtesten erweichen und zur Untertänigkeit bewegen. Der Herr will uns also von dieser Art der Unterordnung aus, die noch die leichteste und trag­barste ist, an alle rechtmäßige Folgsamkeit gewöhnen; denn die Dinge liegen überall gleich. Wem er Würde zugeteilt hat, dem gibt er auch, soweit es zur Erhaltung seines Ansehens erforderlich ist, Anteil an seinem Namen. Die Benennungen „Va­ter“, „Gott“ und „Herr“ haben dies gemeinsam, daß wir, sooft wir eine davon hören, notwendig empfinden: wir haben es mit Gottes Majestät zu tun. Gibt er also einem Menschen Anteil an der Würde seines Namens, so erleuchtet und ver­herrlicht diesen auch ein Fünklein von seinem Glanz, damit er an Gottes Statt Achtung gebiete! Wir haben also an dem, der unser Vater ist, etwas Göttliches anzuerkennen; denn er führt diesen göttlichen Titel („Vater“) nicht ohne Grund! Und wer „Fürst“ und „Herr“ ist, der hat gewissermaßen an Gottes Ehre teil!

 

II,8,36

 

Aus diesem Grunde kann es nicht zweifelhaft sein, daß der Herr hier eine allge­meine Regel aufstellt: wir sollen nämlich jedem, der nach unserer Kenntnis uns durch Gottes Ordnung als Vorgesetzter gegeben ist, mit Ehrfurcht, Gehorsam, Dankbar­keit und jedem uns möglichen Dienste begegnen. Dabei ist es ganz gleich, ob die, denen solche Ehre übertragen werden soll, würdig oder unwürdig sind: denn sie mö­gen sein, wer sie wollen, so haben sie doch ihren Platz nicht ohne Gottes Vorsehung eingenommen, und deshalb will der Gesetzgeber sie geehrt wissen. Ausdrücklich gibt er dies Gebot hinsichtlich der Eltern, die uns dies Leben gegeben haben — zu seiner Befolgung muß uns eigentlich schon das natürliche Empfinden hinziehen! Denn wer der väterlichen Gewalt Halsstarrigkeit und Widerstand entgegensetzt, der ist ein Ungeheuer und kein Mensch! Deshalb gebietet der Herr auch, alle Men­schen, die ihren Eltern Widerstand leisten, zu töten, als solche, die das Leben nicht verdienen, weil sie nicht einmal anerkennen, durch wessen Dienst sie es empfangen haben. Aus verschiedenen Zusätzen zum Gesetz läßt sich ersehen, daß tatsächlich, wie wir erwähnten, die hier gebotene Ehre dreierlei Pflichten umfaßt, nämlich Ehrerbietung, Gehorsam und Dankbarkeit. (1.) Die Ehrerbie­tung macht der Herr zur unverletzlichen Pflicht, indem er den, der Vater oder Mutter flucht, zu töten befiehlt (Ex. 21,17; Lev. 20,9; Spr. 20,20). Damit ver­dammt er Verachtung und Halsstarrigkeit gegenüber den Eltern. (2.) Den Gehorsam fordert Gott, indem er für ungehorsame und widerspenstige Kinder gleichfalls die Todesstrafe androht (Deut. 21,18-21). (3.) Zur Dankbarkeit mahnt uns Jesu Auslegung dieses Gebots in Matth. 15, wo er die Forderung ableitet, wir sollten unseren Eltern wohltun (Matth. 15,4-6). Paulus findet in diesem Ge­bot, sooft er von ihm redet, den Gehorsam gefordert (Eph. 6,1-3; Kol. 3,20).

 

 

 

II,8,37

 

Die angefügte Verheißung soll uns dies Gebot besonders ans Herz legen und uns noch besser zeigen, wie wohlgefällig Gott diese hier geforderte Unterord­nung ist. Auch Paulus benutzt diese Verheißung als Ansporn für unsere Trägheit und weist darauf hin: „Dies ist das erste Gebot, das Verheißung hat“ (Eph. 6,2). Er hat recht: denn die allgemeine Verheißung vor der ersten Tafel des Gesetzes be­zieht sich nicht auf ein besonderes Gebot, sondern auf das ganze Gesetz. Wir werden die hier gegebenen Verheißungen so zu verstehen haben: der Herr redet besonders zu den Israeliten von dem Lande, das er ihnen als Erbe verheißen hatte. Ist also das Innehaben des Landes ein Unterpfand der Freundlichkeit Gottes, so ist es nicht verwunderlich, wenn der Herr hier seine Gnade durch die Zusage eines langen Le­bens bezeugen läßt; denn so kam es zu längerem Genießen der Frucht seiner Wohl­tat. Dem Sinne nach ist also zu lesen: Ehre Vater und Mutter, damit du ein langes Leben hindurch den Besitz des Landes genießen kannst, das ich dir als Unterpfand meiner Gnade geben werde. Weil indessen für die Gläubigen die ganze Erde gesegnet ist, so zählen wir mit Recht das gegenwärtige Leben zu den Segnungen Gottes. Deshalb geht auch uns diese Verheißung an, sofern uns ja ein langes Le­ben auf Erden ein Erweis göttlicher Freundlichkeit ist. Denn dies lange Leben auf Erden wird uns ja nicht verheißen, ist auch den Juden einst nicht verheißen worden, weil es etwa in sich selber die Seligkeit trüge, sondern weil es für die Frommen ein Merkzeichen der Freundlichkeit Gottes sein sollte! Wenn deshalb ein gehorsamer Sohn seinen Eltern vor der Reife seines Lebens entrisse wird, was ja nicht selten vorkommt, so bleibt doch der Herr bei der Erfüllung seiner Verheißung, und zwar so sehr, als ob er jemand hundert Joch Land schenkte, dem er doch nur eines versprochen! Es liegt ja alles daran, daß uns ein langes Leben nur soweit verheißen wird, als es ein Segen Gottes ist, daß es aber nur ein Segen ist, so­fern es Erweis der göttlichen Gnade ist. Diese Gnade aber bezeugt der Herr seinen Knechten durch den Tod unendlich reichlicher und unvergänglicher, ja er zeigt sie ihnen durch die Tat!

 

II,8,38

 

Wenn nun der Herr den Kindern, die ihre Eltern mit dem schuldigen Gehorsam ehren, die Segnung des gegenwärtigen Lebens verheißt, so kündigt er damit zugleich allen Widerspenstigen und Ungehorsamen den sicher drohenden Fluch an. Diesen Fluch verwirklicht er auch: er läßt sie durch sein Gesetz des Todes schuldig sprechen und ordnet den Vollzug der Strafe an! Entgehen sie aber dem irdischen Gericht, so ahndet er selbst ihren Ungehorsam auf allerlei Weise, viele derartige Leute kommen in Kriegen und Streithändeln um, andere geraten in schwere Drangsal — aber fast alle erfahren es in ihrem eigenen Leben, daß diese Drohung kein leeres Wort ist. Mag sein, daß einige auch ein hohes Alter erreichen; aber sie sind in diesem Leben ohne den Segen Gottes und quälen sich hindurch, gehen ja auch noch schwereren Strafen entgegen — und so sind sie trotz ihres langen Lebens nicht etwa der Ver­heißung teilhaftig, die gehorsamen Kindern gegeben ist!

 

Wir wollen aber im Vorbeigehen doch auch noch anmerken, daß wir den Eltern nur „im Herrn“ gehorchen sollen (Eph. 6,1); das ergibt sich ja eigentlich schon aus der Grundlage, die wir oben fanden; denn der Vorrang der Eltern beruht ja darauf, daß der Herr sie eingesetzt und ihnen ein Stücklein von seiner Ehre über­tragen hat! Die Unterordnung, die wir ihnen erzeigen, ist also selbst nur eine Stufe, um zu der Verehrung Gottes als des höchsten Vaters zu führen. Wollen sie uns also zur Übertretung des Gesetzes verleiten, so sollen wir sie mit Recht nicht für Eltern, sondern für Fremde halten, die uns vom Gehorsam gegen unseren wahren Vater abzubringen suchen. Genau so verhält es sich im entsprechenden Falle mit Fürsten und Herren und allen uns übergeordneten Ständen. Es wäre deshalb un­würdig und unsinnig, wenn ihre hohe Stellung zur Minderung der Erhabenheit Gottes sich geltend machen sollte; denn sie hängt ja doch selbst von dieser ab und muß uns darum auch zu ihr hinleiten!

 

 

 

Sechstes Gebot.

 

Du sollst nicht töten.

 

 

 

II,8,39

Zunächst der Zweck dieses Gebotes: Der Herr hat das Menschengeschlecht ge­wissermaßen zu einer Einheit verbunden, und deshalb muß jedem einzelnen die Erhaltung und das Wohlergehen aller angelegen sein. Daher denn auch der Hauptinhalt: es wird uns jede Gewalttat, jeder Frevel, überhaupt alles Scha­dentun untersagt, wodurch der Leib unseres Nächsten verletzt würde. Dementspre­chend erhalten wir das Gebot, getreulich alles zu tun, was in unserer Macht steht, um das Leben unseres Nächsten zu schützen, alles daranzusetzen, um ihm zum Wohl­ergehen zu verhelfen und Schaden von ihm abzuwenden, und ihm in aller Not und Gefahr beizustehen. Bedenkt man aber, daß hier Gott als Gesetzgeber zu uns spricht, so wird man auch beachten: er will unsere Seele mit diesem Gebot re­gieren! Denn es wäre ja lächerlich, wenn er, der die tiefsten Gedanken des Herzens vor Augen hat und dem es auf das Herz in besonderer Weise ankommt, nun doch nur den Leib zur wahren Gerechtigkeit erziehen wollte. So wird auch der Mord hier verboten, der im Herzen geschieht, und es wird anderseits der innerliche Trieb verlangt, dem Bruder das Leben zu erhalten. Gewiß wird der Mord durch die Tat der Hand zur Welt gebracht; aber sein Keim liegt im Herzen, wenn es Zorn und Haß in sich trägt! Man soll doch zusehen, ob man denn wirklich gegen den Bru­der zürnen kann, ohne in schadenbringender Gier zu entbrennen! Ist solch Zürnen verboten, so erst recht der Haß; denn der Haß ist ja nur ein eingewurzelter Zorn! Man mag das leugnen und sich mit allerlei Ausflüchten frei zu machen suchen — aber wo Zorn und Haß ist, da wohnt auch die Gesinnung, die zur bösen Tat führen kann! Will man eine Ausflucht suchen, so ist doch zu bedenken, daß der Mund des Heiligen Geistes es ausgesprochen hat: „Wer seinen Bruder hasset, der ist ein Tot-

 

schläger“ (1. Joh. 3,15), und daß der Herr Christus gesagt hat: „Wer seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig, und wer zu seinem Bruder sagt ‚Racha!’, der ist des Rats schuldig, wer aber sagt ‚du Narr’, der ist des höllischen Feuers schul­dig!“ (Matth. 5,22).

 

 

 

II,8,40

 

Nach der Schrift ist nun dieses Gebot auf zwei Rechtssachen begründet. Der Mensch ist einerseits Gottes Ebenbild, anderseits unser Fleisch und Blut. Soll also Gottes Bild unverletzt bleiben, so muß uns der andere Mensch hei­lig und unverletzlich sein; soll nicht alle Menschlichkeit in uns zugrunde gehen, so müssen wir doch unser eigen Fleisch und Blut schützen und erhalten! Was aus der Erlösung und aus Christi Gnade für eine Mahnung in dieser Richtung zu ziehen ist, wird an anderer Stelle behandelt werden. Jene beiden Grundtatsachen aber will der Herr von Natur aus im Menschen beachtet wissen, damit wir dadurch zur Er­haltung des Menschen kommen, also das ihm eingeprägte Ebenbild Gottes ehren und unser eigenes Fleisch lieben! Deshalb braucht der, der kein Blut vergossen hat, durchaus nicht von Blutschuld frei zu sein. Wer etwas mit der Tat vollbringt oder auch nur versuchsweise ins Werk setzt oder gar nur wünscht oder plant, was dem Heil seines Nächsten zuwidergeht, der ist des Mordes schuldig! Trachtet man an­dererseits nicht danach, den Nächsten nach allen Kräften und bei jeder Gelegenheit zu schützen, so ist bereits diese Härte eine Übertretung des Gebots! Sollen wir uns aber schon das leibliche Wohlergehen unseres Nächsten so angelegen sein lassen — wieviel Eifer und Mühe ist dann erst an das Heil der Seele zu wenden, die doch bei dem Herrn unendlich viel mehr gilt!

 

 

 

Siebentes Gebot.

 

Du sollst nicht ehebrechen.

 

 

 

II,8,41

 

Auch hier zunächst der Zweck des Gebots: Gott liebt Keuschheit und Reinheit, und deshalb soll alle Unreinigkeit ferne von uns sein! Daraus ergibt sich als Hauptinhalt: Wir sollen uns von aller Befleckung durch Unzucht und un­mäßige Gier des Fleisches frei halten. Dementsprechend wird uns also geboten, unser ganzes Leben in Keuschheit und Zucht zu führen. Ausdrücklich verbietet Gott den Ehebruch; denn alle Gier richtet sich auf ihn hin, und er ist ja auch beson­ders abscheulich, weil er am gröbsten und am deutlichsten wahrnehmbar ist, da er ja selbst dem Leibe sein Brandmal aufdrückt; deshalb soll er uns aber auch sonst alle und jede böse Gier widerwärtig machen.

 

Der Mensch ist ja nach der Ordnung (hac lege) geschaffen, daß er sein Leben nicht allein führen, sondern die Hilfe des anderen Menschen brauchen soll, der ihm beigegeben ist. Dann ist er durch den Fluch über die Sünde noch mehr in diese Not­wendigkeit versetzt worden. Da hat nun der Herr ausreichende Hilfe geschaffen und den Ehestand eingesetzt, hat solche Verbindung unter seiner Autorität beginnen lassen und durch seinen Segen geheiligt. Deshalb ist aber auch offenkundig jede an­dere Verbindung zwischen Mann und Frau außerhalb der Ehe vor ihm verflucht; der Ehestand ist ja von ihm selbst als Notmittel verordnet, damit wir nicht in zügelloser Gier alle Grenzen überrennen! Es gibt also keine Beschönigung, wenn wir doch hören, daß ein Verkehr zwischen Mann und Frau außerhalb der Ehe notwendig Gottes Fluch mit sich bringt!

 

 

 

II,8,42

Wir sind also durch die Anlage unserer Natur und dann erst recht wegen der Begierde, die nach dem Fall wild entbrannt ist, in doppelter Weise der ehelichen Verbindung mit der Frau bedürftig — abgesehen von denen, die Gott von dieser Regel durch einen besonderen Gnadenakt ausgenommen hat. So mag nun ein jeg­licher zusehen, was ihm geschenkt ist! Gewiß ist, das gebe ich zu, die Ehelosigkeit nicht zu verachten. Aber sie ist dem einen versagt und auch dem anderen nur eine

 

Zeitlang ermöglicht; und deshalb soll der, den die Fleischeslust quält, und der im Kampfe gegen sie nicht Sieger bleibt, in der Ehe Hilfe suchen und so in seinem Stand und Beruf einen zuchtvollen Wandel führen. Denn wer dieses Wort nicht erfaßt und seiner Maßlosigkeit nicht mit dem dargebotenen Mittel entgegen­tritt, der streitet mit Gott und widerstrebt seiner Ordnung. Da soll mir auch keiner hineinreden — wie das heutzutage viele tun! —, mit Gottes Hilfe sei er zu allem fähig! Denn Gottes Hilfe steht nur denen bei, die in seinen Wegen gehen — und das heißt: in ihrem Beruf leben! (Ps. 91,1.14). Wer das Mittel verschmäht, das ihm Gott darreicht, und in nichtiger Vermessenheit allein seine Nöte überwin­den und zu Boden zwingen will, der entzieht sich seinem Beruf! Der Herr betont ja selber, daß die Enthaltsamkeit eine besondere Gabe Gottes ist und zu den Gottesgaben gehört, die nicht allgemein an die ganze Kirche, sondern nur an wenige Glie­der verteilt werden! Denn er spricht von einer ganz besonderen Art Menschen, „die da verschnitten sind um des Himmelreichs willen“ (Matth. 19,12); das sind also Leute, die diese Gabe besitzen, um sich unabhängiger und freier den Dingen des Himmelreichs widmen zu können. Aber er will doch die Irrmeinung verhindern, solche Verschneidung stehe in der Gewalt des Menschen, deshalb zeigt er kurz vor­her, dazu seien nicht alle fähig, sondern nur die, denen es vom Himmel gegeben wird (Matth. 19,11) — und dann schließt er: „Wer es fassen kann, der fasse es!“ (V. 12). Noch deutlicher schreibt Paulus, ein jeglicher habe seine Gabe von Gott, der eine so, der andere so! (1. Kor. 7,7).

 

 

 

II,8,43

So weist uns also die Schrift sehr deutlich darauf hin, daß nicht jeder in Ehe­losigkeit die Keuschheit zu wahren vermag, auch wenn er sich noch so eifrig darum bemüht, sondern daß es eine außergewöhnliche Gnade ist, die der Herr nur beson­deren Menschen zuteil werden läßt, um sie so zu seinem Werk freier zu machen. Ist es nun da nicht Widerstand gegen Gott und die von ihm uns anerschaffene Na­tur, wenn wir unsere Lebensgestaltung nicht nach dem Maß unseres Vermögens einrichten? Hier jedenfalls verbietet der Herr alle Hurerei; er verlangt also von uns Reinheit und Keuschheit. Der einzige Weg, die Keuschheit zu erhalten, ist der, daß sich jeder an seinem eigenen Maß messe! So soll keiner die Ehe vermessen gering­schätzen, als ob sie für ihn unnütz oder überflüssig wäre! Und es soll keiner die Ehelosigkeit wählen außer dem, der ohne Frau leben kann. Auch in ihr aber soll keiner seines Fleisches Ruhe und Bequemlichkeit suchen, sondern allein dies, daß er, von jener Bindung frei, um so leichter und bereitwilliger der Pflicht eines gottge­weihten Lebens dienstbar sein kann. Auch wird ja manchen dies Geschenk nur auf Zeit zuteil; deshalb soll jeder nur solange auf die Ehe verzichten, als er zum ein­samen Leben fähig ist. Gehen ihm die Kräfte aus, seiner Lust Herr zu werden, so soll er eben daran erkennen, daß der Herr ihm die Pflicht auferlegt hat, ehelich zu werden. Das zeigt auch der Apostel mit seiner Ermahnung: „Um der Hurerei willen habe ein jeglicher sein eigen Weib und eine jegliche ihren eigenen Mann“ (1. Kor. 7,2) oder auch: „So sie aber sich nicht mögen enthalten, so laß sie freien“ (1. Kor. 7,9; Calvin setzt hinzu: „in dem Herrn“). Damit spricht er zunächst aus: Weitaus die meisten Menschen sind dem Laster der Zuchtlosigkeit unterworfen, und zum zweiten: diese alle, die in solcher Lage sind, sollen ohne jede Ausnahme zu dem einzigen Heil­mittel ihre Zuflucht nehmen, das der Unkeuschheit Schranken setzt. Wenn also Leute, die sich nicht enthalten können, es doch verschmähen, sich in ihrer Schwachheit mit diesem Heilmittel helfen zu lassen, so sündigen sie, weil sie diesem Gebot des Apostels nicht gehorchen. Aber auch ein Mensch, der nie ein Weib berührt hat, soll nicht in selbstsicherer Verblendung meinen, er sei von dem Vorwurf der Unkeuschheit frei, wenn er doch unterdessen inwendig vor Begierde glüht. Denn Paulus versteht unter Keuschheit die Reinheit des Herzens und zugleich damit auch die Zucht des Leibes. „Welche nicht freiet, die sorgt, was dem Herrn angehört, daß sie heilig sei

 

am Leib und auch am Geist ...“ (1. Kor. 7,34). Und so sagt er denn zur Bekräfti­gung des oben erwähnten Gebots nicht nur, es sei besser zu heiraten, als sich mit Hurerei zu beflecken, sondern auch, es sei besser zu heiraten, als Brunst zu leiden (7,9).

 

 

 

II,8,44

 

Wenn nun die Eheleute bedenken, daß ihr Bund von dem Herrn gesegnet ist, so lassen sie sich eben dadurch auch daran mahnen, ihn nicht durch ungebändigte, zü­gellose Gier zu beflecken. Gewiß verbirgt die Ehe in ihrer Anständigkeit alle Wol­lust vor den Augen der Welt; aber das soll uns doch nun wahrhaftig kein Anreiz zur Ausschweifung sein! Deshalb sollen die Ehegatten wissen, daß sie auch nicht machen können, was sie wollen, sondern es soll der Mann gegenüber der Frau und die Frau gegenüber dem Manne züchtig handeln; sie sollen beide bei allem Tun darauf bedacht sein, nichts aufkommen zu lassen, was der Anständigkeit und Zucht des Ehestandes zuwiderliefe. Der im Herrn geschlossene Ehebund soll so zu Zucht und Maß geführt werden und nicht in tolle Zügellosigkeit ausarten. Für solche un­mäßige Geilheit hat Ambrosius einen sehr ernsten, aber nicht unverdienten Aus­druck: er nennt einen Mann, der im ehelichen Leben nicht auf Zucht und Ehrbar­keit Bedacht nimmt, einen Ehebrecher am eigenen Weibe! (bei Augustin, Gegen Ju­lian II,7; bei Ambrosius nicht).

 

Zum Schluß wollen wir beachten, wer dieser Gesetzgeber ist, der hier alle Unreinigkeit verdammt: er ist doch der, der uns ganz zu eigen haben muß und nach seinem Recht von uns Reinheit der Seele, des Geistes und des Leibes verlangt. Wenn er also Hurerei verwirft, so verbietet er uns zugleich, mit wollüstiger Klei­dung, unzüchtigen Gebärden und unreinen Reden der Keuschheit anderer Schlingen zu legen. Es war schon recht, was Archelaus zu einem besonders reich und üppig ge­kleideten Jüngling sagte: es sei eigentlich gleich, an welcher Stelle sich ein Mensch als Weichling erwiese. Es gilt, den Blick auf Gott zu richten, der alle Unreinigkeit haßt, wo sie auch an Leib oder Seele in die Erscheinung tritt! Damit das nun keiner in Zweifel zieht, bedenke man, daß Gott hier Keuschheit gebietet. Fordert der Herr aber Keuschheit von uns, so verwirft er damit alles, was ihr entgegen ist. Will man nun da gehorchen, so darf das Herz nicht inwendig vor Gier brennen, dürfen die Augen nicht lüstern sein, soll auch der Leib sich nicht kupplerisch schmücken, die Zunge nicht durch geile Reden unser Gemüt zu entsprechenden Gedanken reizen, so soll auch der Gaumen nicht durch Unmäßigkeit solche Lüste entfachen! Denn alle derartigen Verderbtheiten sind gleich Schandflecken, welche die reine Keuschheit besudeln.

 

 

 

Achtes Gebot.

 

Du sollst nicht stehlen.

 

 

 

II,8,45

 

Der Zweck ist hier: Gott ist jede Ungerechtigkeit zuwider, und deshalb sollen wir jedem geben, was ihm gehört. Der Hauptinhalt ist also: Wir sollen nicht nach fremdem Gut trachten, sondern im Gegenteil jedem zur Erhaltung des Seinen getreulich Hilfe leisten.

Wir müssen ja doch bedenken: was ein Mensch besitzt, das hat er nicht von ir­gendeinem Zufallsgeschick, sondern durch Zuteilung Gottes, des Herrn aller Dinge; wer sich also an seines Nächsten Vermögen vergreift, der übt Betrug gegen die göttliche Ordnung. Es gibt nun sehr vielerlei Diebstahl. Da ist zunächst gewalt­samer Raub: dabei wird das fremde Gut mit Gewalt und Räuberei genommen. Dann ist da der Betrug: da bringt einer auf arglistige Weise den anderen um das Seine. Wieder etwas anderes ist es, wenn man mit List und Tücke das Gut des Nächsten unter dem Schein des Rechts an sich bringt. Und wieder etwas anderes, wenn man den Nächsten mit Schmeichelei umgarnt, ihm einen Vorteil vorspiegelt und so sein Gut erschleicht. Wir wollen aber nun nicht weiter alle Formen des Dieb-

 

stahls aufzählen. Jedenfalls ist alle falsche Kunst, mit der man des Nächsten Gut und Geld an sich bringt, sofern dabei die Lauterkeit der Liebe verlassen wird und dafür das Begehren sich einstellt, zu täuschen oder irgendwie Schaden zu tun, für Dieb­stahl zu halten. Mögen solche versteckten Diebe vor Gericht auch frei ausgehen — vor Gott gelten sie als das, was sie sind: Denn er durchschaut die verschlungenen Ränke, mit denen der Verschlagene den Harmlosen umstrickt, bis er ihn ins Netz gezogen hat. Er sieht auch die harten und unmenschlichen Gesetze, mit denen der Mächtigere den Schwachen bedrängt und zugrunde richtet. Er sieht die Schmeichelei, mit der ein tückischer Mensch den Unerfahrenen wie an der Angel fängt, obwohl das alles dem menschlichen Urteil verborgen ist und nicht zu öffentlicher Kenntnis kommt. Dergleichen Unrecht findet sich auch nicht nur zum betrügerischen Erwerb von Geld oder Waren oder Ackerland, sondern bezüglich aller Rechte, die der andere hat. Wir bringen den Nächsten auch dann betrügerisch um das Seine, wenn wir ihm den Dienst verweigern, der ihm von Rechts wegen zusteht. Läßt ein Verwalter oder Haushalter seines Herrn Gut nachlässig verkommen oder nimmt er die Pflicht gegenüber dem anvertrauten Gut nicht recht wahr, veruntreut oder verschwendet er seines Herrn Besitz, ist ein Knecht frech gegen seinen Herrn oder plaudert er seine Geheimnisse aus, verrät er sein Leben oder sein Gut, behandelt aber anderseits auch ein Herr sein Gesinde grausam oder unmenschlich — so ist das alles in Gottes Augen Diebstahl! Denn wer nicht tut, was sein Beruf den anderen gegenüber erfordert, der vergreift sich an fremdem Gut!

 

 

 

II,8,46

 

Diesem Gebot werden wir also dann Folge leisten, wenn wir uns mit unserem Besitzstand zufrieden geben und nur ehrenhaften und erlaubten Gewinn erstreben, nicht mit Unrecht reich zu werden trachten, uns auch nicht bemühen, dem Nächsten sein Gut zu entreißen, um dadurch selber den Gewinn zu haben, wenn wir nicht grausam erworbenen Reichtum, der aus anderer Leute Blut ausgepreßt ist, anzu­sammeln suchen, wenn wir nicht rastlos mit Recht oder Unrecht von allen Seiten alles zusammenkratzen, um so unserer Habgier Genüge zu tun oder unsere Ver­schwendungssucht zu befriedigen! Wir sollen im Gegenteil unser Sinnen immerzu darauf richten, dem Nächsten mit Rat und Tat das Seine behalten zu helfen. Und wenn wir es mit treulosen und betrügerischen Leuten zu tun haben, so sollen wir lieber unser Gut daransetzen, als mit ihnen in Wettbewerb zu treten. Aber das nicht allein: Sehen wir den anderen in Not, so sollen wir an seinen Schwierigkeiten An­teil nehmen und ihm in seinem Mangel mit unserem Hab und Gut beispringen.

Endlich soll jeder darauf achten, was er in seinem Beruf zu tun schuldig ist, und dann das Erforderliche getreulich erfüllen. So soll denn das Volk alle, die ihm vor­stehen, in Ehren halten, ihr Herrschen mit Willigkeit ertragen, den Gesetzen und Befehlen gehorsam sein und keinen Dienst verweigern, den es mit Gottes Hilfe leisten kann. Anderseits soll die Obrigkeit für das Wohl des Volkes sorgen, den öffentlichen Frieden aufrechterhalten, die Guten schützen und die Bösen im Zaum halten, kurz alles in dem Bewußtsein regieren, daß sie ja selbst einst Gott für ihre Amtsführung Rechenschaft geben muß! Die Diener der Kirche sollen den Dienst am Wort treu üben und die Lehre des Heils nicht verfälschen, sondern sie dem Volke Gottes rein und lauter verkündigen. Ihre Unterweisung der Gemeinde soll aber nicht allein in der Lehre, sondern auch im Vorbild ihres Lebens bestehen. Kurzum, sie sollen ihr Vorsteheramt als gute Hirten ausfüllen. Das Volk soll aber anderseits die Diener der Kirche als Boten und Apostel Gottes aufnehmen und ihnen die Ehre geben, die der höchste Lehrer der Kirche ihnen zuerteilt hat, ihnen auch darreichen, was sie zum Lebensunterhalt nötig haben. Die Eltern sollen ihre Kinder, die ihnen doch Gott anvertraut hat, nähren, erziehen und unter­weisen, sie nicht durch Strenge innerlich verhärten oder von sich abwenden, sondern mit der zu ihrem Amt erforderlichen Sanftmut und Nachsicht tragen und lieben.

 

Welche großen Pflichten anderseits die Kinder gegen ihre Eltern haben, wurde bereits dargelegt. Die Jüngeren sollen das Alter ehren, da der Herr selbst es so will. Dementsprechend sollen auch die Alten die Jugend in ihrer Schwachheit und Unerfahrenheit vermöge ihrer eigenen gereiften Weisheit und größeren Er­fahrung leiten und sie nicht mit Härte und Grobheit verschüchtern, sondern ihre Strenge durch Freundlichkeit und Güte mildern. Die Knechte sollen ihren Herren willigen und freudigen Gehorsam leisten, nicht nur vor Augen, sondern von Herzen, als dienten sie Gott selber! Herrenleute sollen aber auch ihre Dienstleute nicht eigensinnig und stolz behandeln, ihnen auch nicht mit Härte oder mit Geringschätzung begegnen; sie sollen vielmehr anerkennen, daß die Dienstleute ihre Brüder sind, ihre Mitknechte vor dem himmlischen Herrn, die sich untereinander lieben und menschlich behandeln sollen.

 

Auf diese Weise kann denn jeder einzelne leicht finden, was er in seinem Stand und an seinem Platze dem Nächsten schuldig ist; und dann soll er seine Schuldigkeit auch tun. Dazu ist es nötig, immer auf den Gesetzgeber selbst zu schauen: da werden wir denn erkennen, daß diese Regel nicht nur unseren Händen, sondern auch unserem Herzen gilt; und so soll jeder danach trachten, mit allen Mitteln den Vorteil und Nutzen seines Nächsten zu wahren und zu fördern.

 

 

 

Neuntes Gebot.

 

Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

 

 

 

II,8,47

Hier ist der Zweck: Da die Lüge Gott, der ja die Wahrheit ist, verhaßt ist, so sollen wir untereinander ohne alles Falsch die Wahrheit lieben und üben! Daher ist der Hauptinhalt dieses Gebots: wir sollen den guten Namen des anderen nicht mit Schmähungen und falschen Beschuldigungen verletzen, ihm auch nicht mit Lügerei Schaden zufügen, auch sollen wir niemand mit Lästerungen und frecher Schmähsucht kränken. Dem Verbot entspricht das Gebot: wir sollen allen Menschen, soviel es uns möglich ist, dazu helfen, die Wahrheit durchzusetzen und das gute Recht ihres Namens zu schützen. Den Sinn dieses Gebots hat der Herr augenscheinlich im 23. Kapitel des Buches Exodus deutlich machen wollen: „Du sollst falscher An­klage nicht glauben, daß du einem Gottlosen Beistand tust und ein falscher Zeuge seist“ (Ex. 23,1), oder auch: „Sei ferne von falschen Sachen“ (Ex. 23,7). An anderer Stelle werden wir vor der Lüge nicht nur insofern gewarnt, als wir nicht Angeber und Verleumder in unserem Volk sein sollen (Lev. 19,16), sondern auch insofern, als wir unseren Bruder nicht täuschen sollen (Lev. 19,11). Beides verbietet also Gott in bestimmten Geboten. Und wie er in den vorigen Geboten Härte, Unkeuschheit und Habgier (nämlich die unrechte Gesinnung) untersagte, so verbietet er zweifellos hier auch die Verschlagenheit. Diese äußert sich, wie bereits gesagt, auf zweierlei Weise. Auf der einen Seite steht da die Sünde gegen den guten Ruf des Nächsten, wie sie durch Lästerung oder Verleum­dung geschieht. Und dann auf der anderen Seite der Eintrag, der seinem Wohler­gehen durch Lüge oder gehässiges Dreinreden widerfährt. Es verschlägt dabei nichts, ob man hierbei an das feierliche Zeugnis vor Gericht oder an die gewöhnliche Aus­sage über den anderen denkt, wie sie in privatem Gespräch geschieht. Wir müssen uns nämlich immer wieder den Grundsatz vor Augen halten: aus der Zahl der hier gemeinten Vergehen wird eins in besonderer Weise als Beispiel gesetzt, auf das dann die übrigen zurückgeführt werden sollen; dieses Beispiel bildet aber das Vergehen, das durch Verwerflichkeit besonders auffällt. Wir müssen jedoch das Ge­bot allgemeiner fassen und es auch auf die Verleumdungen und falschen Anschuldi­gungen beziehen, mit denen wir dem Nächsten Unrecht tun. Denn die falsche Aussage vor Gericht ist ja zugleich stets ein Meineid; dieser aber ist, weil er Gottes

 

Namen entheiligt und verletzt, ja schon im dritten Gebot scharf untersagt! Die rechte Befolgung dieses Gebots besteht also darin, daß die Zunge die Wahrheit ver­teidigen und dadurch dem guten Ruf und dem Wohl des Nächsten dienen soll. Wie billig diese Forderung ist, leuchtet unmittelbar ein. Denn der gute Name ist mehr wert als alle Schätze; deshalb ist es ein ebenso schlimmes Verbrechen, einem Men­schen den guten Ruf zu nehmen, wie wenn man ihn bestiehlt. Aber selbst Geld und Gut wird manchem Menschen ebensosehr durch falsches Zeugnis wie durch Raub und Diebstahl entrissen!

 

 

 

II,8,48

 

Aber es ist doch verwunderlich, mit was für einer Sorglosigkeit an diesem Stück allgemein gesündigt wird, so daß man nur wenige finden kann, die nicht merklich mit diesem Laster behaftet sind. So groß ist die Freude, die wir an der vergifteten Süßigkeit haben, die Fehler anderer aufzusuchen und zu entdecken! Wir sollen uns aber nicht einbilden, es wäre eine Entschuldigung, daß wir dabei sehr oft nicht lügen. Denn Gott, der da verbietet, den guten Namen des Bruders mit Lügen zu schänden, der will auch, daß er unbefleckt erhalten werde, soweit es mit Wahrheit möglich ist. Gewiß, er nimmt ihn ausdrücklich nur gegen die Lüge in Schutz; aber damit gibt er doch zu verstehen, wie wichtig er ihm ist. Daß aber Gott für den guten Namen unseres Nächsten sorgen will, das muß uns doch genügender Anlaß sein, ihn auch unsererseits unverletzt zu lassen. So wird also hier ohne Zweifel jegliche böse Nach­rede verboten. Unter böser Nachrede verstehe ich nun freilich nicht den Tadel, der sich um Besserung bemüht, auch nicht die Anklage vor Gericht oder die gerichtliche Anzeige, in der es um Abhilfe gegen die Bosheit geht, auch nicht den öffentlichen Verweis, der die übrigen Übeltäter abschrecken soll, auch nicht die öffentliche War­nung vor der Bosheit eines Menschen den anderen gegenüber, deren Wohlergehen solche Warnung erfordert, damit sie nicht in Unkenntnis zu Schaden kommen. Ich verstehe vielmehr unter böser Nachrede die gehässige Anschuldigung, die aus Bos­heit und Verkleinerungssucht entspringt. Weiter verbietet uns dies Gebot auch den boshaften Scherz und bitteren Spott, durch den wir die Gebrechen anderer unter dem Schein des Scherzwortes gehässig bespötteln — so geschieht es vor allem von Menschen, die sich aus anderer Leute Schamröte und Seufzen selber den Ruf eines guten Gesellschafters verschaffen möchten, während doch aus derartiger Leichtfertig­keit der Bruder oft in bitteren Kummer versetzt wird! Nun sollen wir aber unsere Augen auf den Gesetzgeber richten, der an Ohr und Herz genau so wie an die Zunge sein Anrecht hat. Dann wird es uns deutlich werden, daß es uns ebensosehr verboten ist, Verleumdungen gierig das Ohr zu leihen, als auch selbst der sündhaften Nei­gung zu mißgünstigem Urteil zu frönen. Denn es wäre ja eine lächerliche Meinung, wenn einer auf den Gedanken käme, Gott hasse zwar das Laster der bösen Nachrede durch die Zunge, sei aber der ungerechten Gesinnung im Herzen nicht feind! Ist es wirklich so, daß wir Gott fürchten und lieben, so sollen wir uns auch recht Mühe geben, soweit es möglich und nütze ist und die Liebe es erträgt, böser Nach­rede und verletzendem Spott weder Zunge noch Ohren zu leihen, auch bösem Arg­wohn in unserem Herzen keinen Raum zu geben. Vielmehr wollen wir anderer Leute Worte und Taten gerecht zu verstehen suchen und ihnen in unserem Urteilen, Hören und Reden ihren guten Ruf rein erhalten.

 

 

 

Zehntes Gebot.

 

Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses ...

 

 

 

II,8,49

Zunächst der Zweck dieses Gebots: Gott will, daß unser ganzes Herz von der Liebe gegen den Nächsten erfüllt sei, und deshalb soll alle Begehrlichkeit, die sich gegen die Liebe richtet, ausgerottet werden. Daher wird der Hauptinhalt darin bestehen, daß in uns keinerlei innere Regung aufkommen soll, die uns zu

 

schadenbringender und dem Nächsten abträglicher Begierde antreiben könnte. Dem entspricht wieder auf der anderen Seite das Gebot: wir sollen bei all unserem Planen, Erwägen, Wollen und Trachten auf unseres Nächsten Wohl und Vorteil bedacht sein. Aber augenscheinlich tritt uns hier eine große und schwere Frage ent­gegen. Denn wir haben doch schon weiter oben gesagt, daß uns mit dem Ehebrechen und Stehlen, die ausdrücklich verboten werden, auch die ehebrecherische Lust und die Absicht, dem Nächsten zu schaden oder ihn zu betrügen, untersagt ist. Da könnte es denn überflüssig erscheinen, daß uns nachträglich nun noch verboten wird, uns nach dem Gut anderer gelüsten zu lassen. Um diesen Knoten zu lösen, müssen wir zwischen Vorsatz und Gelüsten unterscheiden. Unter Vorsatz, wie wir ihn bei der Erklärung der vorausgehenden Gebote meinten, ist ein mit Überlegung gefaßter Willenratschluß zu verstehen; da hat die Lust die Seele in Fesseln ge­schlagen. Gelüsten aber kann auch ohne solche Erwägung und solche innere Zu­stimmung da sein, wenn nämlich das Herz bloß von eitlen, verkehrten Dingen ge­kitzelt und gereizt wird. So hat also der Herr bisher geboten, daß die Regel der Liebe bei allem Wollen, Trachten und Wirken die Herrschaft führen soll. Jetzt dagegen gebietet er, daß auch die Neigungen unseres Gemüts sich nach dieser Regel richten sollen, um nicht böse und verkehrt zu werden und uns innerlich in der ver­kehrten Richtung zu ziehen. Wie der Herr also jede innere Hinneigung zu Zorn, Haß, Ehebruch, Raub und Lüge verboten hat, so wendet er sich jetzt auch gegen den Reiz und das Gelüsten.

 

 

 

II,8,50

 

Diese innere Rechtschaffenheit fordert Gott nicht ohne Grund von uns. Denn wer will es nicht für ein gerechtes Verlangen halten, daß unser Herz mit allen seinen Kräften von der Liebe erfüllt sei? Und wer wird es nicht für ein schlimmes Ge­brechen halten, wenn es von dem Richtpunkt der Liebe abweicht? Woher kommt es auch, daß im Herzen Gelüste sich breitmachen, die dem Bruder Schaden bringen, als daher, daß man jenes Ziel aus dem Auge verliert und nur an sich selber denkt? Wäre wirklich das Herz ganz von der Liebe in Anspruch genommen, so fände der­artiges Gelüste nirgendwo einen Ansatzpunkt! Wo also die falsche Begierde Raum gewinnt, da muß in diesem Maße der Liebe Raum entzogen sein! Nun wird aber vielleicht jemand einwenden, es sei doch nicht angebracht, daß ungeformte Gedanken, die von selbst im Gemüt auftauchen und schließlich wieder verfliegen, als Be­gierden, die doch im Herzen ihren Sitz haben, verdammt werden sollten. Ich antworte: hier ist von solchen ungeformten Gedanken die Rede, die zwar im Ge­müt aufkommen, aber doch zugleich das Herz mit böser Begierde angreifen und reizen. Denn das Gemüt kann nicht wünschen, ohne daß zugleich das Herz entflammt wird und frohlockt! Gott verordnet also jene wundersame Glut der Liebe, die nach seinem Willen auch nicht die geringste Lust stören soll. Er verlangt jene wunder­bare Bereitschaft des Herzens, die sich auch nicht vom kleinsten Stachel gegen das Gebot der Liebe aufbringen läßt. Zu diesem Verständnis hat mir zuerst Augustin den Weg gebahnt, damit man nicht meint, es fehle meiner Behauptung an ge­wichtigen Gewährsmännern.

 

Obwohl nun der Herr jedwede böse Begierde verbieten will, nennt er doch als Beispiel besondere Dinge, die uns unter dem trügerischen Schein des Vergnügens besonders gefangennehmen; er will auf diese Weise unserer Begehrlichkeit rein nichts übriglassen, wenn er sie doch von den Dingen weg zieht, die sie am tollsten zu reizen vermögen.

So hält uns also die zweite Tafel des Gesetzes alles vor, was wir den Men­schen um Gottes willen schuldig sind; allein an der Betrachtung Gottes aber hängt das ganze Wesen der Liebe. Deswegen wird man auch den Menschen alle Pflichten, die uns die zweite Tafel auferlegt, vergebens einschärfen, wenn diese Unterweisung nicht auf die Furcht und Ehrerbietung vor Gott als festen

 

Grund gegründet ist. Wer nun zwei Gebote annimmt, die die böse Begierde verbieten, der reißt, wie der Leser, auch wenn ich nichts davon sagte, selbst einsehen würde, sinnlos auseinander, was doch zusammengehört. Daß der Ausdruck „Laß dich nicht gelüsten“ zweimal vorkommt, besagt nichts dagegen; denn es wird zunächst das Haus in Betracht gezogen, und dann alles, was dazu gehört, von dem Weibe angefangen. So muß denn offenbar dieser ganze Zusammenhang nach dem rechten Vorbild des hebräischen Textes einheitlich verstanden werden. Danach gebietet Gott allgemein, daß wir alles, was der andere besitzt, weder mit Unrecht und Schadgier, noch auch mit der geringsten Lust unseres Herzens antasten sollen.

 

 

 

II,8,51

 

Jetzt ist es auch nicht mehr schwer zu sagen, was das Gesetz als Ganzes will: nämlich vollkommene Gerechtigkeit; es will des Menschen Leben nach dem Bilde göttlicher Reinheit gestalten. Denn Gott hat im Gesetz sein heiliges Wesen derart deutlich kundgetan, daß der, welcher das Gebotene mit Taten dar­stellen würde, gewissermaßen Gottes Ebenbild zum Ausdruck brächte! So sagt auch Mose, um den Israeliten den Hauptinhalt des Gesetzes zusammenzufassen: „Nun, Israel, was fordert der Herr, dein Gott, von dir, denn daß du den Herrn, deinen Gott, fürchtest, daß du in seinen Wegen wandelst und liebest ihn und dienest dem Herrn, deinem Gott, von ganzem Herzen und von ganzer Seele, daß du die Ge­bote des Herrn haltest ...“ (Deut. 10,12.13). Und jedesmal, wenn er dem Volk das Wichtigste am Gesetz vorhalten wollte, hat er ihm immer wieder das gleiche zugerufen! Die Unterweisung des Gesetzes hat ja zum Ziele, daß es uns in Heilig­keit des Lebens mit unserem Gott verbinde und uns — wie Mose an anderer Stelle sagt — an Gott fest hangen lasse (Lev. 19,2).

 

So besteht denn die vollkommene Heiligkeit in den schon erwähnten zwei Stücken: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allem Vermögen“ (Deut. 6,5; 11,13; Calvin zitiert in der 1. Pers. Plur.) und „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ (Lev. 19,18). Das Entscheidende aber ist es, daß unser Herz ganz und gar von der Liebe zu Gott er­füllt werde. Daraus fließt dann die Liebe zum Nächsten ganz von selbst hervor. Das zeigt auch der Apostel: „Die Hauptsumme des Gebotes ist Liebe von reinem Herzen und von gutem Gewissen und von ungefärbtem Glauben“ (1. Tim. 1,5). Da wird also das reine Gewissen und der ungefärbte Glaube gewissermaßen an die Spitze gestellt, das heißt aber mit einem Wort: an erster Stelle steht die wahre Frömmigkeit, und aus ihr folgt die Liebe! Es ist also irrig, wenn man meint, im Gesetz seien uns bloß Anfangsgründe oder Ansätze der Gerechtigkeit mitgeteilt, mit denen die Menschen sozusagen Neulingsunterricht bekämen, aber noch nicht zum wahren Ziel der guten Werke hingeleitet würden. Denn als höchste Vollkommenheit kann man doch nicht mehr verlangen, als es Mose und Paulus in den erwähnten Sätzen ausgesprochen haben. Wo will denn ein Mensch weiter hin, der nicht damit zufrieden ist, in der Furcht Gottes, der geistlichen Anbetung, dem Halten der Ge­bote, im Befolgen der rechten Wege des Herrn, in der Reinheit des Gewissens und in lauterem Glauben und reiner Liebe unterwiesen zu werden? So bestätigt sich also jene Auslegung des Gesetzes als richtig, die in seinen Geboten alle Pflichten der Frömmigkeit und der Liebe sucht und findet. Wer dagegen im Gesetz nur dürre und unreife Anfangsgründe sucht, als ob es den Willen Gottes bloß halb lehrte, der hat von seiner wahren Absicht nach dem Zeugnis des Apostels noch nichts be­griffen.

 

 

 

II,8,52

Nun übergehen aber Christus und die Apostel bei der Erwähnung der Summe des Gesetzes öfters die erste Tafel; deshalb verfallen nun viele Leute auf die törichte Phantasterei, als ob sich diese Worte auf beide Tafeln zugleich bezögen. So nennt zum Beispiel Christus bei Matthäus die Hauptstücke am Gesetz Gericht, Barmherzigkeit und Treue (Matth. 23,23). Unter „Treue“ scheint mir nun ein-

 

deutig die rechtschaffene Gesinnung gegen die Menschen verstanden zu sein. Will man diesen Spruch aber auf das ganze Gesetz beziehen, so versteht man darunter die Treue gegen Gott. Das ist sicher verkehrt; denn Christus redet von solchen Werken, in denen der Mensch sich sichtbar als gerecht erweisen soll. Beachten wir dies, so werden wir uns auch nicht mehr wundern, daß er jenem Jüngling auf die Frage: „Was soll ich Gutes tun, daß ich das ewige Leben möge haben?“ (Matth. 19,16) allein die Antwort gibt: „Du sollst nicht töten, Du sollst nicht ehebrechen, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht falsch Zeugnis geben, Ehre Vater und Mutter und Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ (Matth. 19,18.19). Denn der Ge­horsam gegenüber der ersten Tafel des Gesetzes bestand ja in der Gesinnung des Herzens oder in der Erfüllung von Zeremonien. Die Herzensgesinnung trat nicht ins Sichtbare, und die Zeremonien übten auch Heuchler mit großem Eifer; die Werke der Liebe dagegen sind so geartet, daß sie die Echtheit unserer Gerechtigkeit er­weisen! Das kommt bei den Propheten so oft vor, daß es einem in ihnen einiger­maßen bewanderten Leser wohlbekannt sein muß. Denn fast jedesmal, wo sie zur Buße mahnen, sehen sie von der ersten Tafel ab und dringen auf Treue, Gerechtig­keit, Barmherzigkeit und Billigkeit. Dabei gehen sie nicht etwa an der Furcht Gottes vorbei, sondern sie wollen es an klaren Zeichen bestätigt sehen, daß es den Leuten Ernst damit ist! Bekanntlich bestehen sie auch, wenn von der Erfüllung des Gesetzes die Rede ist, zumeist auf den Geboten der zweiten Tafel, weil ja hier das Trachten nach Gerechtigkeit und Reinheit am deutlichsten ins Licht tritt. Dazu brauche ich keine Stellen anzuführen, weil jedermann selbst diese Beobachtung machen kann.

 

 

 

II,8,53

 

Nun könnte weiter jemand fragen: ist denn nun wirklich der unsträfliche Wandel unter den Menschen zur Gerechtigkeit mehr nütze als die fromme Ehrerbietung gegen Gott? Ganz gewiß nicht! Aber weil niemand leichtlich in allen Stücken die Liebe wahren kann, wenn er nicht Gott ernstlich fürchtet, so kann die Liebe als Erweis der Gottesfurcht dienen. Dazu kommt auch: der Herr weiß ja sehr wohl, daß keine unserer guten Taten bis zu ihm zu dringen vermag — was ja auch der Prophet bezeugt —; und deshalb hat er von uns keinen Dienst für sich verlangt, sondern er übt uns in guten Werken gegen den Nächsten (Ps. 16,2; Vulgata). Deshalb sucht der Apostel auch mit Recht die ganze Vollkommenheit der Heiligen in der Liebe (Eph. 3,19; Kol. 3,14). Es ist auch nicht widersinnig, wenn er an an­derer Stelle die Liebe „des Gesetzes Erfüllung“ nennt, wobei er dann zufügt, der habe das Gesetz erfüllt, der seinen Nächsten liebe (Röm. 13,8.10). So sagt er denn auch: „Denn alle Gesetze werden in einem Wort erfüllet, in dem: ,Liebe dei­nen Nächsten als dich selbst’“ (Gal. 5,14). Er bringt dabei keine andere Lehre als Christus selber: „Was ihr nun wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten“ (Matth. 7,12). Ganz gewiß nimmt im Gesetz und in den Propheten den ersten Platz der Glaube ein und alles, was zu Gottes rechter Verehrung gehört, die Liebe folgt erst dann als etwas Untergeordnetes. Aber der Herr versteht es so, daß uns im Gesetz nur vorgeschrie­ben werde, unter den Menschen nach Recht und Billigkeit zu trachten; darin sollen wir geübt werden, unsere fromme Ehrfurcht vor Gott, wenn sie anders in uns lebt, auch zu bezeugen!

