Drittes Buch

Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden, was für Früchte uns daraus erwachsen und was für Wirkungen sich daraus ergeben

Erstes Kapitel

Was von Christus gesagt ist, das kommt uns durch das verborgene Wirken des Geistes zugute

Kapitel 1 Sektion 1

Jetzt müssen wir zusehen, wie denn jene Güter, die der Vater seinem eingeborenen Sohne anvertraut hat, zu uns kommen; denn er hat sie ihm ja nicht zum eigenen Gebrauch gegeben, sondern er soll damit die Bedürftigen und Armen reich machen. Da muß man zunächst festhalten: solange Christus außer uns bleibt und wir von ihm getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit gelitten und getan hat, für uns ohne Nutzen und gar ohne jeden Belang! Soll er uns also zuteil werden lassen, was er vom Vater empfangen hat, so muß er unser Eigentum werden und in uns Wohnung nehmen. Deshalb heißt er auch unser „Haupt“ (Eph. 4,15) und „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“ (Röm. 8,29), deshalb heißt es auf der anderen Seite von uns, daß wir in ihn eingefügt werden (Röm. 11,17) und ihn „anziehen“ (Gal. 3,27); denn ich wiederhole, daß alles, was er besitzt, uns solange nichts angeht, als wir nicht mit ihm in eins zusammenwachsen. Es ist freilich wahr, daß wir dies durch den Glauben erreichen; aber wir sehen doch auch, daß nicht alle unterschiedslos die Gemeinschaft mit Christus ergreifen, die uns im Evangelium angeboten wird, und deshalb lehrt uns die Vernunft selbst, tiefer einzudringen und die Frage nach der verborgenen Wirksamkeit des Heiligen Geistes zu stellen; denn durch sie kommt es dazu, daß wir Christus und alle seine Güter genießen. Von der ewigen Gottheit und Wesenheit des Heiligen Geistes habe ich bereits gesprochen; wir müssen uns in diesem besonderen Lehrstück mit der Feststellung begnügen: Christus ist dergestalt in Wasser und Blut gekommen, daß der Heilige Geist von ihm zeugt, damit das Heil, das der Herr uns errungen hat, an uns nicht wirkungslos bleibe (1. Joh. 5,6). Denn wie uns drei Zeugen im Himmel genannt werden: der Vater, das Wort und der Geist, so auch drei auf Erden: Wasser, Blut und Geist (1. Joh. 5,7f.). Da kommt also das Zeugnis des Geistes beidemal vor, und das ist nicht umsonst geschehen; denn wir erfahren, daß es wie ein Siegel in unser Herz eingedrückt ist. So geschieht es, daß es uns die Abwaschung unserer Sünden und das Opfer Christi versiegelt. In diesem Sinne sagt auch Petrus, die Gläubigen seien erwählt „durch die Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi“ (1. Petr. 1,2). Mit diesen Worten will er uns lehren, daß unsere Seelen, damit Christus sein heiliges Blut nicht vergebens vergossen habe, durch die verborgene Besprengung, die der Geist an uns übt, mit diesem Blute gereinigt werden. Auch Paulus sagt deshalb an einer Stelle, wo er von der Reinigung und der Rechtfertigung redet, dies beides werde uns zuteil „durch den Namen Jesu Christi und durch den Geist unseres Gottes“ (1. Kor. 6,11). Ich fasse zusammen: der Heilige Geist ist das Band, durch das uns Christus wirksam mit sich verbindet. Hierhin gehört auch das, was ich im vorigen Buche über Christi Salbung gelehrt habe (II,15,2).


Kapitel 1 Sektion 2


Damit nun dieser Sachverhalt, der ganz besonders wert ist, erkannt zu werden, um so deutlicher offenbar werde, müssen wir vor allem festhalten, daß Christus bei seinem Kommen in ganz besonderer Weise mit dem Heiligen Geiste ausgerüstet war: er sollte uns dadurch von der Welt absondern und zur Hoffnung auf das ewige Erbe sammeln. Daher heißt der Geist der „Geist der Heiligung“, weil er uns nicht bloß mit der allgemein wirkenden Kraft, wie sie an der Menschheit und auch an der ganzen übrigen Kreatur in Erscheinung tritt, belebt und erhalt, sondern weil er die Wurzel und der Same des himmlischen Lebens in uns ist. Deshalb rühmen die Propheten an dem Reiche Christi ganz besonders dies, daß dann der Heilige Geist sich in reicherer Fülle ergießen sollte. Vor allem bemerkenswert ist der Joelspruch. „An jenem Tage will ich von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch“ (Joel 3,1; nicht Luthertext). Da scheint freilich der Prophet unter den Gaben des Geistes allein das Amt der Prophetie zu begreifen, aber unter diesem Bilde gibt er doch zu verstehen, daß Gott solche Menschen, die zuvor ohne jede Kunde und unberührt von der himmlischen Lehre waren, durch die Erleuchtung seines Geistes zu seinen Jüngern machen würde.

Weil uns übrigens Gott, der Vater, um seines Sohnes willen mit dem Heiligen Geiste beschenkt und ihm doch zugleich alle Fülle anvertraut hat, so daß er also seine Güte und Freundlichkeit verwaltet und austeilt, - so heißt er bald der Geist des Vaters, bald der des Sohnes. „Ihr aber“, sagt Paulus, „seid nicht fleischlich, sondern geistlich, so anders Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein“ (Röm. 8,9). Alsdann aber erweckt er in uns die Hoffnung auf völlige Erneuerung: „Derselbe, der Christum von den Toten auferweckt hat, der wird auch eure sterblichen Leiber lebendig machen um deswillen, daß sein Geist in euch wohnt“ (Röm. 8,11). Es liegt nämlich wirklich nichts Widersinniges darin, daß einerseits dem Vater das Lob für seine Gaben zukommt, deren Urheber er ja tatsächlich ist, und daß anderseits auch Christus daran der gleiche Anteil gegeben wird, weil bei ihm ja die Gaben des Geistes niedergelegt sind und er sie den Seinen zuteil werden läßt. So lädt er alle, die da dürsten, zu sich ein, daß sie trinken (Joh. 7,37). Und nach der Lehre des Paulus wird an jeden Einzelnen der Geist ausgeteilt „nach dem Maß der Gabe Christi“ (Eph. 4,7). Er heißt aber - das müssen wir uns vergegenwärtigen - Christi Geist nicht nur, insofern er als das ewige Wort Gottes in eben diesem Geiste mit dem Vater verbunden ist, sondern auch nach der Person des Mittlers; denn Christus wäre ja ohne Ausrüstung mit dieser Kraft vergebens zu uns gekommen. In diesem Sinne heißt Christus auch der zweite Adam, der uns vom Himmel gegeben ist „zum Geist, der da lebendig macht“ (1. Kor. 15,45). Hier vergleicht Paulus das besondere Leben, das der Sohn Gottes den Seinen einhaucht, damit sie mit ihm eins seien, mit dem natürlichen Leben, an dem auch die Verworfenen teilhaben. In gleicher Weise wünscht er den Gläubigen zunächst „die Gnade unseres Herrn Jesu Christi und die Liebe Gottes“, schließt aber dann sofort an: „und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes“ (2. Kor. 13,13); denn ohne diese wird keiner Gottes väterliche Güte und Christi Wohltat schmecken. Auch an anderer Stelle sagt Paulus: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben ist“ (Röm. 5,5).


Kapitel 1 Sektion 3


Hier wird es nun dienlich sein, die Bezeichnungen zu vermerken, mit denen die Schrift den Heiligen Geist auszeichnet, wo von dem Anfang und auch von der ganzen Wiederherstellung unseres Heils die Rede ist.

Er heißt da zunächst der „Geist der (Aufnahme in die) Kindschaft“; denn er ist uns der Zeuge des gnädigen Wohlwollens Gottes, mit dem uns Gott, der Vater, in seinem geliebten, eingeborenen Sohne umfaßt hat, um uns zum Vater zu werden; er erweckt und belebt in uns auch die Freudigkeit zum Gebet, ja er gibt uns selbst die Worte ein, so daß wir ohne Furcht rufen: „Abba, Vater!“ (Röm. 8,15; Gal. 4,6).

Aus dem gleichen Grunde nennt ihn die Schrift das Unterpfand und Siegel unseres Erbes (2. Kor. 1,22); denn er macht uns, die wir in dieser Welt als Pilger wandern und gleich Toten sind, vom Himmel her lebendig, so daß wir gewiß sind: unser Heil ist unter Gottes treuer Wacht sicher geborgen; deshalb heißt er auch „Leben um der Gerechtigkeit willen“ (Röm. 8,10).

Aber er macht uns ja auch durch seine verborgene Besprengung fruchtbar, um Triebe der Gerechtigkeit hervorzubringen: darum heißt er mehrfach „Wasser“, wie z.B. bei Jesaja: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommet her zum Wasser!“ (Jes. 55,1); ebenso: „Denn ich will meinen Geist ausgießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre“ (Jes. 44,3; nicht Luthertext). Dem entspricht auch das oben bereits angeführte Wort Christi: „Wen da dürstet, der komme zu mir:“ (Joh. 7,37). Daß der Heilige Geist als Wasser bezeichnet wird, kommt freilich zuweilen auch von seiner säubernden und reinigenden Kraft; so bei Ezechiel, wo der Herr „reines Wasser“ verheißt, um damit sein Volk von seinen „Unreinigkeiten“ zu „waschen“ (Ez. 36,25).

Weil der Heilige Geist aber weiterhin die Menschen, die er mit der erquickenden Kraft seiner Gnade durchflutet hat, zu kräftigem Leben erneuert und darin erhält, so hat er auch den Namen „Öl“ oder „Salbung“ inne (1. Joh. 2,20.27).

Auf der anderen Seite aber brennt und fegt er unsere sündigen Begierden beständig aus und entflammt wiederum unser Herz zur Liebe zu Gott und zum Trachten nach der Gottesfurcht: auf Grund dieser Wirkung heißt er mit Recht ein „Feuer“ (Luk. 3,16).

Und schließlich wird er uns als „Quelle“ (Joh. 4,14) beschrieben, aus der uns alle himmlischen Reichtümer zuströmen, oder auch als die „ Hand Gottes“ (Apg. 11,21), durch die Gott seine Macht ausübt; denn wenn er uns mit seiner Kraft anhaucht, dann wirkt er göttliches Leben in uns, so daß wir nun nicht mehr von uns selber uns treiben lassen, sondern von seiner Führung und seinem Antrieb regiert werden: so ist alles Gute an uns Frucht seiner Gnade, ohne ihn aber sind unsere eigenen Gaben bloß Verstandesfinsternis und Herzensverkehrtheit!

Jetzt haben wir zwar schon deutlich dargelegt, daß Christus sozusagen nutzlos für uns daliegt, bis unser Sinn sich auf seinen Geist richtet; denn es ist eine abgeschmackte Sache, wenn wir uns Christus in eitlem Spekulieren außerhalb, ja ferne von uns vorstellen! Er ist im Gegenteil, wie wir wissen, nur für die von Segen, deren „Haupt“ er ist (Eph. 4,15), für die er „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“ ist (Röm. 8,29), kurz, die ihn „angezogen“ haben! (Gal. 3,27). Allein diese Verbindung mit ihm bringt es zustande, daß er, was uns betrifft, nicht umsonst unter dem Namen des Retters gekommen ist. Das ist auch der Sinn jener heiligen Ehe, durch die wir Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein (Eph. 5,30), ja, mit ihm gänzlich eins werden. Aber er vollzieht diese Einung mit uns einzig und allein durch den Heiligen Geist. Die Gnade und Kraft dieses Geistes macht uns auch zu seinen Gliedern, so daß er uns unter seiner Leitung zusammenhält und wir wiederum ihn besitzen!


Kapitel 1 Sektion 4


Das vornehmste Werk des Heiligen Geistes aber ist der Glaube; auf ihn muß daher auch ein großer Teil der Aussagen bezogen werden, die uns da und dort zur Beschreibung seiner Kraft und seines Wirkens begegnen. Denn er führt uns allein durch den Glauben an das Licht des Evangeliums heran, wie ja Johannes lehrt, daß denen, die an Christus glauben, das Vorrecht geschenkt ist, Gottes Kinder zu werden, die nicht aus Fleisch und Blut, „sondern aus Gott geboren sind“ (Joh. 1,12. 13). Hier wird Gott Fleisch und Blut gegenübergestellt und damit klar behauptet, daß es ein übernatürliches Geschenk ist, wenn Menschen, die sonst ihrem Unglauben verfallen geblieben wären, Christus im Glauben annehmen. Ähnlich ist auch die Antwort, die Christus dem Petrus gab: „Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel“ (Matth. 16,17). Ich berühre das hier nur kurz, weil ich an anderer Stelle bereits ausführlicher davon gesprochen habe (II,2,18ff.). Ähnlich ist übrigens auch das Wort des Paulus, der von den Ephesern sagt: „Ihr seid versiegelt worden mit dem Heiligen Geist der Verheißung“ (Eph. 1,13). Der Heilige Geist ist nach diesem Wort der inwendige Lehrer, durch dessen Wirken die Verheißung des Heils in unser Gemüt eindringt - sonst würde sie allein die Luft oder das Ohr treffen! Wenn Paulus von den Thessalonichern sagt, Gott habe sie erwählt „in der Heiligung des Geistes und im Glauben der Wahrheit“ (2. Thess. 2,13), so macht er uns in diesem Textzusammenhang darauf aufmerksam, daß der Glaube selbst allein durch den Geist gewirkt wird. Deutlicher finden wir das bei Johannes ausgesprochen: „Und daran erkennen wir, daß er in uns bleibt, an dem Geist, den er uns gegeben hat“ (1. Joh. 3,24), und dementsprechend: „Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns von seinem Geist gegeben hat“ (1. Joh. 4,13). Deshalb hat Christus seinen Jüngern, damit sie die himmlische Weisheit zu fassen vermöchten, den „Geist der Wahrheit“ verheißen, „welchen die Welt nicht kann empfangen“ (Joh. 14,17). Und er schreibt dem Geiste als sein eigentliches Amt dies zu, den Jüngern das einzugeben, was er sie selbst mit seinem Munde gelehrt hatte. Denn sie wären ja blind, und das Licht würde ihnen vergebens scheinen, wenn nicht dieser Geist der Erkenntnis die Augen ihres Gemüts auftäte; man kann ihn deshalb sehr wohl einen Schlüssel nennen, der uns die Schätze des Himmelreichs erschließt (vgl. Offb. Joh. 3,7), seine erleuchtende Wirkung kann man durchaus als die Sehkraft unseres Gemüts bezeichnen. Aus diesem Grunde rühmt Paulus das „Amt des Geistes“ so hoch (2. Kor. 3,6); denn alle Lehrer würden umsonst ihren Ruf erschallen lassen, wenn nicht Christus selbst als inwendiger Lehrmeister durch seinen Geist die Menschen zu sich zöge, die ihm der Vater gegeben hat! (Joh. 6,44; 12,32; 17,6). Wie wir sagten, daß sich in Christi Person die vollkommene Gerechtigkeit findet, so „tauft“ er uns also auch „mit dem Heiligen Geiste und mit Feuer“, damit wir seiner teilhaftig werden (Luk. 3,16); er erleuchtet uns, daß wir seinem Evangelium glauben, er schenkt uns die Wiedergeburt zu neuem Leben, so daß wir neue Kreaturen werden (vgl. 2. Kor. 5,17); er reinigt uns von allem unheiligen Schmutz und weiht uns Gott zu heiligen Tempeln! (vgl. 1. Kor. 3,16.17; 2. Kor. 6,16; Eph. 2,21).