 

 

 

II,8,54

Wir wollen also festhalten, daß unser Leben erst dann dem Willen Gottes und der Vorschrift des Gesetzes entsprechend gestaltet ist, wenn es sich in allen Stücken unseren Brüdern recht nütze erweist! Im ganzen Gesetz findet sich nicht eine Silbe, in der dem Menschen eine Regel darüber gegeben wird, was er zu Nutz und Frommen seines eigenen Fleisches zu tun oder zu lassen hat! Und wahrlich, wenn doch die Menschen schon von Natur mehr, als recht ist, zur Selbstliebe geneigt sind und diese, wie weit sie sich auch von der Wahrheit entfernen, stets festhalten,

 

so bedurfte es keines Gesetzes, um diese ohnehin maßlose Eigenliebe noch mehr zu entfachen! (vgl. Augustin, Von der christlichen Unterweisung I, 23-25). So ist also, wie vollkommen deutlich ist, nicht unsere Eigenliebe, sondern die Liebe zu Gott und zum Nächsten die Erfüllung der Gebote, und es lebt der am besten und am heiligsten, der am wenigsten sich selber lebt und nach sich selber trachtet, und anderseits lebt keiner mehr in Verkehrtheit und Ungerechtigkeit als der, welcher nur sich selber lebt, nach sich selber trachtet, nur an das Seine denkt und das Seine sucht! Um uns also zu zeigen, wie sehr wir unseren Nächsten lieben sollen, weist der Herr auf unsere Selbstliebe hin, die ja der heftigste und stärkste Trieb in uns ist — und macht sie zum Maßstab für unsere Liebe zu den anderen! (Lev. 19,18). Dabei muß man freilich sehr wohl darauf achten, was der Herr mit dieser Redeweise sagen will; denn er gibt hier nicht, wie einige Klüglinge töricht erträumt haben, der Selbstliebe den ersten Platz und der Nächstenliebe den zweiten. Er überträgt vielmehr den Liebestrieb zu uns selber, den wir von Natur in uns tra­gen, eben die Selbstliebe, nun auf die anderen! So behauptet ja auch der Apostel: „Die Liebe sucht nicht das Ihre“ (1. Kor. 13,5). Nicht eines Haares wert ist auch die sophistische Beweisführung, das, was an einem Maßstab gemessen werde, sei stets geringer als dieser Maßstab selber. Denn der Herr macht unsere Selbst­liebe gar nicht zu einem Maßstab, dem nun die Liebe zu den anderen unterworfen sein sollte, sondern er zeigt: die Liebe, die aus natürlicher Verderbtheit bei uns selber hängenzubleiben pflegt, die soll nun dem anderen zuteil werden, so daß wir nun nicht weniger flink, hitzig und eifrig bei der Hand sind, dem Nächsten Gutes zu tun, als uns selber!

 

 

 

II,8,55

 

Nun zeigt Christus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, daß der Aus­druck „der Nächste“ auch den Fremdesten umfaßt (Luk. 10,36); deshalb sollen wir dieses Gebot der Nächstenliebe nicht auf unsere nächste Freundschaft und Verwandt­schaft einschränken. Ich gebe freilich zu: je näher wir mit einem Menschen verbunden sind, desto größer ist auch unsere Verpflichtung, ihm freundschaftlich beizustehen. Denn es liegt im Wesen der menschlichen Art, daß die Menschen untereinander um so mehr verpflichtet sind, je fester sie durch die Bande der Verwandtschaft, Freund­schaft oder Nachbarschaft verbunden sind. Das bedeutet nicht etwa eine Beleidigung Gottes; denn er hat uns in seiner Vorsehung solche Verpflichtungen gewissermaßen auferlegt. Und doch sage ich: diese unsere Liebe muß alle Menschen miteinander umfassen, ohne Ausnahme; hier gibt es keinen Unterschied zwischen Nichtgriechen und Griechen, Würdigen und Unwürdigen, Freund und Feind; denn wir sollen die Menschen ja in Gott und nicht an und für sich selber ansehen! Geben wir freilich diese Blickrichtung auf, so ist es kein Wunder, wenn wir in allerlei Irr­tümer uns hineinverstricken. Wollen wir also in unserer Nächstenliebe den rechten Weg finden, so dürfen wir unser Auge nicht zunächst auf den Menschen richten, der uns durch das, was vor Augen ist, vielleicht eher Haß als Liebe einflößen müßte, sondern auf Gott, der da will, daß wir die Liebe, die wir ihm zuteil wer­den lassen, auf alle Menschen ausgießen. So soll also dies das beständige Fundament sein: Der Mensch mag sein, wie er will, wir sollen ihn lieben, weil wir Gott lieben!

 

 

 

II,8,56

Deshalb war es eine Unwissenheit und Bosheit wie die Pest, daß die Scholasti­ker aus dem Gebot, keine Rache zu nehmen und die Feinde zu lieben, das doch schon einstmals den Juden bekannt war und nun allen Christen miteinander kundgemacht worden ist, sogenannte „evangelische Ratschläge“ gemacht haben, die man halten und auch nicht halten kann, ganz nach Belieben! Diesen „evangelischen Ratschlägen“ zu gehorchen, sollen allein die Mönche gebunden sein, deren höhere Gerechtigkeit gegen­über den gewöhnlichen Christen eben schon darin bestünde, daß sie sich freiwillig zur Erfüllung dieser „Ratschläge“ verpflichteten! Daß man diese „Ratschläge“ nicht

 

als Gesetze gelten lassen will, wird damit begründet, sie erschienen doch als zu große Last und zu schwer, zumal für Christen, die doch unter dem Gesetz der Gnade stün­den! So will man sich also erdreisten, Gottes ewiges Gesetz, das uns die Näch­stenliebe aufträgt, von sich aus abzutun? Ist denn im Gesetz auf einem einzigen Blatt eine derartige Unterscheidung (in „Gesetz“ und „evangelische Ratschläge“) zu finden? Treten uns da nicht immer wieder Gebote entgegen, die uns gar die Feindesliebe aufs strengste abfordern? Oder was soll es heißen, wenn uns befohlen wird, den hungrigen Feind zu speisen (Spr. 25,21), seinen Ochsen oder Esel, der in der Irre geht, auf den rechten Weg zurückzuführen oder ihm die Last leichter zu machen, wenn es ihm zu schwer wird? (Ex. 23,4.5). Sollen wir dem Tier unseres Feindes um seinetwillen Gutes tun — und ihn selber von unserem Wohlwollen ausschließen? Wieso, ist es nicht ewiges Wort des Herrn: „Mein ist die Rache, ich will vergelten“? (Deut. 32,35). Das wird doch an anderer Stelle noch deutlicher gemacht: „Du sollst dich nicht rächen und das Unrecht nicht nachtragen, das dir dein Nächster getan hat“ (Lev. 19,18). Solcherlei Gebote muß man entweder aus der Schrift herausreißen — oder aber man muß anerkennen, daß der Herr uns sein Gesetz gibt, und auf die Lüge verzichten, er erteilte bloß „Ratschläge“!

 

 

 

II,8,57

 

Aber was bedeuten denn die Worte, die man mit so ungereimten Bemerkungen hat verfälschen wollen? „Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, segnet, die euch fluchen, auf daß ihr Kin­der seid eures Vaters im Himmel ...“! (Matth. 5,44.45). Wer will da nicht mit Chrysostomus zu der Folgerung gelangen, daß ein so wichtiger Grund („auf daß ihr Kinder seid ...“) schon ein deutliches Zeichen sei, hier Vorschriften und nicht Ermahnungen zu sehen? (In dem Buche De compunctione cordis I). Denn was bleibt uns, wenn wir aus der Zahl der Kinder Gottes getilgt werden? Aber nach den scholastischen Klüglingen werden wohl einzig die Mönche wirklich Kinder Gottes sein, einzig sie es wagen dürfen, Gott als ihren Vater anzurufen! Was soll aber dann die Kirche noch sein? Die wird man mit dem gleichen Recht zu den Heiden und Zöllnern verweisen können! Denn Christus sagt: „So ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?“ (Matth. 5,46; Calvin sagt: „Heiden und Zöllner“). Da muß es ja wahrlich schön um uns stehen, wenn uns bloß der leere Name eines Christen gelassen, die Erbschaft des Himmel­reichs aber entrissen wird!

Nicht weniger tragkräftig ist auch die Beweisführung Augustins. Er sagt: „Wenn der Herr den Ehebruch verbietet, so untersagt er uns ebensosehr, das Weib eines Feindes, wie das eines Freundes zu berühren, verbietet er uns den Diebstahl, so sollen wir eben rein niemandem etwas entwenden, weder einem Freunde, noch einem Feind!“ (Von der christlichen Unterweisung I). So führt auch Paulus diese beiden Gebote „Du sollst nicht stehlen“ und „Du sollst nicht ehebrechen“ auf das Gebot der Liebe zurück und sagt, auch sie seien in dem Gebot enthalten: „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“ (Röm. 13,9). Da muß also Paulus ein verkehrter Ausleger des Gesetzes sein — oder aber es ergibt sich hier wirklich das Gebot, Feinde wie die Freunde zu lieben! Wer nun so mutwillig das Joch abwirft, das den Kindern Gottes aufliegt, der erweist sich damit wirklich als Kind des Satans! Man kann nur zweifeln, ob bei der Aufbringung dieses Dogmas mehr die Dummheit oder mehr die Unverschämtheit das Wort geführt hat. Denn die Alten haben es allesamt ohne Ausnahme als eine gewisse und unbestreitbare Überzeugung ausgesprochen, daß es sich hier um reine Gebote handelt! Es ist, wie sich aus Gregors eigener klarer Bestätigung ergibt, nicht einmal zu seiner Zeit angefochten gewesen; er redet je­denfalls, ohne eine Meinungsverschiedenheit in dieser Sache zu erwähnen, von Vor­schriften.

 

Was ist das auch für eine törichte Beweisführung, die die Scholastiker vor­bringen! Man sagt, diese Dinge seien für einen Christenmenschen ein zu schweres Joch. Als ob man etwas Schwereres ausdenken könnte als dies, man solle Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und aus allen Kräften! Angesichts dieses Ge­bots muß doch alles leicht erscheinen, sogar die Liebe zu den Feinden und die Ent­fernung aller Rachsucht aus unserem Inneren! Für uns in unserer Schwachheit ist gewiß alles zu schwer, selbst das kleinste Tüttelchen am Gesetz! Der Herr aber ist es, der uns kräftig macht: er muß geben, was er befiehlt — und dann mag er be­fehlen, was er will (Augustin). Daß der Christenmensch unter dem Gesetz der Gnade steht, bedeutet ja nicht, daß er willkürlich ohne Gesetz daherläuft, sondern daß er in Christus eingepflanzt ist, dessen Gnade ihn vom Fluch des Gesetzes frei macht und dessen Geist ihm das Gesetz ins Herz schreibt! Diese Gnade nannte Paulus uneigentlich ein Gesetz (z. B. Röm. 8,2); er stellt sie damit in Beziehung zum Gesetze Gottes, dem er sie vergleichsweise gegenüberstellt. Die Scholastiker aber treiben mit dem Wort „Gesetz“ ein nichtiges Spiel!

 

 

 

II,8,58

Nicht besser ist es auch, daß die Scholastiker die verborgene Gottlosigkeit, die der ersten Tafel des Gesetzes zuwider ist, und auch die offene Übertretung des letzten Gebotes (also die böse Lust) eine „läßliche“ Sünde nennen (peccatum veniale). Sie stellen die Sache so dar, es handle sich um eine Begierde ohne entschlossene innere Bejahung, die nicht lange im Herzen bleibe. Ich bin dagegen der Überzeugung, daß eine solche Begierde gar nicht ohne Verletzung der Forderungen des Gesetzes im Her­zen aufkommen kann. So wird uns verboten, andere Götter zu haben. Wenn nun unsere Seele, von der Tücke des Unglaubens umkämpft, sich nach der anderen Seite umsieht und sie dann plötzlich die Neigung beschleicht, ihr Heil auf etwas anderes zu bauen (als auf Gott allein) — woher kann dann ein solcher törichter Antrieb kom­men als daher, daß in unserem Herzen noch Raum ist, der solchen Anfechtungen offen ist? Wir wollen den Beweis nicht in die Länge ziehen; kurz: wir haben ja das Gebot: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüte“; ist nun unser Herz mit allen seinen Kräften nicht ganz auf die Liebe zu Gott gerichtet, so bedeutet das bereits ein Abweichen vom Gehorsam gegen das Gesetz. Denn die Feinde, die sich in unserem Gewissen regen, um Gottes Herrschaft umzustoßen und seine Gebote zu umgehen, beweisen ja damit schon, daß Gottes Thron darin noch nicht fest genug steht! Wie wir gezeigt haben, bezieht sich aber gerade darauf das zehnte Gebot. Da kommt in unserem Herzen ein heftiges Verlangen auf: schon sind wir des bösen Begehrens schuldig und offenbar Übertreter des Gesetzes! Denn der Herr verbietet uns nicht nur, zum Schaden unseres Nächsten etwas zu überlegen oder ins Werk zu setzen, sondern er untersagt uns jede Reizung und Aufwallung der Lust! Auf der Übertretung des Gesetzes aber liegt immer Gottes Fluch! Deshalb haben wir keinerlei Anlaß, diese leisesten Regungen der Begierde dem Todesurteil Gottes zu entziehen. Augustin sagt: „Wir sollen uns bei der Betrachtung der Sünde keiner trügerischen Waage bedienen, auf der wir dann wägen, was wir wollen und wie wir wollen, ganz nach unserem Ermessen, sollen auch nicht sagen: ‚das ist schwer’ — ‚das ist leicht’; nein, wir sollen uns aus der Heiligen Schrift, gewissermaßen aus des Herrn eigener Schatzkammer, die rechte, göttliche Waage nehmen und danach abwägen, was schwerer ist — nein, nicht einmal wägen, sondern anerkennen, wie es der Herr gewogen hat!“ (Von der Taufe, gegen die Donatisten II,6). Wie steht es aber in der Schrift (mit jener angeblichen Unterscheidung in schwerere und leichtere Sün­den)? Paulus sagt: „der Tod ist der Sünde Sold“ — und bezeugt damit, daß jeden­falls ihm von dieser verwerflichen Unterscheidung nichts bekannt ist! Wir sind ja auch zur Heuchelei nur allzu geneigt, und deshalb war wirklich kein Polster nötig, um unser stumpfes Gewissen noch mehr einzuschläfern!

 

II,8,59

 

Wenn man doch beachtete, was Christus sagen will, wenn er spricht: „Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich“ (Matth. 5,19)! Gehören dazu nicht auch die, welche die Übertretung des Gesetzes so zu verharmlosen wagen, als ob sie nicht des Todes würdig wäre? Man sollte doch bedenken, nicht einfach was da geboten wird, sondern wer da gebietet; denn auch in der mindesten Übertretung des von ihm uns aufge­tragenen Gesetzes wird doch seiner Autorität Eintrag getan! Ist es denn jenen Leuten einfach gleichgültig, ob Gottes Majestät in irgendeinem Stück verletzt wird? Auch dies ist zu beachten: wenn uns Gott in seinem Gesetz seinen Willen kund­getan hat, so ist ihm doch wohl alles, was dem Gesetz widerspricht, auch selbst zuwider! Will man aber meinen, Gottes Zorn sei so waffenlos, daß nicht auf die Übertretung die Todesstrafe folgen müsste? Auch hat er ja selber — sofern man noch auf sein Wort hören und nicht lieber seine reine Wahrheit mit sinnlosen Spitz­findigkeiten entstellen will! — deutlich genug ausgesprochen: „Welche Seele sündigt, die soll sterben!“ (Ez. 18,20). Oder auch, wie ich bereits oben anführte: „Der Tod ist der Sünde Sold“ (Röm. 6,23). Die Klüglinge aber geben zwar die Sünde zu, weil sie sie nicht ableugnen können — aber daß sie den Tod bringe, das wollen sie be­streiten! Ich meine, jetzt hätten sie genug getollt — und nun sollten sie endlich klug werden! Wollen sie aber ihren Wahnsinn weiter treiben, so wollen wir uns nicht mehr um sie kümmern. Die Kinder Gottes sollen jedenfalls daran festhalten, daß alle Sünde zum Tode führt, weil sie Aufruhr wider Gottes Willen ist, der notwendig seinen Zorn hervorruft, und weil sie Übertretung seines Gesetzes ist, auf der ausnahmslos Gottes Gericht steht! Daß aber die Verfehlungen der Heiligen „läßlich“ sind, hat seinen Grund nicht in diesen Verfehlungen selber, sondern in Gottes Erbarmen, das ihnen Vergebung gewährt!

Neuntes Kapitel

 

 

 

Christus war zwar schon den Juden unter dem Gesetz bekannt; er tritt uns aber erst im Evangelium klar entgegen.

 

 

 

II,9,1

Nicht umsonst hat sich Gott in der alten Zeit durch Reinigungen und Opfer als Vater bezeugen wollen, nicht vergebens hat er sich sein erwähltes Volk zum Eigentum genommen. Denn er hat sich unzweifelhaft schon damals in demselben Ebenbilde zu erkennen gegeben, in dem er uns jetzt in vollem Glanze erscheint! Wir können das bei Maleachi sehen. Er gebietet zunächst den Juden, sich an das Gesetz Moses zu halten und es fort und fort mit Eifer zu bewahren — denn nach seinem Tode sollte ja das Prophetenamt eine Zeitlang aufhören! Dann aber kündigt er an, es werde bald „aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal. 4,2 = 3,20). Damit bezeugt er, daß das Gesetz seine Kraft daran beweise, die Frommen in der Erwar­tung auf das Kommen Christi zu halten, daß aber durch Christi Ankunft noch ein viel helleres Licht aufgehen werde. So sagt auch Petrus, die Propheten hätten eif­rig geforscht nach dem Heil, das nun offenbar geworden sei; kundgemacht sei ihnen aber eine solche Botschaft, die sie nicht für sich oder für ihr Zeitalter, sondern für uns aussprechen sollten und die ja doch das meint, was uns im Evangelium ver­kündigt wird! (1. Petr. 1,10.12). Gewiß war ihre Lehre auch für das Volk des Alten Bundes nicht ohne Nutzen, ist auch an ihnen selbst nicht wirkungslos geblie­ben; aber sie haben eben das köstliche Kleinod, das uns Gott durch ihre Hand zu­kommen ließ, selbst nicht empfangen! Denn heute tritt uns jene Gnade, von der sie gezeugt haben, nahe vor die Augen; und während sie nur einen kleinen Vorge­schmack davon hatten, dürfen wir sie reichlicher genießen. So hat auch Christus selber versichert, daß wir nach dem Maße der Gnade hoch über den Juden stehen — obwohl er selbst doch auch sagt, Mose habe von ihm Zeugnis abgelegt! (Joh. 5,46). Denn er ruft seinen Jüngern zu: „Selig sind die Augen, die da sehen, was ihr sehet; selig sind die Ohren, die da hören, was ihr höret. Denn viele Propheten und Könige haben begehrt zu sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört“ (Matth. 13,16.17; Luk. 10,23.24). Das ist gewiß keine geringe Lobeserhebung der Offenbarung im Evangelium wenn uns Gott sogar über die heiligen Väter stellt, die doch durch besondere Gottes­furcht sich auszeichneten. Daß Christus anderseits auch sagt: „Abraham sah meinen Tag — und freute sich!“ (Joh. 8,56), widerspricht dem in keiner Weise. Denn war es auch nur ein trüber, unklarer Blick in weite Ferne, so war doch die Gewißheit rechter Hoffnung vorhanden; daher kam denn auch die Freude, die den heiligen Erzvater bis an den Tod begleitet hat! Auch das Wort Johannes des Täufers: „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn aber, der in des Vaters Schoß ist, der hat es uns verkündigt“ (Joh. 1,18), schließt die Frommen, die vor­her verstorben waren, nicht von der Gemeinschaft des Erkennens und der Erleuch­tung aus, wie es uns beides in der Person Christi entgegenstrahlt! Er vergleicht unsere Lage mit der ihrigen und zeigt, wie die Geheimnisse, die sie nur im Schatten undeutlich erschaut haben, nun uns offenbart sind. In ähnlicher Weise spricht das auch sehr schön der Verfasser des Hebräerbriefs aus: „Nachdem vorzeiten Gott manchmal und mancherleiweise geredet hat... durch die Propheten, hat er am letz­ten... zu uns geredet durch den Sohn!“ (Hebr. 1,1.2). Denn dieser Eingeborene, der uns ja heute der „Glanz der Herrlichkeit“ und „das Ebenbild des Wesens“ Gottes ist (Hebr. 1,3), der war einst auch den Juden bekanntgemacht; er ist, wie wir bereits aus Paulus angeführt haben, der Führer auch des alten Bundesvolks in die Freiheit gewesen! (gedacht ist wohl an 1. Kor. 10,4). Und doch bleibt es auch wahr, was derselbe Paulus an anderer Stelle ausspricht: „Gott, der da hieß das Licht aus

 

der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, auf daß durch uns entstünde die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes im Angesichte Jesu Christi“ (2. Kor. 4,6). Denn indem Gott in diesem seinem Eben­bilde erschien, wurde er gewissermaßen sichtbar, während sein Bild zuvor dunkel und schattenhaft gewesen war! Um so übler und abscheulicher ist es aber, wenn heutzutage Menschen in ihrer Undankbarkeit am hellen Mittage blind dastehen! So sagt auch Paulus, diesen Menschen sei der „Sinn“ von dem Satan „verblendet“ worden, daß sie die Herrlichkeit Christi nicht sehen, obwohl sie ohne jeden Vorhang im Evan­gelium uns entgegenstrahlt! (2. Kor. 4,4).

 

 

 

II,9,2

 

Unter dem Evangelium verstehe ich also die klare Enthüllung des Geheim­nisses Christi. Da nun Paulus das Evangelium als „Lehre des Glaubens“ bezeich­net (1. Tim. 4,6), so gebe ich zu, daß zum Evangelium auch jene immer wieder im Gesetz vorkommenden Verheißungen von der Vergebung der Sünden aus freier Gnade gehören, durch die Gott die Menschen mit sich versöhnt. Denn Paulus stellt den Glauben in Gegensatz zu der Angst, die das Gewissen in die Enge treibt und quält, wenn der Mensch sich mit eigenen Werken das Heil verdienen soll. Daher umfaßt also „Evangelium“ im weiteren Sinne alle Zeugnisse göttlicher Barmherzig­keit und väterlicher Freundlichkeit, die Gott einst den Vätern gegeben hat; in besonderer Weise bezeichnet aber „Evangelium“ die Offenbarung der in Christus uns dargebotenen Gnade; dafür spricht nicht nur der all­gemeine Gebrauch des Wortes, sondern es gründet sich auf die Autorität Christi und seiner Apostel (Matth. 4,17-23; 9,35). Deshalb heißt es von dem Herrn ja auch zur Bezeichnung seines besonderen Berufs, er habe das „Evangelium vom Reich“ gepredigt. Und Markus beginnt sein Evangelium mit der Überschrift: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ (Mark. 1,1). Es ist auch nicht nötig, noch weiter Stellen aufzuführen: die Sache ist zu bekannt. So hat also Christus nach Paulus in seinem Kommen „Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium“ (2. Tim. 1,10). Da meint nun Paulus nicht, die Väter seien bis zur Fleischwerdung des Sohnes Gottes in Finsternis und Todesschatten gewesen. Er will aber die hohen Vorzüge des Evangeliums bemerkbar machen und erklärt, daß es eine neue und bis dahin unbekannte Botschaft gewesen sei, in der Gott seine Verheißung erfüllte, so daß also in der Person des Sohnes die Wahrheit der Verheißung ans Licht kam. Gewiß haben die Gläubigen zu allen Zeiten die Wahrheit des Paulus­wortes erfahren: „Alle Gottesverheißungen sind Ja in ihm und Amen in ihm“ (2. Kor. 1,20); denn die Verheißungen waren ja in ihrem Herzen versiegelt. Aber er hat doch in seinem Fleische alles vollbracht, was zu unserem Heil gehört, und des­halb mußte die Kundmachung der Sache selbst auch in einer besonderen Botschaft erfolgen. Daher auch das Wort Christi: „Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn“ (Joh. 1,51). Dabei scheint er an jene Leiter anzuspielen, die einst dem Erzvater Jakob im Gesicht gezeigt wurde, aber er deutet doch die besondere Herrlichkeit seines Kom­mens mit der Bemerkung an, daß er uns das Tor des Himmels aufgetan hat, so daß wir freien Zugang haben!

 

 

 

II,9,3

Hier muß man sich aber vor dem teuflischen Wahn des Servet hüten; der will die Größe der Gnade Christi gewaltig erheben, gibt wenigstens vor, es zu wollen — und tut deshalb alle Verheißungen gänzlich ab, als ob sie mit dem Gesetz zusam­men ihr Ende erreicht hätten. Er behauptet, mit dem Glauben an das Evan­gelium werde uns die Erfüllung aller Verheißungen zuteil. Als ob zwischen uns und Christus kein Unterschied wäre! Gewiß, ich habe selbst oben be­tont, daß Christus unser Heil so vollständig uns erworben hat, daß nichts mehr übrig ist. Aber es wäre verkehrt, daraus zu schließen, wir wären nun schon im vollen Besitz der von ihm uns geschenkten Wohltaten — als ob das Wort des

 

Paulus falsch wäre, wonach all unsere Seligkeit in der Hoffnung verborgen ist (Röm. 8,24; Kol. 3,3)! Gewiß, wir gehen durch den Glauben an Christus vom Tode zum Leben hinüber; aber wir dürfen dabei doch die Worte des Johannes nicht übersehen: „Wir sind nun Gottes Kinder; aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1. Joh. 3,2). Christus bietet uns also gewiß die gegenwärtige Fülle aller geistlichen Güter im Evangelium an; aber der Genuß dieser Güter bleibt doch stets unter der Wacht der Hoffnung, bis wir dieses verwesliche Fleisch ausziehen und in die Herrlichkeit unseres Herrn verwandelt werden, der uns vorausgegangen ist! Inzwischen sollen wir nach der Weisung des Heiligen Geistes an den Verheißungen festhalten — und dessen Autorität gilt uns mehr als alles Gebell jenes unsauberen Hundes! Denn nach dem Zeugnis des Paulus hat die „Gottseligkeit“ die „Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens“ (1. Tim. 4,8). Und deshalb nennt sich auch Paulus einen Apostel Christi „nach der Verheißung des Lebens in Christo Jesu“ (2. Tim. 1,1). An anderer Stelle (2. Kor. 7,1; vgl. 6,16-18!) erinnert er uns daran, daß wir die gleichen Verhei­ßungen haben, wie sie einst den Vätern gegeben worden sind! Und schließlich faßt er unsere ganze Seligkeit darin zusammen, daß wir mit dem Heiligen Geiste als dem „Geiste der Verheißung“ versiegelt sind (Eph. 1,13). Wir können an Christus nur soweit Anteil haben, als wir ihn in seinen Verheißungen erfassen! So kommt es, daß er zwar selber in unserem Herzen wohnt — und wir doch „ferne wallen von dem Herrn“; „denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen!“ (2. Kor. 5,7). Dies beides, daß wir in Christus alles haben, was zur Vollkommenheit himmlischen Lebens gehört — und daß der Glaube doch ein Schauen von Gütern ist, die man nicht sieht (vgl. Hebr. 11,1), paßt nicht schlecht zusammen. Doch muß man am Wesen und der Art der Verheißungen den Unterschied beachten: denn das Evangelium weist mit dem Finger auf das, was das Gesetz nur schatten­haft unter Vorbildern uns abbildet!

 

 

 

II,9,4

 

Von hier aus läßt sich auch der Irrtum widerlegen, daß man Gesetz und Evan­gelium ausschließlich so gegenüberstellt, wie Werkgerechtigkeit und gnädig zugerech­nete Gerechtigkeit. Diese Gegenüberstellung ist an sich keineswegs verwerflich; Pau­lus versteht ja oft unter dem Gesetz jene Richtschnur für das Leben, in der Gott von uns fordert, was ihm zukommt, uns nur dann eine Lebenshoffnung macht, wenn wir in allen Stücken gehorsam sind, und anderseits mit dem Fluche uns droht, wenn wir im geringsten abweichen; das sind die Stellen, an denen Paulus davon spricht, wie wir Gottes Wohlgefallen aus reiner Gnade erlangen und in verge­bender Barmherzigkeit für gerecht erklärt werden, weil ja von solchem Halten des Gesetzes, dem der Lohn verheißen ist, doch keine Rede sein kann! So ist es durchaus angemessen, wenn Paulus die Gerechtigkeit aus dem Gesetz und die Gerechtigkeit aus dem Evangelium gegensätzlich einander gegenüberstellt (z. B. Röm. 3,21ff.; Gal. 3).

Aber das Evangelium tritt nicht in der Weise an die Stelle des Gesetzes, daß es etwa einen anderen Weg zum Heil eröffnete, sondern es sollte vielmehr die Ver­heißungen des Gesetzes beglaubigen und in Wirksamkeit setzen, zum Schatten den Körper selbst fügen! Wenn doch Christus sagt: „Das Gesetz und die Propheten haben geweissagt bis auf Johannes“ (Matth. 11, 13; Luk. 16,16), so liefert er damit nicht die Väter dem Fluch aus, dem die Knechte des Gesetzes ja gar nicht entgehen können, sondern er zeigt nur, daß sie noch in den Anfangsgründen steckten und deshalb die Höhe der Lehre des Evangeliums nicht erreichten. Daher nennt auch Paulus das Evangelium eine „Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben“ (Röm. 1,16) und setzt dann nicht lange danach noch hinzu, dieses Evangelium sei „bezeugt vom Gesetz und den Propheten“ (Röm. 3,21). Und am Ende des Römerbriefs nennt

 

er die „Predigt von Jesu Christo“ eine Offenbarung des „Geheimnisses, das von der Welt her verschwiegen gewesen ist“ (Röm. 16,25), setzt aber dann zur Erklärung mildernd hinzu: „auch kundgemacht durch der Propheten Schriften“! (Röm. 16,26). Daraus wird deutlich, daß sich beim Vergleich mit dem ganzen Gesetz das Evan­gelium nur durch klarere Bezeugung hervorhebt; indessen heißt es wegen des un­schätzbaren Reichtums der Gnade, die uns in Jesus Christus dargeboten wird, nicht ohne Grund, daß durch sein Kommen Gottes himmlisches Reich auf Erden aufge­richtet ist!

 

 

 

II,9,5

 

Zwischen Gesetz und Evangelium steht Johannes der Täufer; sein Amt steht in der Mitte, und es hat mit beiden Verwandtes! Einerseits nennt er Christus „Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“, und spricht damit den Hauptinhalt des Evangeliums aus. Aber anderseits hat er doch die unendliche Kraft und Herrlichkeit, die sich hernach in Christi Auferstehung erwiesen hat, noch nicht verkündigt, und darum stellt ihn Christus nicht den Aposteln gleich (Matth. 11,11). Denn das ist der Sinn der Worte des Herrn: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Unter allen, die von Weibern geboren sind, ist nicht aufgekommen, der größer sei denn Johannes der Täufer — der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer denn er!“ Er rühmt hier nicht die Person von Menschen; vielmehr stellt er zunächst den Johan­nes über alle Propheten und hebt dann doch die Verkündigung des Evangeliums auf den allerhöchsten Platz; sie heißt ja sonst auch „das Himmelreich“! Johannes selber gibt auch gelegentlich die Auskunft, er sei nur eine „Stimme“ (Joh. 1,23); es scheint, als ob er sich damit unter die Propheten stellte; er tut das aber nicht aus erheuchelter Demut, sondern er will zeigen, daß ihm keine eigene Botschaft aufgetragen ist, sondern daß er nur das Amt eines Vorläufers hat, wie es Maleachi geweissagt hatte: „Siehe, ich sende den Propheten Elia, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt“ (Mal. 4,5 = 3,23). Er tut ja auch in seiner ganzen Amtsführung nichts, als daß er Christus Jünger zubereitet! Und er be­weist auch selbst aus dem Propheten Jesaja (40,3), daß ihm Gott dies als Beruf zugewiesen habe. In diesem Sinne nennt ihn Christus „ein brennendes und schönes Licht“ (Joh. 5,35) — denn der volle Tag war noch nicht aufgegangen! Trotzdem kann man ihn ohne Bedenken zu den Verkündern des Evangeliums rechnen; auch hat er die gleiche Taufe geübt, wie sie dann später auch den Aposteln aufgetragen wurde. Aber was er begann, das ist dann erst später, nach Christi Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit, in freierem Fortschreiten von den Aposteln vollendet worden!

Zehntes Kapitel

 

Von der Ähnlichkeit des Alten und Neuen Testaments.

 

 

 

II,10,1

 

Wie sich aus dem Vorigen bereits ergibt, sind alle Menschen, die sich Gott vom Anbeginn der Welt an zu seinem Volke erwählt hat, mit ihm nach dem gleichen Gesetz und durch das gleiche Band der Lehre verbunden gewesen, wie sie auch unter uns noch in Kraft sind. Aber es liegt sehr viel daran, diesen Hauptpunkt der Lehre festzuhalten, und deshalb will ich anhangsweise folgende Frage näher be­handeln: Die Väter sind doch mit uns des gleichen Erbes teilhaftig gewesen und haben von der Gnade des gleichen Mittlers das Heil erwartet wie wir — wie aber unterschied sich denn ihr Zustand in jenem alten Bunde von dem unsrigen? Die Beweise, die wir aus dem Gesetz und den Propheten angeführt haben, konnten nun zwar dartun, daß die Richtschnur der Frömmigkeit im Volke Gottes sich nie ver­ändert hat. Aber es wird doch bei den kirchlichen Schriftstellern oft und viel vom Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament geschrieben, und das könnte einem weniger klarsehenden Leser allerhand Anstöße bereiten; deshalb wollen wir diese Dinge, wie es zweckmäßig ist, in einem besonderen Abschnitt gründlich durchdenken. Das wäre ohnehin schon recht nützlich; aber dieser merkwürdige Narr Servet und einige andere wildwütige Schwärmer aus der Sekte der Wiedertäufer machen es zur unabweisbaren Notwendigkeit; denn diese Leute denken über das Volk Israel nicht anders als über eine Schweineherde, die von dem Herrn, wie sie spöttisch vorgeben, ohne alle Hoffnung auf ein ewiges Leben gemästet worden sei! Diesen verderblichen Irrtum wollen wir von den Frommen fernhalten; wir wollen auch all die Schwierigkeiten beheben, die mit der Annahme einer Verschiedenheit zwischen Altem und Neuem Testament sogleich zu entstehen pflegen, und deshalb wollen wir im Vorbei­gehen zusehen, was Altes und Neues Testament Ähnliches und was sie Verschiedenes an sich tragen, was das für ein Bund war, den der Herr einst vor dem Kommen Christi mit den Israeliten geschlossen hat, und was das für ein Bund ist, den er nun nach der Offenbarung Christi im Fleische mit uns gemacht hat!

 

 

 

II,10,2

 

Beides kann man nun eigentlich mit kurzen Worten deutlich machen. Der Bund mit den Vätern ist im Wesen und in der Sache von dem unsrigen nicht zu unter­scheiden, sondern ein und dasselbe. Verschieden ist dagegen die äußere Darbietung. Aber aus solch kurzem Satz kann niemand eine klare Einsicht gewinnen, und deshalb müssen wir, wenn unsere Untersuchung etwas nützen soll, notwendig in eine nähere Erörterung eintreten. Indessen wird es überflüssig sein, zum Aufweis der Ähn­lichkeit oder besser Einheit der beiden Testamente die einzelnen Bemerkungen, die wir bereits anführten, aufs neue zu wiederholen; auch ist es nicht gut, in diese Beweisführung Dinge einzumischen, die noch an anderer Stelle zu bringen sind.

Es ist hier wesentlich auf drei Hauptpunkte zu achten. Erstens müssen wir festhalten, daß den Juden nicht fleischliches Wohlleben und Glück als Ziel vor Augen gestellt worden ist, nach dem sie trachten sollten. Sie sind doch vielmehr zur Hoffnung auf das unsterbliche Leben als Kinder angenommen worden, und der Glaube an diese Annahme ist ihnen durch Offenbarung, Gesetz und Prophetie zur Gewißheit gemacht worden. Zweitens: der Bund, zu dem sie der Herr mit sich selber versöhnte, beruhte in keiner Weise auf ihrem Verdienst, sondern einzig und allein auf dem Erbarmen Gottes, der sie berief! Und drittens: sie haben Christus als ihren Mittler gehabt und erkannt, durch den sie mit Gott in Gemeinschaft kamen und seiner Verheißungen teilhaftig wurden. Das zweite Stück ist bisher noch nicht genügend deutlich gemacht und wird deshalb an seinem Platze noch ausführlich behandelt werden. Da werden wir denn aus vielen und deutlichen Zeugnissen der Propheten den Nachweis erbringen, daß alles, was der Herr je seinem Volke Gutes

 

getan und verheißen hat, aus reiner Güte und Barmherzigkeit geschehen ist. Das dritte ist schon hie und da deutlich ans Licht getreten, und das erste haben wir ebenfalls bisher nicht unberührt gelassen.

 

 

 

II,10,3

 

Weil aber der erste Punkt in unserem Zusammenhang von großer Bedeutung ist und aus ihm für uns mancherlei Streitigkeiten entstehen, so wollen wir uns be­sondere Mühe um die Lösung der an ihm entstehenden Fragen geben; freilich soll dabei auch gleich mit angemerkt werden, was noch zur Erläuterung der beiden anderen Stücke nötig ist; wir wollen das gelegentlich einfügen. Den Zweifel an allen drei Stücken zugleich behebt Paulus mit seinem Wort: Gott der Vater hat das Evangelium von seinem Sohne, das er zu seiner Zeit offenbarte, „zuvor verheißen durch seine Propheten in der Heiligen Schrift“ (Röm. 1,2). Dazu kommt auch Röm. 3,21: Die Glaubensgerechtigkeit, die das Evangelium doch selber ver­kündigt, ist „offenbart und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“. Das Evan­gelium hält des Menschen Herz nicht bei den Freuden des irdischen Lebens auf, sondern ermuntert es zur Hoffnung auf die Unsterblichkeit; es fesselt uns nicht an Erdenvergnügen, sondern verkündigt uns die Hoffnung, die uns im Himmel beige­legt ist, und versetzt uns gewissermaßen dahin! So umschreibt es Paulus auch an anderer Stelle: „... durch welchen ihr auch, da ihr gläubig wurdet, versiegelt wor­den seid mit dem heiligen Geist der Verheißung, welcher ist das Pfand unseres Erbes zu unserer Erlösung, daß wir sein Eigentum würden“ (Eph. 1,13f). Oder auch: „Nachdem wir gehört haben von eurem Glauben an Jesum Christum und von der Liebe zu allen Heiligen, um der Hoffnung willen, die euch beigelegt ist im Himmel, von welcher ihr zuvor gehört habt durch das Wort der Wahrheit im Evangelium“ (Kol. 1,4f). Oder: „ ...darein er euch berufen durch unser Evange­lium zum Teilhaben an der Herrlichkeit unseres Herrn Jesu Christi“ (2. Thess. 2,14; nicht Luthertext, aber richtiger als dieser). Darum heißt das Evangelium auch ein „Wort des Heils“ oder „eine Gotteskraft zu erretten, die daran glauben“ oder das „Himmelreich“. Ist aber die Lehre des Evangeliums geistlich, und öffnet sie den Zugang zu unverweslichem Leben, so dürfen wir nicht meinen, daß die Alten, denen es doch auch verheißen und verkündigt wurde, nun wie das Vieh dahingelebt, jede Sorge um die Seele beiseite geschoben und geringgeschätzt und nur dem Leibe ein gutes Leben zu bereiten im Sinn gehabt hätten! Hier soll mir auch keiner spitz­findig einwenden, die Verheißungen, die bezüglich des Evangeliums im Gesetz und in den Propheten niedergelegt sind, seien doch für das Volk des Neuen Bundes be­stimmt. Denn Paulus erklärt kurz nach jener Stelle, in der er von der Verheißung des Evangeliums sprach: „Wir wissen aber, daß, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind!“ (Röm. 3,19). Gewiß tut er das zum Zweck einer ganz anderen Beweisführung; aber so vergeßlich war Paulus nun nicht, daß er beim Niederschreiben dieses Verses, in dem er also das Gesetz mit seiner ganzen Lehre in Wirklichkeit den Juden gelten läßt, daß er also beim Niederschreiben dieses Verses vergessen hätte, was er vorher (Röm. 1,2 — dann nachher 3,21) über die Verheißung des Evangeliums im Gesetz gesagt hatte! So hat das Alte Testament nach dem klaren Zeugnis des Paulus besonders auf das zukünftige Leben hingewiesen; denn er sagt ja, es enthalte die Verheißungen des Evangeliums!

 

 

 

II,10,4

Auf die gleiche Weise ist nun zu erkennen, daß der Alte Bund auf Gottes freiem Erbarmen beruht hat und durch Christi Mittlertum bekräftigt worden ist. Denn auch die Verkündigung des Evangeliums macht uns ja kund, daß der Sünder nur durch Gottes väterliche Freundlichkeit und ohne all sein eigenes Verdienst gerecht­fertigt wird; und der ganze Inhalt dieser väterlichen Huld Gottes ist in Christus beschlossen! Wer will sich aber erkühnen, die Kenntnis Christi den Juden abzu­sprechen, mit denen doch der Bund des Evangeliums geschlossen worden ist, dessen einziger Grund Christus ist? Wer will sie von der Wohltat des uns aus Gnaden

 

zukommenden Heils ausschließen, da ihnen doch die Lehre von der Glaubensgerech­tigkeit zuteil geworden ist? Dieser an sich klaren Sache brauchen wir nicht lange nachzugehen; denn da haben wir des Herrn eigenes Zeugnis: „Abraham ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich“ (Joh. 8,56). Und was Christus hier von Abraham sagt, das hat nach dem Zeugnis des Apostels vom Volke der Gläubigen ganz allgemein gegolten: „Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ (Hebr. 13,8). Denn er spricht an dieser Stelle nicht einfach von Christi ewiger Gottheit, sondern von seiner Kraft, die sich den Gläubigen zu allen Zeiten offenbart hat. Deshalb sprechen es auch die Jungfrau Maria (beata virgo) und Zacharias in ihren Lobgesängen aus, wie in der Heils­offenbarung in Christus die Verheißungen eingelöst sind, die der Herr einst dem Abraham und den Erzvätern zuteil werden ließ! (Luk. 1,54f.72f.). Wenn der Herr durch die Offenbarung seines Christus seinen Eid, den er den Vätern ge­schworen hatte, einlöste, so muß man bekennen, daß Christus und das ewige Leben allezeit der Zielpunkt gewesen sind!

 

 

 

II,10,5

 

Nach Paulus haben aber die Juden nicht nur an der gleichen Bundesgnade Anteil wie wir, sondern es sind ihnen auch bereits die gleichen Bundeszeichen (Sakramente) gegeben worden. Da will Paulus die Korinther durch die Anführung jener Strafen, mit denen nach dem Bericht der Schrift die Israeliten einst gezüchtigt worden sind, davon abschrecken, nun ihrerseits in die gleichen Untaten zu verfallen; dazu fängt er folgendermaßen an: Wir hätten gar keinen Grund, uns irgendein Vorrecht herauszunehmen, kraft dessen wir etwa der Strafe Gottes entgehen könn­ten, welche Israel einst getroffen hat; denn der Herr hätte ja ihnen die gleichen Wohltaten zuteil werden lassen und ihnen auch durch die gleichen Bundeszeichen die Herrlichkeit seiner Gnade vor Augen geführt (1. Kor. 10,1.11). Damit will er sagen: Wenn ihr meint, außer Gefahr zu sein, weil ihr durch die Taufe versiegelt seid und tagtäglich das Abendmahl empfangt und doch auf beidem herrliche Ver­heißungen liegen, und wenn ihr unterdessen Gottes Güte schmählich verachtet und euch leichtsinnig gehen laßt, so wisset, daß auch die Juden solche heiligen Zeichen hatten — und daß der Herr dennoch in furchtbarer Strenge seine Gerichte an ihnen vollzogen hat! Sie haben die Taufe empfangen, als sie durchs Meer gingen, und durch die Wolke, die sie vor der Sonnenglut bewahrte. Man sagt, dieser Durchzug durchs Meer sei eine fleischliche Taufe gewesen, die unserer geistlichen Taufe nur in einer bestimmten Hinsicht ähnele. Wäre das aber wahr, so würde der Beweis des Paulus nicht gelingen können; denn er will hier doch gerade zeigen, daß der Christ auf Grund seiner Taufe keinerlei Vorzugsstellung gegenüber den Juden für sich in Anspruch nehmen kann. Diesem Einwurf steht auch das Nachfolgende entgegen: „Denn sie haben mit uns einerlei geistliche Speise gegessen und einerlei geistlichen Trank getrunken“ — worunter der Apostel Christus ver­steht! (1. Kor. 10,3.4).

 

 

 

II,10,6

Um nun diesem Spruch des Paulus die Beweiskraft zu nehmen, führt man das Wort Christi an: „Eure Väter haben Manna gegessen in der Wüste und sind ge­storben. Wer aber isset mein Fleisch ..., der wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh. 6,49.54). Aber diese beiden Zitate (1. Kor. 10 und Joh. 6) lassen sich ohne jede Mühe zusammenbringen. Der Herr hat es mit Leuten zu tun, die einzig durch die leibliche Speise meinten satt werden zu können und sich um die Speise für die Seele keine Sorge machten. Da paßt er seine Rede in etwa an ihr Verständnis an und vergleicht besonders, um ihnen faßlich zu werden, das Manna mit seinem Leibe. Sie verlangten ja von ihm, er solle zur Bestätigung seiner Autorität seine Kraft durch ein Wunder beweisen, wie es Mose in der Wüste getan hatte, als er das Manna vom Himmel herabflehte. Unter dem Manna verstanden sie aber nur das Mittel gegen den fleischlichen Hunger, der damals das Volk anfocht; das höhere Geheimnis,

 

das Paulus dahinter sah, bemerkten sie nicht. Nun will ihnen also Christus dartun, daß sie von ihm eine viel herrlichere Wohltat erwarten sollten als die, welche einst nach ihren Worten Mose den Vätern erwiesen hatte — und dazu verwendet er nun diesen Vergleich. „War es nach eurer Meinung schon ein großes und denkwürdiges Wunder, daß der Herr seinem Volke, um es nicht in der Wüste umkommen zu lassen, durch Mose diese Himmelsspeise gab, von der es nun eine Zeitlang bestehen konnte — so denkt doch, wieviel herrlicher die Speise sein muß, die zum ewigen Leben führt!“ Da sehen wir nun, warum der Herr das Wichtigste am Manna hier gar nicht erwähnt und nur seinen geringsten Nutzen nennt! Es geschah eben, weil ihm die Juden, um ihn zu versuchen, den Mose als Beispiel vorhielten, der dem Volke in seiner Not mit dem Manna zu Hilfe gekommen war: da gibt nun der Herr zur Antwort, daß ihm eine viel herrlichere Wohltat anvertraut sei als die fleischliche Erziehung des Volkes, die viel geringer war — und die sie doch allein so hoch achteten! Paulus dagegen war (im Gegensatz zu Jesu Hörern) überzeugt, daß der Herr mit dem Manna, das er vom Himmel regnen ließ, nicht nur den Leib hatte speisen wollen, sondern es als geistliches Geheimnis ausgeteilt hatte, um die in Christus geschehende geistliche Lebendigmachung anzudeuten; und deshalb über­ging er diese Bedeutung des Manna, die ja der Betrachtung besonders wert ist, nicht. Daraus ergibt sich dann aber deutlich, daß der Herr den Juden nicht nur die gleichen Verheißungen ewigen und himmlischen Lebens hat zuteil werden lassen, deren er uns heute würdigt, sondern daß diese Verheißungen auch durch die gleichen wahrhaft geistlichen Sakramente ihre Versiegelung empfingen. — Hierüber hat Augustin ausführlich gegen den Manichäer Faustus geschrieben.

 

 

 

II,10,7

 

Vielleicht möchte aber der Leser Zeugnisse aus dem Gesetz und den Propheten hören, um daraus zu ersehen, daß auch die Väter an dem geistlichen Bunde Anteil hatten — wie uns das ja Christus und die Apostel bereits bezeugten. Diesem Be­gehren komme ich gern nach — um so lieber, als ich so meine Gegner noch sicherer widerlegen kann, so daß sie keine Ausflucht mehr haben.

 

Ich will dabei gleich mit einem Beweis anfangen, der zwar den Wiedertäufern in ihrer Hoffart ungenügend und geradezu lächerlich vorkommen, aber bei ver­nünftigen und vorurteilsfreien Leuten sicher seine Geltung behaupten wird: ich nehme es dabei als zugestanden an, daß dem Worte Gottes eine solche Lebens­kraft innewohnt, daß es alle, denen Gott Anteil daran gibt, innerlich lebendig macht! Denn es ist doch immer anerkannt gewesen, was Petrus schreibt, der es einen „un­vergänglichen Samen“ nennt, der „da ewiglich bleibt“ (1. Petr. 1,23). Das beweist er ja auch aus den Worten des Jesaja (Jes. 40,6). Da nun Gott die Juden einst durch dieses heilige Band (nämlich das Wort!) mit sich in Gemeinschaft versetzte, so hat er sie auch unzweifelhaft zur Hoffnung auf das ewige Leben erwählt! Unter dem Wort, das sie empfangen haben und das sie Gott näher brachte, verstehe ich die Art, wie sich uns Gott mitteilt — nicht jene allgemeine, die alle Krea­turen im Himmel und auf Erden erfüllt, die alles, je nach seiner Art, belebt, aber es doch nicht vor der Verderbnis sichert, sondern diese besondere Art, welche die Frommen innerlich zur Erkenntnis Gottes erleuchtet und ihnen gewissermaßen die Gemeinschaft mit ihm verleiht. Dieses Wort hat Adam, Abel, Noah, Abraham und die anderen Väter Gott anhangen lassen, und deshalb haben sie unzweifelhaft den Zugang zu Gottes ewigem Reich gehabt! Denn sie hatten wirklich mit Gott Gemeinschaft, und das ist ohne den Anteil am ewigen Leben nicht denkbar.

 

II,10,8

 

Das ist aber vielleicht noch nicht deutlich genug; nun, so wollen wir uns jetzt die Form des Bundes selbst ansehen; die wird nicht nur die verständigen Leser voll befriedigen, sondern auch die Torheit derer ans Licht bringen, die so gern widersprechen! Denn wenn der Herr mit seinen Knechten einen Bund machte, so ge­schah das immer in der Weise: „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“ (Lev. 26,12) — und auch die Propheten haben immer wieder dargetan, daß in diesen Worten Leben, Heil und höchstes Glück enthalten ist! Es ist nämlich nicht ohne Grund, wenn David mehrfach ausruft: „Wohl dem Volk, des Gott der Herr ist!“ (Ps. 144,15), „Selig das Volk, das er zum Erbe erwählt hat!“ (Ps. 33,12) — und das nicht irdischen Wohlergehens wegen, sondern weil er die, welche er zu seinem Volke angenommen hat, aus dem Tode herausreißt, immerdar beschirmt und mit ewigem Erbarmen überschüttet. So hören wir es auch bei anderen Propheten: „Du bist unser Gott, und du wirst uns nicht sterben lassen“ (Hab. 1,12; nicht Luthertext). Oder: „Der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König, der hilft uns!“ (Jes. 33,22). Oder: „Wohl dir, Israel ... das du durch den Herrn selig wirst!“ (Deut. 33,29). Aber es wäre überflüssig, noch immer weitere Beweise aufzuhäufen; ich will mich darum nicht weiter damit abmühen. Immer wie­der erinnern die Propheten daran, daß uns an allem Gut, ja zur Gewißheit des Heils nichts abgeht, wenn nur der Herr unser Gott ist. Und das mit Recht. Denn sein heiliges Angesicht ist uns, wenn er es nur leuchten läßt, eine sichere Bürgschaft des Heils. Und wie soll dann ein Mensch, dem er sich als sein Gott offenbart hat, nicht auch Zugang zu allen Schätzen haben? Wenn Gott unser Gott ist, so will er unter uns wohnen, wie er es durch Mose bezeugt hat (Lev. 26,12). Solcher Gegenwart Gottes kann man aber nicht teilhaftig werden, ohne zugleich das Leben zu haben! Und wäre ihnen nichts weiter gesagt worden, so hätten sie doch eine vollgültige Verheißung des geistlichen Lebens an dem einen Wort gehabt: „Ich bin euer Gott“ (Ex. 6,7). Denn er hat sich nicht allein für unseren Leib zum Gott gegeben, sondern in besonderer Weise für die Seele; diese müßte aber von ihm ferne, im Tode verbleiben, wenn er sie nicht in Gerechtigkeit mit sich ver­bände! Ist aber diese Verbindung da, so bringt sie ewiges Heil mit sich!

 

 

 

II,10,9

Außerdem hat Gott den Vätern des Alten Bundes nicht nur verkündigen lassen, er sei ihr Gott, sondern er werde es immer bleiben! Ihre Hoffnung sollte sich nicht mit den gegenwärtigen Gütern zufrieden geben, sondern sich nach der Ewigkeit ausstrecken! Daß sie aber diese Verheißung Gottes in die Zukunft hinein auch richtig verstanden haben, zeigen uns viele Worte, in denen sich die Gläubigen nicht nur im gegenwärtigen Unglück, sondern auch für alle Zukunft damit trösten, daß Gott sie nie verlassen werde. Ja, er selber hat sie noch — und das ist das zweite Stück der Verheißung! — in der Gewißheit bestärkt, daß sein Segen über die Grenzen des Lebens hinausginge: „Ich will euer Gott sein und eures Samens nach euch!“ (Gen. 17,7; eigentlich Singular). Gott wollte ihnen also die Zusicherung geben, er werde ihnen auch nach ihrem Tode noch seine Wohltaten erweisen, da­durch, daß er die Nachkommen segnete; dann aber konnte noch viel weniger ihnen selbst seine Güte fehlen! Denn Gott ist nicht wie die Menschen: die wenden ihre Liebe den Kindern ihrer Freunde deshalb zu, weil sie der Tod dieser Freunde außerstande setzt, diesen selbst noch ihr Wohlwollen zu bezeigen. Gott aber wird in seinem Wohltun nicht durch den Tod gehindert, und er nimmt den Toten nicht die Frucht seines Erbarmens, das er ja um ihretwillen auf tausend Geschlechter ausdehnt! (Ex. 20,6). Er wollte ihnen eben die Größe und den Reichtum seiner Güte, die sie noch nach ihrem Tode verspüren sollten, dadurch besonders herrlich erweisen daß er die Verheißung gab, sie sollte auch noch ihre Nachkommen mit umfassen! Die Wahrheit dieser Verheißung hat der Herr besiegelt und geradezu als in Erfüllung gegangen dargestellt, als er sich lange nach dem Tode der Erzväter als den „Gott

 

Abrahams, Isaaks und Jakobs“ bezeichnete (Ex. 3,6). Wäre das nun nicht eine ganz lächerliche Zusicherung, wenn diese Männer aufgehört hätten zu sein? Es wäre dann ja geradezu so, als hätte er gesagt: „Ich bin der Gott derer, die nicht sind!“ Deshalb konnte Christus nach dem Bericht der Evangelisten mit diesem einen Beispiel die Sadduzäer überführen, so daß sie nicht mehr leugnen konnten, daß be­reits Mose die Auferstehung der Toten bezeugt habe! (Matth. 22,23-32; Luk. 20,27-38). Dazu wußten sie doch auch aus Mose: „Alle seine Heiligen sind in deiner Hand!“ (Deut. 33,3). Wie wir hier deutlich sehen, kann nicht einmal der Tod die auslöschen, die der in seinen Schutz, seine Obhut, seine Wacht genommen hat, der der Herr über Leben und Tod ist!

 

 

 

II,10,10

 

Jetzt kommen wir zum Angelpunkt der ganzen Untersuchung. Wir müssen die Frage entscheiden, ob denn auch die Gläubigen selbst von dem Herrn so weit unter­wiesen waren, daß sie um ein anderes Leben wußten, so daß sie das Irdische geringschätzten und ihr Sinnen und Trachten auf dieses andere Leben richteten. Zu­nächst: die Lebensweise, die ihnen Gott verordnet hatte, war doch für sie eine immer­währende Prüfung, die sie sehr wohl darüber belehrte, daß sie die elendesten Wesen wären, wenn sie allein in diesem Leben ihr Glück gesucht hätten. Adam war doch allein schon durch die Erinnerung an das verlorene Glück der unglückseligste Mensch; hart und mühevoll war die Arbeit, mit der er sein Leben fristen mußte; aber nicht nur auf der Arbeit seiner Hände ruhte schwer lastend Gottes Fluch (Gen. 3,17), nein, gerade von da, woher er einigen Trost hätte erwarten können, kam ihm schwerstes Herzeleid. Von seinen beiden Söhnen entriß ihm schrecklicher Brudermord den einen (Gen. 4,8), und der andere, der ihm blieb, bereitete ihm beim bloßen Anblick Kum­mer und Abscheu! Abel, den in der Blüte der Jahre grausame Untat dahinstreckt, ist geradezu ein Beispiel menschlicher Not und Hinfälligkeit. Und Noah brachte ein gut Teil seines Lebens in mühevoller Arbeit damit zu, die Arche zu erbauen, während um ihn herum die ganze Welt unbekümmert ihren Freuden lebte (Gen. 6,22). Daß er dem Tode entging, brachte ihm mehr Not und Mühe, als wenn er tausendmal dem Tode verfallen gewesen wäre! Denn seine Arche war ihm ja durch zehn Monate hindurch geradezu ein Grab — und dann befand er sich auch in einer wahr­haft peinvollen Lage mitten unter dem Unflat der Tiere. Kaum ist er dieser Not entronnen, da kommt neuer Kummer über ihn: sein eigener Sohn übt seinen Mut­willen an ihm, und er muß selbst den Fluch über ihn sprechen, obwohl er ihn durch Gottes große Güte heil aus der Flut gerettet hat! (Gen. 9,24f.).

 

 

 

II,10,11

Abraham kann uns mehr gelten als viele Tausende, wenn wir auf seinen Glauben blicken, der uns als höchstes Vorbild vor Augen steht: und wir müssen, um Kinder Gottes zu sein, zu seinem Geschlecht gehören (Gen. 12,3). Was wäre widersinniger, als Abraham den „Vater aller Gläubigen“ zu nennen und ihm dann doch unter diesen nicht einmal den untersten Platz anzuweisen? Ihn kann man nicht aus der Zahl der Gläubigen, ja von seinem hohen Ehrenplatz unter ihnen verdrängen, ohne die ganze Kirche zu zerstören. Aber wie sah sein Leben aus? Als ihn Gottes Befehl berief, da wurde er aus seinem Vaterlande, aus seiner Verwandtschaft, aus dem Kreis seiner Freunde herausgerissen, also aus dem, was dem Menschen im Leben am köstlichsten erscheint — gerade als hätte ihn der Herr absichtlich aller Lebensfreude berauben wollen! Und kaum ist er in dem Land, in dem er wohnen soll, da treibt ihn eine Hungersnot schon wieder hinaus. Er nimmt seine Zuflucht zu einem Land, in dem er seine eigene Frau preisgeben muß, um selber am Leben zu bleiben (Gen. 12,11ff.) — und das war wohl bitterer als vielfacher Tod! Kaum ist er wieder in das Land gekommen, das ihm als Wohnstatt angewiesen war, da wird er abermals von einer Hungersnot vertrieben! Und was ist das für eine Seligkeit, in einem Lande wohnen zu müssen, in dem man so oft Hunger leiden, ja Hungers sterben kann, wenn man nicht flieht? — Und da kommt er bei Abimelech wieder in

 

die gleiche furchtbare Not hinein, sein Leben mit dem Verlust seines Weibes lösen zu müssen. Unstet zieht er durch manche Jahre im Lande umher, bis ihn der unauf­hörliche Streit der Hirten zwingt, sich von seinem Neffen, der ihm wie ein Sohn war, zu trennen. Und dieses Scheiden hat er sicherlich so empfunden, als hätte man ihm ein Glied von seinem Leibe abgeschlagen! Kurz darauf hört er, daß ihn Feinde verschleppt haben! Wohin er auch wandert — überall findet er rohe und wilde Nachbarn, die ihm gar das Wasser aus den von ihm selbst mühsam ausgehauenen Brunnen verwehren wollen! Denn er hätte sich das Recht dazu von dem Könige zu Gerar nicht durch Vertrag erkauft, wenn es ihm vorher nicht verweigert worden wäre. Schon hat er ein hohes Alter erreicht, und er muß fürchten, das zu erleben, was in solchem Alter das Widerwärtigste und Bitterste ist: ohne Kinder dazu­stehen! Da wird ihm wider alle Hoffnung Ismael geboren. Aber das bringt ihm neuen Kummer; denn Sara macht ihm bittere Vorwürfe, als habe er den Stolz der Magd genährt und dadurch selbst den Hausfrieden gestört! Schließlich kommt Isaak zur Welt, aber das führt wieder zur Wegtreibung des erstgeborenen Ismael, der um seinetwillen als Ausgestoßener geradezu verjagt wird. Dann ist ihm also allein Isaak übriggeblieben, des frommen Mannes Freude in seinen alten Tagen. Und da emp­fängt er den Befehl, eben diesen Isaak zu opfern! Was läßt sich Furchtbareres er­denken, als daß ein Vater sein eigenes Kind töten soll? Hätte ihn eine Krankheit dahingerafft, so hätte jedermann den alten Mann als den elendesten aller Menschen bedauert, dem ja ein Sohn wie zum Spott gegeben worden sei, um ihm den Schmerz der Kinderlosigkeit zu verdoppeln! Hätte ihn fremde Hand ums Leben gebracht, so hätte diese Untat den Kummer vielfältig vergrößert. Aber daß ihn nun der Vater mit eigener Hand zu Tode bringen soll — das übersteigt alle Beispiele von Elend und Jammer! So hat ihn während seines ganzen Lebens die Not geplagt und geschunden, und wenn einer ein besonders trauriges Dasein malen wollte, so hätte er hier den geeignetsten Vorwurf. Da soll auch keiner einwenden, so gar un­glücklich wäre Abraham nicht gewesen, weil er doch durch all diese Stürme glücklich hindurchkam und ihnen entrann! Denn wer durch so lange Zeit mit unendlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, der kann nicht als einer gelten, der ein glückliches Leben führte; das könnte man doch nur von einem Menschen sagen, der ohne Be­rührung mit dem Übel das irdische Gut in Frieden genießen kann!

 

 

 

II,10,12

 

Den Isaak haben weniger Anfechtungen heimgesucht; aber auch er hat von irdischem Glück kaum einen leichten Vorgeschmack gehabt. Denn er hat Qualen durch­machen müssen, die einen Menschen auf Erden nicht zum Glück kommen lassen. Auch ihn treibt der Hunger aus dem Lande Kanaan hinaus, auch ihm wird sein Weib vom Busen gerissen, auch ihn beunruhigen die Nachbarn gehörig und schädigen ihn auf allerlei Weise, so daß er gar um das Trinkwasser streiten muß. Zu Hause machen ihm seine Schwiegertöchter viel Herzeleid (Gen. 26,34f.). Großen Kummer bereitet ihm der Streit seiner Söhne, und diesem Übel ist nur dadurch abzuhelfen, daß er den Sohn, den er gesegnet, in die Fremde schickt! (Gen. 28,1.5).

Und nun ist Jakob gar das Urbild furchtbarsten Elendes. Unruhig ist seine Jugend daheim — unter dem Drohen des erstgeborenen Bruders, das ihn schließlich zur Flucht zwingt. So war er denn ein Flüchtling, und es ist schon allein bitter ge­nug, fern von Eltern und Vaterland leben zu müssen; aber bei seinem Onkel, dem Laban, wird er keineswegs freundlicher und menschlicher aufgenommen. Daß er sie­ben Jahre so harten und rauhen Dienst tut (Gen. 29,20), wäre noch ein Geringes, wenn er nicht mit böser List noch um die Frau betrogen würde! So muß er denn um des zweiten Weibes willen abermals in den Dienst hinein, und da dörrt ihn nach seiner eigenen Klage am Tage die Sonne mit ihrer Glut, und des Nachts quält ihn schlaflos die Kälte! (Gen. 31,40). Zwanzig Jahre trägt er dies harte Leben, und alle Tage erlaubt sich sein Schwiegervater neue Ungerechtigkeiten gegen

 

ihn. Auch zu Hause hat er keine Ruhe: seine Weiber zerreißen und zerstören ihm mit Haß und Streit und Eifersucht das ganze Hauswesen. Dann trifft ihn der Befehl, in die Heimat zurückzuziehen. Aber sein Abschied sieht eher schnöder Flucht ähnlich; und sein Schwiegervater treibt das Unrecht gegen ihn so weit, daß er ihn noch mitten auf dem Wege mit Vorwürfen quält! (Gen. 31,23). Aber bald droht ihm noch größere Not. Denn er zieht ja seinem Bruder entgegen — und er sieht den Tod vielfältig vor Augen, weil Esau in seiner Grausamkeit und seinem Haß ihn eben vielfältig bedroht. Furcht und Bangigkeit macht ihm das Herz schwer, solange er auf das Kommen seines Bruders wartet (Gen. 32,12). Und als er ihm gegen­übertritt, da fällt er ihm wie halbtot zu Füßen — bis er merkt, daß Esau versöh­nungsbereiter ist, als er zu hoffen gewagt! Aber dann wird ihm Rahel, sein einzig geliebtes Weib, gleich beim Betreten des Landes durch den Tod entrissen (Gen. 35,16-20). und dann erhält er bald die Botschaft, daß der Sohn, den Rahel ihm ge­geben und den er mehr liebte als die anderen alle, von einem wilden Tier zerrissen sei (Gen. 37,32). Wie furchtbar sein Schmerz über den Tod des Sohnes war, das sagt er uns selber: er weinte lange Zeit um ihn und wollte sich nicht trösten lassen, hatte auch nichts anderes mehr vor, als „mit Leid hinunterzufahren in die Grube zu seinem Sohn“. Unterdessen nimmt einer seiner Tochter die Ehre (Gen. 34,2), und seine Söhne üben grausame Rache an dem Übeltäter. Dadurch kommt nun der Vater in Verruf bei allen Landesbewohnern, und die Gewalttat der Söhne droht ihn selbst ins Unglück zu stürzen! Was für Angst und Not und Herzeleid macht ihm das alles! Dann erlebt er die unerhörte Freveltat seines erstgeborenen Sohnes Ruben — furchtbarste Schande! (Gen. 35,22). Denn es ist an sich schon schrecklich, die eigene Frau entehrt zu sehen — was soll man aber sagen, wenn der eigene Sohn solchen Frevel begeht? Aber bald darauf besudelt neue Blutschande die Familie (Gen. 38,18); es müßte gar ein Mann, den alle Not sonst nicht hätte beugen und knicken können, unter soviel Schande zusammenbrechen! Und gegen Ende seines Lebens, als er dem Hunger der Seinen Abhilfe tun will, da streckt ihn eine neue Unglücksbot­schaft zu Boden: der eine Sohn liegt in Fesseln — und um ihn wiederzubekommen, soll er seinen Liebling Benjamin fremden Händen überlassen! (Gen. 42,34). Wie soll er in so viel Kummer und Not auch nur einen Augenblick fröhlich aufgeatmet haben? Er selbst ist dafür der beste Zeuge: er versichert dem Pharao: „wenig und böse ist die Zeit meines Lebens“ (Gen. 47,9). Ist er aber nach seinem eigenen Zeugnis alle Lage seines Lebens in Jammer und Elend gewesen, so bezeugt er damit klar, daß er das Glück noch nicht empfangen hatte, das ihm der Herr verheißen. So war denn Jakob entweder ein böser, undankbarer Mensch, der Gottes Gnade nicht zu schätzen vermochte — oder er gab mit diesen Worten ein wirkliches Zeugnis für sein Elend auf Erden ab. War es aber ein wirkliches Zeugnis, so folgt daraus, daß er seine Hoffnung nicht an das Irdische geheftet hat!

 

 

 

II,10,13

Wenn diese heiligen Väter — wie es unzweifelhaft der Fall war! — die Selig­keit nur aus Gottes Hand erwartet haben, so haben sie auch um eine andere als die irdische Seligkeit gewußt und sie erschaut. Herrlich legt uns das der Apostel dar: „Durch den Glauben ist Abraham ein Fremdling gewesen in dem verheißenen Lande als in einem fremden und wohnte in Hütten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung; denn er wartete auf eine Stadt, die einen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist ... Diese alle sind gestorben im Glauben und haben die Ver­heißungen nicht empfangen, sondern sie von ferne gesehen und sich ihrer getröstet und wohl genügen lassen und bekannt, daß sie Gäste und Fremdlinge auf Erden wären. Denn die solches sagen, die geben zu verstehen, daß sie ein Vaterland suchen. Und zwar, wo sie das gemeint hätten, von welchem sie waren ausgezogen, so hatten sie ja Zeit, wieder umzukehren. Nun aber begehren sie eines besseren, nämlich eines himmlischen. Darum schämt sich Gott ihrer nicht, zu heißen ihr Gott; denn er hat

 

ihnen eine Stadt zubereitet“ (Hebr. 11,9.10.13-16). Sie wären auch stumpfer ge­wesen als Klötze, mit solcher Hartnäckigkeit an eine Verheißung sich anzuklammern, von deren Erfüllung hier auf Erden gar kein Schimmer sichtbar war — wenn sie diese Erfüllung nicht anderswo erwartet hätten! Besonders und mit Recht dringt der Apostel auf die Feststellung, daß die Väter ihr irdisches Leben als Wallfahrt verstanden haben, wie es ja Mose berichtet (Gen. 47,9). Wenn sie aber in dem Lande Kanaan bloß Fremdlinge und Pilger gewesen sind — wo blieb dann die Ver­heißung des Herrn, die ihnen doch dies Land als Erbe zusprach? Daraus geht also deutlich hervor, daß jene Verheißung vom Besitz des Landes, die ihnen der Herr gegeben hatte, in weitere Ferne geht. Sie haben doch in dem Lande Kanaan keinen Fußbreit erworben, außer ihrem Grab! Das zeigt, daß sie die Frucht der Verhei­ßung erst nach dem Tode zu erlangen hofften! Deshalb legte auch Jakob solchen Wert darauf, dort begraben zu werden, deshalb ließ er sich das von seinem Sohne eidlich versprechen! (Gen. 47,29f.). Deshalb ist es Josephs Wille, man solle noch nach Jahrhunderten seine bereits zu Staub zerfallenen Gebeine in das verheißene Land überführen! (Gen. 50,25).

 

 

 

II,10,14

 

So hat also den Vätern in allem Streben ihres Lebens die Seligkeit des kom­menden Lebens vor Augen gestanden. Weshalb hätte sich sonst Jakob so sehr um das Erstgeburtsrecht bemüht, weshalb es mit soviel Gefahr an sich gebracht, obwohl es ihm doch Verbannung und beinahe Rechtlosigkeit, aber rein nichts Gutes ein­trug — wenn er nicht eines höheren Segens gedacht hätte? Darauf stand sein Sinn, wie er es noch im Sterben aussprach: „Herr, ich warte auf dein Heil!“ (Gen. 49,18). Was für ein Heil sollte er denn erwarten, wo er doch merkte, daß es mit ihm zu Ende ging — wenn er nicht im Tode den Beginn eines neuen Lebens gesehen hätte? Aber wozu sollen wir einzig bei den Frommen und den Kindern Gottes verweilen, wo doch selbst ein Mann, der sich sonst bloß bemühte, der Wahrheit zu widerstreben, eine Ahnung von dieser Erkenntnis hatte? Wir hören Bileam sagen: „Meine Seele sterbe den Tod der Gerechten, und mein Ende werde wie dieser Ende“ (Num. 23,10). Damit konnte er doch nichts anderes meinen, als was später David aus­spricht: „Der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn“ (Ps. 116,15), aber „der Gottlosen Tod ist Elend“ (Ps. 34,22; nicht Luthertext). Hätten sie den Tod für ihr letztes Ende und Ziel gehalten, so gäbe es ja da gar keinen Unterschied zwi­schen dem Gerechten und dem Ungerechten; erst aus dem Geschick, das beider nach dem Tode wartet, wird ihre Unterschiedenheit offenbar.

 

 

 

II,10,15

Dabei sind wir nun noch gar nicht über Mose hinausgegangen — von dem doch die Schwärmer behaupten, er hätte nur die Aufgabe gehabt, ein fleischlich denkendes Volk durch Fruchtbarkeit des Landes und eine Fülle alles Guten zur Verehrung Gottes zu führen! Und doch tritt hier jedem, der sein Auge nicht geflissentlich der Wahrheit verschließt, das Dasein eines geistlichen Bundes deutlich und klar gegenüber! Gehen wir jetzt zu den Propheten über, so strahlt uns hier in vollem Glanze das ewige Leben und das Reich Christi entgegen. Da ist zuerst David; er war der Zeit nach der erste, und deshalb war es ihm nach der Ordnung, die Gott in der Austeilung seiner Gaben innehält, noch nicht vergönnt, die himmlischen Ge­heimnisse so klar auszusprechen wie die späteren Propheten; aber mit welcher Deut­lichkeit und Zuversicht richtet er doch alles, was er ist und hat, auf dieses Ziel! Wie er das Erdenleben ansah, das zeigt er in dem Ausruf: „Ich bin dein Pilgrim und Bürger wie alle meine Väter“ (Ps. 39,13). „Meine Tage sind einer Hand breit vor dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir ... Sie gehen dahin wie ein Schemen“ (Ps. 39,6.7). „Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich!“ (Ps. 39,8). Nichts ist doch nach diesem seinem Bekenntnis fest und beständig auf Erden; aber er hält zuversichtlich an der Hoffnung auf Gott fest und schaut damit auf eine Seligkeit, die anderswo liegt! Dies Glück zu betrachten, ruft er immer

 

wieder die Gläubigen auf, wenn er sie trösten will. An anderer Stelle redet er von der Kürze und der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Menschenlebens und fügt dann hinzu: „Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten ...“ (Ps. 103,17). Dem entspricht auch, was wir im 102. Psalm lesen: „Du, Herr, hast vormals die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. Sie werden vergehen, aber du bleibst. Sie werden alle veralten wie ein Gewand; sie werden verwandelt wie ein Kleid, wenn du sie verwandeln wirst. Du aber bleibest, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende. Die Kinder deiner Knechte werden bleiben, und ihr Same wird vor dir gedeihen“ (Ps. 102,26-29). Mögen also Himmel und Erde vergehen — die Frommen stehen immerwährend unter des Herrn Schutz! So ist ihr Heil mit Gottes Ewigkeit verbunden! Aber diese Hoffnung kann nur rechten Grund und rechte Zuversicht haben, wenn sie auf der Verheißung ruht, die wir bei Jesaja hören: „Der Himmel wird wie ein Rauch vergehen, und die Erde wie ein Kleid veralten, und die darauf wohnen, werden im Nu dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtig­keit wird kein Ende haben“ (Jes. 51,6). Hier wird der Gerechtigkeit und dem Heil ewige Dauer zugesprochen — nicht bloß insofern sie bei Gott liegen, sondern gar insofern sie vom Menschen erfahren werden.

 

 

 

II,10,16

 

Gelegentlich spricht David auch von dem Glück der Gläubigen; aber auch das muß notwendig auf die Teilnahme an der himmlischen Herrlichkeit bezogen werden. So lesen wir: „Der Herr bewahret die Seelen seiner Heiligen; von der Gottlosen Hand wird er sie erretten“ (Ps. 97,10). Oder: „Dem Gerechten geht das Licht auf, und Herzensfreude den Frommen ... die Gerechtigkeit des Gerechten bleibet ewig­lich; sein Horn wird erhöhet mit Ehren ... denn was die Gottlosen gerne wollten, das ist verloren“ (Ps. 112,4.9f.; V. 4 nicht Luthertext!). Oder: „Auch werden die Gerechten deinem Namen danken, und die Frommen werden vor deinem Ange­sichte bleiben“ (Ps. 140,14). Oder auch: „Er wird ewiglich bleiben; des Gerechten Weg wird nimmermehr vergessen“ (Ps. 112,6). Und endlich: „Der Herr erlöset die Seele seiner Knechte ...“ (Ps. 34,23). Denn der Herr läßt es oft genug zu, daß die Bösen seine Knechte nach ihrer Lust quälen, ja plagen und ins Unglück stürzen; er läßt die Guten in Finsternis und Kummer schmachten, während Gottlose wie die Sterne strahlen; auch erquickt er sie keineswegs dergestalt mit der Freundlichkeit seines Antlitzes, daß sie etwa dauernd Freude genössen! Darum verschweigt David auch nicht, daß die Gläubigen, wenn sie ihr Augenmerk auf den gegenwärtigen Zustand richten, in die schwerste Anfechtung geraten müssen, als ob es bei Gott keine Gnade, keinen Lohn für die Unschuld gäbe! Denn die Gottlosen blühen und gedeihen zumeist, während die Schar der Gläubigen von Schande und Armut, Verachtung und allerlei Kreuz geplagt wird. „Ich hätte schier gestrauchelt mit meinen Füßen; mein Tritt wäre beinahe geglitten. Denn es verdroß mich der Ruhmredigen, da ich sah, daß es den Gottlosen so wohl ging ...“ (Ps. 73,2f.). Und dann schließt er seine Betrachtung: „Ich dachte ihm nach, daß ich’s begreifen möchte; aber es war mir zu schwer. Bis daß ich ging ins Heiligtum des Herrn und merkte auf ihr Ende ...“ (Ps. 73,16f.).

 

 

 

II,10,17

Aus diesem Geständnis des David sollen wir lernen: auch die heiligen Väter unter dem Alten Bunde haben sehr wohl gewußt, wie selten oder gar nie Gott das, was er seinen Knechten zugesagt hat, in dieser Welt in Erfüllung gehen läßt; aber dann haben sie ihre Seele zu Gottes Heiligtum erhoben — und da war ver­borgen, was unter dem Schatten des irdischen Daseins noch nicht ins Licht tritt. Das war Gottes letztes Gericht; sie sahen es gewiß noch nicht mit Augen, aber sie waren zufrieden, im Glauben darum zu wissen. In diesem Glauben waren sie voll Zuversicht, und sie wußten, daß — was auch in der Welt geschehen mochte! — doch der Tag kommen würde, an dem Gott seine Verheißungen wahr machte! So

 

wird es uns in den folgenden Sprüchen bezeugt: „Ich aber will schauen dein Ange­sicht in Gerechtigkeit, ich will satt werden, wenn ich erwache, an deinem Bilde“ (Ps. 17,15). „Ich werde bleiben wie ein grüner Ölbaum im Hause des Herrn“ (Ps. 53,10). „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum, er wird wachsen wie eine Zeder auf dem Libanon. Die gepflanzt sind im Hause des Herrn, werden in den Vor­höfen unseres Gottes grünen. Und wenn sie gleich alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein ...“ (Ps. 92,13-15). Oder auch schon kurz vorher: „Herr, ... deine Gedanken sind so sehr tief! — Die Gottlosen grünen wie das Gras, und die Übeltäter blühen alle, bis sie vertilgt werden immer und ewiglich!“ (Ps. 92,6.8). Wo soll aber der Glanz und Schmuck der Gläubigen anders sein als da, wo der Herr durch das Offenbarwerden seines Reiches das Angesicht dieser Erde verändern wird; Auf dies Ewige wandten sie ihr Augenmerk, und des­halb verachteten sie die zeitliche Härte irdischer Not und konnten zuversichtlich sagen: „Du wirst den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen; du wirst aber die Gottlosen hinunterstoßen in die tiefe Grube ...“ (Ps. 55,23f.; nicht Luthertext). Wo ist in dieser Welt solch eine Grube ewigen Verderbens, welche die Gottlosen verschlänge? Nein, von dem Glück der Gottlosen gilt, was wir im Hiobbuche lesen: „Sie werden alt bei guten Tagen und erschrecken kaum einen Augenblick vor dem Tode“ (Hiob 21,13). Wo ist hier diese sichere Ruhe der Gläubigen, die nach Da­vids häufigen Klagen von allerlei Unglück erschüttert, ja unter ihm erdrückt und gänzlich zermalmt werden? Er schaut also nicht auf das, was diese Welt in ihrer Unstetigkeit und Wandelbarkeit zu geben vermag, sondern auf das, was der Herr tun wird, wenn er sich einst niedersetzen wird, einen neuen, ewigen Himmel und eine neue, ewige Erde zu schaffen! So schreibt ja auch David sehr klar an einer Stelle von Leuten, „die sich verlassen auf ihr Gut und trotzen auf ihren großen Reich­tum ...“ (Ps. 49,7) — und dabei „kann doch keiner“, so hervorragend er auch ge­stellt sein mag, „seinen Bruder erlösen, noch ihn mit Gott versöhnen. Denn man wird sehen, daß die Weisen sterben sowohl als die Toren und Narren umkommen und müssen ihr Gut anderen lassen. Das ist ihr Herz, daß ihre Häuser währen immerdar, ihre Wohnungen bleiben für und für; und haben große Ehre auf Erden. Dennoch kann ein Mensch nicht bleiben in Ansehen, sondern muß davon wie ein Vieh! Dies ihr Tun ist eitel Torheit; doch loben’s ihre Nachkommen mit ihrem Munde. Sie liegen in der Hölle wie Schafe, der Tod weidet sie. (Gehet das Licht auf), so werden die Frommen gar bald über sie herrschen, ihre Gestalt muß vergehen; in der Hölle müssen sie bleiben“ (Ps. 49,8.11-15; gegen Schluß nicht mehr Luther­text). Da zeigt schon gleich die Verspottung der Toren, die sich auf flüchtige, ver­gängliche Erdengüter verlassen, daß die wahrhaft Weisen ihr Glück irgendwo anders suchen müssen! Aber er läßt uns auch einen etwas deutlicheren Blick tun in das Ge­heimnis der Auferstehung, weil er ja das Reich der Frommen erst nach dem Unter­gange der Gottlosen aufrichten will. Denn was soll dieses „Aufgehen des Lichtes“ anders sein als das Offenbarwerden des neuen Lebens, das da folgt, wenn das irdische endet?

 

 

 

II,10,18

Daher kommt denn auch der Gedanke, an den sich die Gläubigen als Trost im Elende und als Hilfe in der Geduld so oft angeklammert haben: „Sein Zorn währet einen Augenblick, aber lebenslang seine Gnade“ (Ps. 30,6). Wie konnten sie aber die Trübsal „augenblicklich“ nennen, die uns doch beinahe unser Lebetag anficht? Wo sahen sie denn jene immerwährende Dauer der göttlichen Freundlichkeit, von der sie doch kaum den geringsten Geschmack empfangen hatten? Wären sie an der Erde hängengeblieben, so hätten sie nichts dergleichen gefunden; aber sie schauten gen Himmel und erkannten, daß die Zeit, da die Heiligen von dem Herrn durch das Kreuz geprüft werden, nur ein Augenblick ist, die Barmherzigkeit Gottes aber, die sie sammelt, in Ewigkeit währt! Sie gewahrten auf der anderen Seite die Ewigkeit

 

und Unendlichkeit des Verderbens, das der Gottlosen wartet, die sich jetzt, einen Tag lang, in ihrem Traum so glücklich wähnen! So lesen wir es Spr. 10,7: „Das Gedächtnis der Gerechten bleibet im Segen; aber der Gottlosen Name wird ver­wesen.“ Oder wir hören: „Der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn ... aber den Gottlosen wird das Unglück töten“ (Ps. 116,15; 34,22). Auch bei Samuel heißt es: „Er wird behüten die Füße seiner Heiligen, aber die Gott­losen müssen zunichte werden in Finsternis“ (1. Sam. 2,9). — Das bedeutet: die Propheten haben sehr wohl gewußt, daß, wie sehr auch die Heiligen umgetrieben werden, doch ihr Ende Leben und Heil sein wird, und daß der Gottlosen schöner Pfad dennoch nach und nach ins Verderben führt. Sie nannten daher den Tod der Gottlosen auch den „Tod der Unbeschnittenen“ (Ez. 28,10; 31,18 u.a.), also derer, die keine Hoffnung auf Auferstehung haben. Deshalb kennt auch David keinen furchtbareren Fluch als den: „Tilge sie aus dem Buch des Lebens, daß sie mit den Gerechten nicht angeschrieben werden“ (Ps. 69,29).

 

 

 

II,10,19

 

Besonders herrlich ist aber das Wort des Hiob: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt und daß ich zuletzt aus der Erde auferstehen werde; da werde ich in meinem Fleische Gott, meinen Heiland, schauen. Diese Hoffnung ruhet in meinem Schoß“ (Hiob 19,25-27; nicht Luthertext). Leute, die ihren Scharfsinn an den Mann brin­gen wollen, kommen nun zwar mit dem spitzfindigen Einwand, Hiob rede hier nicht von der Auferstehung am jüngsten Tage, sondern von jenem Tage, da Gott ihn, wie er doch erwartete, zum ersten Mal wieder gnädig anschaue. Gut, wollen wir das zum Teil gar zugeben; aber das wird man uns doch, ob man will oder nicht, gestehen müssen, daß Hiob zu solch herrlicher Hoffnung gar nicht hätte kommen können, wenn er mit seinen Gedanken an der Erde klebengeblieben wäre. Er hat also, das müssen wir einsehen, seine Augen zu der künftigen Unsterblichkeit erhoben, wenn er doch erwartete, es werde ihm gar noch dann ein Erlöser zur Seite stehen, wenn er bereits im Grabe läge! Denn für den, der nur an das gegenwärtige Leben denkt, ist der Tod die äußerste Verzweiflung. Aber Hiobs Erwartung konnte selbst der Tod nicht zerstören: „Und wenn er mich erwürgt“, hören wir ihn sagen, „so will ich den­noch auf ihn hoffen!“ (Hiob 13,15; nicht Luthertext).

 

Nun soll mir aber kein törichter Schwätzer einwenden, dies alles seien doch die Worte einzelner, und es sei damit noch nicht bewiesen, daß eine solche Lehre unter den Juden allgemein anerkannt gewesen wäre. Darauf soll er gleich eine Ant­wort haben: diese Männer haben nämlich in diesen Worten nicht etwa eine Ge­heimweisheit vorgebracht, zu der nur ganz erlauchte Geister ganz für sich und ab­geschieden von den anderen Zugang gehabt hätten, sondern sie waren ja vom Hei­ligen Geiste zu Lehrern des Volkes bestellt und haben die Geheimnisse Gottes, die in der Gemeinde gelehrt werden und die Grundlage der Gottesdienstübung im Volke sein sollten, öffentlich bekanntgemacht! Wir hören also in ihren Worten öffentliche Kundgebungen des Heiligen Geistes, mit denen er die Kirche der Juden zu klarer Einsicht über das geistliche Leben geführt hat — und deshalb ist es eine unerträgliche Halsstarrigkeit, wenn man hier nur die Erwähnung eines fleisch­lichen Bundes sehen will, in dem also nur von der Erde und von irdischem Wohl­ergehen die Rede wäre!

 

 

 

II,10,20

Jetzt will ich zu den späteren Propheten übergehen; hier können wir uns — wie auf eigenem Grund und Boden! — wesentlich freier ergehen. Es war uns schon leicht, unsere Auffassung bei David, Hiob und Samuel durchzufechten; hier ist es noch weit leichter! Denn der Herr hat bei der Darbietung des Bundes seiner Barmherzigkeit eine rechte Verteilung und Ordnung innegehalten: je näher die Zeit kam, da die volle Enthüllung geschehen sollte, desto größere Herrlichkeit ließ er in tagtäglicher Steigerung kundwerden! So waren es im Anfang, als dem Adam die erste Heilsverheißung gegeben wurde, nur wenige schwache Funken, die da aufleuch-

 

teten; dann wuchs die Helle, und immer mehr Licht wurde sichtbar; immer mehr und mehr brach es hervor, immer weiter sandte es seinen Schein — bis dann schließlich alle Wolken durchbrochen waren und Christus als die Sonne der Gerechtigkeit den ganzen Erdkreis in strahlenden Glanz tauchte! Deshalb brauchen wir nun nicht zu fürchten, daß uns etwa das Zeugnis der Propheten zu unserer Lehre abgehen werde. Nein, ich sehe, daß es eine unendlich weitläufige Sache ist, bei der wir uns viel länger aufhalten müßten, als wir nach unserer Absicht können — es würde ein dickes Buch dazu erforderlich sein! Ich glaube aber durch das, was ich oben gezeigt habe, auch für den weniger kundigen Leser einen Weg gebahnt zu haben, auf dem er nun, ohne sich im Lauf beirren zu lassen, weitergehen kann. Ich will also hier, weil es wirklich nicht nötig ist, nicht weitläufig reden; nur möchte ich den Leser bitten, sich den Zugang mit dem Schlüssel zu suchen, den ich ihm oben in die Hand gegeben habe. Wo nämlich die Propheten die Seligkeit des gläubigen Volkes erwähnen, die ja in diesem Leben kaum in den geringsten Spuren sichtbar wird, da muß man eine Unter­scheidung machen: es liegt den Propheten daran, die Freundlichkeit Gottes möglichst hoch zu erheben, und deshalb haben sie sie dem Volke unter der Gestalt irdischer Wohltaten gewissermaßen im Umriß schattenhaft dargestellt; aber diese Darstellung war doch so beschaffen, daß die Herzen über die Erde, über die Elemente dieser Welt und dieser vergänglichen Zeit sich weit erhoben und notwendig dazu kamen, über die Seligkeit des kommenden, geistlichen Lebens recht nachzusinnen.

 

 

 

II,10,21

 

Wir wollen uns mit einem einzigen Beispiel zufrieden geben. Als die Israeliten nach Babel weggeführt waren und nun wohl bemerkten, wie ihr jämmerliches Dasein dem Tode so ähnlich sah, da konnte sie kein Mensch davon abbringen, die Verhei­ßungen des Ezechiel von der künftigen Heimkehr und Wiederherstellung als ein Märchen anzusehen, genau, als wenn er ihnen verkündet hätte, es sollte ein verwester Leib wieder zum Leben gebracht werden. Aber der Herr wollte kundgeben, daß auch diese aussichtslose Lage ihn nicht hindern konnte, seine Wohltaten auszuteilen; des­halb zeigte er dem Propheten in einem Gesicht ein Feld voller dürrer Totengebeine — und dann gab er diesen allein durch seines Wortes Kraft in einem Augen­blick wieder Geist und Lebenskraft! (Ez. 37,1-14). Dies Gesicht sollte damals das Volk um seines Unglaubens willen zurechtweisen; zugleich aber machte es den Juden deutlich, daß die Kraft des Herrn, der mit seinem Wink vertrocknete und ver­streute Totengebeine so leicht wieder lebendig machen konnte, nicht damit erschöpft sei, daß er das Volk wieder in die Heimat führte! Deshalb kann man diese Stelle bei Ezechiel mit einer anderen bei Jesaja wohl vergleichen: „Aber deine Toten wer­den leben; meine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn dein Tau ist wie der Tau des grünen Feldes, aber das Land der Tyrannen (Luther: Toten) wirst du stürzen. Gehe hin, mein Volk, in deine Kammer und schließe die Tür nach dir zu, verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis daß der Zorn vorübergehe. Denn siehe, der Herr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Einwohner des Landes über sie, daß das Land wird offenbaren ihr Blut und nicht weiter verhehlen, die darin erwürget sind“ (Jes. 26,19-21).

 

 

 

II,10,22

Wollte nun aber jemand alle Prophetensprüche mit diesen beiden in eine Reihe stellen, so wäre das widersinnig; denn eine Anzahl Stellen zeigen uns unver­hüllt jene kommende Unsterblichkeit, die der Gläubigen in Gottes Reich wartet. Einige davon haben wir bereits angeführt; auch was man sonst nennen könnte, ge­hört zumeist zu dieser Gattung; ich will aber nur zwei Stellen nennen, die von be­sonderer Bedeutung sind. Zunächst ein Wort bei Jesaja: „Gleichwie der neue Himmel und die neue Erde, die ich mache, vor mir stehen, also soll auch euer Same und Name stehen. Und alles Fleisch wird einen Neumond nach dem anderen und einen Sabbat nach dem anderen kommen, anzubeten vor mir, spricht der Herr. Und sie werden

 

hinausgehen und schauen die Leichname der Leute, die an mir übel gehandelt haben; denn ihr Wurm wird nicht sterben, und ihr Feuer wird nicht verlöschen ...“ (Jes. 66,22-24). Dann ein Danielwort: „Zur selben Zeit wird der große Fürst Michael, der für die Kinder deines Volkes steht, sich aufmachen. Denn es wird eine solche trübselige Zeit sein, wie sie nicht gewesen ist, seitdem Leute gewesen sind bis auf diese Zeit. Zur selben Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buche geschrieben stehen. Und viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, etliche zum ewigen Leben, etliche zu ewiger Schmach und Schande“ (Dan. 12,1f.).

 

 

 

II,10,23

 

Die beiden weiteren Punkte, nämlich, daß die Väter Christus zum Bürgen ihres Bundes gehabt und daß sie auf ihn all ihr Vertrauen gesetzt haben, bedürfen keines mühsamen Beweises, weil hier weniger Streit und mehr Klarheit herrscht. Es bleibt also unerschütterlich gegen alle Machenschaften des Teufels stehen: Das Alte Testament, der Alte Bund, wie ihn der Herr mit dem Volke Israel geschlossen hat, erstreckte sich keineswegs bloß auf das Irdische, sondern umfaßte die Verheißung des geistlichen, ewigen Lebens: darauf haben alle die, welche wirklich an diesem Bunde Anteil hatten, von Herzen gewartet. Wenn also die Meinung vertreten wird, der Herr habe den Juden nichts anderes vor Augen gestellt oder das Volk habe nichts anderes gesucht als Sättigung des Bauches, fleischliches Wohlleben, blühenden Reichtum, äußere Macht, Kinderreichtum und was sonst der natürliche Mensch allein hochschätzt, so ist das als unsinnig und gefährlich abzulehnen. Denn auch heute ver­heißt Christus, der Herr, den Seinen kein anderes Himmelreich als das, in dem sie „mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen“ sollen (Matth. 8,11); und Petrus nennt die Juden seiner Zeit „Erben“ der mit dem Evangelium uns zukommenden Gnade, weil sie „der Propheten und des Bundes Kinder“ wären, „den Gott gemacht hat mit euren Vätern“ (Apg. 3,25). Das sollte aber nicht nur mit Worten bezeugt werden; darum hat es der Herr auch mit der Tat bestätigt. Denn als er von den Toten auferstand, da hat er auch viele Heilige gewürdigt, als Mitgenossen seiner Auferstehung aus ihren Gräbern hervorzugehen und in der Stadt zu erscheinen (Matth. 27,52); das war ein deutliches Unterpfand dafür, daß sein Tun und Leiden, mit dem er ein ewiges Heil errungen hat, den Gläubigen des Alten Bundes ebenso zuteil werde wie uns! Auch haben sie nach dem Zeugnis des Petrus denselben Geist des Glaubens empfangen, durch den auch wir zu neuem Leben geboren werden (Apg. 15,8). Wenn also dieser Geist, der in uns wie ein Funke der Unsterblichkeit lebt und der deshalb auch an einer Stelle als „Unterpfand unseres Erbes zu unserer Erlösung“ bezeichnet wird (Eph. 1,14), in ähnlicher Weise auch in ihnen gewohnt hat — wie sollen wir es dann wagen, ihnen das Erbe des Lebens abzusprechen? Um so verwunderlicher ist die Verstockung, zu der es einst die Sadduzäer gebracht haben, die ja die Auferstehung und auch das bleibende Dasein der Seele leugneten, obwohl ihnen doch für beides die klarsten Zeugnisse der Schrift bekannt sein mußten! Und ebensosehr müßte uns heutzutage die törichte Hoffnung des ganzen Judenvolkes auf ein irdisches Reich des Messias wundernehmen, wenn uns nicht die Schrift schon zuvor gesagt hätte, daß die Juden für die Verwerfung des Evangeliums auf diese Weise bestraft würden. Denn darin offenbarte sich Gottes gerechtes Gericht, daß ein Volk, welches das dargebotene Himmelslicht verschmäht und sich deshalb freiwillig in die Nacht des Irrtums begeben hat, nun mit Blindheit geschlagen ist! Man liest den Mose wohl und sinnt über ihm Tag und Nacht — aber da ist die Decke dazwi­schen, und deshalb kann man das Licht nicht sehen, das von seinem Antlitz strahlt! (2. Kor. 3,14). So bleibt Mose diesem Volke verdeckt und verhüllt, bis es zu Chri­stus bekehrt wird, von dem es ihn heute nach Kräften abzulösen und zu trennen sucht.

Elftes Kapitel

 

 

 

Vom Unterschiede zwischen dem Alten und Neuen Testament.

 

 

 

II,11,1

 

Nun könnte man aber sagen: Wieso, sollte gar kein Unterschied zwischen dem Alten und Neuen Testament zu finden sein? Wie kommt es denn, daß beide an so vielen Stellen der Schrift als Dinge von größter Verschiedenheit behandelt werden?

 

Ich mache mir die Unterscheidungen, die uns in der Schrift genannt werden, gern zu eigen. Freilich so, daß sie der festgestellten Einheit nichts abbrechen. Das wird man auch sehen, wenn wir sie der Reihe nach durchgehen. Soweit ich nun sehen und mich erinnern kann, sind da hauptsächlich vier Unterschiede zu nennen; ich habe auch nichts dagegen, wenn man noch einen fünften zufügen will. Von diesen allen ist zu sagen und auch noch zu zeigen, daß sie sich auf die Form der Darbietung beziehen und nicht auf das Wesen der Sache selber. Sie bedeuten also gar kein Hindernis dafür, daß die Verheißungen des Alten und des Neuen Bundes die gleichen bleiben und Christus stets der Grundstein dieser Verheißungen ist!

 

Also der erste Unterschied! Je und je hat der Herr sein Volk innerlich auf das himmlische Erbe hinlenken wollen, je und je sollte sich sein Sinnen und Trachten darauf richten! Um aber die Hoffnung des Volkes auf das Erbe zu beleben, gab er ihm seiner Zeit in irdischen Gütern die Möglichkeit, jenes Erbe bereits zu betrachten und von ihm zu kosten. Jetzt aber hat ja Gott durch das Evangelium die Gnadengabe des künftigen Lebens deutlicher und faßlicher geoffenbart — und da fallen jene früheren, geringeren Erziehungsmittel, wie er sie bei den Israeliten handhabte, fort, und er lenkt unsere Hoffnung unmittelbar auf jenes herrliche Gut! Wer diesen Plan Gottes nicht bedenkt, der glaubt dann, das alte Volk habe wirklich an nichts weiter gedacht als an jene Güter, die dem Leibe verheißen waren! Man hört von dem Lande Kanaan, dem herrlichen und gar einzigen Lohn für die, welche das Gesetz hielten. Man hört, wie der Herr für die Übertreter dieses Gesetzes keine schlimmere Drohung kennt als die Vertreibung aus dem Besitz dieses Landes und die Zerstreuung in fremde Länder. Man sieht doch auch, wie alle Segens- und Fluchworte, die uns Mose überliefert, dem ähnlich sind! Und daraus zieht man dann ohne Bedenken den Schluß, die Juden wären nicht um ihrer selbst willen, sondern um anderer willen von den übrigen Völkern abgesondert worden: nämlich damit die christliche Kirche ein Bild erhalte, in welchem ihr die geistlichen Güter in äußerlicher Gestalt vor Augen gestellt werden! Aber die Schrift lehrt doch an mehreren Stellen, daß diese irdischen Wohltaten, mit denen Gott die Seinen hier überschüttete, den Zweck hatten, sie zur Hoffnung auf die himmlischen zu leiten; und deshalb wäre es doch reichlich unklug, ja geradezu verblendet, wenn man diese Absicht übersehen wollte. Wir haben es also hier mit Menschen zu tun, die behaup­ten, der Besitz des Landes Kanaan, welcher bei den Israeliten als die höchste Seligkeit gegolten habe, sei nun für uns, nach der Offenbarung Christi, ein Bild für das himmlische Erbe! Wir behaupten dagegen, daß schon die Gläubigen des Alten Bundes in diesem irdischen Besitz, dessen sie sich erfreuten, wie in einem Spiegel die künftige Erbschaft erschaut haben, die ihnen nach ihrem Glauben im Himmel bereitet war!

 

II,11,2

 

Das wird aus einem Vergleich deutlicher werden können, den Paulus im Galaterbrief verwendet. Er vergleicht da das Volk der Juden mit einem jungen Erben, der noch nicht fähig ist, sich selbst zu leiten, und der deshalb der Führung eines Vormundes oder Zuchtmeisters folgt, dessen Hut er anvertraut ist (Gal. 4,1-3). Er bezieht nun diesen Vergleich in besonderer Weise auf die Zeremonien; aber wir können ihn auch unserer hier verhandelten Frage sehr gut anpassen. Die Menschen des Alten Bundes haben also das gleiche Erbe, das auch für uns bestimmt gewesen ist; aber in ihrem Alter waren sie noch nicht fähig, dieses Erbe anzutreten oder zu verwalten. Es war unter ihnen die gleiche Kirche — aber sie stand noch im Kindesalter. So hat sie der Herr unter dieser Erziehung gehalten, und dabei hat er ihnen die geistlichen Verheißungen nicht bloß und offen gegeben, sondern gewisser­maßen unter irdischen Verheißungen verdeckt. Als er also Abraham, Isaak und Jakob und ihre Nachkommenschaft zur Hoffnung auf die Unsterblichkeit als Kinder an­nahm, da verhieß er ihnen das Land Kanaan als Erbe. Das hieß nicht, daß sie etwa mit ihrer Hoffnung an dem Lande klebenbleiben sollten, sondern wenn sie das Land ansahen, so sollten sie sich erst recht in der Hoffnung auf jenes wahre Erbe, das noch nicht erschienen war, üben und stärken. Damit dabei keine Täuschung möglich wurde, gab er ihnen noch eine höhere Verheißung, die ihnen bezeugen sollte, daß dies Land nicht sein höchstes Geschenk sei. So läßt Gott den Abraham nicht im Besitz der Ver­heißung, die ihm das Land zusprach, faul und sicher werden; sondern es kommt zu einer größeren Verheißung, die seinen Sinn auf den Herrn selber richtet. Er hört: „Abraham, ich bin dein Schild und dein sehr großer Lohn“ (Gen. 15,1). Hier sehen wir, wie Abraham das letzte Ziel und Stück dieses Lohnes allein in dem Herrn selber suchen soll, damit er solchen Lohn nicht in flüchtiger, unsicherer Gestalt in den Dingen dieser Welt meinte finden zu können, sondern ihn für unverweslich hielt! Und dann fügt er die Landverheißung zu, doch offenkundig zu dem Zweck, für den Abraham Sinnbild göttlichen Wohlwollens zu sein und Vorbild des himmlischen Erbes. Das haben die Gläubigen sehr wohl erkannt, wie sie selber in ihren Aussprüchen beweisen. So kommt David von den zeitlichen Segnungen zur Betrachtung des höchsten, letzten Segens. „Nach dir sehnt sich und verlanget meine Seele und mein Fleisch ... Gott ist mein Teil in Ewigkeit ...“ (Ps. 84,3; 73,26; beides nicht Luthertext). Oder wir hören: „Der Herr aber ist mein Gut und mein Teil; du erhältst mein Erbteil“ (Ps. 16,5; Calvin anders). „Herr, zu dir schreie ich und sage: Du bist meine Zuversicht und mein Teil im Lande der Lebendigen“ (Ps. 142,6). Wer so zu reden wagt, der bezeugt damit, daß er in seinem Hoffen weit über die Welt und alles irdische Gut hinausgeht. Diese künftige Seligkeit beschreiben auch die Propheten öfters unter dem Bilde, das sie von dem Herrn empfangen hatten (nämlich dem Bilde des Landes!). So zum Beispiel: ,,Die Gerechten werden im Lande wohnen, und die Frommen darin bleiben ...“ (Spr. 2,21). „Die Gottlosen aber werden aus dem Lande ausgerottet ...“ (Spr. 2,22; Hiob 18,17). Auch lesen wir an mehreren Stel­len, wie Jerusalem an allen Schätzen Überfluß haben und Zion in allem reich sein werde (so etwa Jes. 35,10; 52,1ff.; 60; 62). Das kann sich ja alles nicht auf das Land unserer Wallfahrt oder im eigentlichen Sinne auf das irdische Jerusalem be­ziehen, sondern es betrifft notwendig die wahre Heimat der Gläubigen und jene himmlische Stadt, in welcher „der Herr Segen und Leben immer und ewiglich“ bereitet hat (Ps. 133,3).