Zweites Kapitel

Vom Glauben, seinem Wesen und seinen Eigenschaften

Kapitel 2 Sektion 1


Dies alles aber ist leichter zu erkennen, sobald wir eine klarere Bestimmung des Glaubens aufgestellt haben, damit die Leser von dessen Kraft und Wesen eine deutliche Vorstellung haben.

Es ist aber dienlich, dabei ins Gedächtnis zurückzurufen, was bereits zuvor ausgeführt wurde: (1) Gott schreibt uns durch das Gesetz vor, was wir zu tun haben; sind wir also in irgendeinem Stück gefallen, so ruht jenes furchtbare Urteil des ewigen Todes auf uns, das es ausspricht. (2) Nun ist es aber auf der anderen Seite für uns nicht bloß hart, sondern es geht ganz und gar über unsere Kraft und liegt völlig außer all unserem Vermögen, das Gesetz so zu erfüllen, wie er es fordert; schauen wir also allein auf uns selbst und bedenken wir, welcher Zustand unseren Verdiensten entsprechen würde, so bleibt nichts von guter Hoffnung mehr bestehen, sondern wir sind von Gott verworfen und unterliegen dem ewigen Verderben. (3) Drittens wurde dann dies auseinandergesetzt, daß es nur ein einziges Mittel gibt, das uns aus so jämmerlichem Elende zu befreien vermag, nämlich wenn Christus als unser Erlöser erscheint, durch dessen Hand der himmlische Vater, der sich unser in seiner unermeßlichen Güte und Freundlichkeit erbarmt hat, uns allen hat Hilfe bringen wollen, sofern wir solche Barmherzigkeit in festem Glauben annehmen und uns auf sie in beständiger Hoffnung verlassen.

Jetzt ist es aber erforderlich zu erwägen, wie denn jener Glaube beschaffen sein soll, durch den alle, die von Gott zu Kindern angenommen sind, in den Besitz des Himmelreichs gelangen; denn es steht doch fest, daß nicht irgendeine Meinung oder auch Überzeugung imstande ist, solch eine Sache zu bewirken! Die Betrachtung und Untersuchung der wahren Eigenart des Glaubens müssen wir nun mit um so größerer Sorgfalt und um so größerem Nachdruck betreiben, je gefährlicher der Wahn ist, von dem in diesem Stück heutzutage viele Menschen befallen sind. Bei einem guten Teil der Menschheit steht es nämlich so: wenn man das Wort „Glaube“ hört, so versteht man darunter nichts Höheres als eine gewöhnliche Bejahung der evangelischen Geschichte. Ja, wenn man in den (päpstlichen) Schulen Erörterungen über den Glauben anstellt, so bezeichnet man ohne weiteres Gott als dessen „Objekt“ und führt dabei in eitlem Gedankenspiel - wie ich an anderer Stelle bereits ausführte - die armen Seelen eher vom rechten Wege ab, als daß man sie zum Ziel leitete. Denn Gott wohnt doch „in einem Lichte, da niemand zukommen kann“ (1. Tim. 6,16), und deshalb ist es nötig, daß Christus ins Mittel tritt! Daher nennt er sich doch auch „das Licht der Welt“ (Joh. 8,12) oder den „Weg, die Wahrheit und das Leben“! (Joh. 14,6). Denn zum Vater, der die „Quelle des Lebens“ ist (Ps. 36,10), kommt eben niemand, als durch ihn! (Joh. 14,6). Denn er allein kennt den Vater, und von da aus dann die Gläubigen, denen er ihn hat offenbaren wollen (Luk. 10,22). Aus diesem Grunde beteuert auch Paulus, daß er nichts kennt, von dem er meinte, es sei vornehmlich zu wissen nötig, als allein Christus! (1. Kor. 2,2). Und was er nach seiner eigenen Rückschau im zwanzigsten Kapitel der Apostelgeschichte gepredigt hat, das ist „der Glaube an ... Christus“: (Apg. 20,21). An anderer Stelle berichtet er, wie Christus selbst zu ihm gesagt habe: „Ich sende dich zu den Heiden ..., daß sie empfangen Vergebung der Sünden und das Erbe samt denen, die geheiligt werden durch den Glauben an mich“ (Apg. 26,17.18; nicht ganz Luthertext). Paulus bezeugt, daß an seiner (Christi) Person Gottes Herrlichkeit für uns sichtbar ist oder - was dasselbe bedeutet - daß an seinem Angesicht „die Erleuchtung von der Erkenntnis der Klarheit Gottes“ erglänzt (2. Kor. 4,6).

Es ist freilich wahr: der Glaube schaut auf den einigen Gott; aber es muß dann noch zugefügt werden, daß er den erkennen soll, den Gott gesandt hat, Jesum Christum! (Joh. 17,3). Denn Gott selbst wäre uns fern und verborgen, wenn uns Christus nicht mit seinem Glanz umstrahlte. Der Vater hat alles, was er hatte, dem Eingeborenen gegeben, um sich uns in ihm zu offenbaren, und das zu dem Zweck, daß eben diese Gemeinschaft der Güter das wahre Ebenbild seiner Herrlichkeit (an Christus) zum Ausdruck brächte. Wenn es oben hieß, der Geist müsse uns ziehen, damit wir angetrieben werden, Christus zu suchen, so müssen wir uns auf der anderen Seite vergegenwärtigen, daß der unsichtbare Vater nur in diesem seinem Ebenbilde zu suchen ist! Besonders feinsinnig redet Augustin über diesen Tatbestand: er spricht vom Zielpunkt des Glaubens und sagt dann, wir müßten wissen, wohin wir zu gehen hätten und auf welchem Wege wir dahin kämen; dann kommt er gleich zu dem Ergebnis, der Weg, der gänzlich gegen alle Irrtümer gesichert sei, wäre der, der Gott und Mensch ist. Denn Gott sei es ja, zu dem wir gehen sollten, und ein Mensch sei der Weg, um dahin zu gelangen: beides aber fänden wir nur in Christus! (Vom Gottesstaat XI,2). Wenn Paulus den Glauben an Gott Predigt, so hat er damit nicht im Sinn, die Aussagen vom Glauben umzustoßen, die er so oft einschärft, nämlich daß der Glaube seinen festen Grund allein in Christus hat. Sehr klar verbindet Petrus beides miteinander: „Durch ihn glaubet ihr an Gott“ (1. Petr. 1,21).


Kapitel 2 Sektion 2


Dieses Übel (nämlich die Verkehrung des Glaubensbegriffs) haben wir, wie unendlich vieles andere, billig den Scholastikern zu verdanken. Sie haben vor Christus sozusagen einen Vorhang gezogen und ihn so verdeckt. Schauen wir aber nicht stracks auf ihn, so müssen wir ja immerzu auf allerlei Irrwegen hin- und herlaufen. Abgesehen aber davon, daß sie mit ihrer finsteren Beschreibung vom Wesen des Glaubens dessen ganze Kraft schwächen, ja zunichte machen, haben sie sich auch das Gerede von dem „eingewickelten“ Glauben (fides implicita) ersonnen. Mit diesem Namen zieren sie die gröbste Unwissenheit und täuschen so das arme Volk auf die verderblichste Weise. Ja, dieses Gerede - ich will richtiger und offener aussprechen, um was es sich handelt! - begräbt nicht allein den wahren Glauben, sondern zerstört ihn von Grund auf. Heißt das denn noch glauben, wenn man keinerlei Erkenntnis hat und seinen Sinn bloß gehorsam der Kirche unterwirft? Nein, der Glaube ruht nicht auf Unwissenheit, sondern auf Erkenntnis; und zwar handelt es sich dabei nicht bloß um die Erkenntnis Gottes, sondern auch um die des göttlichen Willens. Wir erlangen nämlich das Heil nicht dadurch, daß wir bereit sind, alles, was die Kirche uns zu glauben vorschreibt, als wahr anzunehmen, oder ihr die Aufgabe zuschieben, zu forschen und kennenzulernen, sondern nur dann, wenn wir erkennen, daß Gott um der Versöhnung willen, die durch Christus geschehen ist, unser gnädiger Vater ist, und daß Christus uns zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zum Leben gegeben ist. Durch diese Erkenntnis, sage ich, und nicht durch Unterwerfung unseres Sinnes, erlangen wir den Zutritt zum Himmelreich. Denn wenn der Apostel sagt: „Denn so man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und so man mit dem Munde bekennt, so wird man selig“ (Röm. 10,10), so zeigt er damit deutlich: es ist nicht genug, wenn einer im Sinne des „eingewickelten“ Glaubens glaubt, was er gar nicht versteht und was er auch nicht untersucht; nein, er fordert eine „entwickelte“ (explicita) Erkenntnis der göttlichen Güte, auf der unsere Gerechtigkeit ruht.


Kapitel 2 Sektion 3


Da wir freilich von viel Unwissenheit umgeben sind, so will ich gewiß nicht abstreiten, daß uns jetzt noch viele Dinge „eingewickelt“ sind, ja, daß sie es auch in Zukunft noch sein werden, bis wir die Last unseres Fleisches abgelegt haben und Gottes Gegenwart näher gekommen sind. In eben diesen Dingen können wir nichts Nützlicheres tun, als das Urteil in der Schwebe zu lassen und uns kräftig Mühe zu geben, die Einheit mit der Kirche aufrechtzuerhalten. Aber es ist doch rein widersinnig, unter diesem Vorwande eine mit Demut untermischte Unwissenheit mit dem Namen „Glauben“ auszuzeichnen. Denn der Glaube besteht in der Erkenntnis Gottes und Christi (Joh. 17,3), nicht aber in der Ehrfurcht gegenüber der Kirche! Wir sehen ja auch, was für einen Irrgarten die Scholastiker sich mit ihrem Begriff vom „eingewickelten“ Glauben geschaffen haben: so wird alles ohne Unterschied, wenn es sich bloß unter Berufung auf die Kirche aufdrängt, von den Unerfahrenen wie ein Orakel angenommen, zuweilen auch der abergläubischste Irrtum! Diese unbedachte Leichtfertigkeit, die doch die Menschen notwendig ins sichere Verderben stürzen muß, wird trotzdem von den Scholastikern verteidigt, weil sie nichts ausdrücklich glaube, sondern alles nur unter der Bedingung: „Sofern die Kirche das glaubt“! Auf diese Weise, geben sie vor, hätte der Mensch mitten im Irrtum doch die Wahrheit, in der Blindheit das Licht, in der Unwissenheit das rechte Wissen inne!

Ich will mich nicht lange damit aufhalten, diese Irrtümer zu widerlegen, und möchte den Leser nur bitten, sie mit unserer Lehre zu vergleichen; denn die klare Durchsichtigkeit der Wahrheit wird uns eine hinreichend deutliche Widerlegung des Irrtums von selbst eingeben. Die Frage ist bei den Papisten ja nicht so gestellt, ob der Glaube noch in viele Überbleibsel der Unwissenheit „eingewickelt“ sei, sondern sie behaupten ausdrücklich, daß ein Mensch, der in stumpfer Unwissenheit dahinlebt, sich womöglich gar noch darin gefällt, rechtmäßig glaube, sofern er nur der Autorität und dem Urteil der Kirche über die Dinge, die er nicht kennt, zustimmt! Als ob die Schrift nicht immer wieder lehrte, daß mit dem Glauben die Einsicht verbunden ist!


Kapitel 2 Sektion 4


Ich gebe aber zu, daß unser Glaube, solange wir in der Welt Pilgrime sind, „eingewickelt“ ist, und zwar nicht nur, weil uns noch viele Dinge verborgen sind, sondern weil wir auch in dem vielen Nebel des Irrtums, der uns umgibt, nicht alles begreifen können. Denn auch für den Vollkommensten besteht die höchste Weisheit darin, fortzuschreiten und in stiller Gelehrigkeit weiterzustreben. Deshalb ermahnt Paulus die Gläubigen, auf Gottes Offenbarung zu warten, wenn sie in einer Sache untereinander verschiedener Ansicht sind (Phil. 3,15). Die Erfahrung lehrt uns wahrlich, daß wir, solange wir unser Fleisch noch an uns tragen, weniger begreifen, als wir wünschen möchten; und tagtäglich begegnen wir, wenn wir in der Schrift lesen, vielen unverständlichen Stellen, die uns davon überführen, wie unkundig wir noch sind. Durch diesen Zügel hält uns Gott bei der Bescheidenheit; er mißt jedem Einzelnen das „Maß des Glaubens“ (Röm. 12,3) zu, damit auch der beste Lehrer zum Lernen bereit sei.

Besonders deutliche Beispiele dieses „eingewickelten“ Glaubens kann man bei den Jüngern Christi wahrnehmen, ehe sie die volle Erleuchtung empfangen hatten. Da sehen wir, wie schwer sie selbst von den elementarsten Dingen einen Geschmack bekommen, so daß sie gar bei den einfachsten unsicher sind und, obwohl sie am Munde ihres Meisters hängen, doch nicht eben viel Fortschritte machen! Sogar noch, als sie auf die Mahnung der Frauen zum Grabe eilen, erscheint ihnen die Auferstehung ihres Meisters wie ein Traum! Und dabei hatte ihnen Christus vorher bezeugt, daß sie tatsächlich glaubten, so daß wir also nicht sagen dürfen, sie hätten gar keinen Glauben gehabt; ja, wenn sie nicht die Überzeugung gehabt hätten, daß Christus auferstehen würde, so wäre ja aller Eifer in ihnen erloschen. Es war aber auch gewiß nicht Aberglaube, was die Frauen dazu trieb, Christi Leichnam als den eines verstorbenen Menschen, auf dessen Leben man nicht mehr hoffen konnte, mit wohlriechenden Kräutern zu salben. Nein, obwohl sie seinen Worten glaubten - sie wußten doch, daß er wahrhaftig war! - so hatte doch die Stumpfheit, die ihr Gemüt noch umstrickte, in ihnen den Glauben dermaßen mit Finsternis verhüllt, daß sie ganz verwirrt waren! Deshalb heißt es auch von ihnen, sie hätten erst da geglaubt, als ihnen durch die Ereignisse selber die Wahrheit der Reden Jesu zur Gewißheit wurde; nicht, als ob sie erst da angefangen hätten zu glauben, sondern weil das Samenkorn eines verborgenen Glaubens, das in ihrem Herzen wie erstorben war, jetzt erst Kraft erhielt und hervorbrach. Es lebte in ihnen also der wahre Glaube, aber er war noch „eingewickelt“. Denn sie hatten ja Christus in Ehrerbietung als ihren einzigen Lehrer angenommen. Dann kamen sie durch seine Unterweisung auch zu der Gewißheit, er sei der Wirker ihres Heils. Schließlich glaubten sie auch, daß er vom Himmel gekommen war, um durch die Gnade des Vaters auch seine Jünger dahin zu versammeln. Für diesen Zustand (der Jünger und der Frauen) kann man aber keine bekanntere Begründung finden als die, daß in allen Gläubigen der Glaube stets mit Unglauben vermischt ist.