 

 

 

II,11,3

Das ist auch der Grund, weshalb nach dem Bericht der Schrift die Heiligen unter dem Alten Bunde das irdische, sterbliche Leben und die ihm zuteil werdenden Seg­nungen höher geschätzt haben, als das heute recht wäre. Sie wußten zwar durchaus, daß dieses Leben nicht das Ende ihres Laufs sei; aber sie erkannten doch die Spuren der Gnade Gottes, die er ihm eingedrückt hatte, um sie nach dem Maß ihrer Schwach­heit recht zu erziehen, und so wurde ihnen das irdische Leben viel lieblicher, als

 

wenn sie es nur an und für sich betrachtet hätten. Wie aber der Herr sein Wohl­wollen gegen die Gläubigen mit irdischen Gütern bezeugte und also die geistliche Seligkeit mit solchen Vorbildern und Zeichen schattenhaft ausdrückte, so benutzte er auch leibliche Strafen, um sein Gericht über die Gottlosen offenbar zu machen. Wie also Gottes Wohltaten (zu dieser Zeit) mehr in irdischen Dingen sichtbar wurden, so auch seine Strafen. Unkundige Leute haben für diese innere Beziehung und sozusagen diesen Zusammenklang von Strafe und Lohn kein Verständnis, und des­halb wundern sie sich, wie Gott so verschieden sich erweisen könnte, da er doch einst jede Übertretung des Menschen mit strengem und schrecklichem Gericht zu ahnden drohte, heute aber scheinbar seinen früheren Zorn abgelegt hat und viel milder und seltener straft! Es fehlt dann kaum noch, daß man geradezu von zwei verschiedenen Göttern, dem „Gott des Alten Testaments“ und dem „Gott des Neuen Testaments“ träumt, wie das ja die Manichäer getan haben. Aus solchen törichten Bedenklichkeiten können wir nur herauskommen, wenn wir jene weise Anordnung Gottes be­achten, von der ich sprach. Er hat eben in jener Zeit, als er seinen Bund gewissermaßen umhüllt dem israelitischen Volke kundtat, seine Gnade und damit die künftige, ewige Seligkeit durch irdische Wohltaten, und anderseits den Ernst des geist­lichen Todes durch leibliche Strafen andeuten und abbilden wollen.

 

 

 

II,11,4                                                                                                           

 

Der zweite Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament besteht in den andeutenden Darstellungen, die das Alte Testament enthält. Das Alte Testa­ment bringt, da die Wahrheit, die Erfüllung noch fehlt, bloß ein Bild, es zeigt uns also an Stelle des Körpers einen Schatten; das Neue dagegen enthüllt uns die gegenwärtige Wahrheit und den Körper selbst wesenhaft. Diese Verschieden­heit wird fast bei jeder Darlegung des Unterschieds zwischen den beiden Testamenten hervorgehoben; klarer als irgendwo sonst findet sie sich im Hebräerbrief. Der Apostel hat da einen harten Streit gegen Leute zu führen, die da meinten, wenn man die Beobachtung des mosaischen Gesetzes abschaffte, so würde zugleich alle rechte Ver­ehrung Gottes in schwerste Zerrüttung geraten. Um diesen Irrtum zu widerlegen, greift der Apostel zunächst auf die Weissagungen der Propheten über Christi Priestertum zurück; denn wenn ihm ein ewiges Priestertum zukommt, so ist es mit seiner Erscheinung um jenes Priestertum geschehen, in dem ein Priester auf den andern folgte (Hebr. 7,23). Dieses neue Priesteramt geht also unbedingt vor; das beweist der Apostel aus dem Eid, mit dem es Gott bekräftigt hat (Hebr. 7,21). Er führt dann weiter aus, mit dieser Veränderung des Priestertums sei auch der Bund verändert worden (Hebr. 8,6-13). Diese Veränderung erweist er dann als not­wendig, weil ja das Gesetz zu kraftlos war, um zur rechten Vollkommenheit zu führen! (Hebr. 7,19). Dann geht er der Frage nach, worin denn diese Kraftlosigkeit des Gesetzes bestanden habe: er findet sie darin, daß es bloß äußere, fleisch­liche Gerechtigkeitsordnungen bot; diese aber vermochten den, der sie erfüllte, nicht nach dem Gewissen vollkommen zu machen, weil man ja mit Tieropfern die Sünde nicht abtun und auch keine wirkliche Heiligkeit erlangen konnte! Daraus ergibt sich dann der Schluß: das Gesetz trug nur einen Schatten der zukünftigen Dinge in sich, nicht aber das wirkliche Bild! (Hebr. 10,1). Damit hat also das Ge­setz nur die Aufgabe gehabt, Einführung und Hinleitung zu jener besseren Hoff­nung zu sein, die uns im Evangelium offenbart wird! (Hebr. 7,19; vgl. Ps. 110,4; Hebr. 7,11; 9,9; 10,1; diese Zitate zum Ganzen!).

Hier gewinnen wir nun den rechten Maßstab zum Vergleich des Bundes unter dem Gesetz mit dem Bunde unter dem Evangelium, des Amtes Christi mit dem Amte des Mose! Würde der Vergleich die Verheißungen selber in ihrer Sache treffen, so bestünde offenbar ein gewaltiger Zwiespalt zwischen den beiden Testa­menten; aber unsere Untersuchung führte uns ja bereits auf einen anderen Weg, und wir müssen ihr folgen, um die Wahrheit zu finden. Wir stellen also den Bund

 

in die Mitte, den Gott für die Ewigkeit gemacht hat und nicht untergehen lassen wird. Seine Erfüllung, durch die er also erst volle Gewähr und Bestätigung erhält, ist Christus. Solange nun diese Bestätigung erwartet wird, schreibt der Herr durch Mose die Zeremonien vor, die gewissermaßen feierliche Zeichen dieser Bestätigung sind. Da kam es aber zu der strittigen Frage, ob diese Zeremonien, die im Gesetz verordnet waren, Christus zu weichen hätten. Nun waren diese Zeremonien gewiß bloß hinzugekommene Bestandteile, ja vielmehr gar Zu­sätze und Anhänge zum Gesetz oder, wie man gemeiniglich sagt: Zugaben; aber sie waren nun doch auch Werkzeuge zum Vollzug des Bundes und trugen deshalb den Namen „Bund“, wie man ihn auch sonstigen feierlichen Handlungen zuzuschreiben pflegt. Also — um es zusammenzufassen —: unter dem Alten Testa­ment verstehen wir hier den feierlichen Vollzug jener Bestätigung des Bundes, wie er durch Zeremonien und Opfer geschah. Darin liegt nun aber nichts Zuver­lässiges oder Vollkommenes, wenn man nicht weiter schreitet, und deshalb behauptet der Apostel: Dieser Vollzug muß veralten und abgeschafft werden, damit Christus als dem Bürgen und Mittler Raum geschafft wird, ihm, der für die Erwählten einmal eine ewige Heiligung vollbracht und alle Übertretungen ausgelöscht hat, die unter dem Gesetz geblieben waren! Man kann es sich aber auch so klarmachen: „Alt“ war dieser Bund des Herrn deshalb, weil er in die schattenhafte und an sich unwirksame Ausübung von Zeremonien gehüllt war. Deshalb war er auch bloß zeitlich und gewissermaßen in der Schwebe, bis er durch gewisse und klare Bestätigung rechten Bestand erhielt! Dann aber hat ihn der Herr neu und ewig gemacht, ge­heiligt und gegründet im Blute Christi. Deshalb sagte Christus auch, als er im Abendmahl seinen Jüngern den Kelch reichte: „Dies ist der Kelch, das neue Testament in meinem Blut ...“ (Luk. 22,20). Damit wollte er doch wohl sagen, erst dann gewinne der Bund Gottes wirklich Bestand und Wahrheit, die ihn zu einem neuen und ewigen Bunde macht, wenn er mit seinem Blute versiegelt sei.

 

 

 

II,11,5

 

Hier ergibt sich nun ganz deutlich, was der Apostel meint, wenn er schreibt, die Juden seien unter der Zuchtmeisterschaft des Gesetzes auf Christus zugeführt wor­den, als dieser noch nicht im Fleische offenbar geworden war (Gal. 3,24; 4,1). Er erkennt damit an, daß auch sie Söhne und Erben Gottes waren. Aber sie mußten wegen ihrer Jugend noch unter der Hut eines Zuchtmeisters stehen. Denn solange die Sonne der Gerechtigkeit noch nicht aufgegangen war, konnte ja der Schein der Offenbarung, konnte die Klarheit des Erkennens noch nicht so stark sein! Der Herr hat ihnen eben das Licht seines Wortes so zugemessen, daß sie es noch recht dunkel und bloß von ferne erschauten. Diese dürftige Erkenntnis nennt nun Paulus „Kind­heit“: Gott wollte die Gläubigen in diesem Zustande in den Anfangsgründen dieser Welt und im Halten äußerlicher Vorschriften, also gewissermaßen nach der Art des Neulingsunterrichts, üben, bis Christus in seinem Glanze hervorstrahlte; durch ihn sollte die Erkenntnis der Gläubigen zum Mannesalter heranwachsen (Anklang an Eph. 4,13). Diese Unterscheidung hat Christus selbst ausgesprochen; wir hören einerseits: „Das Gesetz und die Propheten haben geweissagt bis auf Johannes“ (Matth. 11,13) — und dann zeigt er anderseits, wie seit Johannes das Reich Gottes gepredigt wird! Was haben aber Gesetz und Propheten den Menschen ihrer Zeit vermittelt? Sie haben ihnen offenbar einen Vorgeschmack jener Weisheit ge­geben, die einst rein und klar offenbart werden sollte, und sie haben auf sie gedeutet wie auf ein in der Ferne aufglänzendes Licht. Wo man aber mit dem Finger auf Christus selbst weisen kann, da ist das Reich Gottes erschlossen. Denn „in ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3) durch die wir nahe zu den verborgenen Herrlichkeiten des Himmels gelangen!

 

II,11,6

 

Dieser Tatsache tut auch die Einsicht keinen Abbruch, daß in der christlichen Kirche kaum jemand zu finden ist, der an Kraft und Tiefe des Glaubens mit Abraham zu vergleichen wäre, und daß den Propheten eine Kraft und Gewalt gegeben war, die noch heute den ganzen Erdkreis in strahlendes Licht hüllt! Denn es handelt sich hier nicht darum, wieviel Gnade Gott einzelnen zuteil werden ließ, sondern welche Regel und Ordnung er bei der Unterweisung seines Volkes befolgt hat. Und diese Betrachtung findet auch auf die Propheten Anwendung, die sich an Erkennt­nis vor den anderen auszeichneten. Denn ihre Verkündigung ist dunkel, als ob es sich um ganz ferne Dinge handelte, auch ist sie unter allerlei Bildern verhüllt! Wie wundersam tief ihre Erkenntnis auch sein mochte — sie mußten sich ja doch der am Volke allgemein geschehenden Erziehung mit unterstellen und anpassen und gerieten dadurch in eine Reihe mit den Unmündigen. Und schließlich: sie haben keine einzige Einsicht gehabt, die nicht an irgendeiner Stelle etwas von der Dunkelheit der Zeit merken ließe. Deshalb lehrt Christus: „Viele Könige und Propheten haben begehrt, zu sehen, was ihr seht, und haben’s nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben’s nicht gehört ...“ „Darum selig sind eure Augen, daß sie sehen, und eure Ohren, daß sie hören!“ (Matth. 13,17.16; Luk. 10,24.23). Christi Gegenwart hat billigerweise den Vorzug in höchstem Maße mit sich gebracht, daß nun die Offenbarung der himmlischen Geheimnisse leuchtender hervorbrach! Hierhin gehört auch das bereits angeführte Wort aus dem ersten Petrusbrief, wonach den Pro­pheten die Offenbarung zuteil wurde, aber doch so, daß ihr Dienst sich vor allem unserem Zeitalter als nützlich erweist (1. Petr. 1,12).

 

 

 

II,11,7

Damit komme ich zur dritten Verschiedenheit. Sie ergibt sich aus einem Wort des Jeremia: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen; nicht wie der Bund ge­wesen ist, den ich mit ihren Vätern gemacht habe, da ich sie bei der Hand nahm, daß ich sie aus Ägyptenland führte, welchen Bund sie nicht gehalten haben, und ich sie zwingen mußte, spricht der Herr. Sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel machen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben ... und wird keiner den anderen noch ein Bruder den anderen lehren ... sondern sie sollen mich alle kennen, beide, klein und groß ... denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben ...“ (Jer. 31,31-34; Calvin dreht die Reihenfolge teilweise um). Diese Worte haben dem Apostel zu einem Vergleich zwischen Gesetz und Evangelium Anlaß gegeben: er nennt das Gesetz eine Lehre des Buchstabens, das Evangelium eine Lehre des Geistes; das Gesetz, sagt er, sei auf steinerne Tafeln geschrieben, das Evangelium ins Herz eingegraben; das Gesetz gilt so als Predigt des Todes, das Evangelium als Predigt des Lebens, das Gesetz Predigt die Verdammnis, das Evangelium die Gerechtigkeit, das Gesetz hört auf, das Evangelium bleibt! (2. Kor. 3,6-11). Der Apostel will zunächst deutlich aussprechen, was der Prophet meinte; und deshalb könnte es genügen, einen von beiden zu hören, um beider Ansicht kennenzulernen. Aber es besteht doch auch ein gewisser Unterschied zwischen ihnen. Denn der Apostel spricht schärfer gegen das Gesetz als der Prophet. Das geschieht nicht einfach des Gesetzes selber wegen, sondern weil es damals unverständige Verteidiger des Gesetzes gab, die durch ihr verkehrtes Trachten nach äußeren Gebräuchen den Sinn des Evangeliums verfinster­ten! Unter Berücksichtigung ihres Irrtums und ihres törichten Bemühens um das Gesetz setzt er sich mit ihnen über das Wesen dieses Gesetzes auseinander. Diese Eigenart der Worte des Apostels darf nicht übersehen werden. Aber es halten ja doch beide (der Prophet und der Apostel) das Alte und das Neue Testament gegen­einander, und beide sehen am Gesetz nur das an, was ihm wirklich eigen ist. Ich will ein Beispiel nennen: das Gesetz enthält zwischendurch eine ganze Reihe von Ver­heißungen göttlicher Barmherzigkeit; aber die stammen aus einer anderen Quelle

 

und kommen nicht in Betracht, wenn man vom eigentlichen Wesen des Ge­setzes reden will! Deshalb schreiben sie beide, der Prophet wie der Apostel, dem Ge­setz selbst nur dies zu: es verordnet das Rechte, verbietet das Unrecht, verheißt denen, die Gerechtigkeit tun, den Lohn und droht den Übertretern mit Strafe — die Verkehrtheit des Herzens aber, die doch von Natur in allen Menschen steckt, läßt es unterdessen unverändert und unausgefegt!

 

 

 

II,11,8

 

Wir wollen jetzt dem Vergleich des Apostels einzeln nachgehen. Das Alte Testament ist eine Buchstabenlehre; denn es ist ohne die Machtwirkung des Heiligen Geistes verkündet worden. Das Neue Testament ist geistlich: denn der Herr hat es durch den Geist den Menschen ins Herz eingegraben! Der zweite Gegensatz ist eine Erklärung des ersten: das Alte Testament bringt den Tod — denn es vermag ja nichts anderes, als über die ganze Menschheit den Fluch zu bringen! —, das Neue Testament aber ist das Werkzeug des Lebens: denn es macht uns vom Fluche frei und bringt Gottes Gnade über uns. Dementsprechend ist das Alte Testament ein Dienst der Verdammnis — denn es überführt ja alle Kinder des Adam der Ungerechtigkeit und klagt sie an! —, das Neue Testament da­gegen ist das Amt der Gerechtigkeit: denn es offenbart ja Gottes Barmherzig­keit, durch die wir gerechtfertigt werden! Der letzte Gegensatz (Vergänglichkeit — Ewigkeit, 2. Kor. 3,11) bezieht sich dagegen auf die Zeremonien im Gesetz. Denn da bot sich ja nur ein Bild von Dingen, die noch nicht da waren — und deshalb mußte das alles mit der Zeit vergehen und schwinden. Das Evangelium dagegen stellt uns die Sache, den Leib, selbst vor Augen und behält deshalb unverrückbar seinen Bestand! Zwar nennt Jeremia auch das sittliche Gesetz (leges morales) einen schwachen und gebrechlichen Bund; aber das geschieht aus einem anderen Grunde: nämlich weil durch den plötzlichen Abfall des undankbaren Volkes dies Ge­setz so bald zerbrochen worden war; weil es sich aber dabei eben um eine schuldhafte Gesetzesübertretung des Volkes handelte, so bezieht sich diese Bemerkung nicht auf den Alten Bund selbst. Die Zeremonien dagegen, die um ihrer Kraftlosig­keit willen mit dem Kommen Christi von selber aufhörten, hatten den Grund zu dieser Kraftlosigkeit in sich selber.

 

Die Unterscheidung von Buchstaben und Geist darf man endlich nicht so verstehen, als ob der Herr den Juden sein Gesetz ganz ohne Frucht gegeben hätte, also keiner zu ihm bekehrt worden wäre, vielmehr dient dieser Gegensatz (Buch­stabe — Geist) einem Vergleich: er soll den Reichtum der Gnade preisen, mit wel­cher der gleiche Gesetzgeber, gewissermaßen als eine neue Person, die Predigt des Evangeliums ausgezeichnet hat. Wenn wir nämlich die Zahl derer ermessen, die Gott aus allen Völkern durch seinen Geist wiedergeboren und durch die Predigt seines Evangeliums seiner Kirche eingeordnet hat, so werden wir allerdings sagen: es waren ganz wenige Menschen, ja fast gar keine, die einst in Israel den Bund des Herrn von ganzem Herzen angenommen haben — und doch sind es viele, wenn man ihre bloße Zahl ins Auge faßt und Vergleiche unterläßt!

 

 

 

II,11,9

Aus jener dritten Unterscheidung ergibt sich von selbst die vierte. Die Schrift nennt das Alte Testament ein Testament der Knechtschaft, weil es ja im Herzen Furcht erzeugt; das Neue Testament heißt demgegenüber ein Testament der Frei­heit, weil es uns innerlich zuversichtlich und gewiß macht. So schreibt Paulus im achten Kapitel des Römerbriefs: „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: ‚Abba, lieber Vater!’“ (Röm. 8,15). Hier­her gehört auch, was wir im Hebräerbrief lesen: „Ihr seid nicht gekommen zu dem (leiblichen) Berge, ... der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel und Finsternis und Ungewitter“, wo ja alles, was man sah und hörte, nur Furcht und Grausen ein­jagte, so daß auch Mose sich entsetzte, als jene schreckliche Stimme ertönte, die allen

 

entsetzlich war zu hören, — „sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem ...“ (Hebr. 12,18-22). Der Gesichtspunkt, den wir Paulus eben im Römerbrief kurz vorbringen hörten, wird von ihm im Galaterbrief mit größerer Ausführlichkeit entfaltet. Er deutet dort das Wesen der beiden Söhne Abrahams in sinnbildlicher Weise an. Hagar ist unfrei, ist eine Magd, und sie dient zum Bilde des Berges Sinai, wo Israel das Gesetz empfing! Sara ist demgegenüber die Freie und gilt als Bild des himmlischen Jerusalem, von dem das Evangelium herkommt! Denn wie die Nach­kommenschaft der Hagar unfrei geboren wird, weil sie eben nie Anteil am Erbe gewinnt, die Kinder der Sara aber frei geboren werden, weil ihnen das Erbteil zukommt — so werden wir durch das Gesetz der Knechtschaft unterworfen und allein durch das Evangelium zur Freiheit neu geboren! (Gal. 4,22-31). Der Sinn dieser bildlichen Ausdeutung ist der: Das Alte Testament hat dem Gewissen Schrecken und Furcht gebracht; das Neue Testament bringt uns Gottes Wohltat und erfüllt das Herz mit Freude! So hat also das Alte Testament die Gewissen im Joche der Knechtschaft gehalten, während uns das Neue durch Großmut frei macht! Nun könnte man mir aber aus dem Volke Israel die heiligen Väter ent­gegenhalten, die doch ganz gewiß denselben Geist des Glaubens empfangen haben wie wir, und deshalb notwendig auch an der gleichen Freiheit und Freude Anteil gehabt haben müssen. Ich antworte darauf: Das stammt aber beides nicht aus dem Gesetz; diese Männer haben es erfahren, wie sie das Gesetz und ihre Stellung unter der Knechtschaft drückte, wie das Gewissen sie mit seiner Unruhe peinigte — und da haben sie sich unter den Schutz des Evangeliums geflüchtet; so war es also im eigentlichen Sinne eine Frucht des Neuen Testaments, wenn sie ohne das Gesetz des Alten Bundes von solcher Not frei wurden! Außerdem haben sie nach meiner Anschauung den Geist der Freiheit und Gewißheit nicht, in dem Sinne empfangen, daß sie nun etwa gar keine Furcht oder Knechtung vom Gesetz her erlebt hätten! Ob sie auch wohl jenes herrliche Vorrecht genossen, das sie durch die im Evange­lium uns entgegentretende Gnade empfangen hatten, so waren sie doch den gleichen Bindungen und Lasten in der Ausübung äußerer Zeremonien unterworfen wie an­dere Leute auch. So waren sie also verpflichtet, die äußeren Ordnungen gründlich einzuhalten, die doch Zeichen einer Zucht waren, die der Knechtschaft ähnlich sah, Hand­schriften, in denen sie sich als Sünder bekannten — und die sie nicht zu tilgen ver­mochten! Wenn man sie deshalb mit uns vergleicht und wenn man die allgemeine Ordnung beachtet, die der Herr damals seinem Volke Israel gegenüber anwandte, so muß man mit Recht sagen, daß auch diese heiligen Väter noch unter dem Testa­ment der Knechtschaft und der Furcht gestanden haben.

 

 

 

II,11,10

Die drei zuletzt genannten Vergleichungen betrafen Gesetz und Evange­lium; in ihnen wird also das Gesetz als Altes, das Evangelium als Neues Testament bezeichnet. Nur die allererste Unterscheidung ist umfassender: sie umfaßt auch die vor dem Gesetz gegebenen Verheißungen! Diese Verheißungen selbst will nun Augustin unter keinen Umständen zum Alten Testament gerechnet wissen; und er hat darin völlig recht. Denn er hat damit nur zeigen wollen, was auch wir lehren: hat er doch ebenfalls jene Aussprüche des Jeremia und des Paulus vor Au­gen, in denen das Alte Testament von dem Wort der Gnade und Barmherzigkeit unterschieden wird! Sehr durchdacht ist es auch, wenn er an derselben Stelle noch hinzusetzt: seit Anbeginn der Welt gehörten alle Kinder der Verheißung, alle, die Gott wiedergeboren hat, alle, die im Glauben, der in der Liebe tätig ist, den Geboten gehorcht haben, zum neuen Bunde! Dabei hofften sie nicht auf fleischliche, irdische, zeitliche Dinge, sondern auf geistliche, himmlische, ewige Güter. Vor allem aber glaubten sie an den Mittler; und sie wußten gewiß, daß er ihnen den Geist darreichte, um Gutes zu tun, und daß er ihnen Vergebung gewährte,

 

wenn sie sündigten! (An Bonifacius III,4). Eben dies hatte auch ich zu beweisen die Absicht: Alle Heiligen, die Gott seit Anbeginn der Welt erwählt hat, wie die Schrift uns berichtet, sind auch des gleichen Segens zu ihrem ewigen Heil teil­haftig geworden wie wir. Nun sagt aber Christus: „Das Gesetz und die Propheten haben geweissagt bis auf Johannes“ (Matth. 11,13), und seitdem wird das Reich Gottes gepredigt. So besteht nun zwischen meiner Darstellung dieser Verschieden­heit und der des Augustin ein Unterschied: ich unterscheide zwischen der Klarheit des Evangeliums und der dunkleren Verlautbarung des Wortes in der ver­gangenen Zeit; Augustin dagegen unterscheidet einfach das Gesetz in seiner Kraftlosigkeit vom Evangelium mit seiner Kraft und Sicher­heit.

 

Freilich muß hier doch auch gesagt werden: die heiligen Väter haben ihr Leben unter dem Alten Testament so geführt, daß sie nicht daran hängenblieben, sondern sich stets nach dem Neuen ausgestreckt und daran sogar wirklich Anteil gehabt ha­ben! Denn der Apostel spricht ja das Verdammungsurteil über die, welche sich mit den gegenwärtigen Schatten zufrieden gaben und sich nicht innerlich auf Christus hin ausrichteten. Und das ist ja auch so: lassen wir selbst alles andere beiseite, so gibt es doch nichts Törichteres, als von der Schlachtung eines Stücks Vieh Sühne für die Sünde zu erhoffen, von der äußeren Besprengung mit Wasser eine Reinigung der Seele zu erwarten oder mit törichten Zeremonien Gottes Wohlgefallen zu su­chen, als ob er daran gerade seine Freude hätte! Zu lauter solchem Unfug kommt man, wenn man ohne den Blick auf Christus an der äußerlichen Beobach­tung des Gesetzes hängenbleibt!

 

 

 

II,11,11

Man kann noch eine fünfte Unterscheidungsart zufügen; sie beruht darauf, daß der Herr bis zum Kommen Christi nur ein einziges Volk abgesondert und er­wählt hat, um seinen Gnadenbund gleichsam darin einzuschließen. „Da der Aller­höchste die Völker verteilte, als er zerstreute der Menschen Kinder“, so hören wir bei Mose, „... da nahm er Israel zu seinem Teil, und Jakob ist sein Erbe“ (Deut. 32,8f.; nicht Luthertext). An anderer Stelle redet er das Volk an: „Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel, die Erde und alles, was darinnen ist, das ist des Herrn, deines Gottes. Dennoch hat er allein zu deinen Vätern Lust gehabt, daß er sie liebte, und hat ihren Samen erwählt nach ihnen, euch, aus allen Völkern ...“ (Deut. 10,14f.). Diesem Volk allein also hat er die Kenntnis seines Namens zu­teil werden lassen, als ob es allein unter allen Menschen ihm gehörte, seinen Bund hat er ihm gewissermaßen in den Schoß gelegt, seine göttliche Majestät hat er ihm gegenwärtig offenbart, mit allerlei Vorrechten hat er es geschmückt. Ich will aller anderen Wohltaten schweigen und nur das erwähnen, was hier am wichtigsten ist: er hat diesem Volke sein Wort gegeben und es so in seine Gemeinschaft gezogen, so daß er also sein Gott hieß, als sein Gott galt! Unterdessen ließ er alle anderen Völker in Eitelkeit ihre eigenen Wege gehen (Apg. 14,16) — als ob sie nichts mit ihm zu tun hätten! Ihnen bot er auch nicht das einzige Mittel zur Rettung aus solchem Elende: nämlich die Predigt seines Wortes! So war dazumal Israel sein geliebter Sohn, die anderen waren Fremde; es war ihm bekannt und unter sei­nen Schutz und Schirm genommen, die anderen blieben in ihrer Finsternis; es war von Gott geheiligt, die anderen waren gottfern (profani); es war der Gegenwart Gottes gewürdigt, den anderen war jede Annäherung verschlossen! Aber als „die Zeit erfüllet war“, daß alle zurechtgebracht werden sollten, und er, der Versöhner zwischen Gott und den Menschen, offenbar wurde, da wurde die Scheidewand nie­dergerissen, die Gottes Barmherzigkeit so lange auf Israel begrenzt hatte, da wurde Friede verkündigt denen, die fern waren, wie auch denen, die nahe waren, so daß sie nun, beide mit Gott versöhnt, auch untereinander zu einem geistlichen Volke zusammenwüchsen! (Eph. 2,14-17). So gilt denn hier weder Jude noch Grieche

 

(Gal. 3,28), weder Beschneidung noch Nichtbeschnittensein (Gal. 6,15), sondern „alles und in allen Christus!“ (Kol. 3,11). Denn ihm sind alle Völker zum Erbe gegeben, die Enden der Erde zum Eigentum (Ps. 2,8), daß er ohne Unterschied herrsche von Meer zu Meer, von den Wassern bis zum äußersten Ende der Welt! (Ps. 72,8 u.a. — z.B. Sach. 9,10).

 

 

 

II,11,12

 

Die Berufung der Heiden ist also ein herrliches Zeichen, das die Über­legenheit des Neuen Testaments über das Alte deutlich macht. Sie war gewiß schon von den Propheten in vielen und herrlichen Offenbarungssprüchen bezeugt; aber die Erfüllung fiel dabei stets in das Messiasreich! Sogar Christus selber ist nicht gleich zu Anfang seiner Verkündigung dazu geschritten; sondern er hat das aufgeschoben bis dahin, wo er unsere Erlösung vollkommen vollbracht hatte, nämlich wo die Zeit seiner Erniedrigung zu Ende war und er vom Vater jenen „Namen“ empfangen hatte, der „über alle Namen ist, vor dem sich beugen sollen aller ... Knie ...“ (Phil. 2,9). Als diese Gnadenzeit noch nicht da war, gab er dem kanaanäischen Weibe die Auskunft: „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel“ (Matth. 15,24). Auch die Apostel erhalten bei ihrer ersten Aussen­dung den ausdrücklichen Befehl, nicht über Israels Grenzen hinauszugehen! (Matth. 10,5f.). „Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel!“

 

Mochten aber auch noch so viele Stellen in der Schrift von der Berufung der Heiden reden, so kam sie doch den Aposteln, als sie durch ihre Arbeit den Anfang nehmen sollte, ganz neu und ungewohnt vor, ja sie entsetzten sich davor wie vor et­was Schrecklichem! Schließlich haben sie ihren Auftrag in Angriff genommen, doch nur furchtsam und widerstrebend. Das kann uns nicht wundernehmen: es schien wirk­lich recht widersinnig, daß der Herr, der Israel so lange Jahrhunderte hindurch von den anderen Völkern abgesondert hatte, nun plötzlich seinen Plan gewandelt haben und die von ihm selbst getroffene Wahl ändern sollte! Es war das gewiß in Weissagungen vorhergesagt — aber so sehr konnten sie nicht auf diese blicken, daß ihnen die Sache selbst in ihrer Neuheit, wie sie sich ihnen vor Augen stellte, nichts mehr ausgemacht hätte. Auch die Beispiele, die Gott für die künftige Berufung der Heiden bereits gegeben hatte, waren doch nicht ausreichend, um sie mit der Sache zu befreunden. Denn einmal waren es ja nur ganz wenige, die Gott bereits berufen hatte — und dann hatte er sie ja auch gewissermaßen in Abrahams Geschlecht ein­gefügt, so daß sie zu seinem Volke hinzukamen! Diese neue Berufung aber ge­schah frei öffentlich, und sie stellte die Heiden den Juden gleich, ja es schien, als wären die Juden alle miteinander verstorben und die Heiden an ihre Stelle getre­ten! Nun muß man bedenken, daß auch jene wenigen Fremden, die Gott ehedem in seine Kirche aufgenommen hatte, ja keineswegs den Juden gleichgestellt waren. Es ist gewiß nicht unrichtig, wenn Paulus dies ein Geheimnis nennt und als solches so eifrig verkündigt, ein Geheimnis, das Jahrhunderten und Generationen verbor­gen war und das, wie er sagt, selbst den Engeln ein Wunder ist! (Kol. 1,26; vgl. 1. Petr. 1,12).

 

 

 

II,11,13

Mit diesen vier oder fünf Stücken hoffe ich den ganzen Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament entfaltet zu haben, soweit es die Schlichtheit der Lehre erfordert. Aber es gibt Leute, die es für einen großen Widersinn erklären, daß Gott seine Kirche auf so verschiedene Weise gelenkt, so mehrfältig gelehrt und ihr eine so große Unterschiedlichkeit der äußeren Gebräuche gegeben habe. Bevor wir weitergehen, müssen diese Leute eine Antwort haben. Das kann recht kurz vor sich gehen; denn ihre Einwendungen sind nicht so wesentlich, daß eine gründliche Widerlegung nötig wäre. Man sagt also: Es ist nicht einzusehen, warum denn Gott, der sich doch stets gleichbleibt, eine derartige Veränderung erfahren haben könnte, daß er, was er einmal befohlen und angeordnet hatte, nun später verworfen hätte.

 

Ich antworte: Wenn Gott zu verschiedenen Zeiten verschiedene Einrichtungen getroffen hat, je nachdem er es für heilsam hielt, so kann man ihn deshalb keineswegs für veränderlich erklären. Wenn ein Bauer seinem Gesinde im Winter andere Aufgaben erteilt als im Sommer, so können wir ihn deswegen doch nicht für wankel­mütig erklären; auch dürfen wir ihm keine Abweichung von den Grundsätzen des Ackerbaus vorwerfen, der doch gerade mit dem regelmäßigen Ablauf der Natur (cum perpetuo naturae ordine) zusammenhängt. Und ähnlich: wenn ein Vater seine Kinder in der Kindheit, im Jugendalter und in der reiferen Jugendzeit je anders erzieht, regiert und behandelt, so kann man ihn doch deshalb nicht für leichtsinnig oder wankelmütig halten! Wie sollen wir aber dann Gott Unbeständigkeit vorwer­fen, weil er die Verschiedenheit der Zeiten auch in entsprechender Weise äußerlich hat zur Geltung kommen lassen? Ich will zum Schluß noch ein letztes Gleichnis nen­nen — das muß uns dann genug sein! Paulus vergleicht nämlich die Juden mit unmündigen Kindern, die Christen mit reiferen Jünglingen (Gal. 4,1ff.). Was soll dann aber Unordentliches daran sein, wenn Gott in seiner Regierung die Juden mit den Anfangsgründen befaßte, die dem Maß ihres Alters entsprachen, und wenn er anderseits uns schon in kräftigerer, sozusagen männlicherer Lehre unterwies? Gottes Beständigkeit kommt also darin zum Vorschein, daß er Menschen aller Zeiten die gleiche Lehre hat verkündigen lassen: die Verehrung seiner göttlichen Majestät, die er einst im Anfang vorgeschrieben hat, verlangt er fort und fort! Daß er dabei jedoch verschiedene äußere Gestalt und Art anwendet, ist keineswegs ein Beweis da­für, daß er der Veränderlichkeit unterworfen wäre; nein, er hat sich in etwa nach dem Verständnis des Menschen, das ja verschieden und veränderlich ist, gerichtet!

 

 

 

II,11,14

 

Aber man fragt weiter: Woher denn diese Verschiedenartigkeit? Gott muß sie doch so gewollt haben! Und konnte er nicht seit Anbeginn der Welt wie auch nach dem Kommen Christi das ewige Leben in klaren Worten ohne alle bildlichen Dar­stellungen offenbaren, die Seinen mit wenigen und klaren Sakramenten erziehen, den Heiligen Geist den Menschen zuteil werden und seine Gnade über alle Welt kom­men lassen? Das ist aber genau so, als wenn man mit Gott rechten wollte, warum er die Welt so spät geschaffen habe, obwohl er es doch gleich zu Anfang hätte tun können, und warum er einen regelmäßigen Wechsel zwischen Winter und Sommer, Tag und Nacht festgesetzt hat. Wir aber — das müssen alle Frommen so empfin­den — dürfen nicht daran zweifeln, daß alles, was Gott getan hat, weise und gerecht geschehen ist, auch wenn wir oft nicht den Grund wissen, weshalb es so geschehen mußte. Denn es hieße doch wohl, uns allzuviel anzumaßen, wenn wir Gott das Recht abstreiten wollten, bei seinem Ratschluß seine besonderen Gründe zu haben, die uns verborgen sind.

Man fragt aber noch weiter: Es ist doch verwunderlich, daß er heutzutage Tier­opfer und den ganzen Apparat des levitischen Priestertums verwirft und mit Ab­scheu von sich weist, an denen er sich doch einst erfreut hat! Als ob diese hinfälligen und kraftlosen Äußerlichkeiten Gott hätten erfreuen oder ihn überhaupt nur be­rühren können! Es wurde uns ja schon deutlich, daß er das alles nicht um seiner selbst willen gemacht, sondern zum Heil der Menschen angeordnet hat. Hat der Arzt einen Menschen als Jüngling tadellos geheilt und verwendet er dann bei dem­selben Menschen, wenn er alt geworden ist, andere Mittel und Wege zur Heilung, so werden wir doch nicht sagen, er hätte die Heilweise verworfen, die er einst ver­wendet! Nein, gerade weil er beständig bei der gleichen Heilweise bleibt, so berück­sichtigt er das Lebensalter des Kranken! So mußte Christus, als er noch nicht da war, mit besonderen Zeichen vorgebildet und als der Kommende angekündigt werden — und diese Zeichen waren andere als die, die ihn heute, da er offenbar geworden ist, darstellen müssen. Freilich, heute, nach dem Kommen Christi, geht Gottes Ruf wei­ter, als es zuvor geschah, er ergeht ja über alle Völker hin; die Gnade seines Hei­ligen Geistes ist nun reicher ausgegossen als einst; aber ich frage doch: will man

 

denn leugnen, daß es billigerweise in Gottes Hand und Ermessen steht, wie er seine Gnade austeilen und zu welchen Völkern er sie dringen lassen will? Soll nicht er die Entscheidung darüber haben, an welchen Orten er die Predigt seines Wortes geschehen lassen und wie viel Fortschreiten und Erfolg er ihr gewähren will? Hat er nicht das Recht, der Welt in ihrer Undankbarkeit zu jeder Zeit, da er will, die Kenntnis seines Namens zu entziehen, sie aber auch, wann er will, nach seiner Barmherzigkeit wieder zu gewähren? Wir sehen: es sind also unwürdige Schmähungen, mit denen die Gottlosen in diesem Stück das Gewissen schlichter Leute beunruhigen um Gottes Gerechtigkeit und auch die Vertrauenswürdigkeit der Schrift in Zweifel zu ziehen.

Zwölftes Kapitel

 

 

 

Um das Mittleramt ausrichten zu können, mußte Christus Mensch werden.

 

 

 

II,12,1

 

Es war von größter Wichtigkeit für uns, daß der, welcher unser Mittler sein sollte, wirklich wahrer Gott und wahrer Mensch wäre. Das beruht nun freilich nicht, wie man sagt, auf einer „einfachen“ oder „absoluten“ Notwendigkeit, sondern es er­gibt sich aus dem himmlischen Ratschluß, von dem das Heil der Menschen abhing. Der Vater hat eben in seiner Freundlichkeit beschlossen, was nach seiner Fest­setzung für uns das Beste war! Denn unsere Ungerechtigkeit stand ja wie eine Wolke zwischen uns und ihm, sie entfremdete uns gänzlich vom Himmelreich, und deshalb konnte uns keiner wieder Frieden schaffen als der, der vollen Zutritt zu ihm hatte. Von wem aber sollte das gelten? Wer vermochte das unter den Kindern Adams? Sie zitterten doch alle mit ihrem Urvater zusammen vor Gottes Blick! Vielleicht einer von den Engeln? Aber sie hatten selber ein Haupt nötig, um fest und unzertrennlich mit ihrem Gott in Gemeinschaft zu stehen! Wie sollte es nun werden? Es wäre wahrhaft jämmerlich um uns bestellt gewesen, wenn nicht Gottes Majestät selber zu uns herniedergekommen wäre — denn hinaufsteigen konnten wir ja eben nicht! So mußte der Sohn Gottes für uns zum Immanuel werden, das heißt „Gott mit uns!“, und zwar so, daß seine Gottheit und die menschliche Natur sich aufs innigste miteinander vereinten. Auf keine andere Weise konnte Gott uns ganz nahe­kommen, auf keine andere Art eine feste innere Verbundenheit und damit die zuver­sichtliche Hoffnung entstehen, daß er wahrhaft unter uns wohne! So unausgleichbar war der Abstand zwischen uns in unserer Befleckung und Gott in seiner herrlichen Reinheit! Freilich: hätte auch der Mensch sich von allem Sündenunflat frei gehalten, wäre er rein geblieben, so wäre er dennoch zu niedrig gewesen, um mit Gott ohne den Mittler in Gemeinschaft zu kommen! Was sollte aber dann erst aus ihm werden, als er durch fürchterlichen Zusammenbruch in Tod und Hölle versunken, mit soviel Schande befleckt, in seiner Verderbnis bereits stinkend und gänzlich dem Fluch ver­fallen war? Es ist deshalb nicht unrichtig, wenn Paulus, um Christus als den Mittler zu bezeichnen, ihn ausdrücklich einen Menschen nennt. „Es ist ... ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Jesus Christus!“ (1. Tim. 2,5). Er konnte auch sagen „der Gott ...“, konnte auch beide Bezeich­nungen, Gott und Mensch, weglassen; aber der Heilige Geist, der durch seinen Mund redet, kennt unsere Schwachheit, wollte uns schnell Hilfe bringen und wandte dazu das beste Mittel an: er stellte Gottes Sohn vertraut in unsere Mitte wie einen unseresgleichen! Nun soll sich keiner mehr quälen und fragen, wo man denn diesen Mittler finden könnte oder auf was für einem Wege zu ihm zu gelangen sei: der Geist nennt ihn einen Menschen und zeigt uns damit, daß er uns nahe, ja, daß er unseresgleichen ist, denn er ist ja unser Fleisch und Blut! Das gleiche fin­den wir an anderer Stelle noch deutlicher entfaltet: „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unseren Schwachheiten, sondern der versucht ist allenthalben, doch ohne Sünde“ (Hebr. 4,15).

 

 

 

II,12,2

Das wird uns noch deutlicher werden, wenn wir über die ungewöhnliche Auf­gabe des Mittlers nachdenken. Sollte er uns doch dergestalt bei Gott in Gnade bringen, daß wir aus Menschenkindern zu Gottes Kindern würden, aus Erben der Hölle zu Erben des Himmelreichs. Wer sollte aber dies fertigbringen — sofern nicht der Sohn Gottes auch zum Sohn des Menschen wurde, dabei annahm, was unsere Art ist, und uns zuteil werden ließ, was ihm gehörte, wenn er uns nicht, was ihm von Natur zukam, in Gnaden übermachte? Auf dies Unterpfand ver-

 

lassen wir uns und vertrauen zuversichtlich, daß wir nun Gottes Kinder sind, da ja Gottes natürlicher Sohn einen Leib von unserem Leib, Fleisch von unserem Fleisch, Gebein von unserem Gebein angenommen hat, um uns in allen Stücken gleich zu sein! Er hat sich nicht gescheut, anzunehmen, was uns eigen war, damit wiederum auch uns eigen würde, was ihm zugehört — so daß er jetzt mit uns ganz zusammengehört als Gottes Sohn und Menschensohn. Daher denn diese heilige Bruderschaft, die er selbst mit eigenem Wort so hoch erhebt: „Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott“ (Joh. 20,17). Auf diese Weise sind wir des Himmelreichs als unseres Erbes gewiß, weil ja Gottes ei­niger Sohn, dem dieses Erbe als sicherer Besitz zukommt, uns zu Brüdern ange­nommen hat; sind wir aber seine Brüder, so sind wir auch Mitgenossen seines Er­bes (Röm. 8,17).

 

Aber noch aus einem anderen Grunde mußte der, der uns erlösen sollte, wahrer Gott und wahrer Mensch sein. Denn er sollte ja den Tod überwinden — und wer sollte das vermögen als das Leben? Er sollte die Sünde niederwerfen — und wer sollte das ausrichten als die Gerechtigkeit selber? Die Mächte der Welt, die in der Luft herrschen, sollte er stürzen — und wer sollte das können als eine Kraft, die stärker war als die Welt und alle Gewalten? Bei wem aber ist nun das Leben, bei wem die Gerechtigkeit, bei wem die Herrschaft und Gewalt über alle Himmel — als bei Gott allein? So hat sich Gott in seiner großen Barmherzigkeit selber in der Gestalt seines eingeborenen Sohnes zu unserem Erlöser gemacht, um uns von der Sünde frei zu machen.

 

 

 

II,12,3

 

Das zweite wesentliche Erfordernis für unsere Versöhnung mit Gott bestand darin, daß der Mensch, der durch seinen eigenen Ungehorsam verlorengegangen war, dafür vollkommenen Gehorsam leistete, dem Urteil Gottes Genüge tat und die Strafe für seine Sünde voll und ganz trug. Da trat unser Herr selber als wahrer Mensch ins Mittel, nahm die Gestalt Adams an, legte sich seinen Namen bei, um an seiner Statt dem Vater den schuldigen Gehorsam darzubringen, um unser Fleisch als Versöhnung vor Gottes gerechtes Gericht hinzustellen und in diesem Fleische die Strafe zu leiden, die wir verdient hatten! Aber er konnte den Tod ja allein als Gott nicht wirklich schmecken, konnte ihn anderseits als Mensch nicht überwinden — und deshalb vereinigte er in sich die menschliche Natur mit der göttlichen; so unterlag er nach der Schwachheit der menschlichen Natur dem Tode, um unsere Sünden zu sühnen — und so konnte er nach der Kraft der göttlichen Natur den Kampf gegen den Tod führen, um für uns den Sieg zu erringen! Wer also Christus seiner Gottheit oder auch seiner Menschheit berauben will, der mindert entweder seine Majestät und seine Ehre, oder er verdunkelt seine Güte gegen uns. Aber ebenso groß ist dann auch anderseits das Unrecht, das man dem Menschen zufügt: man erschüttert und verkehrt seinen Glauben, der nur auf diesem Grunde sicher stehen kann.

 

Zudem sollte auch als Erlöser jener Sohn Abrahams und Davids erwartet wer­den, den Gott im Gesetz und in den Propheten verheißen hatte; die Frommen können daraus, daß schon sein Herkommen augenscheinlich bis auf David und Abraham zurückgeht, als weitere Frucht die Gewißheit nehmen: dies ist der Christus, der uns in so vielen Weissagungen gepriesen wird! Vor allem aber müssen wir festhalten, was ich bereits auseinandergesetzt habe: Christi Wesen, das Gott und Mensch ge­meinsam umfaßt, ist die Bürgschaft für unsere Gemeinschaft mit ihm als dem Sohne Gottes, in unserem Fleisch hat er Tod und Sünde niedergeworfen, so daß wir den Sieg haben, wir den Triumph führen dürfen; unser Fleisch hat er angenommen und es zum Opfer dargebracht, um unsere Schuld durch sein Sühnopfer zunichte zu machen und Gottes gerechten Zorn gegen uns zu versöhnen!

 

 

 

II,12,4

 

Wer diese Stücke mit der gebührenden Aufmerksamkeit ins Auge faßt, der wird leicht mit den grundlosen Spekulationen fertig werden, wie sie von leichtfertigen und neuerungssüchtigen Leuten aufgebracht werden. Dazu gehört vor allem die Be­hauptung, Christus wäre auch dann Mensch geworden, wenn es eines Mittels zur Erlösung der Menschheit nicht bedurft hätte. Ich gebe zwar zu: schon bei der Ord­nung der ersten Schöpfung, also im unverdorbenen Zustande, wurde er den Engeln und Menschen zum Haupt gesetzt: er heißt deshalb ja auch bei Paulus „der Erst­geborene vor allen Kreaturen“ (Kol. 1,15). Aber die ganze Schrift sagt doch deut­lich genug aus, daß er unser Fleisch angenommen hat, um unser Erlöser zu wer­den, und deshalb wäre es höchste Vermessenheit, sich einen anderen Grund und einen anderen Zweck dazu zu ersinnen. Es ist doch bekannt, wohin all die Ver­heißungen zielten, die seit dem Anbeginn von Christus zeugten: er sollte die zer­fallene Welt wiederherstellen und den Menschen in ihrer Verlorenheit zu Hilfe kom­men. Deshalb wurde sein Bild unter dem Gesetz in den Opfern angedeutet, da­mit die Gläubigen hofften, Gott werde ihnen gnädig sein, nachdem die Sünde ge­sühnt und er mit ihnen versöhnt wäre! Zu allen Zeiten, schon vor der Verkündung des Gesetzes, geschieht nie eine Verheißung des Mittlers ohne Blut; und daraus müssen wir schließen, daß der Mittler nach Gottes ewigem Ratschluß dazu verordnet gewesen ist, unsere Sünden abzuwaschen; denn das Blutvergießen ist ja ein Zei­chen der Sühne. Die Propheten haben ebenfalls so von ihm gepredigt, daß er in ihrer Verheißung als Versöhner zwischen Gott und den Menschen erschien. Zum Beweise mag hier vor allem das berühmte Zeugnis des Jesaja genügen: er verheißt, der Mittler solle „um unserer Missetat willen“ durch Gottes Hand „zerschlagen“ wer­den, die „Strafe liege auf ihm“, „auf daß wir Frieden hätten“, er werde der Priester sein, der sich selbst zum Opfer darbringe, „und durch seine Wunden“ sollten andere „heil werden“; weil wir alle „in der Irre gingen wie Schafe“, so habe es Gott wohl­gefallen, ihn zu schlagen, daß er unser aller Strafe trüge ... (Jes. 53,4-6). Da hören wir es ja, daß ihn Gott eben dazu berufen hat, armen Sündern in ihrem Jammer Hilfe zu bringen; wer über diese Grenze hinausgeht, der läßt seinem Vor­witz zu sehr die Zügel schießen!

 

Als er dann selber hervortrat, da hat er selbst als Grund für sein Kommen be­tont, er wolle Gott mit uns versöhnen und uns dadurch vom Tode zum Leben führen. Das gleiche haben auch die Apostel von ihm bezeugt. So redet Johannes zunächst von der Sünde des Menschen und dann erst von der Fleischwerdung des Wortes! (Joh. 1,9-11; Joh. 1,14). Aber vor allem müssen wir ihn ja selber hören, wie er von sei­nem Amte sagt: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Le­ben haben“ (Joh. 3,16). „Es kommt die Stunde, daß die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und die sie hören, die werden leben“ (Joh 5,25). „Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubet, der wird leben, und ob er gleich stürbe ...“ (Joh. 11,25). „Des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu ma­chen, was verloren ist ...“ (Matth. 18,11). „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht ...“ (Matth. 9,12). Es wäre kein Ende, wenn ich alles aufzählen wollte!