Kapitel 2 Sektion 5


Auch da mag man von einem „eingewickelten“ Glauben sprechen, wo es sich eigentlich bloß um eine Vorbereitung zum Glauben handelt. Die Evangelisten berichten, daß sehr viele Leute „geglaubt“ hätten, die doch bloß von den Wundern zur Bewunderung hingerissen waren und keine weitere Erkenntnis erlangt hatten, als daß Christus der verheißene Messias sei; (so wird berichtet,) obwohl diese Leute doch von der wirklichen Lehre des Evangeliums noch gar keinen Schimmer hatten. Diese Ehrerbietung, die sie dazu brachte, daß sie sich Christus freiwillig und gern unterwarfen, wird mit dem Namen „Glaube“ geschmückt, obwohl sie doch in Wirklichkeit erst der Anfang dazu war. So hat der Königische zunächst der Verheißung Christi geglaubt, sein Sohn sollte gesund werden (Joh. 4,50), und dann, als er nach Hause zurückgekehrt war, hat er nach dem Zeugnis des Evangelisten aufs neue geglaubt (Joh. 4,53). Im ersten Fall hat er eben das, was er aus Christi Munde hörte, als einen Gottesspruch angesehen; beim zweiten Male unterwarf er sich seiner Autorität und nahm seine Lehre an. Doch müssen wir uns vergegenwärtigen: so gelehrig und lernbereit er auch war, so bezeichnet das Wort „Glauben“ im ersten Fall bloß einen „besonderen“ Glauben (particularis fides), während es im zweiten Falle diesen Königischen zu den Jüngern zählt, die sich zu Christus bekannten. Ein ähnliches Beispiel berichtet uns Johannes auch von den Samaritern: sie glaubten zunächst den Worten der Frau und eilten daraufhin eifrig zu Christus hin; nachdem sie ihn aber gehört hatten, sagten sie: „Wir glauben nun hinfort nicht um deiner Rede willen; wir haben selber gehört und erkannt, daß dieser ist wahrlich Christus, der Welt Heiland“ (Joh. 4,42). Wir sehen hier, wie Leute, die noch nicht einmal den ersten Unterricht empfangen haben, wenn sie nur zum Gehorsam bereit sind, schon als Gläubige bezeichnet werden, zwar nicht im eigentlichen Sinne, sondern sofern Gott in seiner Güte diese fromme Regung solcher Ehre würdigt. Aber diese Gelehrigkeit, der das Begehren innewohnt, weiter fortzuschreiten, ist doch etwas ganz anderes, als die grobe Unwissenheit, in der solche Menschen stumpfsinnig dahinleben, die sich mit jenem „eingewickelten“ Glauben im Sinne der papistischen Phantasterei zufrieden geben! Wenn Paulus ein hartes Verdammungswort gegen die schleudert, die da „lernen immerdar, und können nimmer zu Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (2. Tim. 3,7) - wieviel schlimmere Schmach verdienen dann Leute, die sich mit voller Absicht vornehmen, nichts zu wissen!


Kapitel 2 Sektion 6


Die wahre Erkenntnis Christi besteht also darin, daß wir ihn annehmen, wie ihn uns der Vater darbietet, nämlich umkleidet mit seinem Evangelium. Denn wie er dazu bestimmt ist, der Ziel- und Richtpunkt unseres Glaubens zu sein, so können wir nur dann den rechten Weg zu ihm einschlagen, wenn uns das Evangelium vorangeht. Dort eröffnen sich dann alle Schätze der Gnade; wären uns diese nicht erschlossen, so nützte uns Christus gar wenig! So gibt Paulus der Lehre zum unabtrennlichen Gefährten den Glauben: „Ihr aber habt Christum nicht also gelernt, so ihr anders ... in ihm gelehrt seid, wie in Christo ein rechtschaffenes Wesen ist“ (Eph. 4,20f.).

Jedoch beschränke ich den Glauben nicht in dem Sinne auf das Evangelium, daß ich etwa leugnen wollte, daß auch Mose und die Propheten uns Hinreichendes gelehrt haben, um den Glauben aufzuerbauen. Aber die klarere Offenbarung Christi tritt uns doch im Evangelium entgegen, und deshalb nennt es Paulus mit Recht die „Lehre des Glaubens“ (vgl. 1. Tim. 4,6). In diesem Sinne erklärt er auch an anderer Stelle, daß mit dem Kommen des Glaubens das Gesetz abgetan ist (Röm. 10,4). Hier versteht Paulus das Evangelium als eine neue und (bisher) ungewohnte Weise der Lehre, durch die Christus, seit er als unser Lehrmeister erschienen ist, des Vaters Barmherzigkeit in ein helleres Licht gesetzt und von unserem Heil ein gewisseres Zeugnis gegeben hat.

Zur Behandlung der Lehre vom Glauben wird es indessen ein leichterer und angemessenerer Weg sein, wenn wir vom Allgemeinen zum Besonderen gehen. Da müssen wir uns nun zunächst deutlich machen, daß der Glaube in steter Verbindung mit dem Wort steht: er kann von ihm ebensowenig getrennt werden, wie die Strahlen von der Sonne, von der sie ihren Ausgang nehmen. Deshalb ruft Gott bei Jesaja aus: „Höret mich, so wird eure Seele leben!“ (Jes. 55,3; nicht Luthertext). Auf den gleichen Quell des Glaubens weist uns Johannes mit den Worten: „Diese aber sind geschrieben, daß ihr glaubet“ (Joh. 20,31). Auch der Prophet ruft dem Volke, um es zum Glauben zu ermuntern, zu: „Heute, so ihr seine Stimme höret.“ (Ps. 95,7). Immer wieder wird das Wort „Hören“ im Sinne von „Glauben“ gebraucht. Es ist schließlich auch nicht umsonst, wenn Gott bei Jesaja die Kinder der Kirche durch das Merkzeichen von den Fremden unterscheidet, daß er sie alle unterweist, damit sie „gelehrt“ sind „vom Herrn“ (Jes. 54,13); wäre nämlich diese Wohltat unterschiedslos allen Menschen gemein, so wäre kein Grund einzusehen, warum er sich mit seiner Rede bloß an wenige wendet. Dem entspricht es auch, daß die Evangelisten „Gläubige“ und „Jünger“ durchgehend als gleichbedeutende Worte behandeln; das geschieht besonders oft bei Lukas in der Apostelgeschichte (Apg. 6,1.2.7; 9,1.10.19.25.26.38; 11,26.29; 13,52; 14,20.28; 15,10 usw.); da bezieht er diesen Titel im 9. Kapitel (9,36) sogar auf eine Frau!

Wenn also der Glaube von diesem Ziel- und Richtpunkt, nach dem er sich richten soll, auch nur im geringsten abweicht, so kann er seine Natur nicht behalten, sondern wird zu einer ungewissen Gläubigkeit oder gar zu einem unklaren Irrtum unseres Sinnes. Denn das Wort ist das Fundament, auf das der Glaube sich stützt und das ihn trägt; wendet er sich von ihm weg, so bricht er zusammen. Nimm also das Wort weg und kein Glaube wird mehr übrigbleiben!

Ich erörtere hier nicht, ob zur Aussaat des Wortes Gottes, damit der Glaube aus ihm aufkeimt, der Dienst eines Menschen in allen Fällen unentbehrlich ist; davon muß an anderer Stelle noch die Rede sein. Ich sage nur dies: das Wort selbst - mag es nun zu uns kommen, wie es will! - ist für uns wie ein Spiegel, in dem der Glaube Gott anschaut. Ob also Gott dazu nun den Dienst von Menschen verwendet, oder ob er durch seine Kraft allein wirkt, stets stellt er sich denen, die er zu sich ziehen will, durch sein Wort vor Augen. Deshalb versteht auch Paulus unter dem Glauben den Gehorsam, den man dem Evangelium leistet (Röm. 1,5), und an anderer Stelle lobt er den Glaubensgehorsam, den er bei den Philippern hat kennenlernen dürfen (Phil. 1,3-5). Die Einsicht des Glaubens hat es nämlich nicht bloß damit zu tun, daß wir anerkennen: Es ist ein Gott; sondern es handelt sich auch, ja vornehmlich darum, daß wir begreifen, wie sein Wille uns gegenüber beschaffen ist. Denn es liegt für uns nicht nur daran, zu wissen, wer er in sich selber ist, sondern wie er sich uns gegenüber verhalten will.

Jetzt können wir also bereits folgendes feststellen: der Glaube ist die aus dem Worte Gottes geschöpfte Erkenntnis des Willens Gottes uns gegenüber. Seine Grundlage aber ist eine feste Überzeugung von Gottes Wahrheit. Solange unser Herz über die Gewißheit dieser Wahrheit mit sich selber im Streite liegt, wird das Wort eine bloß zweifelhafte und schwache, ja eigentlich gar keine Autorität haben. Denn es ist nicht genug, wenn man glaubt, daß Gott wahrhaftig ist

und weder trügen noch lügen kann; nein, es muß auch ohne allen Zweifel feststehen, daß alles, was von ihm ausgeht, heilige und unverletzliche Wahrheit ist.


Kapitel 2 Sektion 7


Nun vermag aber nicht jedes Wort Gottes das Menschenherz zum Glauben zu bewegen. Wir müssen also jetzt noch untersuchen, worauf der Glaube im Wort eigentlich schaut. Es war Gottes Wort, wenn zu dem Adam gesagt wurde: „Du wirst des Todes sterben!“ (Gen. 2,17). Es war Gottes Wort, wenn Kain hören mußte: „Die Stimme des Bluts deines Bruders schreit zu mir von der Erde“ (Gen. 4,10). Aber beide Worte vermögen aus sich nichts anderes, als den Glauben zu erschüttern; ihn zu begründen sind sie jedenfalls gänzlich ungeeignet. Ich will indessen gewiß nicht abstreiten, daß es das Amt des Glaubens ist, Gottes Wahrheit zu unterschreiben, wie oft er auch redet, was er redet und auf welcherlei Weise er es tut. Es ist nur die Frage, was denn der Glaube im Worte des Herrn findet, auf das er sich stützen und gründen kann. Wie soll unser Gewissen nicht zittern und erschrecken, wo es bloß Zorn und Rache vernimmt? Wie soll es aber nicht vor einem Gott die Flucht ergreifen, vor dem es erschrickt? Der Glaube aber soll doch Gott suchen und nicht vor ihm fliehen! Unsere obige Beschreibung vom Wesen des Glaubens ist also noch nicht vollständig; denn es ist noch nicht als Glaube anzusehen, wenn man den Willen Gottes in irgendwelcher Gestalt kennt. Wie wird es aber, wenn wir an die Stelle des Willens Gottes, dessen Kundmachung oft traurig, dessen Bezeugung oft schrecklich ist, - sein Wohlwollen und seine Barmherzigkeit setzten? So kommen wir sicher an das wahre Wesen des Glaubens näher heran; denn wir werden erst dann angelockt, Gott zu suchen, wenn wir gelernt haben, daß bei ihm unser Heil liegt, und das wird uns zur Gewißheit, wenn er erklärt, daß er um unser Heil sorgt und eifert. Es bedarf also der Verheißung der Gnade, durch die er uns bezeugt, daß er unser gnädiger Vater ist; denn nur dann können wir zu ihm nahen, und auf ihr allein kann das Menschenherz sicher ruhen.

Aus diesem Grunde finden wir in den Psalmen immer wieder zwei Worte zusammengestellt, die auch tatsächlich zusammengehören: Barmherzigkeit und Wahrheit. Denn es würde uns nichts helfen, wenn wir wüßten, daß Gott wahrhaftig ist, sofern er uns nicht zugleich freundlich zu sich lockte, und anderseits könnten wir seine Barmherzigkeit nicht ergreifen, wenn er sie uns nicht in seinem Worte anböte! So lesen wir es: „von deiner Wahrheit und von deinem Heil rede ich; ich verhehle deine Güte und Wahrheit nicht; ... laß deine Güte und Wahrheit allewege mich behüten“ (Ps. 40,11.12; nicht Luthertext). Oder wir hören an anderer Stelle: „Deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und deine Wahrheit, soweit die Wolken gehen!“ (Ps. 36,6). Oder auch: „Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund ... halten“ (Ps. 25,10). Ebenso: „Vielfältig ist seine Barmherzigkeit über uns, und seine Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit“ (Ps. 117,2; Luthertext kürzer). Oder ebenso: „Ich will deinem Namen danken für deine Güte und Wahrheit“ (Ps. 138,2). Ich übergehe die entsprechenden Aussagen der Propheten, die ja auch bezeugen, daß Gott barmherzig und treu ist in seinen Verheißungen. Es wäre vermessene Kühnheit, wollten wir behaupten, Gott sei uns gnädig - wenn er es nicht selbst von sich bezeugte, uns mit seiner Einladung zuvorkäme, damit sein Wille nicht zweifelhaft und dunkel sei! Wir haben aber schon gesehen, daß das einzige Unterpfand der Liebe Gottes Christus ist; ohne ihn erscheinen allenthalben bloß Zeichen des Hasses und des Zorns!

Weil nun aber die Erkenntnis der göttlichen Güte wenig Belang hätte, wenn sie uns nicht dazu brächte, uns sicher auf sie zu verlassen, so muß vom Glauben jene mit dem Zweifel vermischte Erkenntnis ausgeschlossen bleiben, die ihrer Sache nicht sicher ist, sondern mit sich selber im Streite liegt. Aber unser Menschenverstand ist doch blind und verfinstert, und er kann gar nicht so weit vordringen und so hoch emporsteigen, um Gottes Willen zu erfassen, unser Herz wogt ja in stetem Zweifel auf und nieder, und es ist ebenfalls weit davon entfernt, in solcher Überzeugung sicher zu bestehen. Soll also Gottes Wort bei uns vollen Glauben finden, so muß von einer anderen Seite her unser Verstand erleuchtet, unser Herz gestärkt werden.

Jetzt sind wir soweit, daß wir eine richtige Beschreibung vom Wesen des Glaubens geben können; wir müssen sagen: er ist die feste und gewisse Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns, die sich auf die Wahrheit der in Christus uns dargebotenen Gnadenverheißung stützt und durch den Heiligen Geist unserem Verstand geoffenbart und in unserem Herzen versiegelt wird.


Kapitel 2 Sektion 8


Bevor ich weitergehe, sind aber noch einige Vorbemerkungen vonnöten, um Knoten aufzulösen, die sonst dem Leser einen Anstoß bereiten könnten. Zunächst muß ich die in den papistischen Schulen umgehende unsinnige Unterscheidung zwischen „gestaltetem“ und „ungestaltetem“ Glauben (fides formata und fides informis) widerlegen. Sie bilden sich nämlich ein, auch solche Leute „glaubten“ alles, was zum Heil notwendig ist, die von keinerlei Furcht Gottes, keinerlei Regung der Frömmigkeit irgend etwas verspüren. Als ob aber der Heilige Geist, wenn er unser Herz mit seinem Glanz erleuchtet, so daß wir glauben, nicht auch zugleich der Zeuge für unsere Aufnahme in die Kindschaft wäre! Trotzdem erkennen sie jener Überzeugung (persuasio), der jede Gottesfurcht abgeht, gegen den Widerspruch der ganzen Schrift stolz den Namen „Glaube“ zu! Eine weitläufige Auseinandersetzung mit dieser Wesensbestimmung ist nicht erforderlich; es genügt, wenn wir die Natur des Glaubens schlicht umschreiben, wie sie uns aus dem Worte Gottes überliefert ist. Daraus wird völlig klar werden, wie ungeschickt und töricht die Papisten von diesen Dingen reden, ja vielmehr schnattern. Einen Teil habe ich oben schon berührt, das übrige wird an seinem Platze unten folgen.

Jetzt will ich nur dies aussprechen, daß man sich nichts Widersinnigeres erdenken kann, als diese Erfindung der Scholastiker. Sie sind also der Meinung, der Glaube sei eine (bloße) Zustimmung, kraft deren sich selbst jeder Gottesverächter zu eigen machen kann, was man ihm aus der Schrift vorträgt. Dabei hätte man nun aber zuerst zusehen sollen, ob sich denn jeder Mensch aus eigener Kraft und Entschließung den Glauben aneignen kann, oder ob es nicht der Heilige Geist ist, der uns durch den Glauben unsere Kindschaft bezeugt! Es ist deshalb kindisch und närrisch, wenn sie fragen, ob denn der Glaube, wenn ihn die hinzukommende Wesenheit (nämlich die Liebe) zu einem „gestalteten“ gemacht habe, noch derselbe Glaube sei oder ein anderer, neuer. Daraus geht sicherlich schon klar hervor, daß sie sich bei ihrem Geschwätz niemals über die besondere Gabe des Heiligen Geistes Gedanken gemacht haben; denn schon der Anfang des Glaubens schließt die Versöhnung ein, durch die der Mensch zu Gott den Zugang hat! Würden sie das Wort des Paulus in Betracht ziehen: „So man von Herzen glaubt, so wird man gerecht“ (Röm. 10,10), so würden sie ganz von selbst aufhören, solch einen frostigen Begriff wie jene (zum Glauben „hinzukommende“, ihn „gestaltende“) Wesenheit (nämlich die Liebe) zu erfinden! Hätten wir auch nur dieses eine Beweisstück, so wäre das schon genug, um dem Kampf ein Ende zu machen: jene Zustimmung nämlich ist, wie ich bereits berührt habe und bald ausführlicher wiederholen werde, schon selbst mehr Sache des Herzens als des Hirns, mehr Sache innerer Bewegung als des Verstandes. Deshalb wird sie auch „Glaubensgehorsam“ genannt (Röm. 1,5); kein anderer Gehorsam ist dem Herrn lieber, und zwar mit Recht: nichts ist ihm ja köstlicher als seine Wahrheit, und eben diese wird - dafür ist Johannes der Täufer Zeuge! (Joh. 3,33) - von den Gläubigen gewissermaßen durch Unterschrift „versiegelt“. Die Sache ist tatsächlich ganz klar, und ich will deshalb mit einem Wort feststellen: es ist ein törichtes Gerede, wenn sie sagen, der Glaube werde dadurch „gestaltet“, daß zu der „Zustimmung“ (assensus) eine innere, fromme Regung träte; denn auch diese „Zustimmung“ besteht, wenigstens, wie die Schrift von ihr lehrt, selbst in solch frommer Regung!

Es bietet sich aber noch ein zweiter, viel klarerer Beweis. Der Glaube erfaßt Christus, wie er uns vom Vater gegeben ist; er wird uns aber nicht allein zur Gerechtigkeit, zur Vergebung der Sünden und zum Frieden dargegeben, sondern auch zur Heiligung und als Quelle lebendigen Wassers: der Glaube kann ihn also ohne Zweifel niemals recht erkennen, ohne zugleich die Heiligung des Geistes mit zu ergreifen. Will einer das noch deutlicher hören, so will ich so sagen: Der Glaube ruht auf der Erkenntnis Christi. Christus aber kann man nur zusammen mit der Heiligung seines Geistes erkennen. Der Glaube läßt sich also von der frommen Regung des Herzens auf keine Weise abtrennen.


Kapitel 2 Sektion 9


Dagegen pflegen nun die Papisten mit dem Wort des Paulus Einspruch zu erheben: „Und hätte ich allen Glauben, also daß ich Berge versetze, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts“ (1. Kor. 13,2). Daraus möchten sie nun entnehmen, der Glaube sei, wenn er ohne Liebe wäre, „ungestaltet“. Aber sie begreifen nicht, was der Apostel an dieser Stelle unter „Glauben“ versteht. Er hat doch im voraufgehenden Kapitel (12) von den verschiedenen Geistesgaben gesprochen, zu denen er „mancherlei Sprachen“ (1. Kor. 12,10), allerlei Kräfte, auch die Gabe der Weissagung rechnet (vgl. 1. Kor. 12,4-10). Er ermahnt dann die Korinther, nach den „besten Gaben“ zu streben (1. Kor. 12,31), das heißt also nach denen, die dem ganzen Leib der Kirche am meisten Frucht und Segen bringen. Und zum Schluß setzt er hinzu: „Und ich will euch noch einen köstlicheren Weg zeigen“ (1. Kor. 12,31). Er will ihnen nämlich zeigen, daß alle diese Gaben, so großartig und hervorragend sie auch an sich sind, doch für nichts zu gelten haben, wenn sie nicht der Liebe dienen. Denn sie sind - das will er weiter zeigen - zur Auferbauung der Kirche gegeben, und sie verlieren ihre Gnade, wenn sie dazu nicht dienen. Um das nun zu beweisen, wendet er eine Teilung an: er wiederholt jetzt (1. Kor. 13,1-3) die gleichen Geistesgaben, die er im vorausgehenden Kapitel behandelt hat, aber unter anderen Namen. Unter „Kräften“ und „Glauben“ versteht er hierbei aber das Gleiche, nämlich die Fähigkeit, Wunder zu tun. Diese „Kräfte“, bzw. dieser „Glaube“ sind eine besondere Gabe Gottes, die auch irgendein beliebiger Gottloser innehaben und - mißbrauchen kann, genau wie die Zungenrede, die Weissagung oder die anderen Geistesgaben; es ist also nicht verwunderlich, wenn sie von der Liebe geschieden werden! Der ganze Irrtum der Papisten besteht nun aber darin, daß sie die tatsächlich vorliegende Mehrdeutigkeit des Wortes „Glaube“ nicht beachten und ihren Streit führen, als ob das Wort immer die gleiche Bedeutung hätte. - Von der Jakobusstelle (Jak. 2,21), die sie sich auch zum Schutz für ihren Irrtum heranholen, wird an anderer Stelle die Rede sein.

Zum Zweck der Unterweisung, nämlich um zu zeigen, wie die Erkenntnis Gottes bei den Gottlosen beschaffen ist, geben wir also freilich zu, daß es mehrere Gestaltungen des Glaubens gibt. Trotzdem erkennen und predigen wir auf Grund der Lehre der Schrift, daß bei den Frommen stets einerlei Glaube sich findet. Ganz sicher glauben viele Leute, daß ein Gott sei, viele halten die evangelische Geschichte und auch die übrigen Stücke der Schrift für wahr - so wie man etwa über die Berichte vergangener Ereignisse oder auch über selbsterlebte Gegenwart zu urteilen pflegt. Es gibt auch Leute, die noch weiter gehen: sie halten Gottes Wort für ein untrügliches Orakel, verachten seine Gebote keineswegs durchaus, lassen sich auch von den Drohungen und Verheißungen immerhin bewegen. Solchen Leuten wird wohl bezeugt, daß sie „glauben“, aber dabei wird das Wort „Glauben“ im uneigentlichen Sinne gebraucht: sie bestreiten, verachten und verwerfen Gottes Wort eben nicht in offenbarer Unfrömmigkeit, sondern legen vielmehr einen gewissen Schein des Gehorsams an den Tag.


Kapitel 2 Sektion 10


Aber dieser Schatten, dieses Scheinbild von Glauben ist ohne jeden Belang und verdient deshalb die Bezeichnung „Glaube“ nicht. Wie weit es von dem wahren Wesen des Glaubens entfernt bleibt, das wird sich bald eingehender zeigen, aber es spricht nichts dagegen, es auch hier im Vorbeigehen deutlich zu machen. Es heißt z.B. von dem Zauberer Simon, er habe „geglaubt“ (Apg. 8,13), und doch ließ er seinen Unglauben nach kurzer Zeit ans Licht treten (Apg. 8,18). Daß von ihm bezeugt wird, er habe geglaubt, das verstehe ich nicht mit einigen Auslegern so, er habe mit Worten einen Glauben erheuchelt, den er gar nicht im Herzen getragen hätte. Ich stelle es mir vielmehr so vor: er war von der Majestät des Evangeliums überwunden und hat ihm in einem gewissen Sinne auch Glauben beigemessen, hat auf diese Weise Christus als den Geber des Lebens und des Heils verstanden und ihn daraufhin als Herrn anerkannt. In derselben Weise heißt es auch im Evangelium des Lukas von den Menschen, bei denen der Same des Wortes erstickt wird, ehe er fruchtbringend aufgehen kann, oder bei denen er verdorrt und verdirbt, bevor er Wurzel geschlagen, sie „glaubten eine Zeitlang“ (Luk. 8,8.7.13). Unzweifelhaft haben diese Leute einen gewissen Geschmack von dem Wort in sich empfunden und ergreifen es begierig, auch fühlen sie seine göttliche Kraft, so daß sie nun mit dem trügerischen Schein des Glaubens nicht bloß das Auge anderer Menschen, sondern auch ihr eigenes Herz täuschen. Denn sie reden sich ein, diese Ehrerbietung, die sie dem Worte Gottes erweisen, sei die Frömmigkeit selber; unter Unfrömmigkeit können sie nämlich bloß dies verstehen, daß einer offenbar und zugestandenermaßen Gottes Wort schmäht und verachtet. Mag nun jene Zustimmung aussehen, wie sie will, sie dringt jedenfalls nicht bis ins Herz hinein, um nun da fest eingewurzelt zu bleiben; mag sie gar zuweilen den Eindruck erwecken, als habe sie Wurzeln geschlagen, so sind diese doch nicht lebendig. Das Menschenherz enthält soviel Verstecke für die Eitelkeit, soviel Schlupfwinkel der Lüge, es ist in derart betrügerischer Heuchelei verkappt, daß es sich gar oft selber täuscht! Wer sich aber solch eines Trugbildes von Glauben rühmen will, der soll wissen, daß er in diesem Stück selbst vor den Teufeln keinen Vorrang hat! Ja, die erste Gruppe, von der wir redeten, also die Menschen, die da hören und verstehen und doch stumpf bleiben, stehen noch weit unter den Teufeln, denn diese zittern doch wenigstens über solcher Erkenntnis! (Jak. 2,19). Andere aber sind den Teufeln darin gleich, daß alles Empfinden, das sie berührt, von welcher Art es auch sei, schließlich doch in Schrecken und Entsetzen endet.


Kapitel 2 Sektion 11


Ich weiß nun, daß es einigen hart vorkommt, wenn auch von den Verworfenen zuweilen gesagt wird, sie glaubten. Man denkt daran, daß doch der Glaube nach Paulus eine Frucht der Erwählung ist (1. Thess. 1,4f.). Diese Schwierigkeit ist indessen unschwer zu lösen. Die Erleuchtung zum Glauben und das wahre Empfinden der Kraftwirkung des Evangeliums wird allerdings nur denen zuteil, die zur Seligkeit verordnet sind; aber die Erfahrung beweist trotzdem, daß die Verworfenen zuweilen fast von der gleichen inneren Regung erfaßt werden wie die Erwählten, so daß sie sich auch nach ihrem eigenen Urteil in nichts von den Erwählten unterscheiden. Es ist deshalb gar nicht widersinnig, wenn ihnen der Apostel einen Geschmack von den himmlischen Gütern oder Christus einen zeitweiligen Glauben beimißt. Das geschieht nicht etwa, weil sie wirklich die Kraft der geistlichen Gnade oder das untrügliche Licht des Glaubens voll in sich aufnähmen, sondern deshalb, weil der Herr, um sie noch mehr zu überführen und unentschuldbar zu machen, in ihr Inneres eindringt, soweit man seine Güte ohne den Geist der Kindschaft zu schmecken vermag! Es könnte nun aber jemand einwerfen, unter diesen Umständen bliebe den Gläubigen ja gar nichts mehr, an dem sie ihre Aufnahme in Kindschaft mit Sicherheit merken könnten. Darauf gebe ich die Antwort: So groß die Ähnlichkeit und Verwandtschaft zwischen Gottes Auserwählten und denen, die bloß einen vergänglichen Glauben auf Zeit zum Geschenk erhalten haben, auch sein mag, es lebt doch allein in den Erwählten jene Zuversicht, die Paulus so hoch rühmt, jene Zuversicht, die sie mit fröhlichem Munde schreien läßt: „Abba, lieber Vater!“ (Gal. 4,6). Gott hat ja allein die Erwählten „wiedergeboren ... aus unvergänglichem Samen ..., (der) da ewiglich bleibt“ (1. Petr. 1,23), so daß also der Same des Lebens, der in ihr Herz gesät ist, nie ganz vergehen kann; und ebenso versiegelt er in ihnen auch kräftig diese Gnade der Kindschaft, damit sie fest und gültig sei!