In voller Einstimmigkeit führen uns auch die Apostel zu der gleichen Quelle. Und es ist auch so: wäre er nicht gekommen, um uns mit Gott zu versöhnen, so käme ihm nicht die Ehre des Priesteramtes zu, denn der Priester stand zur Fürbitte zwi­schen Gott und den Menschen (Hebr. 5,1); er wäre dann auch nicht unsere Gerechtig­keit; denn dies gilt von ihm nur, weil er ja ein Opfer für uns wurde, damit uns Gott unsere Sünde nicht zurechnete (2. Kor. 5,19). Kurz, er ginge dann aller hohen Würden, die ihm die Schrift beilegt, verlustig. Auch fiele das Pauluswort dahin: „Was dem Gesetz unmöglich war, das tat Gott, und sandte seinen Sohn in der Ge­stalt des sündlichen Fleisches ... und verdammte die Sünde im Fleisch“ (Röm. 8,3;

 

Calvin übersetzt etwas anders). Auch das andere Wort müßte dann fortfallen, wonach in diesem Spiegel, nämlich darin, daß Gott uns Christus als Erlöser gegeben hat, „erschienen sei die heilsame Gnade Gottes“ und seine unendliche Liebe ,,allen Menschen“! (Tit. 2,11). Kurz, die Schrift nennt nirgendwo einen anderen Zweck der Fleischwerdung des Sohnes und des Auftrags, den er vom Vater empfangen hat, als den, daß er das Opfer werde, um den Vater mit uns zu versöhnen. „Also ist’s geschrieben, und also mußte Christus leiden ... und predigen lassen in seinem Na­men Buße ...“ (Luk. 24,46f.). „Deshalb liebt mich mein Vater, weil ich mein Le­ben lasse“ „für die Schafe“; „solch Gebot habe ich empfangen von meinem Vater“ (Joh. 10,17f., Anklang von 10,12). „Wie Mose in der Wüste eine Schlange er­höhet hat, also muß des Menschen Sohn auch erhöhet werden“ (Joh. 3,14). Und dann wieder: „Vater, hilf mir aus dieser Stunde. Doch dazu bin ich in diese Stunde gekommen: Vater, verkläre deinen Namen ...“ (Joh. 12,27f.). An diesen Stellen bezeichnet er es selbst deutlich als Zweck der Fleischwerdung: er soll das Opfer und Sühnemittel sein, um unsere Sünde abzutun. Aus diesem Grunde verkündigt auch Zacharias, er sei nach der Verheißung gekommen, die einst den Vätern gegeben wurde, „auf daß er erscheine denen, die da sitzen in (Finsternis und) Schatten des Todes ...“ (Luk. 1,79). Und dies alles wird — das dürfen wir nicht vergessen! — von dem Sohne Gottes gesagt, in welchem nach einem anderen Pauluswort „verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ (Kol. 2,3), und von dem sich Paulus rühmt, er kenne niemand denn ihn allein (1. Kor. 2,2)!

 

 

 

II,12,5

Nun könnte jemand einwenden, Christus sei nun zwar tatsächlich der Erlöser für uns Verdammte; aber wenn wir gesund und unbefleckt geblieben wären, so hätte er uns doch auch dann seine Liebe erweisen können, indem er unser Fleisch angenommen hätte ... Darauf kann ich kurz antworten: Wenn uns der Heilige Geist kundmacht, daß in Gottes ewigem Rat dies beides zusammen bestanden hat, Christus solle uns erlösen und zwar unter Teilhaben an unserer Na­tur, dann ist es uns nicht erlaubt, weiter zu fragen! Denn wer sich von seiner Be­gierde aufstacheln läßt, noch mehr wissen zu wollen, der beweist damit, daß er mit Gottes unabänderlichem Ratschluß nicht zufrieden ist und sich eben deshalb nicht mit dem Christus zufrieden geben will, der uns zum Erlöser gesetzt ist! Paulus zeigt ja auch nicht nur, wozu Christus gesandt sei, sondern er dringt bis in das tiefste Geheimnis der Prädestination hinein und macht damit aller menschlichen Keckheit und allem Vorwitz ein Ende. „Wie er uns denn erwählt hat durch denselben, ehe der Welt Grund gelegt war ... und er hat uns verordnet zur Kindschaft gegen ihn selbst durch Jesum Christum nach dem Wohlgefallen seines Willens ... und hat uns angenehm gemacht in dem Geliebten, an welchem wir haben die Erlösung durch sein Blut ...“ (Eph. 1,4-7). Hier wird offenbar der Fall Adams nicht als ein be­reits zuvor geschehenes Ereignis vorausgesetzt, sondern es wird uns vor Augen ge­stellt, was Gott von Ewigkeit her verordnet hat, da er beschloß, der Mensch­heit in ihrem Jammer zu Hilfe zu kommen! Wenn dann aber einer der Wider­sacher einwendet, dieser Ratschluß Gottes sei eben in dem Sinne vom Falle des Menschen abhängig gewesen, daß Gott ihn doch selber vorhersah, so will ich nur darauf hinweisen: wer über Christus mehr zu fragen sich erlaubt oder mehr wissen will, als Gott in seinem geheimen Ratschluß festgesetzt hat, der macht sich in gottloser Vermessenheit einen neuen Christus! Es ist voll und ganz berechtigt, daß Paulus, wo er in diesem Sinne von dem eigentlichen Amte Christi redet, den Ephesern den Geist der Einsicht wünscht, „auf daß ihr begreifen möget ... welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe, auch erkennen die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft“ (Eph. 3,16.18f.). Es ist, als wollte Paulus unserem Geiste einen Zaun setzen, damit wir beim Nachdenken über Christus nicht das geringste Stück von der Versöhnungsgnade abweichen! Denn es ist ja nach

 

Paulus „gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort, daß Christus Jesus gekommen ist in die Welt, die Sünder selig zu machen ...“ (1. Tim. 1,15). Dabei will ich gern bleiben. An anderer Stelle lehrt der gleiche Apostel, daß die Gnade, die uns jetzt durch das Evangelium kundgetan ist, uns in Christus bereits „vor der Zeit der Welt“ gegeben ist (2. Tim. 1,9); dabei, denke ich, müssen wir bis ans Ende verharren!

 

Gegen diese bescheidene Zurückhaltung begehrt nun Osiander heftig auf; er hat diese Frage, die vor ihm auch von anderen schon leichtsinnig aufgebracht worden war, zu unserer Zeit wieder übel ins Rollen gebracht. Er wirft allen Leuten Ver­messenheit vor, die nicht zugeben wollen, daß Christus auch dann im Fleische er­schienen wäre, wenn Adam nicht gefallen wäre — und zwar, weil diese letztere Phan­tasterei durch keine Stelle der Schrift widerlegt würde! Als ob nun Paulus solchem verdrehten Vorwitz keinen Zügel anlegte, wenn er zunächst von der in Christus geschehenen Erlösung redet — und dann gleich darauf warnt. „Der törichten Fragen aber ... entschlage dich!“ (Tit. 3,9). Der tolle Wahn ist bei einigen derart wild hervorgebrochen, daß sie nun — in der verkehrten Absicht, möglichst scharf­sinnig zu erscheinen! — die Frage aufgeworfen haben, ob denn der Sohn Gottes auch die Natur eines Esels hätte annehmen können! Diese Ungeheuerlichkeit, die jeder fromme Mensch greulich und furchtbar finden wird, entschuldigt Osiander mit dem Vorwand, das würde doch in der Schrift nie ausdrücklich verworfen! Als ob Paulus, wenn er uns sagt, er wisse nichts Köstlicheres und Wissenswerteres als „Christum, den Gekreuzigten“ (1. Kor. 2,2), auch einen Esel als Urheber unseres Heils zuließe! Er, der von Christus sagt: „Gott hat alle Dinge unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt zum Haupte ... über alles“ (Eph. 1,22) — er wird doch keinen anderen als den Christus anerkennen als den, der das Amt der Erlösung er­füllen sollte und konnte!

 

 

 

II,12,6

 

Der Grund aber, auf den Osiander pocht, ist ganz nichtswürdig. Er behauptet: der Mensch ist zum Bilde Gottes geschaffen, und das heißt, er wurde dem Bilde des künftigen Christus nachgebildet: er sollte also bereits dem ähnlich sein, der nach dem Ratschluß des Vaters einst Fleischesgestalt annehmen sollte! Daraus zieht er nun den Schluß: selbst wenn also Adam nie aus seinem ursprünglichen, unbefleckten Schöp­fungsstande herausgefallen wäre, so wäre Christus doch Mensch geworden! Wie lächerlich und ungereimt diese Behauptung ist, wird jedermann erkennen, der vernünftig denken kann. Trotzdem behauptet Osiander, er hätte als erster richtig her­ausbekommen, was eigentlich das „Ebenbild Gottes“ (imago Dei) sei: es wäre näm­lich keineswegs bloß darin zu suchen, daß Gottes Herrlichkeit in den großartigen Gaben, die dem Menschen zuteil geworden waren, hervorleuchtete, sondern Gott hätte eben seinem Wesen nach in ihm gewohnt!

Ich gebe nun zu: Adam hat das Bild Gottes nur insoweit an sich getragen, als er mit Gott verbunden war — denn das ist die wahre und höchste Würde. Aber ich behaupte anderseits, daß die Ähnlichkeit mit Gott nur in jenen herrlichen Merkmalen zu suchen ist, mit denen Gott den Adam vor allen anderen Kreaturen ausgezeichnet hatte! Daß ferner Christus auch damals schon Gottes Ebenbild ge­wesen sei, ist einhellige Überzeugung aller; und deshalb kommt alles, was dem Adam selber an Hoheit geschenkt war, einzig daher, daß er durch den eingeborenen Sohn der Herrlichkeit seines Schöpfers teilhaftig wurde. Der Mensch ist also wirklich nach Gottes Ebenbild geschaffen: der Schöpfer selber wollte in ihm wie in einem Spiegel seine Herrlichkeit sichtbar werden lassen. Daß er zu einer so hohen Würde gelangte, geschah um des eingeborenen Sohnes willen. Aber ich setze doch hinzu: die­ser Sohn war doch selbst auch das Haupt der Engel wie das der Menschen, so daß also die Würde, die dem Menschen zuteil wurde, auch auf die Engel sich erstreckte. Denn diese sind, wie wir hören, „Söhne Gottes“ (Ps. 82,6) — und dann ist es wider-

 

sinnig, nicht anzunehmen, daß auch ihnen etwas innewohnte, in dem sie dem Vater glichen! Gott wollte also seine Herrlichkeit in den Engeln wie in den Men­schen zur Darstellung bringen, wollte sie in beider Natur sichtbar machen — und deshalb ist es ein dummes Geschwätz, wenn Osiander behauptet, die Engel seien da­mals von geringerer Würde gewesen als der Mensch, weil sie ja nicht Christi Bild getragen hätten. Aber (so muß man darauf antworten) sie würden sich doch nicht immerfort des gegenwärtigen Anblicks Gottes erfreuen, wenn sie ihm nicht ähnlich wären; und Paulus kennt ja selbst keinen anderen Weg zur Erneuerung des Eben­bildes Gottes in den Menschen (Kol. 3,10), als daß sie in die Gemeinschaft der Engel aufgenommen und zugleich untereinander unter einem Haupte verbunden werden. Ja, wenn wir den Worten Christi glauben wollen, so wird unsere höchste Seligkeit, wenn wir in den Himmel aufgenommen sind, darin bestehen, daß wir den Engeln gleichartig sind (Matth. 22,30). Wollte man also dem Osiander zugestehen, Gottes ursprüngliches Ebenbild sei der Mensch Christus gewesen, so könnte ein an­derer mit dem gleichen Recht behaupten, Christus hätte auch die Natur der Engel annehmen müssen, weil ja auch sie des Ebenbildes Gottes teilhaftig gewesen sind!

 

 

 

II,12,7

 

Osiander braucht wahrhaftig keine Angst zu haben, man mache Gott notwendig zum Lügner, wenn er nicht schon vorher die feste und unbewegliche Absicht in sich getragen hätte, Christus müsse Fleisch werden. Denn wenn Adams Gerechtigkeit nicht zusammengebrochen wäre, so wäre Adam Gott ähnlich geblieben wie ja auch die Engel, und es wäre doch deshalb keineswegs nötig gewesen, daß Gottes Sohn Mensch oder Engel geworden wäre. Ganz unsinnig ist auch die Befürchtung Osianders, Christus müßte seiner hervorragenden Würde verlustig gehen, wenn nicht schon vor der Schöpfung des Menschen Gott den festen Plan gehabt hätte, daß er einst geboren werden sollte — und zwar nicht als Erlöser, sondern als der „erste Mensch“. Denn — so folgert Osiander weiter — wenn die Fleischwerdung Christi von bestimmten Umständen abhängig gewesen wäre, nämlich von der Notwendig­keit, die verlorene Menschheit wieder zurechtzubringen — so wäre ja Christus nach dem Bilde Adams geschaffen! Weshalb geht Osiander denn so ängstlich an der klaren und offenen Erklärung der Schrift vorbei, Christus sei uns in allem gleich geworden, nur ohne Sünde? (Hebr. 4,15). Trägt doch auch Lukas kein Be­denken, den Herrn nach der Geschlechterfolge als Sohn Adams zu bezeichnen! (Luk. 3,38). Ich möchte doch gern wissen, warum in aller Welt denn Paulus Christus als den „zweiten“ Adam bezeichnet! (1. Kor. 15,47). Das kann doch gar keinen anderen Grund gehabt haben, als daß er eben für das wirkliche menschliche Da­sein bestimmt war, um die Nachkommen des Adam aus ihrem Elende herauszu­reißen! Hätte der Plan der Menschwerdung der Ordnung nach eher bestanden als die Schöpfung, so müßte ja Christus der erste Adam heißen! Da behauptet nun Osiander frisch und frech, Christus als Mensch sei ja doch im Denken Gottes schon zuvor bekannt gewesen — und Gott habe die Menschen nun nach diesem Urbild geschaffen! Aber Paulus nennt Christus doch den „zweiten“ Adam; er stellt also zwischen die ursprüngliche Erschaffung des Menschen und die Wiederherstel­lung, wie wir sie in Christus erlangen, den Fall mitten hinein: aus ihm erst kommt es zu der Notwendigkeit, die Natur in den früheren Stand zu­rückzubringen, und er ist also auch der Grund, daß der Sohn Gottes geboren wer­den sollte, daß er also ein Mensch wurde! Osiander schließt aber aus dieser Er­wägung unsinnigerweise, dann wäre ja Adam vor seinem Fall sein eigenes Bild und nicht Christi Bild gewesen! Ich antworte darauf genau umgekehrt: selbst wenn der Sohn Gottes nie Fleisch angenommen hätte, so hätte dennoch aus dem Adam nach Leib und Seele stets Gottes Ebenbild hervorgeleuchtet — und ge­rade der Glanz dieses Ebenbildes würde je und je gezeigt haben, daß Christus in Wahrheit das Haupt ist und in allem den Vorrang hat!

 

So löst sich auch die leere Spitzfindigkeit des Osiander von selber auf, wonach die Engel Christus nicht hätten zum Haupte haben können, wenn nicht Gott die Absicht gehabt hätte, ihn Fleisch werden zu lassen, und zwar ohne Verschulden des Adam. Denn dabei stellt er in seiner Unbedachtsamkeit einen Satz auf, den kein vernünftiger Mensch ihm zugeben wird: nämlich Christus komme die Herrschaft über die Engel nur insofern zu, und darum könnten die Engel den Genuß seiner Herr­schaft nur infofern haben, als er Mensch ist! Und dabei ergibt sich das Richtige doch ganz klar aus den Worten des Paulus im Kolosserbrief: danach ist Christus der „Erstgeborene vor allen Kreaturen“ als das ewige Wort Gottes (Kol. 1,15), nicht etwa, weil er erschaffen wäre oder zu den Kreaturen zählte, sondern weil der unverdorbene Zustand der Welt in seiner ursprünglichen, wundersamen Herrlich­keit keinen anderen Ursprung hatte als ihn; sofern er dagegen Mensch geworden ist, nennt ihn Paulus den „Erstgeborenen von den Toten“ (Kol. 1,18). So gibt uns der Apostel in diesem einen kurzen Zusammenhang beides zu bedenken. Ein­mal: es ist alles durch den Sohn geschaffen, so daß er auch über die Engel Herr ist (so besonders 1,16) — und zum zweiten: er ist Mensch geworden, um der Er­löser zu werden.

 

Dieselbe Unwissenheit verrät Osiander mit der Behauptung, auch den Men­schen ginge Christus als König verloren, wenn er nicht Mensch geworden wäre! Als ob Gottes Reich nicht hätte bestehen können, wenn der ewige Sohn Gottes, auch ohne Annahme des menschlichen Fleisches, Engel und Menschen zum Teilhaben an seiner Herrlichkeit und seinem Leben versammelt und so selber die Herrschaft innegehabt hätte! Aber Osiander phantasiert und gaukelt stets mit dem unsinnigen Grundsatz herum, als ob die Kirche ohne Haupt geblieben sein müßte, wenn Christus nicht im Fleische erschienen wäre. Als ob er nicht, wie die Engel an ihm ihr Haupt hatten, auch den Menschen hätte Führer und Haupt sein und sie mit der ver­borgenen Kraft seines Geistes hätte erhalten und schützen können als seinen Leib, bis sie, in den Himmel aufgenommen, das gleiche Leben genießen könnten wie die Engel!

Das Geschwätz, das ich nun zurückgewiesen habe, hält nun aber Osiander für ge­wisseste göttliche Offenbarung und stimmt dann auch gewöhnlich, von seinen herr­lichen Phantastereien berauscht, gewaltige Kampfgesänge über nichts dazu an! Aber einen noch weit zuverlässigeren Beweis meint er in den angeblich prophetischen Wor­ten des Adam zu finden, die dieser beim Anblick seines Weibes ausrief: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch!“ (Gen. 2,23). Woher aber will Osiander beweisen, daß diese Worte wirklich eine Weissagung sind? Viel­leicht daher, daß sie Christus im Matthäusevangelium Gott in den Mund legt! Als ob nun alles, was Gott je durch Menschen geredet hat, eine Weissagung ent­halten müßte! Osiander soll doch einmal in den einzelnen Geboten des Gesetzes Weissagungen aufsuchen — und dabei stammt das Gesetz doch sicher aus Gottes Mund! Christus wäre dann ja auch ein grober und irdisch gesinnter Ausleger ge­wesen, der „bloß“ am wörtlichen Sinne klebengeblieben wäre! Er redet ja nicht von der verborgenen Einung, deren er die Kirche gewürdigt hat, sondern von der ehe­lichen Treue; und er erklärt, Gott habe gesagt, daß Mann und Weib ein Fleisch seien, damit keiner es wage, dieses unlösliche Band durch Scheidung zu verletzen. Wenn diese schlichte Erklärung dem Osiander nicht gefallen will, so mag er sich über Christus beschweren, weil er seine Jünger nicht in das rechte Geheimnis ein­geführt und des Vaters Wort nicht tiefsinniger ausgedeutet habe! Aber auch Paulus kann nicht als Eideshelfer für solchen Unsinn in Anspruch genommen werden: er sagt zwar, wir seien Fleisch vom Fleische Christi — aber er fügt gleich hinzu: „Das Geheimnis ist groß“ (Eph. 5,30ff.). Er hat auch gar nicht die Absicht, zu er­läutern, in welchem Sinn Adam jenes Wort gesprochen hat, sondern er will unter dem Bilde, dem Gleichnis der Ehe jene heilige Verbundenheit zeigen, die uns mit

 

Christus eint. Das beweisen auch die Worte: „Ich rede von Christus und der Gemeinde“ (5,32); er will also die geistliche Vereinigung Christi mit seiner Gemeinde, zu besserer Erklärung von der Ordnung des Ehestandes unterscheiden. Deshalb verschwindet auch dies unnütze Geschwätz des Osiander von selbst. Ich glaube auch: es ist nicht nötig, hier noch weitere Albernheiten mitzuteilen; denn diese kurze Widerlegung der einen macht die Torheit der anderen auch schon offenbar. Den Kinder Gottes, die feste Nahrung suchen, wird dies schlichte, klare Wort voll und ganz genügen: „Als aber die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste ...“ (Gal. 4,4).

Dreizehntes Kapitel

 

 

 

Christus hat wahrhaft unser menschliches Fleisch angenommen.

 

 

 

II,13,1

Christi Gottheit habe ich schon an anderer Stelle mit klaren und sicheren Beweismitteln erwiesen; wenn ich recht sehe, so brauche ich das hier nicht noch ein­mal zu tun. Wir müssen also noch zusehen, wie er denn, mit unserem Fleisch angetan, das Amt des Mittlers ausgerichtet hat. Daß er nun wirklich und wahrhaftig Mensch gewesen sei, das haben schon in alter Zeit die Manichäer und Marcioniten bestritten. Die Marcioniten erklärten seinen Leib bloß für scheinbar, für ein Ge­spenst, die Manichäer träumten, er sei mit himmlischem Fleisch ausgestattet gewesen. Aber diesen beiden Irrmeinungen stehen viele und kräftige Zeugnisse der Schrift entgegen. Die Verheißung des Segens bezieht sich ja nicht auf einen himmlischen Samen oder auf einen Scheinmenschen, sondern auf den Samen Ab­rahams und Jakobs! (Gen. 17,2; 22,18; 26,4). Auch wird der ewige Thron Davids nicht einem ätherischen Menschen zugesprochen, sondern dem Sohne Davids, der Frucht seiner Lenden! (Ps. 45,7). Deshalb heißt auch der im Fleische Geoffen­barte der Sohn Davids und Abrahams (Matth. 1,1), und zwar nicht, weil er zwar im Schoße der Jungfrau geboren, aber etwa im Äther geschaffen wäre, sondern weil er nach Paulus „nach dem Fleische geboren ist von dem Samen Davids“ (Röm. 1,3); wie ja derselbe Paulus an anderer Stelle auch Christi Abkunft von den Juden herleitet (Röm. 9,5). Deshalb begnügt sich auch der Herr selbst nicht mit der Bezeichnung „Mensch“, sondern er nennt sich häufig auch den „Menschensohn“, um damit zu zeigen, daß er ein Mensch sei, wirklich aus dem Samen von Menschen hervorgegangen! Es hat also der Heilige Geist so oft und durch so viel Werkzeuge, mit solchem Eifer und solcher Schlichtheit diese Sache, die an sich schon keineswegs undurchsichtig ist, vor uns hingestellt, daß man nicht hätte erwarten sollen, die Schamlosigkeit der Menschen hätte je so groß sein können, daß einer auch bis hier­hin mit seinem Wahn zu dringen versuchte! Aber es stehen ja noch andere Zeugnisse zur Verfügung, wenn man immer noch mehr zusammenstellen will. So zum Bei­spiel das Wort des Paulus: „... da sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe ...“ (Gal. 4,4). Dazu kommen auch die zahllosen Stellen, in denen wir hören, daß der Herr Hunger, Durst, Frost und andere unserer Natur entsprechende Schwach­heiten erlitten hat! Ich will aber besonders die Stellen auswählen, die besonders geeignet sind, uns innerlich zu rechtem Zutrauen zu ihm zu ermuntern. So, wenn wir hören, daß er nicht den Engeln die Ehre angetan hat, ihre Natur anzu­nehmen, sondern eben unsere Natur angenommen hat, um in Fleisch und Blut „durch den Tod die Macht zu nehmen dem, der des Todes Gewalt hatte ...“ (Hebr. 2,16.14). Oder auch: weil er mit den Menschen einerlei Natur angenommen hat, „schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu heißen!“ (Hebr. 2,11). Oder: „Er mußte in allen Dingen seinen Brüdern gleich werden, auf daß er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester“ (Hebr. 2,17). Und dann auch das Wort: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleiden haben mit unseren Schwachheiten ...“ (Hebr. 4,15). Diese Reihe könnte man leicht fortsetzen. Hierher gehört auch eine be­reits oben berührte Stelle, wonach er „in der Gestalt des sündlichen Fleisches“, „im Fleisch“ unsere Sünden sühnen mußte, wie es Paulus ausdrücklich betont (Röm. 8,3). Eben deswegen ist nun auch gewißlich unser, was ihm der Vater geschenkt hat: denn er ist das Haupt, „von welchem aus der ganze Leib zusammengefügt ist und ein Glied am anderen hanget durch alle Gelenke ... und macht, daß der ganze Leib wächst ...“ (Eph. 4,16). Nur so gilt auch, daß er, wie die Schrift sagt, den Heiligen Geist ohne Maß empfangen hat, so daß wir alle „aus seiner Fülle ge­nommen haben Gnade um Gnade!“ (Joh. 1,16). Denn es wäre ganz widersinnig, wenn man meinen wollte, Gott könne in seinem Wesen durch eine fremde Gabe

 

bereichert werden! Aus diesem Grunde sagt Christus auch selber: „Ich heilige mich selbst für sie“ (Joh. 17,19).

 

 

 

II,13,2

 

Nun bringen zwar auch die Irrlehrer Bibelstellen vor, um ihre Sache zu be­weisen; aber die verdrehen sie greulich, und mit ihrer leeren Spitzfindigkeit können sie auch nichts ausrichten, wenn sie den Versuch machen, meinen Gegenbeweis umzu­stoßen. Marcion bildet sich ein, Christus habe als Leib nur einen Scheinleib angenommen — und zwar, weil es hieße: „Und ward gleichwie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden“ (Phil. 2,7). Aber dabei überlegt er nun absolut nicht, was eigentlich Paulus hier sagt! Denn er spricht hier ja gar nicht davon, was für einen Leib Christus angenommen hat; er will etwas ganz anderes zeigen: Christus hätte mit vollem Recht seine Gottheit zur Geltung bringen können; aber er hat doch nichts an sich sehen lassen als das Wesen eines niedrigen und ver­achteten Menschen! Er will uns ja ermuntern, dem Beispiel Jesu zu folgen und zu gleichem Gehorsam uns aufrufen, und erklärt deshalb: er war Gott, und er ver­mochte es gewiß, der Welt seine Herrlichkeit jederzeit leuchtend vor Augen zu stellen, aber er hat auf sein Recht Verzicht geleistet und sich freiwillig selbst erniedrigt, hat er doch Knechtsgestalt angenommen und sich mit so niedriger Stellung zufrieden ge­geben, hat er doch zugelassen, daß seine Gottheit hinter dem Vorhang des Fleisches verborgen blieb! So lehrt Paulus hier gewiß nicht, welcher Art Christus ge­wesen ist, sondern wie er sich erwiesen hat! Auch geht doch aus dem ganzen Zu­sammenhang völlig klar hervor, daß Christus in seiner Erniedrigung wirklich menschliche Natur angenommen hat. Was soll es denn anders bedeuten, wenn wir hören: „Er ward an Gebärden als ein Mensch erfunden“? Kann es etwas an­deres heißen als: seine göttliche Herrlichkeit ist eine Zeitlang nicht sichtbar ge­worden, sondern er erschien bloß in niedrigem, verachtetem Stande, in Menschen­gestalt? Auch das Wort des Petrus: „Er ist getötet worden nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist“ (1. Petr. 3,18) hätte ja gar keinen Sinn, wenn der Sohn Gottes nicht wirklich in menschlicher Natur Schwachheit getragen hätte! Noch deutlicher macht es Paulus, wenn er davon spricht, Christus sei „gekreu­zigt in der Schwachheit ...“ (2. Kor. 13,4; Calvin fügt hinzu: „des Flei­sches“). Auch die Erhöhung Christi gehört hierher: Es wird ausdrücklich ge­sagt, daß Christus nach seiner Erniedrigung neue Herrlichkeit erlangt hat. Das kann aber nur von einem Menschen mit Leib und Seele gelten.

 

Die Manichäer träumen von einem himmlischen Fleische Christi, weil Chri­stus der „zweite Adam“ hieße, und zwar „der Herr vom Himmel“ (1. Kor. 15,47). Aber der Apostel redet an dieser Stelle gar nicht davon, daß Christi Leib seinem Wesen nach himmlisch sei; er sagt das doch von der geistlichen Kraft, die von Christus ausgeht und uns lebendig macht! Diese Kraft aber unterscheiden Paulus und Petrus, wie wir sahen, von seinem Fleische! So bedeutet diese angebliche Be­weisstelle der Manichäer geradezu eine hervorragende Bestätigung der bei allen Rechtgläubigen vertretenen Lehre von Christi Fleischesdasein. Denn wenn Christus nicht dieselbe leibliche Natur angenommen hätte, wie wir sie haben, so stieße auch der Satz ins Leere, den Paulus mit solchem Eifer ausruft: „Ist aber Christus auf­erstanden, so werden wir auch auferstehen; gibt es für uns keine Auferstehung, so ist auch Christus nicht auferstanden!“ (1. Kor. 15,16; tatsächlich Inhaltsangabe zu 1. Kor. 15,12-20). Nun mögen die Manichäer oder ihre heutigen Nachbeter sich noch so sehr anstrengen, um diesen Beweis zu Fall zu bringen — sie werden sich nicht herauswinden können!

Eine ganz jämmerliche Ausflucht ist es, wenn sie nun schwatzen, Christus heiße „der Menschensohn“ nur, sofern er den Menschen verheißen gewesen wäre. Und dabei ist es doch klar, daß im Hebräischen „Menschensohn“ einfach soviel bedeutet wie „Mensch“! Christus hat dabei offensichtlich die in seiner Muttersprache übliche Wendung beibehalten. Daß auch der Ausdruck „Kinder Adams“ die gleiche Bedeutung

 

hat, ist unstreitig so. Aber ich will mich nicht länger vom Wege abbringen lassen: zum Beweis genügt ja voll und ganz das Wort aus dem achten Psalm, den die Apostel auf Christus beziehen: „Was ist der Mensch, daß du sein gedenkest, und des Menschen Sohn, daß du dich seiner annimmst?“ (Ps. 8,5; Hebr. 2,6). In diesem Bild kommt Christi wahre Menschheit zum Ausdruck: er war zwar nicht unmittelbar von einem sterblichen Vater gezeugt, aber er nahm doch seinen Ur­sprung von Adam her! Nur unter dieser Voraussetzung konnte auch der Apostel sagen, wie wir bereits anführten: „Nachdem nun die Kinder Fleisch und Blut haben, ist er dessen gleichermaßen teilhaftig geworden ...“, nämlich um sich Kinder zum Gehorsam gegen Gott zu versammeln! (Hebr. 2,14). Da wird ganz klar fest­gestellt: Christus hat an derselben Natur Anteil gehabt, ist derselben Natur unter­worfen gewesen wie auch wir! In demselben Sinne muß auch der Satz verstanden werden: „Sintemal sie alle von einem kommen, beide, der da heiligt und die da geheiligt werden“ (Hebr. 2,11). Denn das muß nach dem Zusammenhang auf das Teilhaben an der gleichen Natur bezogen werden: der Apostel setzt auch gleich hinzu: „Darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu heißen!“ (Hebr. 2,11). Hätte er vorher sagen wollen, auch die Gläubigen seien aus Gott, so wäre ja beim Vor­handensein solcher hohen Würde wahrhaftig gar kein Grund zur Scham ge­geben! Aber weil Christus in seiner unermeßlichen Gnade sich mit schmutzigen, un­edlen Leuten verbunden hat, deshalb ist Grund vorhanden zu sagen: Er schämte sich nicht! Es hilft auch gar nichts, wenn man dagegen einwendet, unter diesen Umständen würden auch die Gottlosen Christi Brüder sein; denn wir wissen, daß die Kinder Gottes nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus dem Heiligen Geiste, durch den Glauben, geboren werden! Deshalb führt nicht das Fleisch für sich al­lein zu dieser brüderlichen Verbundenheit! Obwohl also der Apostel bloß den Gläubigen die Ehre zukommen läßt, daß sie eins seien mit Christus, läßt sich doch nun gewiß nicht folgern, daß auch die Ungläubigen aus der gleichen Quelle ihren Ursprung nähmen. Ebenso ist es auch mit dem Satze, Christus sei Mensch geworden, um uns zu Gottes Kindern zu machen: auch dieser bezieht sich nicht einfach auf jeden beliebigen Menschen, weil da der Glaube mitten dazwischen steht, der uns geistlich in Christi Leib einfügt.

 

Auch mit dem Ausdruck „der Erstgeborene“ erheben sie allerlei spitzfindigen Streit. Sie folgern nämlich so: Christus hätte schon gleich zu Anfang von Adam geboren werden müssen, wenn er „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“ sein sollte! (Röm. 8,29). Der Ausdruck „Erstgeborener“ bezieht sich aber gar nicht auf das leibliche Alter, sondern auf den Rang und die hervorragende Ehre und Kraft!

 

Ebenso gehaltlos ist ihr Geschwätz, der Satz, daß Christus die Natur des Men­schen und nicht die der Engel angenommen habe (Hebr. 2,16), bedeute nur dies, daß er die Menschheit in Gnaden angenommen hätte. Der Apostel will doch nur die Ehre, deren uns Christus gewürdigt hat, ins rechte Licht rücken und vergleicht uns zu diesem Zweck mit den Engeln, die uns in dieser Hinsicht nachstehen! Der ganze Streit kann aber entschieden werden, wenn wir nur recht den Sinn jenes Zeugnisses des Mose betrachten, wo er davon spricht, der Same des Weibes werde der Schlange den Kopf zertreten (Gen. 3,15). Denn da ist nicht von Christus allein die Rede, sondern von dem ganzen Menschengeschlechte. Der Sieg Christi sollte ja uns zuteil werden, und deshalb läßt Gott ganz allgemein verkündigen, daß die Nachkommen des Weibes den Teufel überwinden würden! Daraus ergibt sich aber: Christus ist aus dem Menschengeschlechte geboren; denn Gott hat doch die Absicht, mit seiner Anrede die Eva zu fröhlicher Hoffnung zu ermuntern, damit sie ihrem Schmerze nicht gar erliege!

 

II,13,3

 

Aber es gibt doch Stellen, in denen Christus als „Same des Abraham“ oder als Frucht der Lenden Davids bezeichnet wird! Mit diesen aber werden die Irrlehrer dadurch fertig, daß sie sie dumm und frech mit sinnbildlichen Deutungen verhüllen. Hätte nun aber das Wort „Same“ eine sinnbildliche Bedeutung, so hatte das Paulus sicher nicht verschwiegen, wo er doch deutlich ohne Bild erklärt, es handle sich nicht um viele Samen Abrahams, also um viele Erlöser, sondern nur um den einen, Christus (Gal. 3,16). Ähnlich possenhaft ist die Behauptung, Jesus trage den Titel „Sohn Davids“ nur deshalb, weil er als solcher verheißen war und dann auch zu seiner Zeit enthüllt wurde (Röm. 1,3). Das ist verkehrt; denn Paulus fügt dem Titel „Sohn Davids“ ja gleich hinzu: „nach dem Fleisch“; er bezieht ihn also deutlich auf die Natur. So nennt er ihn auch im neunten Kapitel des Römer­briefs einerseits „Gott, hochgelobet in Ewigkeit“ (9,5), und dann bemerkt er doch andererseits, daß er nachdem Fleisch von den Juden abstamme (9,5). Wäre er nicht wirklich aus dem Samen Davids geboren, was sollte dann auch das Wort, er sei die Frucht seines Leibes? (2. Sam. 7,12, Apg. 2,30). Was sollten wir dann mit der Verheißung anfangen: „Siehe, aus deinen Lenden soll her­vorgehen, der auf deinem Throne bleiben wird ewiglich“? (Ps. 132,11).

Ein tolles, sophistisches Spiel erlauben sich die Irrlehrer auch mit dem Geschlechtsregister Christi, wie es uns bei Matthäus geboten wird. Matthäus zählt nun nicht Marias, sondern Josephs Vorfahren auf; aber er ist doch überzeugt, von einer überall wohlbekannten Tatsache zu sprechen, und deshalb begnügt er sich eben damit, die Herkunft des Joseph aus dem Samen Davids nach­zuweisen, da es allgemein ausreichend bekannt war, daß Maria aus demselben Ge­schlecht stammte. Stärkeren Nachdruck legt Lukas auf diese Dinge: er will zeigen, daß das Heil, wie es Christus uns bringt, der ganzen Menschheit gemeinsam zukomme, weil ja Christus, sein Bringer, von Adam, unserem gemeinsamen Vor­vater, herstammt! Ich gebe zwar zu: man kann aus dem Geschlechtsregister den Be­weis für die Davidssohnschaft Christi nur insofern führen, als er von der Jung­frau Maria geboren ist. Aber unsere neuen Marcioniten möchten ja allzugern ihrem Irrwahn einen guten Anstrich geben und wollen beweisen, daß Christus seinen Leib aus dem Nichts genommen habe: dazu behaupten sie in ihrem tollen Hochmut, die Frauen hätten keinen Samen — und kehren also auf diese Weise den Lauf der Natur um! Aber dieser Streit ist nicht theologischer Art, und die Gründe, die sie vor­bringen, sind dermaßen nichtig, daß sie eigentlich gar keine Widerlegung verdienen; ich will also die philosophischen und medizinischen Fragen übergehen und nur die Einwände behandeln, die sie mit der Schrift meinen begründen zu können. Also sie sagen: Aaron und Jojada haben doch Weiber aus dem Stamme Juda genommen; hätten also die Frauen zeugungsfähigen Samen, so wären damit die Stämme Israels ja vermischt worden! Aber es ist doch wahrhaftig bekannt genug, daß für die bürger­liche Ordnung der Mannessame die Geschlechterfolge bestimmt; indessen hebt dieser politische Vorzug des männlichen Geschlechts doch keineswegs die Vermischung des weiblichen Samens mit dem männlichen in der Zeugung auf! Diese Erklärung trifft für alle Geschlechtsregister zu. Oft nennt gar die Schrift bei den Geschlechtsregistern bloß die Männer — soll man aber deshalb sagen, die Frauen wären nichts? Es wissen doch selbst Kinder, daß sie stillschweigend mit den Männern genannt sind. Deshalb sagt man ja auch, die Frau gebäre „ihrem Manne“; denn der Name des Geschlechts bleibt stets beim Manne. Wie sich nun aber die Vorzugsstellung des männlichen Geschlechts darin ausprägt, daß die Kinder je nach dem Stande ihres Vaters edlen oder nichtedlen Standes sind, so gilt andererseits bei den Rechtsgelehrten auch der Satz, daß in der Leibeigenschaft die Kinder der Mutter folgen. Daraus läßt sich ersehen, daß die Leibesfrucht zum Teil auch von der Mutter herkommt; deshalb nennt man ja auch in allen Völkern und zu allen Zeiten die Mütter „Erzeugerinnen“. Dazu stimmt auch das Gesetz Gottes; es verbietet bekanntlich die Ehe eines Onkels

 

mit seiner Nichte — und das wäre verkehrt, wenn nicht hier Blutsverwandtschaft (consanguinitas) vorläge! Dann müßte es auch erlaubt sein, daß ein Mann seine leibliche Schwester zum Weibe nähme, sofern sie beide eine und dieselbe Mutter, aber nicht den gleichen Vater haben! Ich gebe gewiß zu, daß die Frauen in der Zeu­gung bloß passive Kraft besitzen; aber ich behaupte andererseits auch, daß von ihnen durchgehend dasselbe gesagt wird wie von den Männern. Es heißt ja auch nicht, Christus sei durch ein Weib geboren, sondern: „geboren von einem Weibe ...“ (Gal. 4,4). Nun gibt es aber in der Rotte der Irrlehrer Leute, die ihre Frechheit so weit treiben, daß sie uns fragen, ob wir denn meinten, Christus sei aus dem mo­natlich ausgeschiedenen Samen der Jungfrau geboren. Solchen Leuten stelle ich die Gegenfrage, ob er denn nicht wirklich mit dem Blute der Mutter zusammengewach­sen sei — und das müssen sie dann freilich zugeben! Es ergibt sich aus Matthäus also deutlich: weil Christus aus Maria der Jungfrau geboren ist, so ist er auch aus ihrem Samen geboren; genau so, wie es ja auch heißt, Boas sei von der Rahab ge­boren (Matth. 1,5), wo auf den gleichen Vorgang hingewiesen wird. Auch stellt Matthäus die Sache hier nicht so dar, als ob die Jungfrau Maria wie ein Kanal sei, durch den Christus zu uns gekommen wäre; sondern er unterscheidet diese wunder­same Zeugung dadurch von der gewöhnlichen, daß Jesus Christus von einer Jung­frau und aus Davids Geschlecht geboren wurde! Denn wie es heißt, daß Isaak von Abraham, Salomo von David und Joseph von Jakob geboren ist, so heißt es von ihm, er sei — von seiner Mutter geboren! Nach diesem Gesichtspunkt hat der Evangelist seine Geschlechterreihe zusammengefügt; da er beweisen will, daß Christus von David herstammt, so ist es ihm genug, daß er aus Maria geboren ist. Er hat es also als bekannt vorausgesetzt, daß Maria und Joseph Blutsver­wandte waren!

 

 

 

II,13,4

Die Sinnwidrigkeiten, mit denen man uns belasten will, sind voller kindischer Schmähungen. So heißt es: Für Christus sei es doch eine Schande, ein Makel, wenn er von Menschen seine Abkunft herleitete; denn dann könnte er doch auch von dem allgemeinen Gesetz nicht ausgenommen werden, das jeden Nachkommen des Adam ausnahmslos unter der Sünde festhält. Diesen Knoten kann nun aber leicht die Gegenüberstellung lösen, die wir bei Paulus hören. „Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde ... also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen“ (Röm. 5,12.18). Dazu kommt auch die andere Gegenüber­stellung: „Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch, der andere Mensch ist der Herr vom Himmel!“ (1. Kor. 15,47). Deshalb lehrt der Apostel an anderer Stelle zwar auch, Gott habe „seinen Sohn gesandt in der Gestalt des sündlichen Fleisches“, damit er dem Gesetze Genugtuung leistete (Röm. 8,3); aber er nimmt ihn doch ausdrücklich von dem allgemeinen menschlichen Los aus und zeigt, wie er ein wahrer Mensch war, doch ohne Sünde und Verderbtheit! Dagegen macht man nun den kindischen Einwand: Wenn also Christus von allem Makel un­berührt ist, wenn er durch das geheimnisvolle Wirken des Heiligen Geistes aus dem Samen der Maria geboren ist — dann ist also der weibliche Same nicht unrein, sondern nur der des Mannes! Aber wir erklären Jesus Christus ja nicht deshalb für rein von aller Befleckung, weil er nur von seiner Mutter geboren ist, ohne Um­gang mit einem Manne, sondern vielmehr deshalb, weil der Heilige Geist ihn geheiligt hat, so daß es eine reine und unbefleckte Erzeugung war, wie sie vor dem Falle des Adam gewesen sein würde! Wir wollen aber unter allen Umständen dies festhalten: Wo die Heilige Schrift zu uns von der Sündlosigkeit Christi redet, da denkt sie an die wahre menschliche Natur; denn es wäre ja überflüssig, zu sagen, Gott sei sündlos! Auch die „Heiligung“, von der wir Johannes 17 hören, würde auf die göttliche Natur nicht passen. Wir nehmen übrigens keineswegs zwei-

 

erlei Samen Adams an, wenn doch Christus, der auch von ihm abstammt, keinerlei Befleckung überkommen hat. Denn die menschliche Zeugung ist an und für sich keineswegs unrein oder verderbt, sondern sie ist es durch den Fall geworden! Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Christus, der doch die ur­sprüngliche Reinheit wiederherstellen sollte, von der allgemeinen Verderbnis aus­genommen war. Gewiß: auch hier noch wirft man uns vor, es sei widersinnig, daß Gottes ewiges Wort Fleisch angenommen hätte und also in das enge, irdische Knechthaus des Leibes eingeschlossen gewesen wäre; aber das ist wirklich reine Un­verfrorenheit: denn das Wort ist zwar freilich in der Unermeßlichkeit seines We­sens mit der Natur des Menschen zu einer Person zusammengewachsen, aber doch nicht darin eingeschlossen! Das ist das große Wunder: der Sohn Gottes ist vom Himmel herniedergestiegen — und hat ihn doch nicht verlassen; er ist aus der Jung­frau geboren worden, ist auf der Erde gewandelt, ja er hat mit seinem Willen am Kreuze gehangen — und doch hat er immerfort die ganze Welt erfüllt, wie im Anfange!

Vierzehntes Kapitel

 

 

 

Wie die beiden Naturen die Person des Mittlers bilden.

 

 

 

II,14,1

 

Wenn es nun heißt: „das Wort ward Fleisch“ — so ist das nicht so zu verstehen, als ob das Wort in Fleisch verwandelt oder mit dem Fleisch vermischt worden sei. Es geschah vielmehr, weil es sich aus dem Schoße der Jung­frau heraus einen Tempel ersehen, in dem es Wohnung nehmen sollte, weil er, der Sohn Gottes, zum Menschensohn geworden ist, und zwar nicht durch Ver­mischung des Grundwesens, sondern durch die Einheit der Person. Diese Ver­bindung und Einigung der Gottheit mit der menschlichen Natur aber ist — wie wir behaupten — von solcher Art, daß jede Natur vollkommen behält, was ihr zu­gehört, und daß doch aus diesen zweien der eine Christus geworden ist.

 

Sollen wir etwas nennen, das vielleicht diesem erhabenen Geheimnis vergleich­bar wäre, so könnte man am ehesten den Menschen selber betrachten: er besteht auch aus zwei Grundwesen; und doch ist dabei keines mit dem anderen derart ver­mischt, daß es etwa seine Eigenart verlöre! Denn die Seele ist nicht der Leib, und der Leib ist nicht die Seele. Deshalb kann man von der Seele manches sagen, was vom Leibe in keiner Weise gelten kann, und wiederum auch manches vom Leibe, was unter keinen Umständen auf die Seele zutrifft; auch vom ganzen Men­schen läßt sich vieles aussagen, was man weder auf die Seele für sich allein, noch auf den Leib ohne Verschiebung des Inhalts anwenden kann! Endlich kann man Eigenschaften der Seele auf den Leib und Eigenschaften des Leibes auf die Seele übertragen — und doch ist der Mensch, der aus Leib und Seele besteht, einer und nicht mehrere. Redet man so vom Menschen, so ergibt sich einerseits, daß er eine Person ist, die sich aus zwei verbundenen Teilen zusammensetzt, daß aber andererseits zwei verschiedene Naturen da sind, die jene Person bilden. Auf diese Weise redet die Schrift auch von Christus. Sie schreibt ihm einmal das zu, was man seinem Wesen nach notwendig auf die menschliche Natur beziehen muß, zum anderen aber auch, was deutlich in besonderer Weise der Gottheit eigen ist, oft aber auch, was beiden Naturen gemeinsam ist, aber keiner an und für sich in besonderer Weise zukommt! Von dieser Vereinigung der Naturen, die in Christus stattfindet, spricht die Schrift mit Geflissentlichkeit so, daß sie die Eigenart der einen auch der anderen zuteilt; diese Art, von den Dingen zu lehren, nennen die alten Kirchenlehrer „wechselseitiges Teilhaben an den Eigenschaften“ (idiomaton koinonia, communicatio idiomatum).

 

 

 

II,14,2

Diese Erwägungen hätten indessen wenig Bestand, wenn nicht klare Stellen der Heiligen Schrift vorkämen, die beweisen, daß diese Sätze nicht vom Menschen er­sonnen sind. Da sagt Christus von sich selber: „Ehe denn Abraham ward, bin ich“ (Joh. 8,58) — das paßt offenkundig in keiner Weise auf die menschliche Natur. Ich weiß freilich sehr wohl, was hier die Irrgeister für Unsinn aufbringen, um diese Stelle zu mißdeuten: sie sagen: Christus sei in dem Sinne eher da als alle Zeiten, weil er ja im Ratschluß des Vaters und dann auch im Sinne der From­men schon je und je als der Erlöser bekannt war. Aber er macht selbst einen deut­lichen Unterschied zwischen dem Tage seiner Offenbarung und seinem ewigen Sein und Wesen und schreibt sich ausdrücklich die seit Anbeginn bestehende Herrschaft zu, die ihn weit über den Abraham erhebt; damit aber nimmt er unzweifelhaft göttliche Eigenart für sich in Anspruch. Paulus nennt ihn „den Erstgeborenen vor allen Kreaturen“, der vor allem war und „durch den alles geschaffen ist“ (Kol. 1,15f.). Er selbst redet von der „Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war . .“ (Joh. 17,5). Er erklärt: „Mein Vater wirket bisher, und ich wirke auch“ (Joh. 5,17). Auch diese Aussagen können sich ebensowenig auf den Menschen be-

 

ziehen wie die zuerst genannte; wir müssen sie also ganz sicher in besonderer Weise der Gottheit zuschreiben.

 

Aber andererseits heißt er der „Knecht“ des Vaters (Jes. 42,1 und öfters); wir lesen: „Und er nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und den Men­schen“ (Luk. 2,52). Er selbst sagt: „Ich suche nicht meine Ehre ...“ (Joh. 8,50). Er weiß nach seiner eigenen Aussage den jüngsten Tag nicht (Mark. 13,32). Er er­klärt: „Die Worte, die ich rede, die rede ich nicht von mir selbst ...“ (Joh. 14,10). Er tut auch nicht seinen eigenen Willen (Joh. 6,38). Man hat ihn gesehen und betastet (Luk. 24,39). Dies alles gehört allein der menschlichen Na­tur zu! Denn als Gott kann er nicht wachsen, als Gott handelt er in allem aus sich selbst, als Gott ist ihm nichts verborgen, als Gott tut er stets seinen eigenen Willen, als Gott ist er nicht sichtbar, nicht betastbar! Und doch macht er diese Aussagen nicht von seiner menschlichen Natur allein (abgetrennt von sei­ner „Person“), sondern er bezieht sie auf sich (als „Person“), da sie zu seiner Mittlerperson gehören!

 

Das „wechselseitige Teilhaben an den Eigenschaften“ finden wir zum Beispiel in dem Wort des Paulus: „(Die Gemeinde), welche er (Gott!) durch sein eigen Blut erworben hat!“ (Apg. 20,28), oder auch in seinem Satz: „Sonst hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt!“ (1. Kor. 2,8). Dahin gehört es auch, wenn Johannes von dem „Worte des Lebens“ spricht, „das ... unsere Hände betastet haben ...“ (1. Joh. 1,1). Denn Gott hat gewiß kein Blut, er ist gewiß nicht leidensfähig, er wird nicht mit Händen betastet. Aber Christus, der ja wahrer Gott und wahrer Mensch war, hat am Kreuze für uns sein Blut vergossen, und deshalb wird das, was er nach seiner menschlichen Natur voll­bracht hat, zugleich auch von der göttlichen Natur ausgesagt, gewiß uneigent­lich, aber wahrhaftig nicht ohne Grund! Ähnlich ist es auch mit der Stelle 1. Johannes 3,16, wo wir hören, Gott habe „sein Leben für uns gelassen“. Auch hier wird eine Eigentümlichkeit der menschlichen Natur zugleich der anderen zu­teil gegeben. Auf der anderen Seite sagt Christus während seines Erdenwandels: „Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, welcher im Himmel ist!“ (Joh. 3,13). Er war doch ganz gewiß damals nach dem Menschen und in seinem Fleisch, das er an­genommen hatte, nicht im Himmel. Aber er war ja Gott und Mensch zu­gleich — und wegen der Einung und wechselseitigen Gemeinsamkeit der Naturen konnte er der einen zuschreiben, was eigentlich der anderen gehörte!