Aber das hindert in keiner Weise, daß jene geringere Wirkung des Heiligen Geistes auch in den Verworfenen ihren Lauf geht. Indes werden die Gläubigen gemahnt, sich gründlich und demütig selbst zu prüfen, damit nicht etwa an Stelle der Gewißheit des Glaubens die fleischliche Sicherheit in ihnen aufkomme! Auch wird den Verworfenen stets bloß ein verworrenes Empfinden der Gnade zuteil: sie erfassen also eher einen Schatten als den wirklichen Körper; denn die Vergebung der Sünden versiegelt der Heilige Geist im eigentlichen Sinne allein in den Erwählten, damit sie sie sich im besonderen Glauben zu ihrem Nutzen zueignen. Trotzdem kann man von den Verworfenen mit Recht sagen, daß sie glauben, Gott sei ihnen gnädig; denn auch sie empfinden die Gabe der Versöhnung, freilich verworren und nicht klar genug. Das bedeutet nicht, daß sie mit den Kindern Gottes einerlei Glauben haben oder gleich ihnen der Wiedergeburt teilhaftig geworden sind; aber sie scheinen unter der Decke der Heuchelei doch mit ihnen den Anfang (principium) des Glaubens gemeinsam zu haben. Ich kann auch nicht leugnen, daß Gott ihr Inneres derart erhellt, daß sie seine Gnade erkennen; aber dieses Empfinden unterscheidet er doch dadurch von dem besonderen Zeugnis, das er seinen Erwählten zuteil werden läßt, daß den Verworfenen die kräftige Wirkung und der Genuß (der Gnade) unbekannt bleibt. Denn ihnen erzeigt sich Gott nicht in dem Sinne gnädig, daß er sie wirklich aus dem Tod herausreißt und sie in seinen Schutz nimmt, sondern er läßt sie allein seine (zeitlich) gegenwärtige Barmherzigkeit erfahren. Allein den Gläubigen aber schenkt er, damit sie bis ans Ende beharren, die lebendige Wurzel des Glaubens. So löst sich der Einwand, wenn Gott einem Menschen wirklich seine Gnade erzeige, dann sei solche Tat von beständiger Festigkeit: es spricht doch nichts dagegen, daß Gott gewisse Menschen mit einem augenblicklichen Empfinden seiner Gnade erleuchtet, das hernach wieder vergeht.


Kapitel 2 Sektion 12


Obwohl nun dementsprechend der Glaube die Erkenntnis des göttlichen Wohlwollens gegen uns ist und die gewisse Überzeugung von seiner Wahrheit, so ist es doch kein Wunder, daß in den zeitweilig Glaubenden das Empfinden der göttlichen Liebe wieder verschwindet: es ist eben zwar mit dem Glauben verwandt, aber doch grundverschieden von ihm. Gottes Wille ist - das gebe ich zu - unveränderlich, und seine Wahrheit bleibt sich stets gleich; aber ich bestreite, daß die Verworfenen bis zu jener verborgenen Offenbarung vordringen, wie sie die Schrift allein den Erwählten vorbehält. Ich leugne also, daß sie den Willen Gottes in seiner Unwandelbarkeit begreifen oder seine Wahrheit mit Beständigkeit erfassen. Denn sie bleiben ja bei einer flüchtigen Empfindung hängen; sie gleichen einem Baum, der nicht tief genug gepflanzt ist, um lebendige Wurzeln zu treiben, und der deshalb mit der Zeit verdorrt, obwohl er vielleicht einige Jahre lang nicht nur Blüten und Blätter, sondern gar Frucht getragen hat. Kurzum, wie das Ebenbild Gottes aus Gemüt und Seele des ersten Menschen infolge seines Abfalls von Gott verschwinden konnte, so ist es auch nicht verwunderlich, wenn Gott den Verworfenen in einigen Strahlen seiner Gnade erscheint, die er doch später wieder verlöschen läßt. Es spricht nichts dagegen, daß er die einen mit der Erkenntnis seines Evangeliums bloß leicht benetzt, andere aber in der Tiefe durchtränkt! Wir müssen dabei indessen dies eine festhalten: der Glaube mag in den Erwählten noch so gering, noch so schwach sein, so kann doch sein eingegrabenes Zeugnis nie mehr aus ihrem Herzen herausgegriffen werden, da für sie der Heilige Geist das sichere Unterpfand und Siegel ihrer Kindschaft ist; die Gottlosen werden dagegen von den Strahlen eines Lichtes berührt, das nachher wieder vergeht. Und doch ist dabei der Heilige Geist ohne Trug; denn der Same, den er in Herz der Gottlosen sät, macht ja nicht lebendig und kann darum nicht immer unvergänglich bei ihnen bleiben, wie das bei den Erwählten der Fall ist.

Ich gehe sogar noch weiter: da aus der Lehre der Schrift wie auch aus der alltäglichen Erfahrung hervorgeht, daß auch die Verworfenen zuweilen von einem Empfinden der göttlichen Gnade innerlich berührt werden, so muß in ihren Herzen auch notwendig ein gewisses Begehren aufkommen, Gott wiederzulieben. So war in Saul eine Zeitlang eine fromme Regung am Werk, Gott zu lieben, der ihn nach seinem eigenen Erkennen väterlich behandelte, so daß er gewissermaßen von der Süßigkeit solcher göttlichen Güte ergriffen wurde. Aber wie diese Überzeugung von Gottes Liebe bei den Verworfenen nicht bis in die Wurzeln geht, so lieben sie ihn auch nicht wirklich wieder, wie die Kinder, sondern sie lassen sich vielmehr von einer Art Zuneigung leiten, wie sie ein Tagelöhner haben mag! Denn der Geist der Liebe ist allein Christus gegeben, damit er ihn auch in seine Glieder einsenke; nicht über die Schar der Erwählten hinaus gilt auch das Wort des Paulus: „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist, welcher uns gegeben ist“ (Röm. 5,5). Das ist die Liebe, die in uns jene obenerwähnte freudige Zuversicht weckt, Gott anzurufen (Gal. 4,6).

Wir sehen ja auf der anderen Seite, wie Gott auf wunderbare Weise seinen Kindern zürnt, obwohl er unterdessen nicht aufhört, sie zu lieben: das geschieht nicht, weil er sie etwa bei sich selber haßte, nein, er will sie nur durch das Empfinden seines Zorns schrecken, um die Hoffart des Fleisches zu demütigen, um sie aus ihrer Faulheit aufzustören und so zur Buße anzuspornen. Darum erfassen sie ihn zu gleicher Zeit als den, der ihnen oder ihrer Sünde zürnt - und als den, der ihnen gnädig ist; denn es ist keine Heuchelei, wenn sie ihn bitten, seinen Zorn abzuwenden - und doch fliehen sie gerade zu ihm mit ruhiger Zuversicht! Hieraus ergibt sich nun: es braucht nicht Heuchelei zu sein, wenn Menschen, die keinen wahren Glauben haben, doch zu glauben scheinen; nein, weil sie sich von urplötzlichem Eifer treiben lassen, so täuschen sie sich mit falscher Meinung selber! Unzweifelhaft hat dabei die Trägheit von ihnen Besitz ergriffen, so daß sie ihr Herz nicht so gründlich prüfen, wie es billig wäre. Von dieser Art sind wahrscheinlich jene Menschen gewesen, von denen Johannes bezeugt, daß sie zwar an Christus „glaubten“ (Joh. 2,23), aber doch weiter mitteilt: „Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an; denn er kannte sie alle; ... denn er wußte wohl, was im Menschen ist“ (Joh. 2,24f.). Es sind ihrer viele vom „allgemeinen“ Glauben abgefallen - „allgemein“ nenne ich diesen Glauben, weil der zeitweilige Glaube mit dem lebendigen, bleibenden viel Ähnliches und Verwandtes hat! -; sonst hätte Christus nicht zu seinen Jüngern gesagt: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8,31. 32). Er redet hier nämlich die an, die seine Lehre angenommen haben, und ermahnt sie zum Fortschreiten im Glauben, damit sie nicht in Faulheit das Licht auslöschen, das ihnen gegeben ist. Deshalb eignet Paulus (Tit. 1,1) den Glauben allein den Auserwählten zu; er zeigt damit, daß viele in Eitelkeit vergehen, weil sie keine lebendige Wurzel getrieben haben. Dementsprechend sagt auch Christus nach dem Bericht des Matthäus: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht pflanzte, die werden ausgereutet“ (Matth. 15,13).

Es gibt aber andere, die von gröberer Unwahrhaftigkeit erfüllt sind: sie schämen sich nicht, Gott und Menschen etwas vorzumachen! Gegen diese Art Menschen, die unter einem trügerischen Deckmantel den Glauben gottlos gemein machen, geht Jakobus scharf vor (Jak. 2,14ff.). Auch Paulus würde von den Kindern Gottes nicht „ungefärbten Glauben“ verlangen (1. Tim. 1,5), wenn sich eben nicht viele Leute vermessen beilegen wollten, was gar nicht ihr eigen ist, und wenn sie nicht mit solchem eitlen Schein andere und zuweilen auch sich selber täuschten! Er vergleicht deshalb auch das gute Gewissen mit einem Behältnis, in dem der Glaube geborgen ist; denn es hatten eben viele das gute Gewissen verloren, und darüber hatten sie am Glauben Schiffbruch erlitten (1. Tim. 1,19; vgl. 3,9).


Kapitel 2 Sektion 13


Wir müssen auch bedenken, daß das Wort „Glaube“ verschiedene Bedeutung haben kann. Oft bedeutet es nämlich soviel wie „die gesunde Lehre der Frömmigkeit“. So an der bereits kürzlich angeführten Stelle (1. Tim. 4,6). In dem gleichen Briefe will der Apostel Paulus an einer Stelle solche Leute zu Diakonen haben, „die das Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen haben“ (1. Tim. 3,9). Ebenso ist das Wort 1. Tim. 4,1 gebraucht, wo Paulus ankündigt, es würden (in den letzten Zeiten) „etliche vom Glauben abtreten“. Auf der anderen Seite aber sagt er von Timotheus, er sei „auferzogen in den Worten des Glaubens“ (1. Tim. 4,6). Hierher gehört auch die Stelle, wo er von den „ungeistlichen, losen Geschwätzen und dem Gezänke der falsch berühmten Kunst“ redet, die viele zum Abfall vom Glauben verführt haben (1. Tim. 6,20. 21); solche Leute nennt er an anderer Stelle „untüchtig zum Glauben“ (2. Tim. 3, 8). Wenn er ebenso dem Titus aufträgt, die Glieder der Gemeinde zu ermahnen, „daß sie gesund seien im Glauben“ (Tit. 1,13; 2,2), so versteht er unter „Gesundheit“ des Glaubens nichts anderes als Reinheit der Lehre, die ja durch den Leichtsinn der Menschen leicht in Verfall gerät und entartet. Weil nämlich in Christus, den der Glaube doch in Besitz hat, „verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol. 2,3), so wird der Glaube billigerweise auf den gesamten Umfang der himmlischen Lehre bezogen, von der er eben nicht zu trennen ist!

Dagegen beschränkt sich der Glaube zuweilen auch auf einen einzelnen, besonderen Fall, so z.B. wenn Matthäus berichtet, Christus habe den „Glauben“ der Männer gesehen, die den Gichtbrüchigen durch das Dach herunterließen (Matth. 9,2), oder wenn Christus selber ausruft, er habe in Israel nicht solchen Glauben gefunden, wie der Hauptmann zu Kapernaum ihn an den Tag gelegt hatte (Matth. 8,10). Dabei ist wohl anzunehmen, daß er ausschließlich an die Heilung seines Sohnes (Calvin bezieht sich hier auf Joh. 4,47ff.) gedacht hat: die Sorge um ihn hatte eben sein Herz ganz mit Beschlag belegt. Aber weil er sich allein an Christi Wink und Antwort genügen läßt und nicht noch seine leibliche Gegenwart erbittet, deshalb rühmt Christus seinen Glauben so gewaltig.

Oben habe ich auch bereits dargelegt, wie bei Paulus „Glaube“ soviel bedeuten kann wie die Gabe, Wunder zu tun (vgl. Sekt. 9); die kann aber auch Leuten zuteil werden, die nicht durch den Geist Gottes wiedergeboren sind und Gott auch nicht im Ernste fürchten.

An anderer Stelle ist „Glaube“ bei Paulus auch gleichbedeutend mit der Unterweisung, durch die wir im Glauben unterrichtet werden. Wenn er nämlich schreibt, der Glaube werde einst aufhören (1. Kor. 13,10; wörtlich sagt das die Stelle nicht!), so müssen wir das ohne Zweifel auf das Predigtamt der Kirche beziehen, das ja heute unserer Schwachheit noch von Nutzen ist. In all diesen (bisher genannten) Ausdrucksformen besteht offenbar eine Entsprechung.

Wenn dann aber weiterhin das Wort „Glaube“ im uneigentlichen Sinne auch da angewandt wird, wo falsche Aussagen und trügerische Ansprüche gemacht werden, so ist das eine Namensübertragung, die nicht härter ist, als die Verwendung des Ausdrucks „Gottesfurcht“ zur Bezeichnung des verkehrten und verderbten Gottesdienstes! So hören wir in der heiligen Geschichte mehrfach, die ausländischen Völker, die man in Samaria und den umliegenden Gegenden angesiedelt hatte, hätten erdichtete Götter und den Gott Israels „gefürchtet“! (2. Kön. 17,24ff.). Und dabei bedeutet doch das, was sie taten, nichts Geringeres, als daß sie Himmel und Erde miteinander vermischten!

Wir fragen aber hier, was das für ein Glaube ist, der Gottes Kinder von den Ungläubigen unterscheidet, der uns Gott als Vater anrufen läßt, durch den wir vom

Tode zum Leben dringen, durch den Christus, das ewige Heil und Leben, in uns wohnt. Kraft und Wesen dieses Glaubens hoffe ich nun kurz und klar dargelegt zu haben.


Kapitel 2 Sektion 14


Jetzt wollen wir die Stücke der oben gegebenen Wesensbestimmung des Glaubens von neuem einzeln durchgehen (vgl. Sekt. 7 Schluß, Seite 347). Wenn wir sie gründlich erörtert haben, so wird, meine ich, kein Zweifel mehr bleiben.