 

 

 

II,14,3

Aber am klarsten wird das Wesen Christi an den Stellen beschrieben, die von beiden Naturen zugleich sprechen. Solche finden sich in großer Zahl, be­sonders im Johannesevangelium. Man kann es z.B. weder ausschließlich der Gott­heit, noch in besonderer Weise der Menschheit, sondern muß es beiden zugleich zu­schreiben, wenn es dort heißt, Christus habe vom Vater die Vollmacht zur Sün­denvergebung empfangen (Joh. 1,29; Matth. 9,6), oder die Vollmacht, aufzuerwecken, wen er will (Joh. 5,21), oder auch, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Se­ligkeit auszuteilen, oder auch: er sei zum Richter gesetzt über Lebendige und Tote, er solle geehrt werden wie der Vater (Joh. 5,21ff.). In gleicher Richtung geht es, wenn er „das Licht der Welt“ (Joh. 8,12; 9,5), der „gute Hirte“, die „einzige Tür“ (Joh. 10,9.12) oder auch der „rechte Weinstock“ (Joh. 15,1) heißt. Denn das waren die besonderen Vorrechte, mit denen Gottes Sohn, als er im Fleische ge­offenbart wurde, ausgerüstet war; er hatte sie schon vor Anbeginn der Welt mit dem Vater zusammen ausgeübt, wenn auch auf andere Weise und in anderer Hin­sicht, und diese Vorrechte hätten einem Menschen, der nichts gewesen wäre als ein Mensch, nie zuteil werden können! In gleichem Sinne wird man es auch zu ver­stehen haben, wenn Paulus schreibt, Christus werde nach dem Gericht „das Reich

 

Gott und dem Vater“ überantworten (1. Kor. 15,24). Das Reich des Sohnes Gottes ist ganz gewiß ohne Anfang und kann auch kein Ende nehmen. Aber er hat sich unter der Niedrigkeit des Fleisches verborgen, hat sich selbst entäußert und Knechtsgestalt angenommen, hat alle Herrlichkeit seiner göttlichen Majestät niedergelegt und ist dem Vater bis zum Letzten gehorsam gewesen (Phil. 2,8) — aber dann ist er nach Voll­endung dieser Gehorsamstat mit Ruhm und Ehre gekrönt (Hebr. 2,9) und zu höchster Herrschaft erhoben worden (Phil. 2,10), so daß sich nun vor ihm alle Knie beugen sollen; und so wird er dereinst seinen herrlichen Namen und die Ehren­krone, alles, was ihm der Vater gegeben hat, auch dem Vater zu Füßen legen, „auf daß Gott sei alles in allen“ (1. Kor. 15,28). Denn wozu hat ihm der Vater Macht und Herrschaft gegeben, als daß er uns durch ihn regiere? Ähnlich muß man es auch verstehen, wenn uns die Schrift sagt, daß er zur Rechten des Vaters sitzt (Röm. 8,34 u.a.). Das währt aber nur eine Zeitlang, nämlich bis wir Gott gegen­wärtig schauen dürfen. Hier haben einige von den Alten einen unentschuldbaren Irr­tum begangen: sie haben Christi Stellung als Mittler nicht richtig beachtet und darum den ursprünglichen Sinn fast der ganzen Lehre von Christus, wie sie uns im Johannesevangelium entgegentritt, verdunkelt, sich selber aber in mancherlei Fall­stricke verwickelt. Wir wollen es also als Schlüssel zum rechten Verständnis dieser Dinge festhalten: Aussagen, die das Amt des Mittlers betreffen, dürfen nie auf die göttliche oder auch auf die menschliche Natur für sich allein bezogen wer­den. Christus wird also herrschen, bis er als Weltenrichter hervortreten wird; d.h. er vereinigt uns nach dem Maß unserer Schwachheit mit dem Vater. Sind wir aber der himmlischen Herrlichkeit teilhaftig geworden, schauen wir Gott, wie er ist — dann hat Christus sein Mittleramt endgültig vollendet, dann hört er auf, der Ab­gesandte des Vaters zu sein, dann wird er wieder in den Besitz der Herrlichkeit treten, die er bei dem Vater hatte, ehe der Welt Grund gelegt war!

 

Allein in diesem Sinne paßt auch der Name „Herr“ auf die Person Christi, nämlich nur insofern, als er ja eine Mittlerstellung zwischen Gott und uns einnimmt. Hierhin gehört das Wort des Paulus: „Es ist ein Gott, von welchem alle Dinge, und ein Herr, durch welchen alle Dinge!“ (1. Kor. 8,6); denn dem Herrn ist vom Vater die zeitliche Herrschaft aufgetragen, bis wir seine göttliche Majestät von Angesicht zu Angesicht schauen dürfen: dann gibt er sein Herrschaftsamt dem Vater zurück; aber das bedeutet dann keine Schmälerung seiner Herrlichkeit, nein, sie leuchtet dann noch strahlender hervor! Dann ist Gott auch nicht mehr das Haupt Christi; denn die Gottheit Christi, die uns jetzt noch wie unter einem Vor­hang verhüllt wird, leuchtet dann in ihrem eigenen Glanz!

 

 

 

II,14,4

Wenn der Leser diese Beobachtungen recht anwendet, so lösen sich damit viele verwickelte Knoten. Es ist wirklich merkwürdig, wie sehr ungelehrte und sogar einigermaßen kundige Leute an solchen Ausdrücken Anstoß nehmen, die sich offenbar auf Christus beziehen, ihnen aber weder auf seine Gottheit noch auf seine Mensch­heit recht zu passen scheinen: sie achten eben nicht darauf, daß diese Bezeichnungen sich auf seine (unteilbare) Person, in der er sich als Gott und Mensch offen­bart hat, und auf sein Mittleramt beziehen. Dabei kann man immer wieder wahrnehmen, wie gut diese einzelnen Bezeichnungen zusammenklingen, wenn sie nur einen verständigen Ausleger finden, der diese hohen Geheimnisse mit der gebühren­den Ehrerbietung durchforscht (vergleiche Augustin, Handbüchlein an Laurentius, 36). Aber es ist ja nichts, was tolle, fanatische Geister nicht durcheinanderwerfen! Sie nehmen die Eigenschaften der menschlichen Natur her — und wollen damit die Gottheit bestreiten, und umgekehrt benutzen sie die Eigenschaften der göttlichen Natur, um Christus die wahre Menschheit abzusprechen! Und was über beide Na­turen zugleich gesagt wird und also keiner für sich allein zugesprochen werden kann, das benutzen sie, um beide zu bestreiten! Das heißt aber nun nichts anderes als

 

dies: man spricht Christus die Menschheit ab, weil er Gott ist, und man nimmt ihm die Gottheit, weil er Mensch ist: er ist also im Endergebnis weder Gott, noch Mensch, weil er Mensch und Gott ist!

 

Wir aber halten Christus, weil er Gott und Mensch ist und die beiden Na­turen in ihm geeint, aber nicht vermischt sind, für unseren Herrn und den Sohn Gottes — auch nach seiner menschlichen Natur, freilich nicht um ihretwillen! Deshalb wollen wir nichts mit dem Irrtum des Nestorius zu tun haben: der wollte die beiden Naturen voneinander scheiden, statt sie bloß zu unterscheiden, und dadurch kam er zu der Wahnidee eines sozusagen doppelten Christus. Dagegen erhebt die Heilige Schrift mit klarer Stimme Einspruch; denn da wird der, der von der Jungfrau Maria geboren wurde, Sohn Gottes genannt (Luk. 1,32), und die Mutter heißt „Mutter unseres Herrn“ (Luk. 1,43). Ebensosehr müssen wir uns vor dem Wahn des Eutyches hüten: wir würden uns sonst zwar bemühen, die Einheit der Person möglichst deutlich auszudrücken, aber dabei beide Naturen um ihre Eigenheit bringen. Wir haben ja schon eine große Zahl von Schriftstellen angeführt, in denen Christi Gottheit von seiner Menschheit unterschieden wird, und es gibt überall in der Schrift auch noch weitere, so daß man in dieser Hinsicht selbst den zanksüchtigsten Menschen den Mund stopfen kann. Ich will auch gleich noch einiges anfügen, das dieses Phantasiegebilde besser zerstören kann, vorerst mag uns eine einzige Stelle genügen: Christus nennt seinen Leib einen Tempel (Joh. 2,19) — das hätte er gar nicht sagen können, wenn in ihm die Gottheit nicht für sich allein (vom Leibe unterschieden) ihre Wohnstatt gehabt hätte! Es war recht, daß Nestorius in der Synode zu Ephesus und dann später auch Eutyches in den Synoden zu Konstantinopel und Chalcedon verdammt wurde; denn man darf die beiden Naturen in Christus weder vermischen, noch vonein­ander trennen.

 

 

 

II,14,5

 

Aber zu unseren Zeiten ist nun ein ebenso gefährliches Ungeheuer aufgetreten, nämlich Michael Servet. Der ersetzt den Sohn Gottes durch ein Gebild, das aus Gottes Wesen, dem Geiste, dem Fleisch und drei ungeschaffenen Elementen zusam­mengesetzt sein soll! Zunächst stellt er die Behauptung auf, Christus sei nur darum und nur insofern der Sohn Gottes, als er durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria geboren sei. Der Zweck dieses arglistigen Satzes ist der: er will die Unterscheidung der beiden Naturen beiseite schieben, und dann soll Christus irgend etwas sein, das aus Gott und Mensch zusammengemischt, aber weder Gott noch Mensch wäre! Vor allem will er mit seinem ganzen Verfahren auf den Satz hinaus, Gott hätte vor der Offenbarung Christi im Fleische bloß Schattenbilder in sich ge­tragen, und diese Schattenbilder seien erst dann zu Wahrheit und Wirkung ge­langt, als jenes „Wort“, das Gott für diese Ehre ausersehen hatte, Gottes Sohn zu sein — anfing!

Nun behaupten wir aber, daß der Mittler, der von der Jungfrau Maria geboren ist, wahrhaftig Gottes Sohn sei. Auch hätte ja der Mensch Christus nicht der Spie­gel der unausdenkbaren Gnade Gottes sein können, wenn ihm nicht die Würde eigen gewesen wäre, vermöge deren er der eingeborene Sohn Gottes war und hieß! Aber dabei muß denn doch die in der Kirche übliche Ausdrucksweise un­bedingt festgehalten werden: Christus heißt der Sohn Gottes, weil er als das Wort, das vom Vater vor aller Zeit gezeugt ward, in personhafter Einung menschliche Natur angenommen hat. Der Ausdruck „personhafte Einung“ (unio hypostatica) ist von den Alten verwendet worden, weil es sich hier um die Vereini­gung der zwei Naturen zu einer Person handelt. Der Begriff ist zur Abwehr der Wahnidee des Nestorius in Gebrauch gekommen: der bildete sich nämlich ein, der Sohn Gottes wohne dergestalt im Fleische, daß er doch nicht selbst Mensch würde. Nun wirft Servet uns vor, wir erdächten uns einen zwiefachen

 

Sohn Gottes, weil wir sagen, das ewige Wort sei schon der Sohn Gottes gewesen, bevor die Fleischwerdung eintrat — und dabei sagen wir damit doch nur: er ist im Fleische geoffenbart worden! Wenn er bereits Gott war, ehe er Mensch wurde, so wurde er doch mit der Menschwerdung kein neuer Gott! Ebensowenig ist es wider­sinnig, wenn wir sagen: der Sohn Gottes, der gewiß durch ewige Zeugung bereits der Sohn war, der ist nun im Fleische erschienen! Das zeigen ja auch die Worte des Engels an Maria: „Das Heilige, das von dir geboren wird, wird der Sohn Gottes genannt werden“ (Luk. 1,35). Das bedeutet doch: der Name des Sohnes, der unter dem Gesetz einigermaßen verborgen war, der soll nun hochbe­rühmt und allbekannt werden! Dazu stimmt auch das Wort des Paulus: „Weil wir denn durch Christus Kinder Gottes sind, so rufen wir frei und zuversichtlich: ‚Abba, lieber Vater’“ (Röm. 8,15; dem Sinne nach zitiert). Sind aber nicht auch in alter Zeit die heiligen Väter zu den Kindern Gottes gezählt worden? Ganz gewiß: auf ihr Kindesrecht haben sie sich gestützt, wenn sie Gott als ihren Vater anriefen! Aber seitdem Gottes eingeborener Sohn in die Welt gekommen ist, da ist diese Vatereigenschaft Gottes deutlicher bekannt geworden, und Paulus rechnet das zu den besonderen Vorrechten, die uns Christi Reich bringt! Aber dabei ist freilich fest­zuhalten: Gott hat sich niemals — Engeln oder Menschen gegenüber! — als Va­ter erzeigt, als allein im Blick auf seinen eingeborenen Sohn! Insbesondere sind die Menschen, die ja durch ihre eigene Ungerechtigkeit Gott verhaßt sind, nur durch gnädige Annahme Kinder Gottes; denn Christus ist von Natur Gottes Sohn! Hier wendet nun Servet ohne Grund ein, diese gnädige Annahme sei davon abhängig, daß Gott bei sich beschlossen hatte, einen Sohn zu haben; aber es handelt sich hier nicht um die Vorbilder — also etwa um die äußere Darstellung der Ver­söhnung im Tieropfer! —, sondern um die Sache selber: und da gilt der Satz, daß die Väter nicht tatsächlich Gotteskinder hätten werden können, wenn ihre An­nahme in die Kindschaft nicht in ihrem Haupte begründet gewesen wäre; wollte man also dem Haupte absprechen, was doch die Glieder alle besitzen (nämlich wirkliche Kindschaft), so wäre das einfach sinnlos! Ja, ich gehe noch weiter: Die Schrift nennt auch die Engel Gottes Söhne (Ps. 82,6); diese ihre hohe Würde war von der künftigen Erlösung nicht abhängig; und trotzdem mußte ihnen Chri­stus in der Ordnung vorgesetzt sein, um sie in die Gemeinschaft mit dem Vater zu bringen. Ich will das in Kürze wiederholen und auf die Menschen anwenden. Engel und Menschen waren schon in der ursprünglichen Schöpfung dazu geschaffen, daß Gott ihr gemeinsamer Vater sei — denn Paulus hat doch wohl recht, wenn er sagt, Christus sei je und je das Haupt, der „Erstgeborene vor allen Kreaturen“, der Inhaber der Herrschaft über alles gewesen (Kol. 1,15)! Ist das aber wahr, so glaube ich auch mit vollem Recht folgern zu müssen, daß Christus schon vor Er­schaffung der Welt Gottes Sohn gewesen ist!

 

 

 

II,14,6

Hätte — wenn ich mich so ausdrücken soll — die Sohneseigenschaft Christi ihren Anfang erst mit seiner Offenbarung im Fleische gehabt, so müßte sich daraus er­geben, daß er auch hinsichtlich seiner menschlichen Natur (Gottes) Sohn ge­wesen sei. Servet und andere Schwarmgeister haben nun die Meinung, Christus sei als der im Fleisch Erschienene der Sohn Gottes, weil er ohne das Fleisch diesen Namen gar nicht tragen könnte. Sie sollen mir nun aber sagen, ob er nun nach bei­den Naturen und in beider Hinsicht der Sohn sei. Das schwatzen sie tatsächlich — aber Paulus lehrt doch ganz anders! Ich gebe freilich auch meinerseits zu, daß Christus in seiner menschlichen Gestalt Sohn genannt wird; aber das geschieht nicht in dem Sinne, wie die Gläubigen diesen Titel tragen, eben durch Adoption und aus Gnaden, sondern er ist wahrhaft und von Natur der Sohn und darum von einzigartiger Stellung, er ist der einige Sohn, und das hebt ihn über alle anderen hinaus! Gewiß läßt Gott auch uns, die wir zu neuem Leben wiedergeboren sind, den

 

Namen „Gotteskinder“ zuteil werden, aber wahrer und eingeborener Sohn heißt Christus allein. Er ist aber nur darum in so großer Schar von Brüdern von ein­zigartiger Würde, weil er von Natur innehat, was wir als Geschenk empfangen!

 

Diese Ehre aber bezieht sich auf die ganze Person des Mittlers: der, der von der Jungfrau Maria geboren ist, der sich am Kreuze dem Vater zum Opfer hingab, der ist in Wahrheit und im eigentlichen Sinne Gottes Sohn. Er ist es freilich vermöge seiner Gottheit, wie es Paulus deutlich lehrt: „Paulus ... ausgesondert, zu predigen das Evangelium Gottes, welches er zuvor verheißen hat ... von sei­nem Sohn, der geboren ist von dem Samen Davids nach dem Fleisch, und kräftig erwiesen ein Sohn Gottes ...“ (Röm. 1,1-4; in Auswahl). Er nennt ihn also ausdrücklich „Sohn Davids nach dem Fleisch“ — und erklärt dann noch beson­ders, er sei „als Sohn Gottes ... erwiesen“. Damit will er doch nur andeuten, daß diese Würde von etwas anderem abhängt als vom Fleische selber! Denn in demselben Sinne, in dem er sagt, Christus habe gelitten „in der Schwachheit“, sei aber auf­erstanden „aus der Kraft Gottes“ (2. Kor. 13,4; Calvin sagt: „des Geistes“), so macht er auch hier zwischen beiden Naturen einen Unterschied. Wie also Christus — das müssen uns die Gegner gestehen! — von seiner Mutter das bekommt, was ihm das Recht gibt, Davids Sohn zu heißen, so hat er vom Vater jene Würde emp­fangen, nach der er Gottes Sohn heißt, und diese Würde ist von seiner mensch­lichen Natur durchaus verschieden.

 

So gibt ihm die Heilige Schrift einen doppelten Namen: sie nennt ihn bald Gottes, bald des Menschen Sohn. Über die Bezeichnung „Menschensohn“ kann es keinen Streit geben: er heißt nach dem hebräischen Sprachgebrauch „Menschen“sohn, weil er von Adam abstammt. Auf der anderen Seite behaupte ich: er trägt den Titel „Gottes Sohn“ um seiner Gottheit, seines ewigen Wesens willen; denn man muß ja den Ausdruck „Gottes Sohn“ in derselben Weise auf seine Gottheit beziehen, wie wir die Bezeichnung „Menschensohn“ auf seine Menschheit bezogen! Auch müssen wir uns hier noch einmal an die angeführte Stelle aus dem Römerbrief erinnern: da hören wir, daß der, welcher nach dem Fleisch aus dem Samen Davids geboren ward, als Sohn Gottes erwiesen sei nach der Kraft Gottes; das ist aber genau so gemeint, wie wir es sonstwo lesen: „... aus welchen Christus herkommt nach dem Fleisch, welcher ist Gott, hochgelobet in Ewigkeit!“ (Röm. 9,5). An beiden Stellen (Röm. 1 und Röm. 9) wird also zwi­schen beiden Naturen ein deutlicher Unterschied gemacht. Wie will man aber dann leugnen, daß Christus nach seiner Gottheit Gottes Sohn, nach seiner Menschheit Menschensohn ist?

 

                                      

 

II,14,7

Aber unsere Gegner versuchen doch mit großem Geschrei, ihren Irrtum zu verteidigen. Sie weisen nämlich zunächst auf den Satz hin, Gott habe „seines eigenen Sohnes nicht verschonet ...“ (Röm. 8,32). Auch verweisen sie darauf, daß der Engel die Weisung gegeben habe, den vom Weibe Geborenen „Sohn des Höchsten“ zu nennen. Aber damit sie nun über solch haltlosem Einwurf nicht in Hochmut geraten, wollen wir doch ein wenig miteinander überlegen, was denn nun diese Schlußfolgerung taugt. Besteht der Satz zu Recht, daß der Sohn Gottes erst mit der Empfängnis seinen Anfang genommen habe, weil ja der, der empfangen war, „Sohn“ genannt wurde — so ergibt sich weiter: er ist auch erst Wort ge­wesen, seitdem er im Fleische offenbart ist — wie ja auch Johannes von dem „Wort des Lebens“ redet, das seine „Hände betastet“ haben! (1. Joh. 1,1). Ich erinnere nun aber an das Wort des Propheten: „Und du Bethlehem im Lande Juda, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir kommen der Herzog, der über mein Volk Israel Herr sei, welches Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist!“ (Micha 5,1). Was wollen sie nun zur Auslegung dieser Stelle sagen,

 

wenn sie bei ihrer obigen Beweisführung bleiben wollen? Ich habe bereits deutlich ausgesprochen, daß wir unsererseits nicht daran denken, dem Nestorius zuzustimmen, der sich einen zwiefachen Christus ersonnen hat. Denn wir lehren, daß uns Christus durch brüderliche Vereinigung mit sich zusammen zu Kindern Gottes macht, weil er ja im Fleische, das er von uns Menschen nahm, doch Gottes eingeborener Sohn war. Deshalb nennt es auch Augustin sehr richtig einen herrlichen Erweis der besonderen Gnade Gottes, daß Christus als Mensch eine Ehre empfangen hat, die er sich eben als Mensch nicht verdienen konnte. Denn Christus wurde bereits seit Mutter­leibe auch dem Menschen nach mit der herrlichen Würde geziert, der Sohn Gottes zu sein. Aber trotzdem bedeutet diese Einheit der Person nicht etwa eine Vermischung, die der Gottheit Christi ihr Eigensein entrisse! Denn daß das ewige Wort Gottes einerseits und Christus, nachdem in ihm die beiden Na­turen zu einer Person geeint sind, anderseits den Titel „Gottes Sohn“ in verschiedener Beziehung tragen — das ist ebensowenig sinnwidrig wie die Tatsache, daß er bald Gottes, bald des Menschen Sohn heißt, je nach der gerade obwaltenden Beziehung!

 

Servet bringt noch eine andere Schmähung vor, die uns aber ebenso wenig aus­macht: er sagt, Christus hieße vor seiner Erscheinung im Fleische niemals „Sohn Gottes“, außer in bildlicher Rede. Gewiß, unter dem Gesetz gab es nur dunkle An­deutungen von ihm; aber wir haben ja bereits gezeigt: er war nur deshalb ewiger Gott, weil er das vom ewigen Vater gezeugte Wort war, und dieser Name (Sohn Gottes, ewiger Gott) kommt der Person des Mittlers, die er annahm, nur zu, weil er Gott ist, im Fleische geoffenbart; auch würde Gott nicht von Anbeginn her der Vater heißen, wenn da nicht die gegenseitige Beziehung zu dem Sohn wäre, von dem alle Verwandtschaft und Vaterschaft herkommt im Himmel und auf Erden (Eph. 3,15). Daraus ergibt sich nun sofort, daß er auch schon unter dem Gesetz und den Propheten, als der Name „Gottes Sohn“ in der Gemeinde noch nicht allbekannt war, der Sohn Gottes gewesen ist. Geht der Streit aber einzig um den Namen „Gottes Sohn“, so möchte ich doch auch auf Salomo verweisen: er redet von der unermeßlichen Hoheit Gottes und behauptet dann, der Sohn Gottes sei ebenso un­begreiflich wie Gott selber: „Nenne mir seinen Namen, wenn du kannst, oder nenne mir den Namen seines Sohnes...“ (Spr. 30,4; nicht Luthertext). Ich weiß wohl, daß streitsüchtige Leute dieses Schriftzeugnis nicht ausreichend finden werden; ich will mich auch selbst nicht besonders darauf stützen; aber eins zeigt es doch zur Genüge: die Leute, welche Christus nur insofern für den Sohn Gottes halten wollen, als er Mensch geworden ist, sind boshafte Lästermäuler! Auch haben ja selbst die ältesten kirchlichen Schriftsteller die von uns vertretene Lehre ein­stimmig völlig klar ausgesprochen; und deshalb ist es lächerlich und unverschämt zugleich, wenn man mir den Irenäus oder den Tertullian entgegenzuhalten wagt, die doch beide klar bezeugen, der, welcher hernach sichtbar im Fleische erschien, sei schon zuvor unsichtbar der Sohn Gottes gewesen.

 

 

 

II,14,8

Scheußliche Ungeheuerlichkeiten hat also Servet aufeinandergehäuft, und es wer­den vielleicht nicht alle seine Gesinnungsgenossen alles unterschreiben, was er sagt. Aber wenn man diese Leute, die den Sohn Gottes nur in dem Fleischgewordenen anerkennen wollen, zu genaueren Äußerungen zwingt, so werden sie auch gleich zuge­stehen, Christus sei der Sohn Gottes nur deshalb, weil er im Leibe der Jung­frau Maria von dem Heiligen Geiste empfangen worden ist. In dieser Weise haben in alter Zeit ja auch die Manichäer behauptet, der Mensch empfange seine Seele dadurch, daß Gott sie auf ihn übergehen ließe: weil sie nämlich lasen, Gott habe dem Adam „einen lebendigen Odem in seine Nase“ gegeben (Gen. 2,7). Den Namen „Sohn“ verstehen sie dann dermaßen genau, daß sie keinerlei Unterscheidung zwischen

 

den „Naturen“ mehr übriglassen, sondern wirr durcheinander kläffen, der Mensch Christus sei Gottes Sohn, weil er eben nach seiner menschlichen Natur aus Gott geboren sei. So wird denn die ewige Zeugung der Weisheit, von der Salomo redet (Jes. Sir. 24,14), abgelehnt, und die Gottheit des Mittlers wird unbeachtet gelassen — oder an die Stelle des Menschen tritt ein Gespenst!

 

Es wäre schon der Mühe wert, noch weitere tolle Wahnideen des Servet hier zu widerlegen, mit denen er sich und andere getäuscht hat — gerade dies Beispiel sollte dem frommen Leser eine Warnung sein, sich nicht von der Nüchternheit und Be­scheidenheit in der Lehre abbringen zu lassen! Aber ich glaube, daß es doch hier überflüssig wäre, weil ich darüber ein besonderes Buch geschrieben habe. Die Lehre des Servet hat also zum Kernpunkt den Satz: der Sohn Gottes war im Anfang eine Idee, ein Gedanke; und er war schon damals dazu bestimmt, einst ein Mensch zu werden, der nun dem Wesen nach Gottes Ebenbild wäre. Als „Wort“ Gottes erkennt Servet also nur einen äußeren Schein an. Die Zeugung des Sohnes versteht Servet so: Gott habe seit Anbeginn den Willen gezeugt, den Sohn zu zeugen, und dieser Wille habe sich dann auch tatsächlich an der Kreatur selbst erwiesen. Auf diese Weise vermischt Servet Geist und Wort, weil Gott (nach seiner Meinung) das unsichtbare Wort und den Geist in Fleisch und Seele einge­senkt haben soll. So tritt bei ihm denn auch die bildhafte Vorstellung Christi an die Stelle der Zeugung; freilich ist dann nach seiner Meinung dieser Sohn, der dazu­mal bloß schattenhaft abgebildet war, endlich durch das Wort — das er als „Samen“ wirksam denkt! — gezeugt worden. Daraus folgt dann eigentlich: Schweine und Hunde sind auch Gottes Kinder, weil ja auch sie aus dem ursprünglichen Samen des Wortes Gottes geschaffen sein sollen! Denn er läßt Christus zwar aus drei ungeschaffenen Grundstoffen gebildet sein — was bei ihm soviel heißen will wie: aus Gottes Wesen gezeugt sein — aber Christus ist nur indem Sinne der Erstgeborene vor allen Kreaturen, daß auch etwa den Steinen eine gewisse wesentliche Gott­heit eignet — nur eben nach ihrem eigenen Grad! Er will natürlich den Eindruck vermeiden, als streite er nun Christus seine Gottheit ab; deshalb behauptet er, Christi Fleisch sei mit Gott eines Wesens; oder er sagt auch, das Wort sei dadurch Mensch geworden, daß das Fleisch in Gott verwandelt worden sei! Er kann unter seinen Voraussetzungen Christus nur dann für den Sohn Gottes halten, wenn sein Fleisch aus Gottes Wesen herkommt und in göttliches Wesen ver­wandelt wird — auf diese Weise aber macht er eben die ewige Person des Wortes zunichte und entreißt uns den Davidssohn, der uns als Erlöser verheißen war. Das wiederholt er öfters: der Sohn sei zwar von Gott geboren, nämlich in Gottes Wissen und Erwählung — aber dann sei er endlich Mensch geworden aus jenem Stoff, der im Anfang bei Gott in den drei Elementen sichtbar gewesen, dann in jenem ersten, ursprünglichen Licht der Welt wie auch in der Wolken- und Feuer­säule in Erscheinung getreten sei!

 

Es würde zu weit führen, wenn ich jetzt auch noch zeigen wollte, wie toll er sich zuweilen selbst widerspricht. Jedenfalls mag der Leser aus dieser zusammenfassenden Darstellung entnommen haben, wie über den zweideutigen Schlichen dieses unsaube­ren Menschen jede Heilshoffnung zugrunde geht. Denn wenn das Fleisch selber die Gottheit ist, so ist es nicht mehr deren Tempel. Auch kann doch keiner unser Erlöser sein als der, der aus Abrahams und Davids Samen kommt und wirklich nach dem Fleisch Mensch geworden ist. Verkehrt ist es deshalb auch, wenn Servet mit solchem Eifer auf das Wort bei Johannes verweist: „Das Wort ward Fleisch ...“; denn dieses Wort, das dem Irrtum des Nestorius so scharf entgegensteht, leistet auf der anderen Seite auch der gottlosen Phantasterei, wie sie Eutyches aufgebracht hat, keinerlei Vorschub: Der Evangelist wollte ja nur die Einheit der Person in den beiden Naturen betonen!

Fünfzehntes Kapitel

 

 

 

Wollen wir wissen, wozu Christus vom Vater gesandt ward und was er uns gebracht hat, so müssen wir vornehmlich sein dreifaches Amt, das prophetische, königliche und priesterliche, betrachten.

 

 

 

II,15,1

 

Mit Recht betont Augustin, die Ketzer möchten zwar den Namen Christi predigen — aber sie ständen dennoch nicht auf dem gleichen Fundament wie die Gläubigen; dieses Fundament sei der Kirche allein zu eigen; ja, wenn man sorg­fältig erwäge, was alles gemeint sei, wenn man von Christus spreche, so lebe Chri­stus bei ihnen nur dem Namen nach, aber nicht tatsächlich (Handbüchlein an Laurentius, 5). So ist es heutzutage mit den Papisten. Gewiß führen sie den „Sohn Gottes“, den „Erlöser der Welt“ stets im Munde; sie lassen sich jedoch an dem leeren Namen genügen, nehmen ihm aber alle Kraft und Würde, und deshalb gilt von ihnen tatsächlich das Wort des Paulus: sie halten sich nicht „an dem Haupt“ (Kol. 2,19).

 

Soll also der Glaube in Christus wirklich den festen Grund alles Heils finden, soll er ganz auf ihm ruhen, so muß der Grundsatz gelten: das Amt, das ihm der Vater vertraut hat, umfaßt drei Aufgaben. Er ist uns nämlich zum Propheten, zum König und zum Priester gesetzt. Aber es wäre nun auch wenig nütze, wenn man bloß diese drei Begriffe festhielte: man muß auch wissen, was sie sollen und wozu sie uns gut sind. Denn sie werden auch von den Papisten ausge­sprochen, aber ohne innere Beteiligung und ohne große Frucht: man hat eben dort keine Ahnung davon, was jede dieser Lobpreisungen bedeutet.

Wie ich bereits sagte, hat Gott in ununterbrochener Reihe einen Propheten nach dem anderen gesandt und sein Volk nie ohne die heilsame Lehre gelassen, hat ihm nie vorenthalten, was zum Heil genügte. Aber trotzdem sind die Frommen je und je der Gewißheit gewesen, erst von dem Kommen des Messias sei das volle Licht der Er­kenntnis zu erhoffen. Diese Überzeugung ist sogar zu den Samaritanern durchge­drungen, die doch die wahre Verehrung Gottes nie gekannt haben. Das geht aus dem Worte des Weibes am Jakobsbrunnen hervor: „Wenn der Messias kommen wird, so wird er’s uns alles lehren“ (Joh. 4,25). Das haben aber die Juden nicht einfach selbst ausgedacht, sondern sie wußten es aus klaren Offenbarungsworten Gottes, und deshalb glaubten sie es. Da ist von besonderer Wichtigkeit das Wort des Jesaja: „Siehe, ich habe ihn den Leuten zum Zeugen gestellt, zum Fürsten und Gebieter den Völkern“ (Jes. 55,4). So wird er auch schon vorher als Bote und Ausleger des großen Rates Gottes bezeichnet (Jes. 9,5). Auch der Apostel spricht es ähnlich aus: er preist die Vollkommenheit der Lehre des Evangeliums und sagt: „Nachdem vor Zeiten Gott manchmal und mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch seinen Sohn ...“ (Hebr. 1,1f.). Das gemeinsame Amt der Propheten war aber doch, die Kirche in der Erwartung zu halten und sie zugleich zu stärken bis zum Kommen des Mittlers; und so klagten die Gläubigen zur Zeit der Zerstreuung, daß ihnen diese von Gott geordnete Wohltat entzogen war: „Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet Predigt mehr, und keiner bei uns weiß, wie lange!“ (Ps. 74,9). Als dann aber die Ankunft Christi näher gerückt war, da wurde dem Daniel eine Zeit angegeben, in der die Gesichte und der Prophet selbst ihre Versiegelung finden sollten (Dan. 9,24). Das geschah nicht nur zur Sicherung des Ansehens jener Weissagung, die gerade in Rede stand, sondern auch, damit die Gläubigen eine Zeit-

 

lang die Propheten mit Geduld entbehren könnten, in der Gewißheit, daß nun aller Offenbarungen Erfüllung und Beschluß vor der Tür stand!

 

 

 

II,15,2

Nun müssen wir weiter bedenken, daß der Name „Christus“, der „Gesalbte“, all diese drei Ämter umfaßt. Denn unter dem Gesetz sind, wie wir wissen, Propheten wie Priester wie Könige mit dem heiligen Öl gesalbt worden. Deshalb wurde dem verheißenen Mittler auch der Name Messias (= der Gesalbte = Christus) beige­legt. Ich bin zwar — wie ich bereits darlegte — der Ansicht, daß bei dieser Bezeich­nung „Messias“ in besonderer Weise an das königliche Amt gedacht war; aber auch die prophetische und priesterliche Salbung behalten ihre Würde und dürfen von uns nicht übersehen werden. Christi prophetische Salbung findet sich bei Jesaja erwähnt: „Der Geist des Herrn, Herrn ist über mir, darum daß er mich gesalbt hat, ... zu predigen den Elenden, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu ver­kündigen den Gefangenen die Freiheit ... zu verkündigen ein angenehmes Jahr des Herrn ...“ (Jes. 61,1f.). Wir sehen, daß er durch den Geist gesalbt war, um ein Herold und Zeuge der Gnade des Vaters zu sein; und dieses Zeugenamt war nicht das sonst gewohnte: der Prophet wird von den übrigen Lehrern, mit deren Amt er etwas gemeinsam hat, unterschieden. Auf der anderen Seite müssen wir darauf achten: Christus empfing diese Salbung nicht für sich allein, damit er recht das Amt des Lehrers ausüben könnte, sondern für seinen ganzen Leib (die Gemeinde), damit in der immerwährenden Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes sich entsprechend auswirke. Dabei ist es ganz gewiß, daß durch die vollkommene Lehre, die er gebracht hat, aller Prophetie ein Ende gemacht ist; wer sich also mit dem Evangelium nicht zufrieden geben will und allerlei Fremdartiges darannäht, der schmälert das Ansehen Christi und seiner Lehre. Denn die Stimme, die vom Himmel zu ihm geschah: „Dies ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören!“ (Matth. 17,5 vgl. Matth. 3,17), diese Stimme hat ihn über alle anderen unendlich hinausge­hoben! Dann ist freilich diese Salbung vom Haupte aus auch den Gliedern zuge­kommen, wie es Joel vorhergesagt hatte: „Und eure Söhne sollen weissagen, und eure Töchter Gesichte sehen“ (Jo. 3,1; nicht Luthertext). Etwa den gleichen Sinn hat es, wenn Paulus schreibt, Christus sei uns gegeben zur Weisheit (1. Kor. 1,30) oder „in ihm“ seien „verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3). Denn außer ihm ist nichts zu wissen nütze, und wer sein Wesen im Glauben ergriffen hat, der hat alle Güter des Himmels in ihrer ganzen Fülle um­faßt! Deshalb schreibt Paulus auch an anderer Stelle: „Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, denn allein Jesum Christum, den Gekreuzigten!“ (1. Kor. 2,2). Das ist völlig wahr: denn es ist uns von Gott aus verwehrt, über die Einfalt des Evangeliums hinausgehen zu wollen. Die prophetische Würde, wie sie Christus innehat, soll uns also auch zu der Einsicht führen, daß in der Lehre, wie er sie uns gegeben hat, alle Weisheit in vollkommener Fülle beschlossen ist.

 

 

 

II,15,3

Ich komme jetzt zum Königsamt Christi. Es ist aber vergebens, darüber ein Wort zu verlieren, wenn die Leser sich nicht zuvor daran mahnen lassen, daß es geist­licher Natur ist. Denn erst dann läßt sich davon reden, wozu es dient und was es uns zuteil werden läßt, erst dann kann von seiner ganzen Kraft und Ewigkeit die Rede sein. Diese Ewigkeit schreibt bei Daniel der Engel der Person Christi zu (Dan. 2,44); und bei Lukas redet mit Recht wiederum ein Engel von der Ewig­keit des Heils, das dem Volk geschenkt wird! Aber auch diese Ewigkeit ist von doppelter Art und Beziehung: sie erstreckt sich einerseits auf die ganze Kirche, anderseits ist sie jedem einzelnen Gliede der Kirche eigen. Zu der ersten Be­ziehung weist uns das Psalmwort: „Ich habe einmal dem David geschworen bei meiner Heiligkeit, und ich werde nicht lügen: Sein Same soll ewig sein, und sein Stuhl vor mir wie die Sonne, wie der Mond soll er ewiglich erhalten sein, und wie der Zeuge in den Wolken gewiß sein“ (Ps. 89,36-38; Anfang nicht Luthertext).

 

Hier verheißt Gott offenbar, daß er durch die Hand seines Sohnes allezeit seiner Kirche Schutz und Beistand sein will. Nirgendwo anders als nur in Christus kommt diese Weissagung zu wahrer Erfüllung; denn die Würde des Davidsreiches zerfiel ja bald nach Salomos Tode zum größten Teil, und es ist zur Schande für das Haus David einem nicht dazu berufenen Menschen übertragen worden, bis es schließlich immer mehr abnahm und endlich traurig, jämmerlich zugrunde ging! — Den gleichen Sinn hat auch der Ausruf des Jesaia: „Wer will seines Lebens Länge (seine Ge­schlechter) ausreden?“ (Jes. 53,8). Er redet davon, wie Christus den Tod überwin­den werde, und dabei schließt er ihn mit seinen Gliedern zusammen. Wenn wir also hören, daß Christus mit ewiger Macht ausgerüstet wird, so müssen wir immer daran denken, daß hier von dem Schutz die Rede ist, der die Kirche immerdar be­wahren soll, so daß sie mitten in allen wirbelnden Erschütterungen, denen sie je und je ausgesetzt ist, mitten in allen schweren, furchtbaren Stürmen, die sie un­zählige Male zu erdrücken drohen, doch unversehrt bleiben wird! So verlacht auch David den Trotz der Feinde, die Gottes und seines Gesalbten Joch von sich werfen wollen: er spricht es aus, daß die Könige und Völker vergebens toben, weil „der, der im Himmel wohnet“, immer noch stark genug ist, um ihrem Ansturm zu wider­stehen (Ps. 2,3f.); und damit gibt er den Gläubigen die Gewißheit, daß die Kirche immerdar wird erhalten bleiben, und ermuntert sie zu fröhlicher Hoffnung, wenn sie die Kirche bedrückt sehen. In diesem Sinne spricht der Psalmist auch an anderer Stelle, und zwar im Namen Gottes: „Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich meine Feinde zum Schemel deiner Füße lege!“ (Ps. 110,1); da will er uns sagen: es mögen zwar viele und mächtige Feinde sich verschworen haben, um der Kirche den Garaus zu machen, aber ihre Kräfte sind doch nicht ausreichend, um jenen unabänderlichen Ratschluß Gottes zu erschüttern, nach welchem er seinen Sohn zum ewigen König gesetzt hat! Deshalb kann der Teufel mit aller Macht der Welt die Kirche, die auf die ewige Herrschaft Christi gegründet ist, niemals zugrunde richten.

 

Aber diese Ewigkeit des Königreichs Christi hat auch für jeden einzelnen große Bedeutung: sie soll in uns die Hoffnung auf die selige Unsterblichkeit be­gründen und stärken. Denn was irdisch ist und zu dieser Welt gehört, das ist, wie wir sehen, zeitlich, ja es fällt leicht dahin; so hat denn Christus, um unsere Hoff­nung auf den Himmel zu richten, es deutlich zugesagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh. 18,36). Wenn wir überhaupt — jeder von uns! — davon hören, daß Christi Reich geistlich ist, so kann dies in uns die Hoffnung auf ein besseres Leben erwecken; und was jetzt von Christi Hand geschützt wird, soll für die Ewigkeit die reife Frucht dieser Gnade fröhlich erwarten!

 

 

 

II,15,4

Ich sagte oben: wir können die Kraft und den Segen des Königsamts Christi nur dann erfassen, wenn wir bedenken, daß es geistlich ist. Das wird uns ja schon dadurch deutlich, daß wir unser Leben lang unter dem Kreuze zu ringen haben und unser Dasein jämmerlich und hart ist! Was sollte es uns helfen, daß wir unter der Herrschaft des himmlischen Königs vereint sind — wenn deren Früchte uns nicht außerhalb dieses Lebens zukämen? Deshalb wollen wir nie vergessen, daß jene Seligkeit, die uns in Christus verheißen wird, nicht etwa in irdischen Annehmlichkeiten besteht: es geht nicht darum, daß wir ein fröhliches und kampfloses Leben führen, reichen Besitz haben, von aller Not, allem Schaden unberührt bleiben und alle Vergnüglichkeit im Überfluß haben, an der das Fleisch Gefallen hat. Nein, es geht darum, daß uns das himmlische Leben zuteil wird! Und wie in diesem Leben der Wohlstand und das Wohlergehen eines Volkes davon abhängt, daß es einerseits ausreichenden Besitz und Frieden im Innern, andererseits sicheren Schutz nach außen hat, so daß es gegen alle äußere Gewalt gefeit ist, so rüstet auch Christus die Seinen reichlich mit allem aus, was zum ewigen Heil der Seele nötig ist, festigt sie auch mit seiner Kraft, daß sie unbesieglich dastehen gegen alle Anläufe geist-

 

licher Feinde! So geschieht Christi Herrschen eher unsert- als seinetwegen, und zwar nach innen und außen. Denn wir sollen die Gaben des Geistes, die uns ja von Natur gänzlich abgehen, soweit es Gott für nützlich hält, in vollem Reichtum erhalten — und an diesen Erstlingen sollen wir erkennen, daß wir mit Gott in Gemeinschaft sind bis zur vollen Seligkeit! Dann aber sollen wir uns auf diese Kraft des Geistes kühnlich verlassen und nun nicht zweifeln, daß wir gegen Teufel und Welt und alles, was uns Schaden tun will, immerfort Sieger sein werden! Darauf zielt auch das Wort, das Jesus den Pharisäern entgegenhielt: das Reich Gottes sei inwendig in uns und komme deshalb nicht mit äußeren Gebärden! (Luk. 17,20f.). Wahrschein­lich hatten die Pharisäer den Herrn, der sich für den König erklärte, von dem Gottes höchste Segnungen erwartet werden sollten, spöttisch aufgefordert, er solle doch seine Königszeichen vorweisen. Er aber will ihnen zeigen, daß sie nicht töricht bei äußerem Prunk stehenbleiben sollen — sie hingen ja ohnehin schon allzusehr am Irdischen! —, und deshalb weist er sie in ihr eigenes Gewissen hinein — denn das Reich Gottes ist ja „Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste!“ (Röm. 14,17). Da hören wir nun in aller Kürze, was uns in Christi Königreich zuteil wird; denn es ist ja nicht irdisch und nicht fleischlich, dem allgemeinen Ver­derben unterworfen, sondern es ist geistlich und führt uns zum ewigen Leben: so sollen wir denn in unserem Leben unter Elend und Mangel, unter Kälte und Ver­achtung, unter Schmach und aller anderen Not fröhlich durchhalten und mit dem einen zufrieden sein, daß uns unser König nie verlassen wird, daß er uns nie seine Hilfe in unserer Not versagt, bis wir unseren Kampf durchkämpft haben und zum Triumph gerufen werden; denn das ist die Art seiner Herrschaft, daß er uns alles das wiederschenkt, was er selbst vom Vater empfangen hat. Weil er uns aber mit seiner Macht rüstet, mit Ehre und Ruhm krönt, mit allem Gut reichlich versorgt, darum haben wir mehr als genug Grund zum Rühmen, darum kann es uns nie an fröhlichem Vertrauen fehlen, so daß wir unerschrocken den Kampf mit Teufel, Sünde und Tod führen können! So sollen wir, mit seiner Gerechtigkeit umkleidet, alles Schmähen der Welt tapfer überwinden. Und wie er uns selber mit allen seinen Gaben reichlich überschüttet, so sollen auch wir ihm wiederum Frucht tragen zu seiner Ehre!

 

 

 

II,15,5

 

Deshalb ist seine Königssalbung nicht mit Öl und köstlicher Würze geschehen, sondern er heißt der Gesalbte Gottes, weil auf ihm der „Geist der Weis­heit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Er­kenntnis und der Furcht des Herrn“ ruht (Jes. 11,2). Das ist das „Freudenöl“, mit dem er nach dem Wort des 45. Psalms gesalbt ist „mehr denn seine Gesellen“ (Ps. 45,8); wäre er nicht so herrlich und vollkommen, so wären wir alle arm und hung­rig! Das ist ihm ja alles — wie ich schon sagte — nicht für sich allein (privatim) gegeben worden, sondern er soll eben seine Fülle den Hungernden und Durstigen über­fließend zuteil werden lassen! Denn es kann von ihm gesagt werden, der Vater habe ihm den Geist nicht „nach dem Maß“ gegeben (Joh. 3,34), und der Grund ist der, daß wir aus seiner Fülle alle nehmen sollen Gnade um Gnade! (Joh. 1,16). Aus diesem Brunnquell strömt jene Gabe, deren Paulus gedenkt: „Einem jeglichen aber unter uns ist gegeben die Gnade nach dem Maß der Gabe Christi“ (Eph. 4,7). Hier­mit ist wohl ausreichend bewiesen, was ich oben behauptete, nämlich das Reich Christi habe sein Wesen im Geiste und nicht in irdischem Ergötzen oder irdischem Prunk. Wollen wir also an diesem Reiche teilhaben, so müssen wir der Welt absagen.

Ein sichtbares Zeichen dieser heiligen Salbung ist uns in der Taufe Christi gegeben: da kam der Heilige Geist über ihn in Gestalt einer Taube (Joh. 1,32; Luk. 3,22). Daß ich die Mitteilung des Geistes und seiner Gaben eine Salbung nenne (vgl. auch 1. Joh. 2,20.27), ist nicht neu und kann erst recht nicht wider­sinnig erscheinen; denn nur von dorther wird uns Belebung zuteil, und besonders,

 

was das himmlische Leben betrifft, so ist in uns kein Tröpflein Kraft, das uns nicht der Geist einflößte: er nahm in Christus seinen Sitz, damit uns von ihm aus die himmlischen Reichtümer zuströmten, deren wir gänzlich ermangeln. Weil aber die Gläubigen unter dem mächtigen Schutz ihres Königs unbesieglich dastehen, weil seine Reichtümer ihnen reichlich zuteil werden, darum heißen sie nicht ohne Grund Christen!

 

Nun sagt freilich Paulus: „Danach das Ende, wenn er das Reich Gott und dem Vater überantworten wird ... alsdann wird auch der Sohn selbst untertan sein ..., daß Gott sei alles in allen“ (1. Kor. 15,24.28). Aber dieses Wort wider­spricht der Ewigkeit des Reiches Christi, von der wir sprachen, in keiner Weise. Denn Paulus will nur sagen, daß die Gestaltung der Herrschaft Christi in ihrer voll­endeten Herrlichkeit anders sein wird, als sie es jetzt ist. Der Vater hat dem Sohne alle Gewalt gegeben, um uns durch seine Hand zu lenken, zu erhalten, zu stärken, uns unter seinem Schutz zu beschirmen und uns Hilfe zu leisten. Solange wir also noch Pilgrime vor Gott sind, tritt Christus ins Mittel, um uns Schritt für Schritt zu fester Gemeinschaft mit Gott zu führen. Daß er zur Rechten des Vaters sitzt, be­deutet sicherlich: er ist Gottes Statthalter, bei dem alle Befehlsgewalt liegt; denn Gott will in seiner Person sozusagen mittelbar seine Kirche regieren und schüt­zen. So spricht es auch Paulus im ersten Kapitel des Epheserbriefs aus: da heißt es, Gott habe Christus „gesetzt zu seiner Rechten im Himmel“, damit er das „Haupt der Gemeinde“ sei, „welche da ist sein Leib“ (Eph. 1,20.22f.). In derselben Richtung geht es auch, wenn er lehrt: „Gott hat Christus einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller ... Knie ... und alle Zungen bekennen sollen, daß er der Herr sei, zur Ehre Gottes, des Vaters!“ (Phil. 2,9-11). Denn auch mit diesen Worten preist der Apostel die Ordnung im Reiche Christi, die bei unserer gegenwärtigen Schwachheit notwendig ist. Deshalb folgert er aber mit Recht weiter: einst werde Gott von sich allein aus das einige Haupt der Kirche sein, weil dann Christi Werk zur Erhaltung und Verteidigung der Kirche vollendet ist. Aus dem gleichen Grunde heißt Christus in der Schrift auch durchweg der Herr, weil der Vater ihn uns zum Herrn gesetzt hat, um durch ihn seine Herrschaft über uns zu führen. Mögen auch vielerlei Herrschaften in der Welt ge­rühmt werden, sagt Paulus, „so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn, Jesus Christus, durch wel­chen alle Dinge sind und wir durch ihn!“ (1. Kor. 8,5f.). Daraus geht ganz richtig hervor: Er ist also derselbe Gott, der durch den Mund des Jesaja verkünden ließ, er sei der König und Gesetzgeber seiner Kirche! (Jes. 33,22). Denn er nennt gewiß alle seine Macht des Vaters Geschenk und Gabe; aber das bedeutet nichts anderes, als daß er in Gottes Auftrag und Namen die Herrschaft führt; denn er hat ja das Amt des Mittlers dazu angenommen, daß er aus des Vaters Schoß und unaus­denkbarer Herrlichkeit herabstieg, um sich zu uns zu nahen! Um so mehr ist es recht und billig, daß wir uns in Einmütigkeit aufmachen, ihm zu gehorchen und ihm nach seinem Wink mit höchstem Eifer zu dienen! Denn er hat zwar den Frommen gegenüber, die sich ihm gern unterwerfen, das Amt des Königs mit dem des Hirten vereinigt; aber wir hören auf der anderen Seite doch auch, daß er ein ehernes Zepter führt, um alle Widerspenstigen zu zerschlagen und zu Boden zu werfen wie irdene Gefäße! (Ps. 2,9). Wir hören auch, daß er der Richter der Heiden sein wird, „ein großes Schlagen unter ihnen zu tun“ und alles Hohe niederzuschlagen, das ihm widerstrebt! (Ps. 110,6). Dafür sieht man auch heute Beispiele; aber vor allem wird es am jüngsten Tage offenbar werden: und das wird dann auch eigentlich als die letzte Handlung in seinem Reiche zu gelten haben!

 

II,15,6

 

Jetzt will ich noch kurz von Christi priesterlichem Amt reden. Es hat sei­nen Zweck und Nutzen darin, daß er ein reiner, von allem Makel freier Mittler ist, der uns durch seine Heiligkeit mit Gott versöhnt. Gottes gerechter Fluch aber hemmt den Zugang, und Gott als Richter ist voll Zürnens gegen uns; soll uns also der Hohepriester Gottes Wohlgefallen erwerben, seinen Zorn stillen, so muß er versöhnend ins Mittel treten. Dieses Amt wollte Christus erfüllen, und deshalb mußte er ein Opfer darbringen; denn auch unter dem Gesetz war es dem Hohen­priester von Gott aus verwehrt, das Allerheiligste ohne Blut zu betreten. Die Gläubigen sollten eben wissen: gewiß ist der Hohepriester als Fürbitter für das Volk ins Mittel gestellt; aber Gott kann sich nicht gnädig erweisen, ohne daß die Sünden ge­sühnt sind! Hierüber spricht sehr ausführlich der Verfasser des Hebräerbriefs vom siebenten bis gegen den Schluß des zehnten Kapitels. Der Hauptinhalt seiner Beweis­führung ist der: Die Würde des Hohenpriestertums kommt allein Christus zu, der mit dem Opfer seines eigenen Todes unsere Schuld abgetan und für unsere Sünden genuggetan hat. Wie wichtig dies ist, ersehen wir aus jenem feierlichen Eidschwur Gottes, der ihn nie gereuen wird: „Du bist ein Priester in Ewigkeit nach der Ord­nung Melchisedeks!“ (Ps. 110,4). Damit hat Gott ohne Zweifel den wichtigsten Punkt ganz klar festlegen wollen, an welchem, wie er ja wußte, unser Heil ganz hängt. Denn wir oder auch unsere Gebete haben ja keinen Zugang zu Gott, wenn nicht Christus als Hoherpriester unsere Sünden abwäscht und uns heiligt, für uns die Gnade erwirkt, von der uns sonst die Unreinigkeit unserer Übeltaten und Laster fernhält! Bei dem Tode Christi müssen wir also anheben, wenn die Wirkung und der Segen seines priesterlichen Amtes zu uns kommen soll.

 

Hier ergibt sich aber auch, daß er ein ewiger Fürsprecher für uns ist: sein Eintreten für uns erwirkt uns Gottes Wohlgefallen. So kann der Fromme in sei­nem Gewissen Freudigkeit zum Gebet gewinnen und Frieden haben; denn er ruht ja sicher auf Gottes Barmherzigkeit, und er darf ganz gewiß der Überzeugung leben, daß Gott Wohlgefallen an dem hat, was der Mittler geheiligt! Unter dem Gesetz mußte der Priester nach Gottes Befehl Tiere opfern; bei Christus ist es ganz an­ders, ganz neu: er, der Hohepriester, ist selbst das Opfer. Denn es gab kein anderes Opfer, das für unsere Sünden hätte ausreichend eintreten können — und anderseits war doch auch keiner solcher Ehre wert, Gott seinen eingeborenen Sohn zum Opfer zu bringen. Nun trägt also Christus das Priesteramt, und er vollführt es nicht nur, um uns durch eine ewige Versöhnung Gottes Wohlgefallen und Freund­lichkeit zu gewinnen, sondern auch um uns der gleichen Würde mit teilhaftig zu machen (Apok. 1,6). Denn wir sind zwar in uns befleckt; aber in ihm sind wir Priester, bringen wir uns selbst und alles, was wir sind und haben, Gott zum Opfer dar, haben wir freien Zugang zu dem Allerheiligsten im Himmel, so daß all unsere Opfer an Gebet und Lobpreis, die wir zu bringen haben, vor Gott ein guter Geruch sind! Das alles umfaßt Christi Wort: „Ich heilige mich selbst für sie“ (Joh. 17,19) — denn er hat uns, die wir sonst ekelhaft sind vor Gott, mit sich selber Gott dargebracht, und so sind wir, von Christi Heiligkeit umflossen, vor ihm rein und un­tadelig, ja heilig, und finden so sein Wohlgefallen! Hierher gehört auch die Ver­heißung über die Salbung des „Hochheiligen“, die sich bei Daniel findet (Dan. 9,24). Besonders müssen wir freilich auf den Gegensatz zwischen dieser Salbung und jener schattenhaften Vorbildung achten, die zur damaligen Zeit in Übung war: der Engel will also sagen, daß in der Person Christi die Schattenbilder ein Ende haben und das Priesteramt in seiner vollen Herrlichkeit erstrahlt. Um so entsetzlicher ist es aber, wenn sich Menschen in ihrem Dünkel mit Christi Priesteramt nicht zufrieden geben wollen und sich dann selbst in törichter Einbildung alle Tage vermessen, ihn neu zu opfern; dies versucht man heutzutage im Papsttum, wo die Messe als Op­ferung Christi gilt!

Sechzehntes Kapitel

 

 

 

Wie Christus das Werk des Erlösers getan und uns das Heil erworben hat. Hier ist also vom Tode, von der Auferstehung und von der Himmelfahrt Christi die Rede.

 

 

 

II,16,1

 

Was wir bisher von Christus gesagt haben, muß alles auf einen Punkt be­zogen werden: Wir, die wir in uns selber verdammt, tot und verloren sind, wir sollen bei ihm die Gerechtigkeit, die Befreiung, das Leben und das Heil suchen. So lehrt es uns ja auch der berühmte Satz des Petrus: „Es ist in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darinnen wir sollen selig werden!“ (Apg. 4,12). Daß er den Namen Jesus trug, geschah ja nicht absichtslos, aus Zufall oder aus menschlicher Willkür; sondern dieser Name wurde ihm von einem Engel vom Himmel als Boten des höchsten Ratschlusses Gottes zugetragen, und es wurde ja auch der Grund zugefügt: „Denn er wird sein Volk selig machen von ihren Sünden!“ (Matth. 1,21; Luk. 1,31). Diese Worte beweisen — wie ich bereits gesagt habe! — daß ihm das Amt des Erlösers dazu übertra­gen ist, daß er unser Heiland sei! Und es wäre doch eine unvollständige Erlösung, wenn er uns nicht in stetem Weiterschreiten bis zum äußersten Ziel der Seligkeit hinleitete! Wenn wir also von ihm auch nur im geringsten uns abwenden, so schwin­det allmählich unser Heil; denn es ruht ja allein in ihm: wer sich also nicht an ihn hält, der raubt sich selbst das Heil! Es ist wohl zu bedenken, was Bernhard sagt. Der Name Jesu ist nicht nur das Licht, sondern auch die Speise, er ist das Öl, ohne das alle Speise der Seele ohne Saft ist; er ist das Salz, ohne das alles, was uns vorgesetzt wird, keine Würze hat: er ist Honig im Munde, er ist ein schöner Klang im Ohr, er ist ein Jauchzen im Herzen, wie eine herrliche Arznei zu­gleich; und all unser Reden ist Torheit, wenn nicht dieser Name daraus hervor­klingt! (Bernhard, Predigten zum Hohen Liede, 15).

 

Aber wir müssen hier fleißig darüber nachdenken, wie es denn gekommen ist, daß wir in ihm das Heil haben; denn wir sollen nicht nur gewiß sein, daß das Heil von ihm kommt, sondern auch fest ergreifen, was unserem Glauben Grund und Ge­wißheit verschafft, und alles abweisen, was uns in dieser oder jener Richtung wegziehen könnte! Wer aber sich selbst wirklich erkennt und im Ernste erwägt, wer er eigentlich ist, der muß notwendig Gottes Zorn gegen sich heftig empfinden und sich deshalb ängstlich danach ausstrecken, ob und wie ihm vielleicht möchte Versöh­nung zuteil werden. Denn es ist hier Genugtuung vonnöten; deshalb geht es um eine ungewöhnlich starke Gewißheit; denn Gottes Zorn bleibt unverändert auf dem Sünder lasten, bis er von der Schuld frei wird; Gott ist ja ein gerechter Richter, und er läßt sein Gesetz nicht ungestraft verletzen, sondern ist zu gerechter Vergeltung gerüstet!

 

 

 

II,16,2

Aber bevor wir weitergehen, müssen wir im Vorbeigehen der Frage nachsinnen, wie es sich denn miteinander vereinbaren läßt, daß Gott, der uns mit seinem Erbar­men zuvorgekommen ist, uns doch feind ist, bis er in Christus mit uns versöhnt ist! Denn wie hätte er uns in seinem eingeborenen Sohne eine solch einzigartige Bürg­schaft seiner Liebe zu uns geben können, wenn er uns nicht schon zuvor in freier Gnade freundlich gesinnt gewesen wäre? Hier entsteht also wirklich der Schein eines Widerspruchs, und ich muß also diesen Knoten zu lösen versuchen. Der Heilige Geist sagt es in der Schrift etwa so: Gott ist den Menschen feind gewesen, bis sie durch Christi Tod bei ihm wieder zu Gnaden gekommen sind (Röm. 5,10). Oder wir hören auch, der Mensch sei unter dem Fluch, bis seine Ungerechtigkeit durch Christi Opfertod gesühnt sei (Gal. 3,10.13), oder auch, er sei von Gott getrennt, bis dass

 

bis dass in Christi Leib die Gemeinschaft wiederhergestellt sei (Kol. 1,21f.). Diese und ähnliche Sprüche sind unserem Verständnis angepaßt, damit wir besser erkennen, wie jämmerlich und notvoll unsere Lage ist außer Christus. Denn wenn es uns nicht mit klaren Worten gesagt würde, daß Gottes Zorn und Strafe und der ewige Tod auf uns gelegen, so würden wir weniger anerkennen, wie elend wir ohne Gottes Er­barmen wären, und das Geschenk der Befreiung weniger zu schätzen wissen! Ich will ein Beispiel bilden. Es hört jemand: Wenn dich Gott, als du noch ein Sünder warst, so gehaßt und dich so von sich gestoßen hätte, wie du es verdient hättest, so wärest du jämmerlich zugrunde gegangen; aber Gott hat dich von sich aus und in freiem Er­barmen in Gnaden angenommen, wollte dich nicht gänzlich verstoßen und rettete dich aus solcher Gefahr. Wer das hört, der wird gewiß davon innerlich betroffen, er wird auch zu einem gewissen Teil erwägen, was er also Gottes Erbarmen für Dank schuldig ist. Aber wenn er nun auf der anderen Seite hört, was die Schrift lehrt: Du bist durch die Sünde wirklich von Gott abgekommen, bist ein Erbe des Zorns, bist dem Fluch des ewigen Todes verfallen, ausgeschlossen von jeder Hoffnung auf das Heil, fremd aller Segnung Gottes, Sklave des Satans, Gefangener unter dem Joch der Sünde, schrecklichem Verderben ausgeliefert, ja, schon mitten darin! — dann aber ist Christus als Fürsprecher ins Mittel getreten und hat die Strafe auf sich genommen, hat gelitten, was nach Gottes gerechtem Urteil alle Sünder leiden mußten, hat all das Böse, das sie vor Gott verhaßt machte, mit seinem Blute ge­sühnt; und nun ist durch dieses Sühnopfer dem Vater Genüge getan, durch diesen Fürsprecher sein Zorn besänftigt, auf diesem Grund der Friede Gottes mit den Men­schen fest gegründet, nun ruht auf dieser Verbindung Gottes Wohlgefallen gegen uns! — ich sage, wenn der Mensch das hört, wird er nicht um so tiefer das alles zu Herzen nehmen, je deutlicher und lebendiger ihm vor Augen gestellt wird, wie groß die Not ist, aus der ihn Gott herausreißt? Kurz, wir sind ja von Natur gar nicht so beschaffen, daß wir nach dem Leben aus Gottes Barmherzigkeit recht ver­langen und dafür genugsam danken können, wenn uns nicht zuvor der Schrecken vor dem Zorn Gottes und das Entsetzen vor dem ewigen Tode durch die Seele dringt und uns zu Boden wirft; und deshalb unterweist uns die göttliche Lehre der­art, daß wir Gott als uns feindlich erblicken, seine Hand ausgereckt sehen, um uns zu verderben — aber doch nur, damit wir seine Freundlichkeit und seine Vaterliebe allein in Christus ergreifen!

 

 

 

II,16,3

Was wir von Gottes Zorn hören, ist also um unserer Schwachheit willen ge­sagt; aber deshalb ist es trotzdem nicht unrichtig. Denn Gott ist doch die Gerechtig­keit in ihrer höchsten Vollkommenheit, und darum kann er die Ungerechtigkeit, die er an uns allen wahrnimmt, nicht lieben. Er findet in uns allen genug, was seinen Zorn verdient. Denn unsere Natur ist verderbt, unser Leben ist verkehrt — und deshalb sind wir vor seinem Angesicht allesamt der Feindschaft gegen ihn schuldig und zur höllischen Verdammnis geboren! Aber der Herr will in uns nicht dem Verderben preisgeben, was doch sein ist, und darum findet er immer noch etwas, was er in seiner Güte lieben kann. Denn wir sind zwar in unserer Verdorbenheit Sünder — aber wir bleiben doch seine Geschöpfe; wir haben zwar den Tod verdient — aber er hat uns doch einst zum Leben erschaffen! So kommt er aus reiner, gnä­diger Liebe zu uns doch dazu, uns in Gnaden anzunehmen! Aber der Widerstreit zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist unaufhörlich und unversöhnlich, und deshalb kann er uns, solange wir Sünder sind, durchaus nicht annehmen. Deshalb tilgt er, um aller Feindschaft ein Ende zu machen und uns ganz mit ihm zu ver­söhnen, durch die in Christus geschehene Versöhnung alles Böse in uns aus, so daß wir vor ihm gerecht und heilig erscheinen, die wir doch zuvor unrein und befleckt waren! So geht also die Liebe des Vaters der Versöhnung durch Christus voraus. Er „hat uns zuerst geliebet“ (1. Joh. 4,19) — und dann hat er uns mit sich ver-

 

söhnt! Aber in uns bleibt ja, bis Christus mit seinem Tode uns Hilfe bringt, die Ungerechtigkeit, die Gottes Zorn verdient, und sie ist vor ihm verflucht, verdammt. Wir haben also erst dann wirklich und vollkommen Gemeinschaft mit Gott, wenn Christus uns in seine Gemeinschaft zieht. Wollen wir also die feste Ge­wißheit haben, daß wir mit Gott versöhnt sind und in ihm einen gnädigen Gott haben, so gilt es, Auge und Herz fest und ausschließlich auf Christum zu richten; denn einzig durch ihn geschieht es, daß uns unsere Sünden nicht zugerechnet werden. Wäre es anders, so wäre Gottes Zorn unausbleiblich!

 

 

 

II,16,4

 

Aus diesem Grunde sagt auch Paulus, die Liebe, mit der uns Gott geliebet hat „vor Grundlegung der Welt“, habe in Christus ihren Bestand und ihren Grund (Eph. 1,4f.). Das sind klare und schriftgemäße Worte; von hier aus kann man auch in Einklang bringen, wenn wir einerseits in der Schrift lesen: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab ...“ (Joh. 3,16), und dann wieder andererseits, Gott sei uns feind, bevor ihn der Tod Christi uns wieder hat gnädig sein lassen (Röm. 5,10). Ich will aber diese Dinge auch solchen Lesern zu stärkerer Gewißheit werden lassen, die gern nach einem Zeugnis der Alten Kirche fragen; dazu will ich eine Stelle aus Augustin anführen, der die gleiche Lehre vertritt. „Unbegreiflich und unveränderlich ist Gottes Liebe! Denn er hat uns nicht erst zu lieben begonnen, seitdem wir durch das Blut seines Sohnes mit ihm versöhnt sind; nein, er hat uns schon vor Grundlegung der Welt geliebt, damit wir mit sei­nem eingeborenen Sohn seine Kinder würden, ehe wir überhaupt etwas waren! Un­sere Versöhnung durch das Blut des Sohnes soll also nicht so verstanden werden, als ob uns der Sohn zu dem Zweck mit Gott versöhnt hätte, daß dieser nun erst anfinge, uns zu lieben, die er doch zuvor gehaßt hätte; nein, wir wurden mit ihm versöhnt, als er uns bereits liebte — obwohl wir ja unserer Sünde wegen mit ihm in Feindschaft waren! Die Wahrheit dieser Behauptung mag Paulus bezeugen: ‚Darum preiset Gott seine Liebe gegen uns, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren!’ (Röm. 5,8). Er hat uns also bereits mit seiner Liebe umfangen, als wir noch in Feindschaft gegen ihn lebten und die Ungerechtig­keit taten. So hat er das göttliche Wunder getan, uns zu hassen und doch zugleich zu lieben. Er haßte uns, weil wir nicht so waren, wie er uns geschaffen hatte; aber unsere Ungerechtigkeit hatte doch sein Werk nicht ganz und gar aufgezehrt, und deshalb konnte er bei einem jeglichen von uns zugleich hassen, was wir gemacht hatten — und lieben, was doch er gemacht hatte!“ (Betrachtungen zum Johannesevangelium, 110). Das sind Augustins Worte!

 

 

 

II,16,5

 

Fragt man nun, auf welche Weise Christus die Sünde getilgt, dem Streit zwi­schen uns und Gott ein Ende gemacht und uns die Gerechtigkeit erworben hat, die uns Gott wieder geneigt und gnädig macht, so ist darauf allgemein zu antworten: er hat das durch den Gehorsam während seines ganzen Lebens für uns voll­bracht. Das beweist das Zeugnis des Paulus: „Gleichwie durch eines Menschen Ungehorsam viele Sünder geworden sind, also auch durch eines Gehorsam werden viele Gerechte“ (Röm. 5,19; Calvin zitiert etwas anders). Auch an anderer Stelle zeigt er deutlich, daß Christus mit seinem ganzen Leben uns die Vergebung erworben hat, die uns vom Fluch des Gesetzes frei macht: „Als aber die Zeit erfüllet ward, da sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste ...“ (Gal. 4,4). Christus selbst spricht es bei seiner Taufe aus: „Es gebührt uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen“ (Matth. 3,15): ein Teil der Gerechtigkeit wurde also schon dadurch erfüllt, daß er den Auftrag des Vaters im Gehorsam ausführte. Kurz, seit dem Tage, da er „Knechtsgestalt annahm“, hat er auch begonnen, das Lösegeld für unsere Befreiung darzubringen!

 

Wenn freilich die Schrift näher bestimmen will, wie es zu unserem Heil gekommen ist, so spricht sie es in besonderer Weise und eigentlich dem Tode Christi zu. Er selbst hat es ja als sein Amt bezeichnet, „sein Leben zu geben zu einem Lösegeld für viele“ (Matth. 20,28). Und Paulus sagt, er sei „um unserer Sünden willen dahingegeben“ (Röm. 4,25). Johannes der Täufer rief es laut aus: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“ (Joh. 1,29). Und Paulus lehrt an einer anderen Stelle: „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl (durch den Glauben) in seinem Blut ...“ (Röm. 3,24f.). Auch sagt er, wir seien „durch sein Blut gerecht“ gemacht und „durch den Tod seines Sohnes“ versöhnt (Röm. 5,9f.). Und dann wiederum: „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden Gerechtigkeit Gottes in ihm!“ (2. Kor. 5,21). Ich will aber nicht allen Stellen nachgehen — es ist eine un­übersehbare Fülle, und viele werden an ihrem Platze noch genannt werden. Deshalb geht das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis in richtiger Reihenfolge von der Geburt Christi gleich zu seinem Tod und zu seiner Auferstehung über: denn dar­auf ruht in der Hauptsache unser vollkommenes Heil. Damit wird der Gehorsam, den er darüber hinaus in seinem ganzen Leben geleistet hat, gewiß nicht übergangen. Paulus hat ja auch sein ganzes Leben bis zum Ende zusammengefaßt, wenn er von ihm sagt: „Er erniedrigte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an ... und ward ge­horsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz ...“ (Phil. 2,7f.). Die Hauptsache ist dabei, daß es ein freiwilliger Gehorsam war; denn nur ein freiwillig dar­gebrachtes Opfer konnte zur Gerechtigkeit führen! Deshalb bezeugt der Herr: „Ich lasse mein Leben für die Schafe ...“ (Joh. 10,15) und fügt dann ausdrücklich hinzu: „Niemand nimmt es von mir!“ (Joh. 10,18). Deshalb sagt ja auch Jesaja: „Er war wie ein Schaf, das verstummte vor seinem Scherer“ (Jes. 53,7). Die Leidensge­schichte im Evangelium berichtet auch, wie er den Kriegsknechten frei entgegenge­gangen ist (Joh. 18,4), wie er vor Pilatus ohne jede Verteidigung dagestanden hat, um sich seinem Richterspruch zu unterwerfen (Matth. 27,11). Das hat er gewiß nicht ohne Kampf fertiggebracht; denn er hatte ja unsere Schwachheit angenommen, und auf diese Weise mußte der Gehorsam sichtbar werden, den er dem Vater leistete. Es war ein einzigartig herrlicher Erweis seiner Liebe gegen uns, daß er mit namenloser Angst kämpfte, daß er unter jenen furchtbaren Todesschrecken sich selber ver­gessen hat, um uns zu helfen. Das müssen wir festhalten: es konnte nur dann Gottes Gerechtigkeit im Opfer Genüge geschehen, wenn sich Christus aus eigener Entscheidung selbst verleugnete und sich Gottes Willen gehorsam unterwarf und gänzlich hingab. Dazu führt der Verfasser des Hebräerbriefs eine sehr passende Stelle aus den Psalmen an: „Im Buche des Gesetzes ist von mir geschrieben; deinen Willen, mein Gott, tue ich gerne, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen. Da sprach ich: ‘Siehe, ich komme’ ...“ (Hebr. 10,7.9; Ps. 40,8f.). Weil unser er­schrockenes Gewissen nun nur in dem Opfer und der Reinigung, welche die Sünden tilgen, seine Ruhe finden kann, so wird mit Recht unser Blick da hin gerichtet, und im Tode Christi ersteht uns der Grund unseres Lebens!

Wir hatten angesichts unserer Verschuldung vor Gottes himmlischem Richtstuhl die Verdammnis zu erwarten; deshalb nennt das Glaubensbekenntnis an erster Stelle die Verurteilung vor Pontius Pilatus, dem Statthalter von Judäa: wir sollen wissen, daß der Gerechte die Strafe, die uns drohte, wirklich auf sich genommen hat! Wir konnten Gottes furchtbarem Gericht nicht entgehen, und da hat sich Christus vor einem sterblichen, ja lasterhaften, gottlosen Menschen verurtei­len lassen, um uns herauszureißen. Daß der Statthalter mit Namen genannt wird, soll nicht nur die Glaubwürdigkeit des geschichtlichen Berichts unterstützen, sondern wir sollen dadurch lernen, was uns Jesaja sagt: „Die Strafe lag auf ihm, auf dass

 

wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt!“ (Jes. 53,5). Denn zur Behebung der auf uns lastenden Verdammnis war es nicht ausreichend, daß Christus den Tod in irgendeiner beliebigen Gestalt erlitten hätte; sollte unsere Erlösung vollgültig zustande kommen, so mußte es eine Todesart sein, bei der er unsere Verdammnis auf sich nahm, die Sühne für unsere Sünde selbst vollbrachte — und uns so von beidem, von Verdammnis und Sühnenotwendigkeit, befreite! Wäre er von Räubern erwürgt oder bei einem Volksaufstand im Tumult umgebracht wor­den, so hätte in diesen beiden Arten des Sterbens das wesentliche Merkmal der Ge­nugtuung gefehlt. Aber er wird als Angeklagter vor den Richtstuhl gestellt, Zeugen­aussagen klagen ihn an und beschuldigen ihn, der Richter selbst überantwortet ihn zum Tode: da sehen wir, daß er sich als strafbarer Übeltäter hat behandeln lassen! Hier sind nun zwei Dinge anzumerken, die schon in Weissagungen der Propheten vorhergesagt sind und dem Glauben unendlich viel Trost und Stärkung bringen. Wenn wir hören, wie Christus vom Richter zum Tode verurteilt und zwischen Mör­dern gehenkt wurde, so sehen wir darin die Erfüllung der Weissagung, die denn auch der Evangelist anführt: „Er ist unter die Übeltäter gerechnet“ (Jes. 53,12; Mark. 15,28). Was bedeutet das? Er tritt an die Stelle des Sünders, nicht an die des Gerechten und Unschuldigen; denn er erduldete den Tod nicht um der Un­schuld willen, sondern um der Sünde willen! Und wenn wir anderseits hören, wie ihn der gleiche Mund, der das Verdammungsurteil über ihn spricht, auch für unschuldig erklärt — denn Pilatus sah sich ja mehr als einmal gezwungen, Christi Unschuld öffentlich zu bezeugen! —, so soll uns ins Gedächtnis kommen, was wir bei einem anderen Propheten lesen können: „Er bezahlt, was er nicht geraubet hat“ (Ps. 69,5; im Text 1. Person). So sehen wir, wie Christus in der Rolle eines schuld­beladenen Sünders auftritt — aber es strahlt zugleich auch seine Unschuld hell auf, und es wird ganz deutlich, daß er nicht eigene, sondern fremde Schuld trägt! Er hat also „gelitten unter Pontius Pilatus“, und er ist dabei durch feierlichen Richterspruch den Übeltätern zugesellt worden; und doch geschieht das in der Weise, daß der gleiche Pontius Pilatus ihn auch gerecht sprechen muß, wie er ja selbst bezeugt: „Ich finde keine Schuld an ihm“ (Joh. 18,38). Das also ist unsere Lossprechung: auf das Haupt des Sohnes Gottes wird die Schuld gelegt, die doch uns der Strafe auslieferte! An dieses Eintreten Christi für uns sollen wir immer denken, damit wir nicht unser Leben lang zittern und in Angst sitzen — als ob Gottes gerechte Vergeltung, die doch der Sohn Gottes auf sich selbst genommen hat, uns noch immer drohte!

 

 

 

II,16,6

Auch in der Art des Todes, den Christus erlitten hat, liegt ein besonderes Ge­heimnis. Das Kreuz war verflucht — nicht nur nach menschlicher Ansicht, sondern durch eine Bestimmung des Gesetzes Gottes. Wurde also Christus ans Kreuz geschlagen, so zog er sich damit den Fluch zu. Aber es mußte so gesche­hen, damit wir von allem Fluch, der uns um unserer Sünden willen drohte, ja der wirklich auf uns lag, frei würden, indem er auf ihn überging. Auch dafür bietet das Gesetz eine schattenhafte Vorbildung. Denn das hebräische Wort „Ascham“, das eigentlich „Sünde“ heißt, ist auch der Ausdruck für die um der Sünde willen dargebrachten Opfer und Sühnopfer! Durch diese Namensübertragung wollte der Heilige Geist uns zeigen, daß diese Opfer sozusagen „Reinigungsopfer“ wären, welche den auf der Übeltat des Menschen ruhenden Fluch auf sich nahmen! Was nun aber in den mosaischen Opfern bildlich dargestellt ist, das wird an Christus, dem Urbilde, das dem allen zugrunde lag, offenbar. Er hat, um die wahre Ver­söhnung zu vollbringen, seine Seele als Sündopfer (als „ascham“) dargebracht, das heißt also als ein für die Sünde genugtuendes Opfer, wie der Prophet sagt (Jes. 53,5.10); auf ihn ist alle Befleckung und Strafe geworfen, und uns wird sie nun nicht mehr zugerechnet. Das hat uns mit größerer Deutlichkeit der Apostel be-

 

zeugt: „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden Gerechtigkeit Gottes in ihm“ (2. Kor. 5,21). Denn der Sohn Gottes, selbst doch ganz rein von jeder Übeltat, hat unsere Sünde und Schande auf sich genommen und uns dafür mit seiner Reinheit umkleidet. Darauf scheint es sich zu beziehen, wenn Paulus von der Sünde sagt, sie sei „in seinem Fleische verdammt“ worden (Röm. 8,3). Denn der Vater hat die Gewalt der Sünde vernichtet, als sein Fluch auf Christi Fleisch übertragen ward. Dieser Ausdruck will also zeigen: Christus ist in seinem Tode dem Vater als ein genugtuendes Opfer dargebracht worden; und durch sein Opfer ist nun die Versöhnung vollbracht, so daß wir nicht mehr vor Gottes Zorn zu erschrecken brauchen. Jetzt verstehen wir auch, was der Prophet meint, wenn er sagt: „Der Herr aber warf unser aller Sünde auf ihn“ (Jes. 53,6); Christus ist, um uns von all unserem Unflat zu reinigen, durch solche übertragende Zurechnung ganz mit der Sünde bedeckt worden. Dafür ist das Kreuz, an das er geheftet wurde, ein Zeichen, wie uns der Apostel sagt: „Christus ...hat uns erlöst vom Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns; denn es steht geschrieben: ‚Verflucht ist jedermann, der am Holz hanget’ — auf daß der Segen Abrahams unter die Heiden käme in Christo Jesu ...“ (Gal. 3,13f.). Das meint auch Petrus, wenn er sagt: „Welcher unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat ... auf das Holz ...“ (1. Petr. 2,24); denn an diesem Zeichen des Fluchs erkennen wir um so deut­licher, daß die Last, die uns niederdrückte, ihm aufgelegt worden ist. Allerdings dürfen wir dabei nun keinesfalls daran denken, der Fluch habe ihn selbst überwältigt: nein, er hat ihn auf sich genommen und ihn damit selbst niedergeschlagen, zerbrochen, zunichte gemacht! Deshalb findet der Glaube in Christi Verdammung die Rechtfertigung, in dem Fluch, der auf ihm lag, den Segen. Deswegen preist Paulus den Sieg, den Christus am Kreuze errungen hat, gewaltig hoch — als wäre das Kreuz, das doch sonst voller Schmach war, zu einem Triumphwagen geworden! „Er hat ausgetilgt die Handschrift, so wider uns war ... und hat sie an das Kreuz geheftet, und hat ausgezogen die Fürstentümer und die Ge­waltigen und sie schaugetragen öffentlich ...“ (Kol. 2,14f.). Das ist nicht verwunderlich: denn Christus hat sich — wie ein anderer Apostel sagt — „durch den ewi­gen Geist Gott geopfert“ (Hebr. 9,14), und daher kommt diese Umkehrung aller Dinge! Aber diese Gewißheit muß feste Wurzel in unserem Herzen schlagen und uns ganz durchdringen, und deshalb müssen wir immer dieses Opfers, dieser Reinigung gedenken. Wir könnten gar nicht die Gewißheit haben, daß Christus unsere Er­lösung (apolytrosis), unser Lösegeld (antilytron) und unser „Gnadenstuhl“ (hilasterion) ist, wenn er nicht unser Opfer wäre! Deshalb spricht die Schrift immer vom Blut, wo sie davon redet, wie unsere Erlösung zustande kam. Freilich ist Christi Blut nicht allein als Sühnopfer geflossen, es war auch gewissermaßen ein Bad, in dem wir Reinigung von unserer Befleckung gefunden haben.

 

 

 

II,16,7

Nun folgt im Glaubensbekenntnis: „Gestorben und begraben.“ Auch hier ist wie­der wahrzunehmen, wie sich Christus, um unser Lösegeld zu bezahlen, überall an unsere Stelle gesetzt hat. Denn der Tod hielt uns ja unter seinem harten Joch ge­fangen — und da begab er sich an unserer Statt in seine Gewalt, um wiederum uns von ihr zu befreien! Das meint der Apostel, wenn er schreibt: „auf daß er ... für alle den Tod schmeckte!“ (Hebr. 2,9). Denn durch sein Sterben hat er bewirkt, daß wir nicht sterben, oder, was dasselbe ist, durch seinen Tod hat er uns das Leben erkauft! Nur darin ist er von uns ganz verschieden: Er hat sich in die Gewalt des Todes begeben, nicht um von diesem verschlungen zu werden, son­dern um ihn, der doch uns zu verschlingen drohte, selbst zu verschlingen! Er hat sich dem Tod unterworfen, nicht um von seiner Macht erdrückt zu werden, sondern um ihn selbst zu Boden zu werfen, der doch uns allezeit drohte und schon über un­seren Sturz frohlockte! Endlich ist er gestorben, um durch den Tod den zu-

 

nichte zu machen, der des Todes Gewalt hat, das ist: den Teufel (Hebr. 2,14), und um die zu erlösen, „die durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mußten!“ (Hebr. 2,15). Das ist die erste Frucht, die uns sein Tod gebracht hat.

 

Die zweite Wirkung des Todes Christi für uns ist die, daß er uns in die Gemeinschaft seines Sterbens hineinzieht; dadurch hat er unsere irdischen Glieder getötet, so daß sie nicht weiter ihr böses Werk tun, dadurch hat er auch un­seren alten Menschen zunichte gemacht, daß er jetzt nicht mehr gedeiht und seine Früchte bringt! Und dazu ist er auch begraben worden, nämlich, daß wir jetzt selbst mit an seinem Begräbnis teilhaben und damit auch der Sünde begraben werden. Denn nach Paulus sind wir Christo durch einen gleichen Tod einverleibt, und mit ihm sind wir begraben und dadurch der Sünde gestorben; durch sein Kreuz ist „uns die Welt gekreuzigt und wir der Welt!“ (Gal. 2,19; 6,14). Wir sind mit ihm ge­storben (Kol. 3,3). Aber damit will uns der Apostel nicht etwa bloß ermuntern, das Vorbild seines Todes gewissermaßen an uns zu Darstellung und Ausdruck zu bringen; sondern er erklärt uns, daß in dem Tode Christi eine solche Kraft wohnt, die nun in allen Christenmenschen sichtbar werden muß, wenn sie den Tod Christi an sich nicht nutzlos und fruchtlos machen wollen!

 

So empfangen wir also einen doppelten Segen von dem Tode und dem Begrabensein Christi: Die Befreiung vom Tode, dessen Leibeigene wir waren — und die Abtötung unseres Fleisches!

 

 

 

II,16,8

Aber man darf auch das „Abgestiegen zur Hölle“ nicht übergehen; denn auch darin liegt Wichtiges zur Erfüllung des Erlösungswerks beschlossen. Aus den Schriften der alten Kirchenlehrer geht zwar hervor, daß dieses Stück des Glaubensbekenntnisses damals in der Kirche nicht eben sehr stark vertreten worden ist. Aber wenn man das Ganze der Lehre darstellen will, so muß auch dies Stück seinen Platz erhalten; denn es tritt uns hier ein heilsames und nicht zu verachtendes Geheimnis entgegen. Auch unter den alten Kirchenlehrern sind einige, die es nicht übergehen. Daraus läßt sich die Vermutung ableiten, daß dies Stück erst später eingefügt und nicht so­fort, sondern erst allmählich zu kirchlicher Lehrgeltung gelangt ist. Aber außer Zwei­fel steht doch, daß das Lehrstück aus der allgemeinen Überzeugung der Gläubigen heraus zur Geltung gekommen ist; denn unter den Kirchenvätern befindet sich keiner, der dies „Abgestiegen zur Hölle“ nicht irgendwie erwähnte — wenn auch die Aus­legung sehr verschieden ist. Auch trägt es ja zur Sache wenig bei, von wem und zu welcher Zeit diese Lehre in das Bekenntnis eingefügt worden ist. Wir müssen um so mehr bei der Betrachtung des Glaubensbekenntnisses darauf sehen, daß es wirklich alle wesentlichen Stücke des Glaubens enthält, und daß ihm nichts beigemischt wird, das nicht aus dem reinsten Wort Gottes geschöpft ist. Es gibt gewiß Leute, die sich hartnäckig weigern, diese Aussage zum Glaubensbekenntnis hinzuzunehmen; aber es wird bald deutlich werden, welche große Bedeutung sie für die Gesamterkenntnis unserer Erlösung hat: würde man sie übergehen, so würde der Tod Christi für uns viel von seiner Segenswirkung verlieren. Auf der anderen Seite gibt es wieder Theologen, die der Meinung sind, hier werde überhaupt nichts Neues gesagt, sondern nur mit anderen Worten der Artikel von dem Begrabensein Christi wiederholt; der Ausdruck „Hölle“ stehe ja in der Schrift mehrfach an Stelle von „Grab“! Ich gebe zu: was man über die Bedeutung des Wortes sagt, ist richtig: es wird tatsächlich oft Hölle statt Grab gesetzt. Aber gegen die damit verbundene Anschauung sprechen doch zwei Gründe, die mich veranlassen, die „Höllenfahrt“ Christi von seinem Begräbnis zu unterscheiden. Es wäre nämlich (einerseits) eine große Weitschweifigkeit gewesen, eine ganz einfache Sache, die man noch dazu mit klaren und einleuchtenden Worten ausgedrückt hat, nun nachher mit einer wesentlich schwie­rigeren Aussage mehr anzudeuten, als eigentlich zu erklären! Denn wenn man zweier-

 

lei Ausdrücke, die sich auf die gleiche Sache beziehen, nebeneinander aufführt, so soll doch in der Regel der zweite den ersten näher erläutern. Aber was wäre das für eine Erläuterung, wenn man sagen wollte: ‚Christus ist begraben worden’ und das heißt: ‚er ist niedergefahren zur Hölle’? Dann ist es aber auch (anderseits) unwahrscheinlich, daß eine derartige unnötige Wiederholung in das Glaubensbe­kenntnis hätte eindringen können; denn es werden doch hier in zusammenfassender Weise mit möglichst wenig Worten die Hauptstücke des Glaubens aufgeführt! Ich glaube, wer die Sache selbst einigermaßen genau überlegt, der wird mir recht geben.

 

 

 

II,16,9

 

Andere dagegen legen dieses Stück des Glaubensbekenntnisses ganz anders aus. Sie sagen, Christus sei hinabgestiegen zu den Seelen der Väter, die unter dem Gesetz verstorben waren, um ihnen die Botschaft von der vollbrachten Erlösung zu bringen und sie aus dem Gefängnis herauszuführen, in das sie eingeschlossen waren. In die­ser Richtung mißdeuten sie dann solch ein Psalmwort wie: „Er zerbrach eherne Tore und eiserne Riegel“ (Ps. 107,16) oder auch das Wort des Sacharja: „Auch lasse ich ... los deine Gefangenen aus der Grube, darin kein Wasser ist“ (Sach. 9,11; Calvin zitiert in der 3. Person). Aber in dem Psalm wird in Wirklichkeit denen, die in weiter Ferne in Knechtschaft gehalten werden, die Befreiung angekündigt, und Sa­charja versteht unter der tiefen und wasserleeren Grube oder dem Abgrund die Ge­fangenschaft in Babel, in der das Volk steckte. Zugleich stellt Sacharja das Heil der Kirche überhaupt als Errettung aus unergründlicher Tiefe dar. Ich sehe also gar nicht, wie man dann in späterer Zeit hier an einen unterirdischen Ort denken konnte, dem man noch den Namen „limbus“ gab. Obgleich diese Fabel von berühmten Leu­ten erdacht ist und auch heute noch von vielen ernstlich als Wahrheit verteidigt wird, so ist sie doch eben bloß eine Fabel. Es ist kindisch, die Seelen der Verstorbenen in ein Gefängnis eingesperrt zu denken. Und wozu war es dann nötig, daß Christi Seele dahin abstieg, um sie in Freiheit zu setzen?

 

Ich gebe aber gern zu, daß Christus diesen Entschlafenen in der Kraft seines Gei­stes leuchtend erschienen ist, damit sie erkannten, daß die Gnade, die sie bloß in der Hoffnung geschmeckt hatten, nun der Welt offenbar sei. Möglicherweise kann man darauf auch die Stelle im 1. Petrusbrief beziehen: „In demselben ist er auch hin­gegangen und hat gepredigt den Geistern auf der Wacht“; wobei man gewöhnlich übersetzt: „im Gefängnis“ (1. Petr. 3,19). Der Zusammenhang führt uns darauf, daß die Gläubigen, die vor jener Zeit verstorben waren, mit uns doch der gleichen Gnade teilhaftig sind. Denn der Apostel will die Kraft des Todes Christi besonders rüh­men und begründet das darin, daß sie ja bis zu den Verstorbenen hindurchgedrungen ist: da haben dann die Frommen sein Erscheinen, auf das sie schon lange voll Sehn­sucht gewartet hatten, als etwas Gegenwärtiges erlebt, und den Gottlosen ist um so mehr offenbar geworden, daß sie von allem Heil ausgeschloffen sind. Petrus redet aber nicht so deutlich. Man wird das nicht so verstehen dürfen, als ob er Gläubige und Ungläubige ohne Unterschied durcheinanderwürfe; er will nur lehren daß beide gleichermaßen vom Tode Christi Kenntnis erlangt haben.

 

 

 

II,16,10

Ich will nun für dieses Abgestiegensein Christi zur Hölle eine zuverlässigere Er­klärung suchen und dabei das Verhältnis dieser Lehre zum Glaubensbekenntnis bei­seite lassen. Die Erklärung, die uns das Wort Gottes an die Hand gibt, ist nicht bloß heilig und ehrwürdig, sondern auch voll herrlichen Trostes. Es war ja nicht damit getan, daß Christus bloß den leiblichen Tod gelitten hat, nein, er mußte auch wirklich die ganze Härte des göttlichen Gerichts empfinden, um seinen Zorn abzu­wenden und seinem gerechten Urteil genugzutun. Deshalb mußte er auch mit den Mächten der Hölle, mit dem Schrecken des ewigen Todes, gleichsam Mann gegen Mann, den Kampf bestehen. Wir haben schon die Jesajastelle angeführt: „Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten ... Er ist um unserer Missetat willen

 

verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen ...“ (Jes. 53,5). Da zeigt der Prophet, wie er als Vermittler, als Bürge für den Übeltäter eintritt, ja an seine Stelle tritt, um alle Strafe zu tragen und abzuleisten, die der Sünder zu erwarten hatte — nur mit der einen Einschränkung, daß ihn ja die „Schmerzen des Todes“ nicht „halten“ konnten (Apg. 2,24). Wenn es also heißt: „abgestiegen ist zur Hölle“, so darf uns das nicht verwundern: er hat ja den Tod erduldet, den Gottes Zorn den Übeltätern bereitet! Es ist unsachgemäß und lächerlich, wenn man hier einwen­det, es werde auf diese Weise die geordnete Reihenfolge herumgedreht, weil es doch sinnlos sei, etwas, das dem Begräbnis vorauf ging, nach ihm zu erwähnen. Nein: vorher ist gezeigt, was Christus öffentlich, vor den Augen der Menschen ge­litten hat — jetzt aber erfahren wir ganz richtig von dem unsichtbaren, unbegreiflichen Gericht, das Christus vor Gott ausgehalten hat. Wir sollen daraus erkennen: er hat nicht nur seinen Leib zum Lösegeld dahingegeben, sondern noch ein größeres, köstlicheres Opfer für uns dargebracht, indem er in seiner Seele die furchtbaren Qualen eines verdammten und verlorenen Menschen ausstand!

 

 

 

II,16,11

In diesem Sinne sagt Petrus: „Den hat Gott auferweckt und aufgelöst die Schmerzen des Todes, wie es denn unmöglich war, daß er sollte von ihnen gehalten werden“ (Apg. 2,24). Er spricht da nicht einfach vom Tode, sondern er sagt aus­drücklich, daß der Sohn Gottes Schmerzen gelitten hat, solche Schmerzen, wie sie Gottes Fluch und Zorn mit sich führt, — der ja der Ursprung des Todes ist! Denn es wäre ein Geringes gewesen, wenn Christus unerschüttert und wie zum Spiel in den Tod gegangen wäre! Der wahre Erweis seines unergründlichen Erbar­mens lag vielmehr darin, daß er vor dem Tode furchtbar schauderte — und ihm doch nicht entfloh! Unzweifelhaft will dasselbe auch der Verfasser des Hebräer­briefs sagen, wenn er schreibt, Christus sei aus seiner Angst erhört worden (Hebr. 5,7; nicht Luthertext). Die Stelle übersetzen manche so, daß sie statt „Angst“ „Got­tesfurcht“ oder „Frömmigkeit“ einsetzen und also übertragen: „und ist erhört wor­den, darum daß er Gott in Ehren hatte“ (so auch Luther). Aber das ist wenig an­gemessen, wie die Sache selbst und auch die Wortbedeutung zeigt. Christus hat „mit starkem Geschrei und Flehen“ gebetet und ist von seiner Angst erhört worden — nicht, um gegen den Tod geschützt zu sein, sondern um nicht als Sünder gar von ihm verschlungen zu werden. Denn er tat das ja alles an unserer Statt! Es gibt ganz sicher keinen entsetzlicheren Abgrund der Not, als wenn man sich von Gott ver­lassen, von ihm entfremdet wissen muß: man ruft ihn an, und man wird nicht er­hört - als ob er selbst sich zu unserem Verderben verschworen hätte! Christus aber ist wirklich so verstoßen gewesen, daß er aus drängender Not heraus ausrufen mußte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps. 22,2; Matth. 27,46). Da wollen nun einige behaupten, er habe diesen furchtbaren Schrei aus der Empfindung anderer, nicht aber aus der eigenen Erfahrung heraus getan (so Cyrill, Vom rechten Glauben); aber das ist ganz unwahrscheinlich; denn diese Worte kommen doch offenkundig aus tiefster innerer Bedrängnis! Trotzdem will ich damit nicht gesagt haben, daß Gott Christus je feindlich oder im Zorn gegenübergestanden habe. Wie sollte er auch dem geliebten Sohn, an dem er Wohlgefallen hatte, zürnen können? Oder wie sollte Christus durch seine Stellvertretung andere mit Gott versöhnen, wenn er selbst unter dem Zorn stand? Ich sage aber das: Christus hat die ganze Strenge des göttlichen Zorns ausgestanden; denn er ist ja von Gottes Hand „zerschlagen und verwundet“ (Anklang an Jes. 53,5) und hat alle Äußerungen des Zorns und der Strafe Gottes erduldet! So zieht denn auch Hilarius die Folge­rung, dieses „Abgestiegen zur Hölle“ habe für uns die Wirkung, daß der Tod aufgehoben sei (Hilarius, Von der Dreieinigkeit, 4). Auch an anderen Stellen stimmt Hilarius meiner Meinung zu; so sagt er: „Kreuz, Tod, Hölle — das ist unser Le­ben!“ (Buch 2 desselben Werkes), und dann wieder: „Gottes Sohn ist in der

 

Hölle — aber der Mensch wird zum Himmel erhoben!“ (Buch 3). Aber was führe ich das Zeugnis eines privaten Menschen an — wo doch der Apostel das gleiche sagt? Denn der Verfasser des Hebräerbriefs betont selber, Christus habe auf diese Weise „erlöst, so durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mußten“ (Hebr. 2,15). So mußte also Christus diese Furcht niederkämpfen, die von Na­tur alle Sterblichen immerfort in Angst und Bedrängnis hält — und das konnte nur in hartem Streit geschehen! Deshalb kann die Betrübnis, wie sie dem Herrn widerfuhr, nicht gewöhnlicher Art gewesen oder aus geringer Ursache entstanden sein. Das wird bald noch deutlicher werden. So hat er mit der Gewalt des Teufels, mit dem Schrecken des Todes, mit den Schmerzen der Hölle gestritten, Mann gegen Mann sozusagen — und da hat er den Sieg erfochten über sie und mit Macht triumphiert, so daß wir im Tode nicht mehr vor dem Angst zu haben brauchen, was unser Herzog bereits niedergekämpft hat!

 

 

 

II,16,12

 

Hier erheben nun einige unwissende Toren, aber mehr aus Bosheit als aus Unkenntnis der Dinge, mit lautem Geschrei den Einwand, ich täte mit meiner Deutung Christus bitter Unrecht. Denn es sei doch mit seiner Würde durchaus unvereinbar, daß er etwa um das Heil seiner Seele fürchte! Dann aber geht man noch zu hefti­geren Schmähungen über: ich behauptete, der Sohn Gottes sei verzweifelt, und das gehe gegen den Glauben!

 

Diese Leute meinen also einen Streit anfangen zu müssen wegen meiner Behaup­tung, Christus habe Angst und Schrecken erduldet. Und dabei sprechen doch die Evan­gelisten ganz klar davon! Wir hören schon vor dem Beginn der eigentlichen Todesleiden, daß Christus im Geiste erschüttert war (Joh. 12,27) und daß ihn Traurig­keit umfing, und im Kampfe selbst „fing er an, zu trauern und zu zagen ...“ (Matth. 26,37f.). Wenn man nun sagt, das sei zum Schein geschehen, so ist das eine ganz besonders schändliche Ausflucht. Wir sollen — wie Ambrosius richtig lehrt - die Traurigkeit Christi kecklich bekennen, wenn wir uns nicht des Kreuzes schämen! Hätte nicht seine Seele die Strafe mit getragen, so wäre er auch sicherlich nur der Erlöser unseres Leibes! Ein harter Streit mußte geführt werden, damit Christus uns wieder aufrichtete, die wir doch ganz am Boden lagen. Dadurch verliert er rein gar nichts von seiner himmlischen Herrlichkeit, nein, es leuchtet ja gerade hier seine Güte, die man nie genug loben kann, ganz herrlich hervor, indem er sich doch nicht weigerte, unsere ganze Schwachheit auf sich zu nehmen. Daher kommt dieser Trost gegen alle Angst, allen Schmerz, den uns der Apostel vorhält: Dieser Mittler hat unsere „Schwachheiten“ getragen, und deshalb kann er um so mehr „Mitleiden ha­ben“ mit den Elenden (Hebr. 4,15).

Aber man wirft ein, es sei schon an und für sich unrecht, wenn man dem Herrn irgend etwas Unvollkommenes zuschreibe. Als ob man klüger wäre als der Geist Gottes! Denn der bringt diese scheinbaren Gegensätze tadellos zusammen: „Er ist versucht worden allenthalben gleichwie wir“ — und doch „ohne Sünde“! (Hebr. 4,15). Deshalb kann uns Christi Schwachheit nicht erschrecken; er ist ja auch durch keinerlei Notwendigkeit oder Zwang genötigt worden, sie auf sich zu nehmen, son­dern hat es rein aus Liebe zu uns, rein aus Barmherzigkeit getan! Was er aber freiwillig uns zugut erduldet hat, das nimmt ihm ja von seiner Kraft und Tu­gend gar nichts. Die Widersacher sind auf dem Irrwege, wenn sie an Christus keine Schwachheit anerkennen wollen, obwohl diese doch von aller Schuld, allem Makel rein und frei ist, weil er sich ja ganz im Gehorsam hielt! Solche Zucht ist eben an unserem Wesen bei der Verderbnis unserer Natur nicht zu bemerken, bei uns gehen alle Regungen gleich in wildem Drang über alles Maß hinaus — und nun tut man das Verkehrte, an den Sohn Gottes diesen Maßstab anzulegen! Aber er war doch rein, und so regierte in allen seinen Regungen jene innere Zucht, die alles Über-

 

maß hinderte. So konnte er uns in Schmerz und Angst und Schrecken ähnlich sein — und doch an diesem entscheidenden Punkt ganz anders sein als wir!