Wir bezeichneten den Glauben als Erkenntnis (cognitio). Darunter verstehen wir nun nicht ein solches Begreifen, wie es bei Gegenständen stattfindet, die unserem menschlichen Wahrnehmungsvermögen (sensus) unterworfen sind. Diese Erkenntnis ist höher, und deshalb muß der Menschengeist über sich selbst hinaus steigen, sich selber hinter sich lassen, um zu ihr zu gelangen. Aber auch wenn er dahin gelangt ist, so ergreift er doch nicht, was er empfindet. Er gewinnt vielmehr eine feste Überzeugung von etwas, das er nicht zu fassen vermag, aber dabei ist diese Überzeugung solcher Art, daß er eben durch ihre Gewißheit mehr versteht, als er durchschauen könnte, wenn er menschliche Dinge mit seinem Begriffsvermögen ergreift. Sehr schön nennt das deshalb Paulus: „daß ihr begreifen möget ..., welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe, auch erkennen die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft“ (Eph. 3,18f.). Er wollte mit diesen Worten zeigen, daß die Wirklichkeit, die unser Verstand (mens) im Glauben erfaßt, in jeder Richtung unendlich ist, und daß diese Erkenntnisweise weit erhabener ist als alles Verstehen (intelligentia). Weil aber der Herr seinen Heiligen das Geheimnis seines Willens, „das verborgen gewesen ist von der Welt her und von den Zeiten her“, offenbart hat (Kol. 1,26; 2,2), so ist es sehr wohl begründet, wenn der Glaube in der Schrift immer wieder als Erkenntnis (agnitio) bezeichnet wird. Johannes nennt ihn gar ein Wissen: nach seinem Zeugnis wissen die Gläubigen, daß sie Gottes Kinder sind (1. Joh. 3,2). In der Tat, es ist wirklich ein Wissen, aber es beruht darauf, daß sie durch die Überzeugung von der göttlichen Wahrheit Gewißheit erlangt haben, nicht jedoch eigentlich auf der Belehrung durch Verstandesgründe. Das zeigen auch die Worte des Paulus: „Dieweil wir im Leibe wallen, so wallen wir ferne von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen“ (2. Kor. 5,6f.). Hier macht er uns klar, wie das, was wir durch den Glauben erfassen, dennoch fern von uns und unserem Schauen verborgen ist. Wir stellen also fest, daß die Erkenntnis des Glaubens in der Gewißheit, nicht aber eigentlich im Begreifen besteht.


Kapitel 2 Sektion 15


Wir nennen ferner die Erkenntnis des Glaubens „fest und gewiß“, um damit die Beständigkeit der Überzeugung kräftiger zum Ausdruck zu bringen. Denn der Glaube begnügt sich nicht mit einer ungewissen, schwankenden Meinung und ebensowenig mit einer dunklen, verworrenen Anschauung, sondern er erfordert eine volle und feste Gewißheit, wie man sie über festgestellte und erprobte Dinge zu haben pflegt. Denn der Unglaube sitzt uns so tief im Herzen und ist dermaßen verwurzelt darin, auch ist unsere Neigung zu ihm so groß, - daß zwar alle mit dem Munde bekennen, Gott sei treu, aber keiner ohne harten Kampf die Überzeugung davon gewinnt. Besonders, wenn\'s zum Treffen kommt, dann schwanken wir alle und machen damit den Schaden offenbar, der im Herzen verborgen lag. Nicht umsonst jedoch betont der Heilige Geist die Autorität des Wortes Gottes mit so herrlichen Lobesworten: er will damit aber jene Krankheit heilen, die ich eben beschrieb, damit Gott in seinen Verheißungen bei uns vollen Glauben finde. „Die Rede des Herrn“, sagt David, „ist lauter wie durchläutert Silber im irdenen Tiegel, bewähret siebenmal“ (Ps. 12,7). Ebenso: „Die Reden des Herrn sind durchläutert; er ist ein Schild allen, die ihm vertrauen“ (Ps. 18,31). Mit fast den gleichen Worten bekräftigt das auch Salomo: „Alle Worte Gottes sind durchläutert ...“ (Spr. 30,5). Aber weil sich der 119. Psalm fast ausschließlich mit diesem Thema beschäftigt, darum wäre es überflüssig, hier noch weitere Stellen wiederzugeben. Sooft uns Gott in dieser Weise sein Wort preist, tadelt er wahrlich nebenher auch unseren Unglauben; denn er will ja nichts anderes erreichen, als den verkehrten Zweifel aus unserem Herzen mit der Wurzel auszureißen.

Sehr viele ergreifen zwar Gottes Barmherzigkeit, aber doch so, daß sie nur ganz wenig Trost aus ihr empfangen. Das kommt daher, daß sie sich zugleich in jämmerliche Angst verstricken lassen und zweifeln, ob Gott ihnen auch in Zukunft barmherzig bleiben werde: sie ziehen eben der Güte Gottes, von der sie so völlig überzeugt zu sein meinen, gar enge Grenzen. Sie halten zwar dafür, daß diese Güte groß und reich ist, daß sie auf viele sich ergossen hat und für alle offensteht und bereitliegt, aber sie meinen doch, es sei ungewiß, ob sie auch zu ihnen dringen würde, oder besser: ob sie auch zu ihr zu dringen vermöchten! Ein solcher Gedanke, der mitten auf dem Wege stehen bleibt, ist eine Halbheit. Deshalb stärkt er auch unseren Geist nur wenig mit zuversichtlicher Ruhe, sondern er wirkt vielmehr beunruhigend durch seinen schwankenden Zweifel. Ganz etwas anderes ist es um die „volle Zuversicht“, die dem Glauben in der Schrift stets beigelegt wird: sie stellt nämlich Gottes Güte, die uns so deutlich vor Augen gehalten wird, außerhalb alles Zweifels. Das kann aber gar nicht geschehen, ohne daß wir (dann auch) die Süßigkeit der Güte Gottes wahrhaft in uns empfinden und erfahren. Deshalb leitet der Apostel aus dem Glauben die Zuversicht (fiducia; Vertrauen) ab und aus ihr wiederum die kühne Freudigkeit (audacia). Denn er sagt: „Durch welchen wir haben Freudigkeit und Zugang in aller Zuversicht durch den Glauben an ihn“ (Eph. 3,12). Mit diesen Worten zeigt er wahrhaftig, daß rechter Glaube nur da ist, wo wir mit ruhigem Herzen vor Gottes Angesicht zu treten wagen. Diese kühne Freudigkeit kommt allein aus der gewissen Zuversicht auf Gottes Wohlwollen und das Heil. Das ist so wahr, daß das Wort „Glaube“ öfters für „Zuversicht“ gesetzt wird.


Kapitel 2 Sektion 16


Vornehmlich geht es beim Glauben darum, daß wir die Verheißungen, die uns der Herr zuteil werden läßt, nicht etwa bloß außer uns für wahr halten, in uns aber gar nicht, sondern daß wir sie vielmehr innerlich ergreifen und uns so zu eigen machen. Daraus erwächst erst jene Zuversicht, die Paulus an anderer Stelle „Friede“ nennt (Röm. 5,1) - wofern nicht jemand lieber diesen Frieden aus der Zuversicht herleiten will. Dieser Friede ist eine Sicherheit, die unser Gewissen im Angesicht des göttlichen Gerichtes ruhig und fröhlich macht. Ohne diese Sicherheit muß unser Gewissen notwendig von ungestümen Schrecken gequält, ja schier zerrissen werden, es sei denn, daß es vielleicht Gott und sich selber vergißt und so für einen Augenblick einschläft. Das gelingt nun aber wirklich nur für einen Augenblick, lange läßt sich dieses elende Vergessen nicht auskosten - sehr schnell wird im Gegenteil der Gedanke an Gottes Gericht wieder hochkommen und es heftig quälen. Alles in allem: wahrhaft gläubig ist nur ein Mensch, der mit fester Gewißheit überzeugt ist, daß Gott sein gnädiger und wohlgesinnter Vater ist, und der von seiner Güte alles erwartet, nur ein Mensch, der auf die Verheißungen des göttlichen Wohlwollens gegen ihn vertraut und deshalb die Seligkeit, frei vom Zweifel, kühnlich erwartet. Solche Menschen beschreibt der Apostel mit den Worten: „So wir anders die Zuversicht und das Rühmen in der Hoffnung bis zum Ende festhalten“ (Hebr. 3,14; nicht Luthertext). Nur da sieht er wahre Hoffnung auf den Herrn, wo man sich zuversichtlich dessen rühmt, ein Erbe des Himmelreichs zu sein. Ein Gläubiger, sage ich, ist nur der, der in der sicheren Gewißheit seines Heils getrost dasteht und des Teufels und Todes fröhlich spottet, wie wir es aus dem herrlichen Ausruf des Paulus lernen: „Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges ... mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist ...“ (Röm. 8,37.38). So sind nach Paulus auch nur dann die Augen unseres Gemüts recht erleuchtet, wenn wir erkennen, welches da sei die Hoffnung des ewigen Erbes, zu dem wir berufen sind (Eph. 1,18). So lehrt er allenthalben, und er will damit zu verstehen geben, daß wir Gottes Güte nicht recht erfassen können, ohne daraus die Frucht großer Gewißheit zu ziehen.


Kapitel 2 Sektion 17


Aber es wird vielleicht jemand sagen: was die Gläubigen erfahren, das ist etwas ganz anderes; oft widerfährt es ihnen, daß sie beim Überdenken der göttlichen Gnade gegen sie von Unruhe angefochten werden, ja, mitunter werden sie von fürchterlichstem Schrecken erschüttert; gewaltig ist die Wucht der Anfechtungen, die ihr Inneres zu verwirren trachten - und das alles scheint sich mit der Gewißheit des Glaubens nicht wohl zu reimen! Wenn wir also wollen, daß die Lehre, wie wir sie oben entwickelten, Bestand haben soll, so müssen wir diesen Knoten auflösen. Wenn wir lehren, daß der Glaube gewiß und sicher sein soll, so verstehen wir darunter ganz gewiß nicht eine Gewißheit, die kein Zweifel mehr berührte, keine Sicherheit, die keine Sorge und Angst mehr bedrängte; nein, wir sagen, daß die Gläubigen immerfort im Kampfe liegen gegen ihren eigenen Mangel an Vertrauen. Wir denken nicht daran, daß ihr Gewissen etwa in friedlicher Ruhe dahinlebte, die keine Erschütterung mehr in Frage stellen könnte. Aber wie vielfältig sie auch geängstigt werden, so bestreiten wir doch andererseits, daß sie je von der gewissen Zuversicht, die sie von der Barmherzigkeit Gottes gewonnen haben, abfallen oder abweichen!

Das herrlichste und denkwürdigste Beispiel des Glaubens läßt uns die Schrift an David sehen - vor allem, wenn wir seinen Lebenslauf im Zusammenhang betrachten. Aber auch er ist gewiß nicht immer ruhigen Gemütes gewesen; das ergibt sich aus so vielen Klagen, von denen wir nur wenige anzuführen brauchen. Er schilt die heftige Unruhe seiner Seele und tut damit nichts anderes, als daß er seinem eigenen Unglauben zürnt: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir; Harre auf Gott ...“ (Ps. 42,6.12; 43,5). Jene innere Erschütterung, in der er sich von Gott verlassen glaubte, war sicherlich ein deutliches Zeichen von Mangel an Vertrauen. Noch ein offeneres Bekenntnis lesen wir im 31. Psalm: „Ich sprach in meinem Zagen: Ich bin vor deinen Augen verstoßen ...“ (Ps. 31,23). Auch an anderer Stelle streitet er in ängstlicher und jammervoller Verworrenheit mit sich selber, ja, er hadert selbst über Gottes Wesen: „Hat Gott vergessen, gnädig zu sein? Will er denn ewig verstoßen?“ (Ps. 77,10; zweite Hälfte nicht Luthertext). Noch härter ist die Fortsetzung: „Aber ich habe gesagt: ich muß nun verderben; denn die Rechte des Höchsten hat sich gewandelt!“ (Ps. 77,11; nicht Luthertext, aber dem Grundtext eher nahekommend). Hier ist er nämlich einem Verzweifelten gleich, und er spricht sich selber dem Verderben zu; er bekennt auch nicht bloß, daß ihn der Zweifel hin und her treibt, sondern daß ihm, als sei er im Kampfe unterlegen, gar nichts mehr übrigbleibt; denn Gott hat ihn ja - so meint er - verlassen, und er hat seine Hand, die ihm sonst so hilfreich war, gewendet, um ihn zu verderben! Es ist nicht ohne Grund, wenn er seine Seele aufruft: „Sei nun wieder zufrieden, meine Seele!“ (Ps. 116,7); denn er hatte es ja erfahren, wie er inmitten ungestümer Wogen hin- und hergerissen wurde.

Und doch geschieht das Wunderbare: mitten in all solchen Erschütterungen hält der Glaube das Herz der Frommen aufrecht; er ist wahrhaftig wie ein Palmbaum: gegen alle Lasten richtet er sich auf und reckt sich in die Höhe! So hat sich auch David, als er ganz erdrückt scheinen konnte, doch nur selber getadelt und nicht aufgehört, sich zu Gott zu erheben. Wer aber über allem Streit mit der eigenen Schwachheit in seinen Ängsten zum Glauben die Zuflucht nimmt, der hat den Sieg schon zum guten Teil erfochten! Das kann man unter anderem etwa aus einem Spruch wie diesem entnehmen: „Harre des Herrn! Sei getrost, er wird dein Herz stärken! Harre des Herrn!“ (Ps. 27,14; nicht Luthertext). Da zeiht er sich selber der Furchtsamkeit, und durch die Wiederholung der Selbstaufmunterung (Harre des Herrn!) bekennt er selbst, daß er zuzeiten mancherlei Drang unterworfen ist! Aber unterdessen ist er unter solchen Gebrechen keineswegs mit sich einverstanden und bemüht sich vor allem angespannt um Besserung.

Vielleicht mag man solch einen Gläubigen einmal in gerechter Prüfung näher mit dem Könige Ahas vergleichen: da ergibt sich wahrlich ein großer Unterschied. Jesaja wurde ausgesandt, um diesem gottlosen, heuchlerischen König eine Arznei zuzutragen; er redete ihn an: „Hüte dich und sei stille und fürchte dich nicht ...“ (Jes. 7,4). Und was tat Ahas? Er blieb genau, wie er vorher beschrieben wird: „da bebte ihm sein Herz, wie die Bäume im Walde beben vom Winde!“ (Jes. 7,2). Er ließ sich eben durch die Verheißung, die er gehört hatte, in keiner Weise von seiner Angst abbringen. Das ist also der eigentliche Lohn, die eigentliche Strafe für den Unglauben: Wer sich nicht im Glauben die Tür auftut, der erzittert dermaßen, daß er sich in der Anfechtung von Gott abwendet! Die Gläubigen dagegen, die von der Last der Anfechtung gebeugt und fast zu Boden gedrückt werden, richten sich doch, wenn auch nicht ohne Mühsal und Schwierigkeit, immer wieder auf! Und weil sie um die eigene Schwachheit wissen, so beten sie mit dem Propheten: „Und nimm ja nicht von meinem Munde das Wort der Wahrheit ...“ (Ps. 119,43). Da lernen wir, daß sie wohl zuweilen verstummen, als ob ihr Glaube zu Boden gestoßen wäre; aber trotzdem lassen sie nicht ab und geben nicht die Flucht, sondern sie treiben ihren Kampf immer weiter, gehen mit ihren Gebeten scharf gegen ihre Trägheit an, damit sie nicht etwa durch Nachsicht gegen sich selbst stumpf werden!