 

Sind nun unsere Widersacher an diesem Punkt überführt, so kommen sie gleich mit einem neuen Einwurf; sie sagen: mag auch Christus den Tod gefürchtet haben, so hat er doch gewiß den Fluch und den Zorn Gottes nicht gefürchtet, denn da­vor wußte er sich sicher! Aber nun soll der fromme Leser bedenken, was man damit Christus für eine (zweifelhafte) Ehre antut: er wird so für weichlicher und ängst­licher erklärt, als es viele gewöhnliche Menschen sind! Selbst Räuber und andere Verbrecher gehen hartnäckig in den Tod, andere verachten ihn mit hohem Mut, an­dere erdulden ihn ruhig und fröhlich! Und der Sohn Gottes soll von der Angst vor dem Tode erschüttert, überwältigt worden sein? Was wäre das für eine Standhaftigkeit und innere Größe gewesen? Es wird doch von ihm berichtet, was man allgemein für sonderbar und ungewöhnlich halten müßte: unter der Wucht der Qual seien Tropfen Bluts von seinem Angesicht geflossen! Das ist nun aber nicht zum Schein, vor dem Angesicht der Menschen geschehen, sondern er hat sich ins Verborgene zu­rückgezogen und da sein Seufzen vor den Vater gebracht. Es benimmt jeden Zweifel, wenn man darauf achtet, daß die Engel, die ihm so ungewöhnlichen Trost brachten, vom Himmel zu ihm kommen mußten! Aber was für eine beschämende Weichlichkeit wäre es, wenn Christus dermaßen von der Angst vor dem Tode allein gequält wor­den wäre, der doch alle trifft, daß er blutigen Schweiß vergoß und nur durch die Er­scheinung von Engeln wieder aufgerichtet werden konnte! Aber nein, dies dreimalige Flehen: „Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ (Matth. 26,39) — dieses Flehen kommt doch offenbar aus unglaublicher innerer Qual, und es zeigt, daß Christus wahrhaftig einen schärferen und härteren Streit zu führen hatte, als mit dem gewöhnlichen Tode. Da sehen wir, daß diese Schwätzer, mit denen ich mich herumschlagen muß, ein schnelles Urteil über Dinge fällen, von denen sie nichts verstehen; denn sie haben noch nie recht darüber nachgedacht, was es überhaupt heißt und bedeutet, daß wir von Gottes Gericht erlöst sind! Unsere Weisheit aber kann nur darin bestehen, recht zu bedenken, was unsere Erlösung den Sohn Gottes gekostet hat!

Nun könnte mich aber auch jemand fragen, ob denn dies „Abgestiegen zur Hölle“ damals eingetreten sei, als er um Abwendung des Todes betete. Ich antworte darauf: Das war der Anfang, und daraus kann man erst erkennen, was für furchtbare, schreckliche Qualen er durchgemacht hat, als er erkannte, daß er um unsertwillen als Schuldiger vor Gottes Gericht stand! So hat sich die göttliche Kraft seines Gei­stes zwar eine Zeitlang verhüllt und der Schwachheit des Fleisches ihren Platz ab­getreten; aber wir müssen doch auch bedenken, daß diese furchtbare Anfechtung, die aus dem Empfinden des Schmerzes und der Angst herkam, dem Glauben nicht zu­wider war. Es hat sich wirklich so erwiesen, wie es Petrus in seiner Rede dann aus­gesprochen hat: die Schmerzen des Todes vermochten ihn nicht zu halten! (Apg. 2,24). Denn er wußte sich wohl sozusagen von Gott verlassen; aber die Gewißheit um seine Güte hat er doch nicht im geringsten fahren lassen. Das zeigt gerade die­ser berühmte Ausruf, in dem er aus der Wucht seines Schmerzes heraus schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matth. 27,46). Er ist in höchster innerer Not — aber er nennt Gott, der ihn nach seinem Ausruf verlassen hat, doch noch immer: „Mein Gott!“ Hier fällt der Irrtum des Apollinaris wie auch die Irrlehre der sogenannten „Monotheleten“ dahin. Apollinaris dichtete Chri­stus an, bei ihm sei der ewige Geist an die Stelle der Seele getreten, so daß er also nur noch halb Mensch gewesen wäre! Als ob er für unsere Sünde hätte Sühne leisten können, ohne dem Vater zu gehorchen! Wo aber soll sich die Regung und der Wille zum Gehorsam zeigen, als in der Seele? Eben seine Seele ist in Angst und Schrecken gejagt worden, damit die unsrige, von aller Furcht befreit, zu Frieden und Ruhe komme! Aber hier muß auch etwas gegen die Monotheleten gesagt werden (die da

 

behaupteten, in Christus sei nur ein— gott-menschlicher — Wille wirksam gewe­sen!): wir sehen doch gerade hier, wie er nach seiner menschlichen Natur nicht will, was er nach der göttlichen will! Ich sehe davon ab, daß er die aufkom­mende Furcht, von der wir sprachen, tatsächlich durch die entgegengesetzte Willensregung niedergekämpft hat; deutlich ist aber der Widerstreit in ihm auch in dem Wort: „Vater, hilf mir aus dieser Stunde! — Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. — Vater, verkläre deinen Namen!“ (Joh. 12,27f.). Und doch war in diesem Zwiespalt nicht die Maßlosigkeit, die sich bei uns gerade dann am meisten zeigt, wenn wir uns am meisten Mühe geben, uns zu beherrschen!

 

 

 

II,16,13

(1.) Nun folgt im Glaubensbekenntnis: „Am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten ...“ Ohne die Auferstehung wäre alles, was wir bisher gesagt haben, eitel Stückwerk. Denn in der Kreuzigung, im Tode, im Begräbnis Christi wird ja lauter Schwachheit offenbar, und der Glaube muß also über das alles hinwegkom­men, um zu rechter Kraft zu gelangen. Wir haben in seinem Tode wahrhaftig bereits die ganze Erfüllung des Heilswerks, weil wir durch ihn mit Gott versöhnt sind, weil durch ihn Gottes gerechtem Urteil genuggetan, der Fluch aufgehoben, die Strafe getragen ist. Und doch heißt es in der Schrift nicht, daß wir durch seinen Tod, sondern „durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ „wiedergeboren“ sind „zu einer lebendigen Hoffnung!“ (1. Petr. 1,3). Denn wie er in seiner Aufer­stehung als der Sieger über den Tod hervorkam, so beruht auch der Sieg un­seres Glaubens letztlich auf seiner Auferstehung. Wie das zugeht, läßt sich besser mit den Worten des Paulus ausdrücken: „Er ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt“ (Röm. 4,25). Damit will er doch wohl sagen: durch seinen Tod ist die Sünde abgetan, aber durch seine Auferstehung ist die Gerechtigkeit uns erworben und wiederhergestellt. Wie aber hätte er uns im Tode vom Tode frei machen können, wenn er ihm selbst unterlegen wäre? Wie hätte er uns den Sieg erringen können, wenn er selbst den Kampf verloren hätte? Unser Heil ist also auf Tod und Auferstehung Christi gleichermaßen begründet, und zwar so: durch den Tod ist die Sünde abgetan und der Tod überwunden, durch die Auferstehung ist uns die Gerechtigkeit wie­dererworben und das Leben geschenkt. Dabei ist aber zu beachten, daß uns erst durch die Gabe der Auferstehung die Kraft und Wirkung seines Todes zukommt. Deshalb betont auch Paulus, daß Christus durch seine Auferstehung „kräftig erwiesen“ sei als „Sohn Gottes“ (Röm. 1,4); denn erst da hat er erstmalig seine himmlische Macht bewiesen, die der klare Spiegel seiner Gottheit ist und auf der unser Glaube sicher ruhen kann. Auch an anderer Stelle lehrt Paulus: „Und ob er wohl gekreuzigt ist in der Schwachheit, so ist er doch auferstanden in der Kraft des Geistes“ (2. Kor. 13,4; nicht Luthertext). Im gleichen Sinne redet er an anderer Stelle von der Vollkom­menheit: „... zu erkennen ihn und die Kraft seiner Auferstehung.“ Da schließt er denn freilich gleich an: „... und die Gemeinschaft seiner Leiden, auf daß ich seinem Tode ähnlich werde“ (Phil. 3,10). Dazu paßt ganz ausge­zeichnet das Wort des Petrus: „Gott hat ihn auferweckt von den Toten und ihm die Herrlichkeit gegeben, auf daß ihr Glauben und Hoffnung an Gott haben möchtet“ (1. Petr. 1,21); das bedeutet nicht, daß der Glaube, der sich auf Christi Tod verläßt, etwa wanke, sondern es hat seinen Grund darin, daß die Kraft Gottes, die uns im Glauben bewahrt, sich in der Auferstehung am deutlichsten geoffenbart hat. Deshalb müssen wir im Auge behalten: wo vom Tode allein die Rede ist, da ist zugleich auch die Kraft der Auferstehung mit einbegriffen; dieses gleiche Miteinbegreifen findet statt, wo von der Auferstehung ohne ausdrückliche Nennung des Todes gesprochen wird: auch da sind die Wirkungen des Todes mit bedacht. Aber in der Auferstehung hat er die Palme erstritten, so daß er „die Auferstehung und das Leben“ geworden ist; deshalb sagt Paulus, der Glaube sei abgetan, eitel und

 

trügerisch sei das Evangelium, wenn wir die Gewißheit der Auferstehung nicht fest im Herzen tragen dürften (1. Kor. 15,17). An anderer Stelle preist er den Tod Christi als festes Bollwerk gegen alle Schrecken der Verdammnis, und fährt dann doch, um den Lobpreis zu erhöhen, fort: „der gestorben ist, ja vielmehr, welcher auch auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns“ (Röm. 8,34).

 

(2.) Weiter habe ich oben gezeigt, wie von unserem Teilhaben am Kreuz auch die Ertötung unsres Fleisches abhängt. Hier müssen wir sehen, wie wir auch von der Auferstehung eine dem ganz entsprechende Wirkung empfangen. Der Apostel sagt: „So sind wir ja mit ihm begraben ... in den Tod, auf daß, gleichwie Chri­stus ist  auferweckt  von  den  Toten, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln“ (Röm. 6,4). Im Kolosserbrief leitet er aus der Gewißheit, daß wir „mit Christus gestorben sind“ (3,3), die Folgerung ab: „So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind ...“ (3,5); und ganz in derselben Weise folgert er: „Seid ihr nun mit Christo auferstanden — so suchet, was droben ist, und nicht, was auf Erden ist“ (3,1f.). Damit ermuntert er uns nicht allein, uns an Christi Auferstehung gleichsam ein Vorbild zu nehmen und nach einem neuen Leben uns auszustrecken, sondern er will uns sagen: durch seine Kraft geschieht es wirklich, daß wir zur Gerechtigkeit erneuert werden!

 

(3.) Aber es wird uns aus der Auferstehung noch eine dritte Frucht zuteil: die Auferstehung ist wie ein Unterpfand, das wir empfangen und das uns gewiß macht, daß auch wir selbst auferstehen werden, sie ist der wahre und sichere Grund unserer Auferstehung! Darüber redet Paulus ausführlich im fünfzehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes.

 

Anmerkungsweise will ich noch einfügen, dass durch die Worte: „Christus ist auferstanden von den Toten“ zum Ausdruck kommt: er war wirklich tot und ist wahrhaftig auferstanden; er hat also den gleichen Tod erlitten, den die übrigen Menschen von Natur sterben müssen, und in dem gleichen sterblichen Fleische, das er an sich genommen hat, ist er in die Unsterblichkeit aufgenommen worden!

 

 

 

II,16,14

Der Auferstehung schließt sich nun mit gutem Grunde die Himmelfahrt an. Schon in der Auferstehung hat Christus seine Herrlichkeit und Kraft in größerer Fülle sichtbar zu offenbaren angefangen: denn schon da hörte sein niedriger und un­edler Wandel im sterblichen Leben auf, schon da trat die Schande des Kreuzestodes zu­rück. Aber erst durch seine Aufnahme in den Himmel hat er in Wahrheit die Herrschaft angetreten. Das zeigt der Apostel mit seiner Lehre, er sei gen Himmel ge­fahren, „auf daß er alles erfüllte“ (Eph. 4,10). Dem Anschein nach mag da ein Widerspruch bestehen; aber Paulus zeigt, wie doch in Wirklichkeit alles wohl zusammenstimmt: er ist eben so von uns gegangen, daß er uns nun auf viel se­gensreichere Art gegenwärtig sein kann als während der Zeit seines Erdenwan­dels, als er sich noch auf die niedrige Wohnstatt des Fleisches beschränkte. So berichtet Johannes die herrliche Aufforderung: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke ...“ (Joh. 7,37); aber er setzt doch gleich hinzu: Der Heilige Geist war den Gläubigen noch nicht gegeben; „denn Jesus war noch nicht verklärt“ (7,39). Der Herr hat es seinen Jüngern auch selbst bezeugt: „Es ist euch gut, daß ich hin­gehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch“ (Joh. 16,7). Angesichts seiner leiblichen Abwesenheit hält er ihnen den Trost vor: „Ich will euch nicht Waisen lassen; ich komme zu euch“ (Joh. 14, I8). Das geschieht zwar un­sichtbar, aber um so herrlicher; denn nun dürfen sie, durch gewissere Erfahrung belehrt, darum wissen, daß jene Herrschaft, die er nun ergriffen hat, und diese Macht, die er ausübt, den Gläubigen nicht nur zum seligen Leben, sondern auch zum fröhli­chen Sterben ausreicht! Und wir sehen ja auch, wieviel reichlicher er seinen Geist

 

nun ausgegossen, wieviel herrlicher er sein Reich ausgebreitet und wieviel größere Macht er darin erzeigt hat, den Seinen beizustehen und seine Feinde zu Boden zu werfen. Er ist in den Himmel aufgenommen, und er hat damit seine leibliche Gegenwart unserem Blick entzogen. Aber das hat er nicht getan, um etwa jetzt nicht mehr den Gläubigen zur Seite zu stehen, die auf der Erde pilgern, sondern um desto mehr mit gegenwärtiger Kraft Himmel und Erde zu regieren! Ja, was er uns ver­heißen hat: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ — das hat er mit seiner Himmelfahrt in Erfüllung gehen lassen. Denn wie sein Leib über alle Himmel erhoben ist, so geht nun auch seine Kraft und Wirkung weit hinaus über alle Grenzen von Himmel und Erde! Ich will das lieber mit den Worten Augustins sagen als mit meinen eigenen: „Christus sollte durch den Tod hingehen, um sich zur Rechten Gottes zu setzen, und von da wird er wiederkommen, zu richten die Lebendigen und die Toten, und zwar in leiblicher Gegenwart, wie es die rechte Lehre und die Glaubensregel ausspricht! Denn in geistlicher Gegenwart wollte er ja nach seiner Auffahrt stets bei den Seinen sein!“ (Zum Johannesevangelium, 78 und auch Predigt 361). Noch ausführlicher und deutlicher spricht er es an anderer Stelle aus: „Er läßt in seiner unaussprechlichen, unsichtbaren Gnade sein Wort in Erfüllung gehen: ‚Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende’ (Matth. 28,20). Nach dem Fleische aber, das das Wort angenommen hat, nach dem also, was von der Jungfrau Maria geboren ist, nach dem, was die Juden gefangenge­nommen haben, was ans Kreuz geschlagen, in Leintücher gewickelt, ins Grab ge­legt, in der Auferstehung wieder ans Licht gekommen ist — nach dem ‚werdet ihr mich’, wie der Herr sagt, ‚nicht allezeit bei euch haben!’ (Matth. 26,11). Warum das? Er ist nach seiner Auferstehung noch vierzig Tage hindurch mit seinen Jüngern nach dem Fleische umgegangen, und dann ist er gen Himmel gefahren; die Jünger gaben ihm das Geleit: sie konnten ihm nachsehen, aber nicht nachgehen (Apg. 1,3.9). Jetzt gilt: ‚Er ist nicht hier’, denn nun sitzt er zur Rechten des Vaters (Mark. 16,19) — und doch ist er hier; denn die Nähe seiner Herrlichkeit ist nicht von uns gewichen! (Hebr. 1,3). So haben wir Christus nach der Gegenwart seiner göttlichen Majestät immer unter uns. Von seiner fleischlichen Gegenwart aber gilt das Wort, das er seinen Jüngern gesagt hat: ‚Mich aber habt ihr nicht allezeit’ (Matth. 26,11). Die Kirche hat ihn also nur wenige Tage in leiblicher Gegenwart unter sich gehabt — jetzt hat sie ihn im Glauben, aber mit Augen sieht sie ihn nicht!“ (Zum Johannesevangelium, 50).

 

 

 

II,16,15

Deshalb heißt es auch jetzt weiter: „sitzend zur Rechten des Vaters!“ Das Bild ist von den Fürsten hergenommen, die ihre Statthalter zur Seite haben, welchen sie Regiment und Herrschaft anvertrauen. In diesem Sinne heißt es von Christus, durch den sich der Vater verherrlichen und durch dessen Hand er regieren will, er sei zur Rechten des Vaters erhöht. Das bedeutet dann etwa: er ist zum Herrn über Himmel und Erde gesetzt und hat diese ihm vom Vater anvertraute Herrschaft feierlich angetreten. Er hat aber nicht nur dies getan, sondern er übt sein Regi­ment auch aus, bis er zum Gericht wiederkommt. So versteht es der Apostel; er sagt: „Der Vater hat ihn gesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Fürstentümer, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was genannt mag werden, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen“ (Eph. 1,20f.; Phil. 2,9). Oder er sagt auch: „Er hat alles unter seine Füße getan“ (1. Kor. 15,27) „und hat ihn gesetzt zum Haupt der Gemeinde über alles ...“ (Eph. 1,22). Da sieht man, was dieses Sitzen zur Rechten des Vaters bedeuten soll: alle Kreaturen im Himmel und auf Erden sollen seine Majestät anerkennen, sollen durch seine Hand regiert werden, auf seinen Wink achten, seiner Kraft unterworfen sein! Das wollen auch die Apostel ausdrücken: wenn sie von diesem Sitzen zur Rechten Gottes reden, so sprechen sie damit stets aus, daß alles seiner Herrschaft unterstellt ist (Apg. 2,30-36; 3,21;

 

Hebr. 1,8). Wer hier bloß die Seligkeit ausgedrückt finden will, der geht also nicht den richtigen Weg. Es hat hier auch nichts zu bedeuten, daß in der Apostel­geschichte Stephanus bezeugt, er sehe den Herrn vor sich stehen (Apg. 7,55); denn hier handelt es sich doch nicht um die Stellung des Körpers, sondern um die Herr­scherherrlichkeit; „Sitzen“ bedeutet also hier nichts anderes als den himmlischen Thron und Richterstuhl innehaben! (So auch Augustin, Vom Glauben und dem Symbol, 7).

 

 

 

II,16,16

 

Hieraus empfängt der Glaube mannigfaltige Frucht. Er erkennt zunächst, daß ihm der Herr durch seine Himmelfahrt den Zugang zum Himmelreich, der durch Adam verschlossen war, wieder eröffnet hat. Denn er ist ja in unserem Fleische, gleichsam in unserem Namen in den Himmel eingegangen, und so ergibt sich, was der Apostel so ausspricht, wir seien in ihm bereits gewissermaßen „in das himmlische Wesen gesetzt“ (Eph. 2,5f.). Wir warten nicht mit bloßer Hoffnung auf den Himmel, sondern haben ihn in unserem Haupte bereits inne.

 

Zum zweiten erkennt der Glaube, daß es uns sehr zugute kommt, wenn er zur Rechten des Vaters sitzt. Denn er ist in das Allerheiligste, „das nicht mit Händen gemacht ist“, eingegangen und tritt jetzt vor dem Angesicht des Vaters immerdar für uns ein als Beistand und Fürsprecher (Hebr. 7,25; 9,11f; Röm. 8,34). Er wendet Gottes Blick auf seine Gerechtigkeit hin und von unserer Sünde weg. Er versöhnt den Vater mit uns und bahnt uns mit seiner Fürbitte Weg und Zugang zu seinem Thron. Er läßt den Vater gegen uns gnädig und gütig sein, obwohl er sonst dem elenden Sünder nur Schrecken einflößen würde.

 

Und zum dritten richtet der Glaube seinen Blick auf seine Macht: auf ihr ruht unsere Kraft und Stärke, unsere Macht und unser Ruhm gegen alle Gewalten der Hölle! Denn er ist in den Himmel eingegangen und „hat das Gefängnis gefangen geführt“ (Eph. 4,8), hat unsere Feinde entmächtigt, sein Volk aber reich gemacht — und überhäuft es noch alle Tage mit geistlichen Reichtümern! Er thront in der Höhe, um seine Kraft auch uns zuteil werden zu lassen, uns dadurch zu geistlichem Leben zu erwecken, mit seinem Geiste zu heiligen, seine Kirche mit allerlei Gnadengaben zu zieren, sie unter seinem Schutz vor allem Schaden zu behüten, in seiner Kraft die Hand der wütenden Feinde des Kreuzes und unserer Seligkeit festzuhalten — überhaupt, um alle Gewalt auszuüben im Himmel und auf Erden, bis daß er alle seine Feinde, die ja auch uns feind sind, „zum Schemel seiner Füße legt“ (Ps. 110,1) und den Bau seiner Kirche vollendet hat! Das ist die wahre Verfassung seines Reiches, das ist die Gewalt, die ihm der Vater gegeben hat, — bis daß er auch das Letzte vollbringt und wiederkommt, „zu richten die Lebendigen und die Toten“!

 

 

 

II,16,17

Christus schenkt den Seinen klare Erweise seiner ganz gegenwärtigen Kraft. Aber sein Reich ist auf der Erde unter der Niedrigkeit des Fleisches gewissermaßen ver­borgen, und darum wird der Glaube mit vollem Recht dazu aufgerufen, jene sicht­bare Gegenwart Christi zu bedenken, die er am Jüngsten Tage offenbaren wird. Denn er wird sichtbarlich vom Himmel wiederkommen, wie man ihn hat auffahren sehen (Apg. 1,11; Matth. 24,30). Allen wird er erscheinen mit der unaussprechlichen Herrlichkeit seines Reiches, im Glanz der Unsterblichkeit, angetan mit der unermeßlichen Gewalt göttlicher Majestät, begleitet von dem Heer der Engel! So sollen wir also unseren Erlöser erwarten auf jenen Tag, an dem er die Schafe von den Böcken trennen wird, die Erwählten von den Verworfenen! (Matth. 25,31-33). Seinem Gericht wird kein Lebendiger, kein Toter entlaufen! Denn an den Enden der Erde wird man den Schall der Posaune vernehmen, der alle Menschen vor seinen Richterstuhl fordert — die, welche dieser Tag noch lebendig findet, und die, welche der Tod bereits herausgerissen hat (1. Thess. 4,16f.). Einige verbinden hier mit den Wörtern „Lebendige und Tote“ einen anderen Sinn; ja, auch einige der Kirchenväter haben in der Erklärung dieses Ausdrucks beträchtlich geschwankt. Aber

 

meine Deutung ist doch wohl klar und einleuchtend, und sie entspricht dem Sinn des Glaubensbekenntnisses sicher am meisten, weil dies doch für jedermann verständlich geschrieben ist. Dem widerspricht auch nicht das Wort des Apostels, wonach es allen Menschen gesetzt sei, einmal zu sterben (Hebr. 9,27). Denn die Menschen, die das Jüngste Gericht in diesem sterblichen Dasein erleben werden, werden zwar nicht nach dem natürlichen Lauf der Dinge sterben, aber die Verwandlung, die sie erleiden werden, ist doch dem Tode ganz ähnlich und heißt deshalb auch mit Recht „Tod“. Denn sicherlich „werden zwar nicht alle entschlafen“, es „werden aber alle verwandelt werden!“ (1. Kor. 15,51). Was heißt das? In einem Augenblick wird ihr sterbliches Wesen vergehen und weggenommen werden, und sogleich wird es in ein neues Wesen umgewandelt! (1. Kor. 15,52). Dieses Weggenommenwerden des Fleisches ist aber doch unzweifelhaft der Tod; es bleibt also trotzdem wahr, daß „Lebendige und Tote“ vor den Richterstuhl gefordert werden sollen: da werden zuerst die Toten auferstehen, die „in Christo“ entschlafen sind, und dann werden die Lebenden, die noch auf Erden übrig sind, zugleich mit ihnen dem Herrn entgegen, in die Luft entrückt werden! (1. Thess. 4,16ff.). Der Ausdruck „Die Lebendigen und die Toten“ ist augenscheinlich aus der von Lukas überlieferten Rede des Petrus (Apg. 10,42) und aus der feierlichen Beteuerung, die Paulus dem Timotheus gibt, entnommen (2. Tim. 4,1).

 

 

 

II,16,18

 

Herrlich ist der Trost, den wir daraus empfangen, daß das Gericht bei dem Herrn liegt, der uns selbst zu Mitgenossen seiner Ehre im Gericht verordnet hat. So wird er also gewiß nicht zu unserer Verdammnis zu Gericht sitzen! Denn wie sollte er, der gnädigste Fürst, sein eigenes Volk verderben? Wie sollte er, das Haupt, seine Glieder zunichte machen? Wie sollte der Fürsprecher seine Schützlinge verdammen? Der Apostel wagt es ja, auszurufen, es könne keiner auftreten, uns zu verdammen, wenn doch Christus hie ist, für uns einzutreten. Noch sicherer ist es aber, daß Christus selber, der Fürsprecher, uns nicht verdammen wird — er hat uns doch in seinen Bund, seinen Schutz aufgenommen! Das bereitet uns eine herrliche Zuversicht, daß wir vor keinen anderen Richtstuhl gestellt werden als den unseres Erlösers, von dem wir die Seligkeit erwarten dürfen! (Vergleiche Ambrosius, Von Jakob und dem seligen Leben, 1,6). Er wird ganz gewiß die Verheißung der ewigen Seligkeit, die er uns jetzt durch das Evangelium verkündigen läßt, dann gerade durch seinen Richterspruch in Vollzug setzen. Daß also der Vater den Sohn damit geehrt hat, ihm das „Gericht zu übergeben“ (Joh. 5,22) — das hat er zu­gleich in der Fürsorge für das Gewissen der Gläubigen getan, die sonst vor dem Gericht erzittern müßten.

Bis hierher bin ich der Reihenfolge des Apostolischen Glaubensbekenntnisses gefolgt: es umfaßt mit wenigen Worten die Hauptstücke unserer Erlösung, geradezu wie ein Bild, an dem wir deutlich und im einzelnen sehen können, was wir von Chri­stus wissen sollen. Ich nenne dieses Glaubensbekenntnis „apostolisch“, wobei ich mir allerdings über den Verfasser keinerlei mühsame Gedanken mache. Die Kirchen­väter schreiben es mit großer Einmütigkeit den Aposteln zu: vielleicht meinten sie, es sei von den Aposteln miteinander verfaßt und herausgegeben, vielleicht meinten sie auch, diesem Abriß der von den Aposteln verkündigten Lehre, der mit rechter Treue zusammengestellt war, durch diese feierliche Benennung ein besonderes An­sehen sichern zu können. Ich bin auch meinerseits nicht darüber im Zweifel, daß dieses Bekenntnis schon gleich im Anfang der Kirche, also schon seit der Zeit der Apostel, als öffentliches und allgemein anerkanntes Glaubensbekenntnis gegolten hat — mag es nun herkommen, woher es will! Es ist auch wohl kaum von einem ein­zelnen in seinem eigenen Namen verfaßt worden; denn es hat seit ältester Zeit bei allen Gläubigen ein wahrhaft heiliges Ansehen behauptet. Jedenfalls steht außer Frage, woran uns einzig und allein liegen muß: es gibt wirklich die ganze Geschichte,

 

auf der unser Glaube ruht, deutlich und in guter Ordnung wieder, und es enthält nichts, was nicht durch unumstößliche Zeugnisse der Heiligen Schrift klar bewiesen ist. Wenn man das anerkennt, so ist es nicht der Mühe wert, sich um den Verfasser zu quälen oder mit anderen deshalb Streit zu führen; oder es müßte im Ernst je­mand auftreten, der nur dann sich bereit finden würde, hier die Wahrheit des Hei­ligen Geistes klar zu finden, wenn er zugleich genau wüßte, wessen Mund sie aus­spricht und wessen Hand sie schreibt!

 

 

 

II,16,19

 

Unser ganzes Heil, alles, was dazu gehört, ist allein in Christus beschlossen (Apg. 4,12). Deshalb dürfen wir auch nicht das geringste Stücklein anderswoher ab­leiten. Suchen wir das Heil, so sagt uns schon der Name Jesus: es liegt bei ihm! (1. Kor. 1,30). Geht es uns um andere Gaben des Geistes, so finden wir sie in seiner Salbung! Geht es um Kraft — sie liegt in seiner Herrschaft, um Reinheit — sie beruht auf seiner Empfängnis, um Gnade — sie bietet sich uns dar in seiner Geburt, durch die er uns in allen Stücken gleich geworden ist, auf daß er könnte Mit­leiden haben mit unseren Schwachheiten (Hebr. 2,17; 4,15). Fragen wir nach Er­lösung — sie liegt in seinem Leiden, nach Lossprechung — sie liegt in seiner Ver­dammnis, nach Aufhebung des Fluchs — sie geschieht an seinem Kreuz (Gal. 3,13), nach Genugtuung — sie wird in seinem Sühnopfer vollzogen, nach Reinigung — sie kommt uns zu in seinem Blut, nach Versöhnung — wir haben sie um seines Ab­stieges zur Hölle willen, nach der Absterbung unseres Fleisches — sie beruht auf seinem Begräbnis, nach dem neuen Leben — es erscheint in seiner Auferstehung, nach Unsterblichkeit — auch sie wird uns da zuteil. Wir möchten Erben des Himmels sein — wir können es; denn er ist in den Himmel eingegangen; wir begehren Schutz und Sicherheit, Reichtum aller Güter: in seinem Reich finden wir sie! Wir möchten zuversichtlich dem Gericht entgegensehen: wir dürfen es, denn ihm ist das Gericht übertragen! Und endlich: in ihm liegt ja die Fülle aller Güter, und deshalb sollen wir aus diesem Brunnquell schöpfen, bis wir satt werden, nicht aus einem anderen! Denn wer sich mit ihm allein nicht zufrieden gibt, sondern sich von allerlei Hoff­nungen hin und her treiben läßt — mag er auch „besonders“ auf ihn schauen! — der verfehlt den rechten Weg, weil er mit seinem Dichten und Trachten zum Teil in anderer Richtung geht! Freilich kann diese Art Unglaube gar nicht einschleichen, wenn man einmal die ganze Unermeßlichkeit seiner Güter recht erkannt hat!

Siebzehntes Kapitel

 

 

 

Es ist recht gesagt und trifft den Sinn der Sache, wenn es heißt: Christus hat uns Gottes Gnade und das Heil durch sein Verdienst erworben.

 

 

 

II,17,1

 

Diese Frage mag nun auch noch als eine Art Zugabe zur Behandlung kommen. Es gibt nämlich einige Leute, die eine verkehrte Art von Scharfsinn besitzen: sie geben zwar zu, daß wir durch Christum das Heil erlangen, aber sie können den Ausdruck Verdienst dabei nicht anhören, meinen gleich, dadurch werde Gottes Gnade verdunkelt; Christus ist also für sie bloß ein Werkzeug oder ein Die­ner, nicht aber der Urheber, Herzog und „Fürst“ des Lebens, wie ihn Petrus nennt! (Apg. 3,15). Ich gebe nun zu: wollte man Christus an und für sich selbst dem Gericht Gottes gegenüberstellen, so ergäbe sich allerdings keinerlei Ver­dienst; denn kein Mensch hat eine solche Würdigkeit, daß er vor Gott damit etwas verdienen kann. Ja, es ist so, wie Augustin sagt: „Das hellste Licht der Prädestina­tion und der Gnade ist der Heiland, der Mensch Christus Jesus selber; daß er das aber ist, hat sich nicht etwa die menschliche Natur in ihm durch vorher­gehende Verdienste der Werke oder des Glaubens erworben. Sonst soll man mir doch sagen, wie es dieser Mensch verdient haben sollte, daß er von dem Wort, das gleich ewig ist mit dem Vater, angenommen und mit ihm zur Einheit der Person verbunden worden ist. Also unser Haupt muß als die einzige Quelle erkannt werden, von der aus sich die Gnade auf alle Glieder, nach dem Maße des einzelnen, ergießt. Es ist also die nämliche Gnade, die heute jeden Gläubigen, sobald er zu glauben anfängt, zu einem Christen macht — und aus der heraus einst dieser Mensch gleich im Anfang seines Menschseins zum Christus geworden ist!“ (Von der Prädestination der Heiligen, 15). Ähnlich urteilt Augustin auch an anderer Stelle: „Es gibt kein klareres Beispiel für die Prädestination als den Mittler selbst. Denn der Gott, der aus dem Samen Davids einen gerechten Menschen machte, der nie ungerecht gewesen wäre, und zwar ohne Verdienst seines etwa vorhergehenden Wil­lens — der macht aus Ungerechten Gerechte, die Glieder jenes Hauptes sind“, usw. (Von der Gabe der Beharrlichkeit, 24). Wenn man also vom „Verdienst“ Chri­sti redet, so wird dies nicht als Anfang hingestellt, sondern wir gehen zurück auf Gottes Anordnung, die die erste Ursache ist, denn er hat in reinem Wohlgefallen uns den Mittler gesetzt, der uns das Heil erwerben sollte.

 

Aber deshalb ist es auch Unkenntnis der Sache, wenn man zwischen Gottes Barm­herzigkeit und Christi Verdienst einen Gegensatz aufstellen will. Ist es doch eine ganz allgemeingültige Regel: was sich aus einer Sache ergibt, kann dieser Sache nicht widersprechen. Deshalb ist gar nichts Widersinniges in der Doppelbehaup­tung: der Mensch wird aus Gnaden gerecht durch Gottes reines Erbarmen — und: Christi Verdienst tritt für uns ein. Denn dieses Verdienst Christi ist ja der Barmherzigkeit Gottes untergeordnet! Dagegen wird diese unverdiente Gnade Gottes ebenso wie der stellvertretende Gehorsam Christi mit vollem Recht unseren Werken als Gegensatz gegenübergestellt, freilich beides nach seiner Ordnung! Denn Christus vermochte uns nur aus Gottes Wohlgefallen ein Ver­dienst zu erwerben, eben weil er dazu verordnet war, mit seinem Sühnopfer Gottes Zorn zu stillen und mit seinem Gehorsam unsere Übertretungen aus der Welt zu schaffen! Wenn also das Verdienst allein von Gottes Gnade abhängt, die uns ja auf diese Weise das Heil schaffen wollte, so tritt dies Verdienst Christi ebenso berech­tigt in Gegensatz zu all unserer Gerechtigkeit, wie die Gnade Gottes selber.

 

II,17,2

 

Diesen Unterschied kann man auch aus sehr vielen Stellen der Schrift entneh­men. „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden ...“ (Joh. 3,16). Da steht Gottes Liebe an der ersten Stelle; denn sie ist ja der erste Grund und Ur­sprung; erst dann folgt der Glaube an Christus: er ist also zweite, nach­folgende Ursache. Wenn aber jemand daraus die Behauptung ableiten wollte, Christus wäre also bloß die formale Ursache, so würde er damit Christi Kraft weit über das Maß des Textes hinaus abschwächen. Denn wenn wir durch den Glau­ben, der sich auf ihn gründet, die Gerechtigkeit erlangen, so liegt offenbar in ihm der Grund unseres Heils. Das wird auch durch viele Schriftstellen deutlich bewiesen. „Darin steht die Liebe, nicht daß wir Gott geliebt haben, sondern daß er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung  für unsere  Sünden“ (1. Joh. 4,10). Daraus geht ganz einleuchtend hervor: Gott hat, um jedes Hindernis wegzuräumen, das uns den Zugang zu seiner Liebe versperrte, bestimmt, daß wir in Christus mit ihm versöhnt werden sollten. Das Wort Versöhnung hat großes Gewicht: denn Gott hat uns zwar geliebt, aber auf unausdenkbare Weise trug er doch zugleich Zorn gegen uns, — bis er in Christus versöhnt wurde! Dahin gehören eine ganze Reihe von Schriftstellen: „Und derselbe ist die Versöhnung für unsere Sünden“ (1. Joh. 2,2). „Denn es ist das Wohlgefallen gewesen ... dass ... alles durch ihn versöhnt würde zu ihm selbst ... damit er Frieden machte durch das Blut an seinem Kreuz durch sich selbst ...“ (Kol. 1,19f.). „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu ...“ (2. Kor. 5,19). „Er hat uns angenehm gemacht in dem Geliebten ...“ (Eph. 1,6). „Und daß er beide versöhnte mit Gott ... durch das Kreuz“ (Eph. 2,16). Der Sinn dieses Geheimnisses ist vor allem aus dem ersten Kapitel des Epheserbriefes zu er­mitteln. Da lehrt Paulus zunächst, daß wir in Christus erwählt sind, und dann setzt er hinzu, wir hätten in ihm auch die Gnade erlangt (Eph. 1,4ff.). Gott hat uns zwar schon vor Grundlegung der Welt geliebt; aber seine Gnade hat uns erst darin recht umfangen, daß er, nachdem er durch Christi Blut versöhnt war, seine Liebe ganz erzeigt hat. Denn Gott ist ja der Quell aller Gerechtigkeit, und deshalb ist er dem Menschen gegenüber, solange der ein Sünder ist, notwendig Feind und Richter! Der Anfang der Liebe liegt also in der Gerechtigkeit; das spricht Paulus so aus: „Er hat den, welcher von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm Gerechtigkeit Gottes“ (2. Kor. 5,21; nicht ganz Luther­text). Damit zeigt er: wir haben durch Christi Sühnopfer Gerechtigkeit aus freier Gnade erlangt, so daß wir nun Gott wohlgefällig sind, die wir von Natur „Kinder des Zorns“ und durch die Sünde von ihm abgekommen sind. Jener Unterschied (jene Doppelheit zwischen Gottes Barmherzigkeit und Christi Verdienst) kommt auch an den Stellen zum Ausdruck, wo Christi Gnade mit Gottes Liebe verbunden erscheint; daraus folgt, daß er von dem Seinigen, das er erworben hat, uns mitgibt; denn es wäre ja unpassend, wenn man ihm sonst ohne den Vater, für sich allein den Lobpreis zuteil werden ließe, diese Gnade sei seine Gnade, und sie komme von ihm!

 

 

 

II,17,3

Daß uns aber Christus durch seinen Gehorsam wirklich die Gnade bei dem Vater erworben und verdient hat, geht aus sehr vielen Stellen der Schrift klar und zuverlässig hervor. Ich nehme als zugestanden dies an: Wenn Christus für unsere Sünden Genugtuung geleistet hat, wenn er die Strafe getragen hat, die wir ver­dient hatten, wenn er mit seinem Gehorsam Gott versöhnt hat, wenn er, der Ge­rechte, für uns Ungerechte gelitten hat, so hat er durch seine Gerechtigkeit uns das Heil erworben — oder, was dasselbe bedeutet: er hat es uns verdient! Nun sind wir aber nach dem Zeugnis des Paulus versöhnt, wir haben die Versöhnung durch seinen Tod empfangen! (Röm. 5,10f.). Versöhnung findet aber nur da statt, wo eine Beleidigung vorhergegangen ist. Der Sinn dieser Stelle ist also der:

 

Gott, dem wir um unserer Sünde willen verhaßt waren, ist mit uns durch den Tod seines Sohnes versöhnt und uns jetzt gnädig. Dabei ist auch die Gegenüberstellung zu beachten, die Paulus kurz nach der angeführten Stelle folgen läßt: „Gleichwie durch eines Menschen Ungehorsam viele Sünder geworden sind, also auch durch eines Gehorsam werden viele Gerechte!“ (Röm. 5,19). Da ist der Sinn folgender: Wie wir durch die Sünde Adams von Gott abgekommen und zum Verder­ben bestimmt sind, so werden wir durch Christi Gehorsam als Gerechte in Gna­den angenommen. Daß Paulus sich sprachlich so ausdrückt, als ob diese Gerechtig­keit erst in der Zukunft läge, schließt die Gegenwart dieser Gerechtigkeit nicht aus; das zeigt der Zusammenhang, in dem der Text steht. Denn kurz zuvor sagt er doch auch ohne die Zukunftsform: „Die Gabe aber hilft auch aus vielen Sünden zur Gerechtigkeit“ (Röm. 5,16).

 

 

 

II,17,4

Wenn ich übrigens sagte, durch Christi Verdienst sei uns die Gnade erworben, so verstehe ich das so: Wir sind durch sein Blut rein gemacht, und sein Tod tilgt als Genugtuung unsere Sünde aus: „Das Blut Jesu Christi ... macht uns rein von aller Sünde!“ (1. Joh. 1,7). Das ist das Blut, „das vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Matth. 26,28). Daß sein Blut vergossen ist, bringt uns die Wirkung, daß uns unsere Sünden nicht zugerechnet werden, und daraus ergibt sich wieder: dieses Lösegeld hat dem Gericht Gottes Genüge getan. Dahin gehört das Wort Jo­hannes des Täufers: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt!“ (Joh. 1,29). Denn damit stellt er Christus all den vom Gesetz erforderten Opfern gegenüber; er will zeigen, daß in ihm allein erfüllt ist, was jene Abbilder ange­deutet hatten! Wir wissen, wie Mose hin und wieder sagt: die Übertretung wird getilgt, die Sünde ausgelöscht und vergeben werden (z.B. Lev. 16,34). Endlich lernen wir auch schon aus den Vorbildern des Alten Bundes die Kraft und Wirkung des Todes Christi sehr wohl kennen. Dies alles hat besonders der Verfasser des He­bräerbriefs sehr deutlich auseinandergesetzt; er stellt dabei mit Recht den Grundsatz auf: „Ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung“ (Hebr. 9,22). Daraus zieht er den Schluß: „Christus ist einmal erschienen, die Sünde durch sein eigen Opfer wegzunehmen“ und „Er ist einmal geopfert, um vieler Sünden wegzunehmen“ (Hebr. 9,26.28). Zuvor sagt er aber: „Christus ist nicht durch der Böcke oder Käl­ber Blut, sondern durch sein eigen Blut einmal in das Heilige eingegangen und hat eine ewige Erlösung erfunden“ (Hebr. 9,12). Er zieht daraus die Folgerung: „Denn so der Ochsen und der Böcke Blut ... heiligt die Unreinen zu der leiblichen Reinigkeit, wieviel mehr wird das Blut Christi ... unser Gewissen reinigen von den toten Werken ...“ (Hebr. 9,13f.). Daraus ergibt sich deutlich: Wenn wir dem Opfer Christi die Kraft zu entsündigen, zu versöhnen, genugzutun nicht zuerkennen, so bedeutet das eine ungerechtfertigte Herabsetzung des Herrn! So fügt er denn auch hinzu: „Und darum ist er auch ein Mittler des Neuen Testaments, auf daß durch den Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen, so unter dem ersten Testament waren, die, so berufen sind, das verheißene ewige Erbe empfangen“ (Hebr. 9,15). Besonders aber müssen wir auch der Vergleichung gedenken, die Paulus im Galaterbrief anwendet: „Er ward ein Fluch für uns!“ (Gal. 3,13). Denn es wäre überflüssig, ja widersinnig, daß Christus mit dem Fluch beladen worden ist — wenn er nicht dadurch, daß er die Strafe getragen hat, die andere verdient hatten, nun auch diesen die Gerechtigkeit erworben hätte! Deutlich ist auch das Zeugnis des Jesaja: „Die Strafe lag auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wun­den sind wir geheilt“ (Jes. 53,5). Hätte Christus für unsere Sünden nicht Genug­tuung geleistet, so könnte es doch auch nicht heißen, er hätte Gott versöhnt, indem er die Strafe auf sich nahm, die wir verdient hatten. Dem entspricht auch das Wort,

 

das bei Jesaja später folgt: „...da er um der Missetat meines Volks willen geplagt war“ (Jes. 53,8; Calvin zitiert etwas anders, aber im gleichen Sinne). Dazu soll denn auch noch ein Wort des Petrus kommen, das keinerlei Zweifel übrigläßt: „Wel­cher unsere Sünden selbst hinaufgetragen hat ... an das Holz“ (1. Petr. 2,24). Nach diesen Worten ist die Last der Verdammnis, die auf uns lag, auf Christus geworfen worden!

 

 

 

II,17,5

Völlig klar haben es die Apostel auch verkündigt, daß Christus das Lösegeld dar­gebracht hat, um uns damit von der Todesschuld loszukaufen. „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum ge­schehen ist, welchen Gott hat vorgestellt durch den Glauben zu einem Gnadenstuhl in seinem Blut ...“ (Röm. 3,24f.). Hier preist Paulus die Gnade Gottes, weil er in dem Tode Christi das Lösegeld gegeben hat, und dann ermuntert er uns, zu seinem Blut unsere Zuflucht zu nehmen, um vor Gott Gerechtigkeit zu erlangen und getrost vor seinem Richterstuhl stehen zu können (besonders 3,25). Die gleiche Bedeutung hat das Wort des Petrus: „Und wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Gold erlöst seid ... sondern mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes“ (1. Petr. 1,18f.). Denn die Aufstellung dieses Gegensatzes (Gold und Silber — das Lamm!) hätte gar keinen Sinn, wenn Christus mit diesem Lösegeld nicht wirklich genuggetan hätte. So sagt ja auch Paulus: „Ihr seid teuer erkauft!“ (1. Kor. 6,20). Auch sein Wort: „Es ist ... ein Mittler, ..., der sich als Lösegeld selbst gegeben hat ...“ (1. Tim. 2,5f.; nicht ganz Luthertext) hätte ja keinen Bestand, wenn nicht auf ihn die Strafe gelegt wäre, die wir verdient hat­ten. An anderer Stelle will Paulus beschreiben, was die „Erlösung durch sein Blut“ sei, und da nennt er sie „die Vergebung der Sünden“ (Kol. 1,14); das heißt also: wir empfangen von Gott Rechtfertigung und Freispruch, weil jenes Blut eine völlige Genugtuung bedeutet. Dem entspricht dann auch die andere Stelle: „Er hat ausge­tilgt die Handschrift, so wider uns war ... und hat sie an das Kreuz geheftet ...“ (Kol. 2,14). Da ist von jener Bezahlung, jenem Ausgleich die Rede, der uns von Schuld frei macht. Großes Gewicht haben auch die Worte des Paulus: „So durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“ (Gal. 2,21). Daraus ist zu entnehmen, daß wir bei Christus suchen müssen, was das Gesetz ge­währen würde, wenn es einer erfüllte, das heißt: daß wir durch Christi Gnade die Erfüllung der Verheißung erlangen, die Gott unseren Werken im Gesetz gegeben hat: „Wer das tut, der wird dadurch leben!“ (Lev. 18,5). Ebenso deutlich kommt das auch in seiner Rede in Antiochia zum Vorschein; da verkündigt er, durch den Glauben an Christus werde uns Rechtfertigung von alle dem zuteil, „wovon ihr nicht konntet im Gesetz Moses gerecht werden!“ (Apg. 13,38). Denn der Gehorsam gegenüber dem Gesetz ist die Gerechtigkeit, und deshalb hat uns Christus, der diese Last auf sich nahm und uns mit Gott derart versöhnt hat, als hätten wir das Gesetz erfüllt, unleugbar durch sein Verdienst Gottes Gnade erworben! In der­selben Richtung geht auch das bekannte Wort aus dem Galaterbrief: „... da sandte Gott seinen Sohn ... unter das Gesetz getan, auf daß er die, so unter dem Gesetz waren, erlösete“ (Gal. 4,4f.). Wozu ist er anders unter das Gesetz getan als dazu, daß er das zu leisten unternahm, was wir nicht zu schaffen vermochten, und uns auf diese Weise die Gerechtigkeit erwarb? Daher rührt diese Anrechnung der Gerech­tigkeit ohne alle guten Werke, von der Paulus schreibt; jene Gerechtigkeit, die uns aus Gnaden zugerechnet wird, weil sie einzig in Christo sich findet (Röm. 4). Aus diesem Grunde heißt auch der Leib Christi unsere Speise (Joh. 6,55). Denn nur in ihm finden wir Grund und Kraft unseres Lebens. Aber diese Kraft kommt nur deshalb zu uns, weil der Sohn Gottes als Lösegeld um unserer Gerechtigkeit willen gekreuzigt worden ist! So sagt auch Paulus: „Er hat sich selbst dargegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch“ (Eph. 5,2). Und dann

 

auch wieder: „Er ist um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Ge­rechtigkeit willen auferweckt“ (Röm. 4,25). Daraus ergibt sich, daß uns durch Christus nicht nur das Heil gegeben ist, sondern daß uns nun der Vater um seinetwillen gnä­dig ist! Denn unzweifelhaft geht in ihm erst recht in Erfüllung, was einst Gott durch Jesaja in einem Bilde verkündigen ließ: „Ich will ihr aushelfen um meinetwillen und um meines Dieners David willen“ (Jes. 37,35). Dafür ist der Apostel der beste Zeuge; er spricht: „Die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen“ (1. Joh. 2,12). Da wird zwar Christi Name nicht ausdrücklich genannt; aber Johannes bezeich­net ihn auch hier nach seiner Gewohnheit mit dem Wörtchen: „seinen“. In dem­selben Sinne spricht sich der Herr auch selber aus: „Wie ich lebe um des Vaters willen, also wird, wer mich isset, auch leben um meinetwillen“ (Joh. 6,57; Calvin zi­tiert ungenauer). Dazu stimmt auch das Wort des Paulus: „Euch ist gegeben, um Christi willen zu tun, daß ihr nicht allein an ihn glaubet, sondern auch um seinet­willen leidet“ (Phil. 1,29).

 

 

 

II,17,6

 

Hier fragen nun Petrus Lombardus (Sentenzen III,18) und die Scholastiker, ob denn Christus auch für sich selbst ein Verdienst erworben habe. Aber diese Frage ist törichter Vorwitz — und ihre Bejahung eine vermessene Behauptung. War es denn nötig, daß der eingeborene Sohn Gottes zur Erde herabstieg, um sich selber etwas Neues zu erwerben? Gott selber aber löst das Geheimnis seines Ratschlusses und macht damit allem Fragen ein Ende. Es heißt nämlich durchaus nicht, der Vater habe bei den Verdiensten des Sohnes an diesen selbst gedacht, sondern er hat ihn ja in den Tod gegeben, hat ihn nicht verschonet, weil er die Welt liebgehabt! (Röm. 8,32.35.37). Hier muß man auf Prophetenworte wie die folgenden achten: „Uns ist ein Kind geboren ...“ (Jes. 9,6). „Du, Tochter Zion, freue dich, siehe dein König kommt zu dir!“ (Sach. 9,9). Überflüssig und bedeutungslos wären im an­deren Falle auch die hohen Worte, mit denen Paulus die Liebe Christi preist, näm­lich daß er für seine Feinde gestorben sei! (Röm. 5,10). Er hat nicht an sich selbst gedacht und spricht das ja auch selber aus: „Ich heilige mich selbst für siel“ (Joh. 17,19). Da bezeugt er klar, daß er nichts für sich selbst sich verdienen will: er läßt die Frucht seiner Selbst-Heiligung den anderen zuteil werden. Und das ist gewiß ganz besonders wert, von uns immer beachtet zu werden: Christus hat sich so sehr dahingegeben, um uns das Heil zu erwerben, daß er sich selber dabei gewisser­maßen vergessen hat. Verkehrt ist es auch, wenn die Scholastiker das Wort des Paulus für ihre Meinung mit Beschlag belegen: „Deshalb hat ihn auch Gott erhöhet und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist ...“ (Phil. 2,9). Mit was für Verdiensten sollte ein Mensch dazu kommen, der Richter der Welt, das Haupt der Engel zu sein, Gottes höchste Gewalt innezuhaben, wie sollte er dazu kommen, daß ihm jene göttliche Majestät innewohnte, von der alle Kraft und Tugend der Menschen und Engel nicht den tausendsten Teil zu erreichen vermag? Die Lösung ist aber auch ganz leicht und klar: Paulus redet hier nicht davon, aus welchem Grunde Christus erhöht worden ist, sondern er zeigt, daß die Erhöhung die Folge der vor­hergehenden Erniedrigung ist. So soll uns Christus als Beispiel dienen. Paulus will also hier nichts anderes sagen, als es an anderer Stelle geschieht: „Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?“ (Luk. 24,26).