Kapitel 2 Sektion 18


Wollen wir das recht verstehen, so müssen wir noch einmal auf jene Verschiedenheit von Fleisch und Geist zurückkommen, die wir bereits erwähnten; denn in diesem Stück zeigt sie sich ganz besonders klar. Das fromme Herz empfindet also in sich eine Verschiedenheit: einerseits fühlt es sich in der Erkenntnis der göttlichen Güte mit Süßigkeit durchströmt, anderseits sieht es sich durch das Empfinden der eigenen Not bitter geängstigt, - einerseits ruht es sicher auf der Verheißung, die ihm das Evangelium zuteil werden läßt, anderseits erzittert es über dem Zeugnis der eigenen Ungerechtigkeit, - einerseits freut es sich hoch, weil es das Leben ergreifen darf, und anderseits erschrickt es vor dem Tod! Diese Verschiedenheit kommt daher, daß der Glaube unvollkommen ist; denn im Lauf dieses Lebens ist es um uns nie so gut bestellt, daß wir von der Krankheit unseres Mangels an Vertrauen gänzlich geheilt und völlig vom Glauben erfüllt und in Besitz genommen sind. All dieser Widerstreit entsteht so, daß sich der Mangel an Vertrauen, der in den Überbleibseln des Fleisches hängenbleibt, zum Kampf gegen den Glauben erhebt, der in unserem Inneren Wurzel geschlagen hat.

Wenn nun aber in einem gläubigen Gemüt die Gewißheit immer mit dem Zweifel untermischt ist - müssen wir dann nicht stets dahin kommen, daß der Glaube eben nicht sicher und klar ist, sondern bloß in einer dunklen, verworrenen Erkenntnis des göttlichen Willens gegen uns besteht; Keineswegs! Denn wenn wir auch von den verschiedensten Gedanken umgetrieben werden, so werden wir deshalb doch nicht gleich vom Glauben losgerissen; und wenn uns allenthalben der Mangel an Vertrauen mit seinem Hin und Her quält, so werden wir deshalb doch nicht von seinem Abgrund verschlungen. Werden wir auch erschüttert, so fallen wir trotzdem nicht aus unserem Stand! Solcher Kampf geht doch immer so aus, daß der Glaube jene Bedrängnisse, die ihn ringsum belagern und in Gefahr zu bringen scheinen, schließlich siegreich überwindet.


Kapitel 2 Sektion 19


Die Hauptsache ist folgendes. Sobald einmal auch nur das mindeste Tröpflein Glaube in unser Herz gesprengt ist, da fangen wir auch schon an, Gottes Angesicht als sanftmütig und freundlich und uns gnädig anzuschauen, freilich vielleicht weitab, in großer Ferne, aber doch mit solch sicherem Blick, daß wir wissen: wir sind keineswegs einer Täuschung verfallen! Schreiten wir dann fort - und wir müssen ja stets fortschreiten! -, so kommen wir, gewissermaßen im Weitergehen, mehr und mehr zu einem näheren und deshalb auch gewisseren Schauen seines Angesichts: so wird es uns gerade im Vorwärtsschreiten immer vertrauter. Ist also unser Sinn durch die Erkenntnis Gottes erleuchtet, so sehen wir ihn im Anfang noch von allerlei Unwissenheit umhüllt, die langsam entweicht. Dadurch jedoch, daß er vieles nicht weiß und auch das, was er sieht, noch dunkel erschaut, wird er doch nicht gehindert, die klare Erkenntnis des göttlichen Willens ihm gegenüber zu genießen - und das ist doch das Erste und Wichtigste im Glauben! Wenn einer gefangen liegt und in seinem Kerker die Strahlen der Sonne bloß durch ein enges Fenster schief und gleichsam halbiert schimmern sieht, so ist es ihm zwar verwehrt, die Sonne frei zu schauen - und doch ist es ein wirklicher Glanz, den er mit seinen Augen erfaßt und sich zunutze macht! Ganz ebenso sind auch wir von den Fesseln des irdischen Leibes umschlossen, und ringsum liegen wir zwar in Dunkel und Schatten; aber wenn uns auch nur ein wenig vom Lichte Gottes bestrahlt und uns seine Barmherzigkeit offenbart, so empfangen wir doch genug Erleuchtung, um zu fester Gewißheit zu kommen.


Kapitel 2 Sektion 20


Beides (nämlich die Kraft und die Schwachheit des Glaubens!) lehrt der Apostel an verschiedenen Stellen sehr fein. Er erklärt: „Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk, ... wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort ...“ (1. Kor. 13,9.12); da zeigt er uns, was für ein geringes Stücklein jener göttlichen Weisheit uns in diesem gegenwärtigen Leben wirklich zuteil wird. Er gibt uns nun zwar in diesen Worten nicht unumwunden zu verstehen, daß unser Glaube unvollkommen ist, solange wir unter der Last des Fleisches seufzen, sondern zeigt uns, daß unsere Unvollkommenheit der Grund ist, weshalb wir uns immer neu mit Lernen üben müssen; aber er gibt uns doch zu erkennen, daß wir mit unserem Maß und in unserer Enge nicht begreifen können, was doch unermeßlich ist. Und das verkündigt Paulus von der ganzen Kirche: uns allen ist unsere Unkundigkeit ein Anstoß und ein Hindernis, daß wir nicht so nahe herzutreten können, wie es zu wünschen wäre.

Aber wie uns Gott auch durch das geringste Tröpflein Glaube einen sicheren und ganz untrüglichen Geschmack von ihm zu spüren gibt, das bezeugt Paulus an einer anderen Stelle, indem er betont: durch das Evangelium schauen wir Gottes Herrlichkeit mit aufgedecktem Angesicht, ohne jede Decke, mit solcher Kraft, daß wir „verklärt werden in dasselbe Bild!“ (2. Kor. 3,18). Umgibt uns soviel Unwissenheit, so ist auch notwendig sehr viel Zweifel und Zagen dabei, vor allem, weil unser Herz nach seinem natürlichen Trieb zum Unglauben geneigt ist. Dann kommen die Anfechtungen hinzu und fallen uns, unendlich an Zahl, vielgestaltig in ihrer Art, immer wieder mit großem Ungestüm an. Vor allem wird unser Gewissen selber von der auf ihm liegenden Last der Sünden niedergedrückt, und bald klagt und seufzt es bei sich selbst, bald beschuldigt es sich, bald murrt es im Stillen, bald wütet es öffentlich! Wenn uns nun Widerwärtigkeit den Zorn Gottes anzeigt, wenn unser Gewissen Beweis und Ursache dieses Zorns bei sich selber findet, so nimmt der Unglaube daraus immer Geschosse und Sturmwerkzeuge, um unseren Glauben zu Boden zu werfen; all solche Anläufe aber haben das eine Ziel, daß wir meinen, Gott sei uns feind, er sei zornig gegen uns, so daß wir also von ihm keinerlei Hilfe mehr erhoffen und uns vor ihm fürchten sollten wie vor unserem Todfeind!


Kapitel 2 Sektion 21


Um solchen Anläufen widerstehen zu können, wappnet und schützt sich der Glaube mit dem Wort des Herrn. Und wenn dann solche Anfechtung ihn bestürmt, die ihm vormachen will, Gott sei ein Feind, denn er sei erzürnt, - so hält der Glaube dem vor, daß er barmherzig ist, auch wo er uns züchtigt, daß die Züchtigung aus der Liebe und nicht aus dem Zorn herfließt, wenn ihn der Gedanke schlagen will, Gott sei der Rächer für unsere Ungerechtigkeit, so hält er dem entgegen, daß für alle vergehen Vergebung bereit ist, sooft ein Sünder sich zu Gottes Güte flüchtet. Mag also ein frommer Sinn noch so wunderlich umgetrieben und geplagt werden, so erhebt er sich doch schließlich über alle Schwierigkeiten und läßt sich die Zuversicht auf Gottes Erbarmen nicht aus der Hand schlagen. Nein, alle Kämpfe, die ihn plagen und ermüden, müssen doch vielmehr schließlich in zuversichtliche Gewißheit auslaufen. Der Beweis dafür ist die Tatsache, daß die Heiligen gerade, wenn sie meinen, von Gottes Rache am heftigsten bedrängt zu werden, bei ihm ihre Klagen anbringen, und wenn es ihnen so vorkommt, als wolle er sie durchaus nicht erhören, trotzdem ihn anrufen! Was sollte es denn helfen, vor einem zu klagen, von dem sie gar keinen Trost erwarten könnten? Sie würden sich gewiß nie in den Sinn kommen lassen, ihn anzurufen, wenn sie nicht glaubten, daß irgendeine Hilfe doch bei ihm bereit läge! So klagten die Jünger, deren Kleinglauben Christus tadelt, zwar: „Wir verderben“ - aber sie flehten ihn doch um Hilfe an! (Matth. 8,25). Wenn sie der Herr daraufhin um ihres Kleinglaubens willen schilt, so verstößt er sie damit doch nicht aus der Schar der Seinen und rechnet sie auch nicht den Ungläubigen zu, sondern er treibt sie an, dieses Gebrechen abzutun! Wir müssen also aufs neue behaupten, was wir schon oben aussprachen: die Wurzel des Glaubens wird nie aus einem frommen Herzen ausgerissen, sondern sie bleibt ganz in der Tiefe doch fest hängen, wie sehr sie auch abgeschlagen zu sein und sich hin und her zu neigen scheint; das Licht des Glaubens wird nie dermaßen verdunkelt oder ausgelöscht, daß es nicht wenigstens unter der Asche noch glimmte. Das ist ein offenbarer Beweis dafür, daß das Wort, welches ja ein unvergänglicher Same ist, eine Frucht seinesgleichen hervorbringt, deren Sproß niemals gänzlich verdorrt und verdirbt. Gewiß ist es für die Heiligen ein schrecklicher Anlaß zur Verzweiflung, wenn sie nach dem gegenwärtigen Augenschein Gottes Hand zu ihrem Verderben ausgereckt fühlen; aber dennoch geht Hiobs Hoffnung nach seiner Bekundung so weit, daß er selbst dann nicht aufhören würde auf den Herrn zu hoffen, wenn er ihn - töten würde! (Hiob 13,15; nicht Luthertext). Es ist wirklich so: der Unglaube regiert nicht drinnen, im Herzen der Frommen, sondern er berennt sie von außen; er kann gegen sie anstürmen, aber er verwundet sie mit seinen Pfeilen nicht zu Tode; verletzt er sie, so ist die Wunde wenigstens nicht unheilbar! Denn der Glaube ist, wie Paulus lehrt, für uns ein Schild (Eph. 6,16): halten wir ihn den feindlichen Geschossen entgegen, so fängt er ihre Gewalt auf, so daß sie gänzlich abgeschlagen oder wenigstens so sehr gebrochen werden, daß sie nicht ans Leben gehen. Wird also der Glaube erschüttert, so ist das, wie wenn ein sonst standfester Krieger unter der Wucht eines heftigen Schlages die feste Haltung verliert und ein wenig weichen muß; wird aber solcher Glaube selbst verwundet, so ist es, wie wenn ein Schild unter der Wucht (eines Geschosses) einen Bruch abbekommt, aber doch nicht durchstoßen wird! Der fromme Sinn reckt sich nämlich immer soweit empor, daß er mit David sagen kann: „Und ob ich schon wanderte im Schatten des Todes, so fürchte ich mich doch nicht, denn du bist bei mir ...!“ (Ps. 23,4; nicht Luthertext). Es ist gewiß entsetzlich, mitten in der Finsternis des Todes zu wandern, und es kann nicht anders sein, als daß die Gläubigen, so gefestigt sie auch sein mögen, davor erschrecken. Aber die Oberhand behält doch der Gedanke, daß sie Gott gegenwärtig bei sich haben und er für ihr Heil sorgt; und so wird die Furcht sogleich von der festen Gewißheit besiegt. Augustin sagt: „Mag der Teufel an Geschütz gegen uns auffahren, was er auch will, er wird doch hinausgeworfen, weil er das Herz nicht in Besitz hat, in dem der Glaube wohnt!“ Urteilt man also nach dem Ausgang, so gehen die Gläubigen aus jedem Kampfe unversehrt hervor, so daß sie bald darauf wieder bereit sind, mit neuer Kraft den Kampfplatz zu betreten; ja, es erfüllt sich auch, was Johannes in seinem ersten Briefe sagt: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat!“ (1. Joh. 5,4). Der Glaube soll nämlich nicht nur in einem einzigen Treffen oder nur in wenigen oder nur gegen einen einzigen Angriff Sieger bleiben, sondern gegen die ganze Welt die Oberhand behalten, mag er auch tausendfach angegriffen werden!


Kapitel 2 Sektion 22


Es gibt noch eine andere Art von Furcht und Erzittern, die freilich der Gewißheit des Glaubens keinen Abbruch tut, sie vielmehr stärker und fester macht. Wenn (z.B.) die Gläubigen die Beispiele göttlicher Vergeltung an den Gottlosen als Winke Gottes an sie selber betrachten, so werden sie sich sorgsam hüten, Gottes Zorn nicht mit den gleichen Lastern über sich zu bringen. Oder sie werden, wenn sie ihr eigenes Elend bei sich betrachten, immer mehr lernen, ganz an dem Herrn zu hängen, ohne den sie sich flüchtiger und eitler wissen, als irgendein Windhauch. So hält der Apostel den Korinthern die Strafen vor, mit denen einst der Herr dem Volke Israel vergalt, und jagt ihnen damit Schrecken ein, damit sie sich nicht in die gleichen Bosheiten verstricken (1. Kor. 10,11). Damit erschüttert er nun nicht etwa ihre Glaubenszuversicht, sondern treibt allein die Trägheit ihres Fleisches aus, die ja den Glauben eher zu zerstören, als zu festigen pflegt! Wenn er den Fall der Juden zum Anlaß nimmt, zu mahnen: „Wer sich läßt dünken, daß er stehe, der mag wohl zusehen, daß er nicht falle!“ (1. Kor. 10,12; Röm. 11,20), so gibt er uns damit nicht auf, zu wanken und zu schwanken, als ob wir unserer Standfestigkeit zu wenig sicher wären, sondern er nimmt bloß die Hoffart und das vermessene Vertrauen auf die eigene Kraft fort, damit sich nicht die Heiden, die nach der Verstoßung der Juden an ihrer Statt angenommen sind, allzu übermütig rühmen! Allerdings redet er an dieser Stelle nicht bloß die Gläubigen an, sondern begreift in seine Rede auch die Heuchler ein, die sich bloß eines äußeren Scheins rühmten. Auch gilt ja seine Ermahnung nicht einzelnen Menschen, sondern er vergleicht die Juden mit den Heiden; er zeigt zunächst, wie die Juden in ihrer Verwerfung die gerechte Strafe für ihren Unglauben und ihre Undankbarkeit empfangen, und dann ermahnt er die Heiden, sie sollten nicht in Hochmut und Aufgeblasenheit die Gnade der Kindschaft verlieren, die ihnen gerade verliehen war. Wie aber in jener Verstoßung der Juden einige von ihnen übriggeblieben waren, die aus dem Bunde der Kindschaft keineswegs herausgefallen waren, so konnten ja auch auf der anderen Seite unter den Heiden Leute auftreten, die sich, ohne wahren Glauben, allein aus törichtem Selbstvertrauen des Fleisches aufblähten und so zu ihrem Schaden Gottes Güte mißbrauchten. Aber auch wenn man diese Stelle einzig an die Auserwählten und Gläubigen gerichtet denkt, so ergibt sich aus ihr doch nichts Ungereimtes. Denn es ist etwas anderes, ob der Apostel die Vermessenheit, die aus den Überbleibseln des Fleisches heraus auch den Gläubigen zuweilen noch zu schaffen macht, zurückdrängt, damit sie sich nicht in sinnlosem Selbstvertrauen gehen läßt, oder ob er das Gewissen mit Furcht erschüttert, so daß es nicht mit voller Sicherheit in Gottes Barmherzigkeit zu ruhen vermag!


Kapitel 2 Sektion 23


Wenn Paulus dann weiterhin lehrt: „Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern“ (Phil. 2,12), so fordert er damit nichts anderes, als daß wir uns daran gewöhnen, uns selbst tief zu demütigen und allein auf die Kraft des Herrn zu schauen. Denn nichts kann uns so sehr dazu treiben, das Vertrauen und die Gewißheit unseres Herzens auf den Herrn zu werfen, als das Mißtrauen gegen uns selber und die Angst, die aus dem Bewußtsein unserer Not in uns aufkommt. In diesem Sinne müssen wir auch das Wort des Propheten verstehen: „Ich will aber in dein Haus gehen auf deine große Güte und anbeten ... in deiner Furcht“ (Ps. 5,8). Da verbindet der Prophet sehr fein die kühne Freudigkeit des Glaubens, die sich auf Gottes Erbarmen stützt, mit der scheuen Furcht (religioso timore), die uns jedesmal notwendig ankommt, wenn wir vor das Angesicht der göttlichen Majestät treten und an ihrem Glanze erkennen, wie groß unsere Unreinigkeit ist. So sagt auch Salomo mit Recht: „Wohl dem, der sich allewege fürchtet; wer aber sein Herz verhärtet, wird ins Unglück fallen“ (Spr. 28,14). Er meint hier aber die Furcht, die uns vorsichtiger macht, nicht eine solche, die uns durch ihren Angriff niederschlägt. Hier ist es nämlich so: der in sich selbst verwirrte Geist sammelt sich in Gott; in ihm wird er aufgerichtet, während er in sich selber daniederliegt; er ist ohne Vertrauen zu sich selber, aber im Vertrauen zu ihm atmet er wieder auf! So geht es durchaus zusammen, daß die Gläubigen Furcht haben und doch zugleich den sichersten Trost erlangen, je nachdem sie ihren Blick auf ihr eigenes eitles Wesen richten oder alles Sinnen ihres Herzens auf Gottes Wahrheit lenken. Nun wird vielleicht jemand fragen: wie sollen denn in dem gleichen Herzen Furcht und Glaube ihre Wohnstatt haben? Ich antworte: Genau so, wie auf der anderen Seite doch auch faule Sicherheit und Angst miteinander darin wohnen! Die Gottlosen möchten sich nämlich gern gänzlich verhärten, damit sie keine Furcht Gottes mehr quälte; aber Gottes Gericht drängt sie doch, so daß sie nicht erreichen, was sie erstreben. So steht nichts dagegen, daß Gott die Seinen in der Demut übt, damit sie sich in tapferem Kampfe im Zaum der Bescheidenheit halten. Dies ist nun, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, die Absicht des Apostels gewesen: für „Furcht und Zittern“ gibt er als Grund das Wohlgefallen Gottes an, der den Seinen verleiht, daß sie recht wollen und fleißig vollbringen (Phil. 2,12.13). In diesem Sinne muß man auch das Wort des Propheten verstehen: „Die Kinder Israel ... werden mit Zittern zu dem Herrn und seiner Gnade kommen ...“ (Hos. 3,5); es ist ja nicht allein die Frömmigkeit, die die Ehrfurcht vor Gott erzeugt, sondern die Köstlichkeit und Süße der Gnade selbst erfüllt den Menschen, der in sich selbst gedemütigt ist, mit Furcht und zugleich mit Bewunderung, so daß er Gott anhängt und sich demütig seiner Macht unterwirft.


Kapitel 2 Sektion 24


Aber damit will ich keineswegs der verderbenbringenden Weltweisheit Raum geben, wie sie heutzutage einige Halbpapisten in ihren Winkeln zurechtzuschmieden anfangen. Weil sie nämlich jenen groben Zweifel, wie ihn die (papistischen) Schulen überliefert haben, nicht mehr verteidigen können, so nehmen sie ihre Zuflucht zu einem neuen Hirngespinst: sie sagen, die Zuversicht sei stets mit Unglauben untermischt! Schauen wir auf Christus, so finden wir auch nach ihrem Zugeständnis bei ihm den vollen Anlaß zu fröhlicher Hoffnung; aber weil wir ja von uns aus allezeit all jener Güter unwürdig sind, die uns in Christus dargeboten werden, so meinen sie, wir müßten im Blick auf unsere Unwürdigkeit immerzu schwanken und zaudern. Sie stellen also alles in allem das Gewissen zwischen Hoffnung und Furcht; so daß sich diese beiden je und je in uns ablösten; Furcht aber und Hoffnung stellen sie in der Weise gegeneinander, daß mit dem Aufkommen der Hoffnung die Furcht niedergekämpft und mit dem Anfangen der Furcht die Hoffnung zerbrochen wird. So versucht also der Satan, da er nun sieht, daß die offenen Sturmwerkzeuge, mit denen er früher die Gewißheit des Glaubens zunichte zu machen gewohnt war, nichts mehr ausrichten, diese Gewißheit mit unterirdischen Minen zu Fall zu bringen. Denn was soll das für eine Zuversicht sein, die sogleich der Verzweiflung weicht? Man sagt: „Wenn du auf Christus schaust, so ist dir das Heil gewiß, wenn du dich aber wieder zu dir selber wendest, so ist dir die Verdammnis sicher! So müssen Vertrauenslosigkeit und fröhliche Hoffnung abwechselnd in deinem Geiste die Herrschaft führen!“ Als ob wir uns Christus gleichsam als einen denken sollten, der in weiter Ferne stünde! Als ob wir ihn nicht vielmehr als den ansehen sollten, der in uns wohnt! Wenn wir von ihm das Heil erwarten, so geschieht das doch nicht deshalb, weil er uns etwa in der Ferne erschiene, sondern weil er uns in seinen Leib eingefügt und damit nicht bloß aller seiner Güter und Gaben, sondern seiner selbst teilhaftig gemacht hat! Ich will deshalb die Beweisführung jener Leute lieber in anderer Richtung wenden: „Gewiß, wenn du dich selber anschaust, so ist dir die Verdammnis sicher. Aber Christus hat sich dir mit der ganzen Fülle seiner Güter derart zu eigen gegeben, daß alles, was sein ist, nun dein sein soll, daß du sein Glied und auf diese Weise mit ihm eins wirst! Seine Gerechtigkeit macht deine Sünden zunichte, sein Heil tut deine Verdammnis ab, mit seiner Würdigkeit tritt er selber bei Gott für dich ein, so daß deine Unwürdigkeit nicht vor Gottes Angesicht kommt!“ Es ist doch wirklich so: es geht nicht im entferntesten an, Christus von uns oder uns von ihm zu trennen, sondern wir müssen mit beiden Händen die Gemeinschaft festhalten, in der er sich mit uns geeint hat. So lehrt es uns der Apostel: „Der Leib ist zwar tot um der Sünde willen, der Geist Christi aber, der in euch wohnt, der ist Leben um der Gerechtigkeit willen“ (Röm. 8,10, etwas erweitert). Hätte er so töricht gedacht, wie jene Halbpapisten, so hätte er sagen müssen: Christus hat zwar in sich selbst das Leben, aber ihr, ihr seid Sünder und bleibt deshalb tot und der Verdammnis unterworfen! Aber er redet doch ganz anders. Denn er zeigt uns, wie die Verdammnis, die wir von uns aus verdienen, durch das Heil, das uns Christus gebracht, verschlungen ist; und um das zu bekräftigen, bedient er sich des gleichen Grundes, wie ich ihn schon anführte: Christus ist nicht außer uns, sondern wohnt in uns, er bindet uns nicht nur durch ein unzerreißbares Band der Gemeinschaft an sich, sondern wächst durch eine wundersame Gemeinschaft von Tag zu Tag mehr mit uns zu einem Leibe zusammen, bis daß er ganz mit uns eins wird. Dabei leugne ich, wie ich bereits sagte, trotzdem nicht, daß unser Glaube zuweilen gewissermaßen eine Unterbrechung erleidet; je nachdem er in seiner Schwachheit unter den heftigen Angriffen, die ihn bedrängen, hin und her geworfen wird. So wird sein Licht in der dichten Finsternis der Anfechtungen erstickt. Aber was auch geschehen mag, er läßt doch nicht ab, Gott mit Fleiß zu suchen!


Kapitel 2 Sektion 25


Nicht anders lehrt es Bernhard; er spricht von dieser Frage ausdrücklich in seiner fünften Predigt von der Einweihung des Tempels. „Wenn ich durch Gottes Wohltat zuweilen über meine Seele nachdenke, so kommt es mir vor, als ob ich da gewissermaßen zwei entgegengesetzte Dinge vorfände. Schaue ich sie selber an, wie sie in sich selber und aus sich selber beschaffen ist, so kann ich nichts Richtigeres von ihr aussagen, als daß sie im Grund zunichte geworden ist. Wozu soll ich nun all ihr Elend einzeln aufzählen, wie sie mit Sünden beladen, mit Finsternis bedeckt, in ihre Lüste verstrickt ist, wie sie geil ist in ihren Begierden, den Leidenschaften unterworfen, von törichten Einbildungen erfüllt, immerzu zum Bösen geneigt, zu allen Lastern bereit, wie sie schließlich voll Schande und Wirrnis ist? Und wenn doch selbst unsere Gerechtigkeit, im Lichte der Wahrheit betrachtet, \'ist wie ein unflätig Kleid\' (Jes. 64,5), wie wird dann erst unsere Ungerechtigkeit beurteilt werden müssen! \'Wenn nun das Licht, das in uns ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!\' (Matth. 6,23; leicht verändert). Was soll ich sagen? Ohne Zweifel ist der Mensch wie die Eitelkeit geworden, er ist zunichte geworden, er ist nichts! Wie soll aber der gar nichts sein, den Gott groß macht? Wie soll der nichts sein, dem Gottes Herz sich zugewandt? Laßt uns aufatmen, ihr Brüder! Wir sind gewiß in unserem Herzen nichts - aber vielleicht mag im Herzen Gottes etwas über uns verborgen sein! Du Vater der Barmherzigkeit, du Vater der Elenden, wie wendest du dein Herz zu uns? Denn dein Herz ist, wo dein Schatz ist! Wie sollen wir aber dein Schatz sein, wenn wir nichts sind? Alle Heiden sind vor dir, gleich als wenn sie nicht da wären, sie sind für nichts geachtet (vgl. Jes. 40,17). Aber eben vor dir und nicht in dir, vor dem Gericht deiner Wahrheit, aber nicht in der Aufwallung deiner Güte! Denn du rufst ja dem, das nicht ist, als ob es sei! (Röm. 4,17; nicht Luthertext). Es ist nicht, denn du rufst nur das, was nicht ist! Aber es ist doch, weil du es rufst! Denn die Heiden sind, wenn es auf sie selber ankommt, tatsächlich nicht, aber bei dir sind sie - nach dem Wort des Apostels: „Nicht aus dem Verdienst der Werke, sondern aus Gnade des Berufers!“ (Röm. 9,12). (Soweit zunächst Bernhard.) Er erklärt dann, daß diese Verbindung der verschiedenen Betrachtungsweisen wunderbar ist. Sie sind ja untereinander verbunden, und darum heben sie sich gewißlich nicht auf. Am Schluß erklärt er das dann noch deutlicher: „Wenn wir in beiden Betrachtungsweisen gründlich ins Auge fassen, was wir sind, so ergibt sich nach der einen, wie gar nichts, nach der anderen, wie groß gemacht wir sind, und so meine ich, unser Ruhm scheint gedämpft - aber vielleicht ist er auch noch vergrößert; er ist nämlich nun grundfest, damit wir uns nicht in uns selber rühmen, sondern in dem Herrn! Wenn wir nämlich dies eine bedenken, daß er uns mit dem Entschluß, uns selig zu machen, auch allsogleich selig machen wird, so können wir schon darüber aufatmen! Aber wir wollen noch auf eine höhere Warte steigen, wollen die Stadt Gottes suchen, wollen sein Haus, seinen Tempel, wollen die Braut suchen! Dabei habe ich freilich nicht vergessen, sondern mit Furcht und Ehrerbietung spreche ich es aus: wir sind etwas, sage ich - aber in Gottes Herzen! Wir sind etwas - aber dadurch, daß er uns dessen würdigt, und nicht dadurch, daß wir würdig sind!“


Kapitel 2 Sektion 26


Weiter: die Furcht des Herrn, die immer wieder als allen Gläubigen eigen bezeugt wird, die als „der Weisheit Anfang“, ja als die Weisheit selber gilt (Ps. 111,10; Spr. 1,7; 15,31; Hiob 28,28), ist zwar stets eine und dieselbe, aber sie entspringt doch einem doppelten Empfinden. Gott beansprucht nämlich die Ehrfurcht, die ihm als Vater gebührt, und die, welche ihm als dem Herrn zukommt. Wer ihn recht verehren will, der wird sich ihm als ein folgsamer Sohn und als ein gehorsamer Knecht zu erweisen trachten. Den Gehorsam, der ihm als dem Vater zukommt, nennt der Herr durch den Mund des Propheten „Ehre“, den Gehorsam, der ihm als dem Herrn erwiesen wird, nennt er „Furcht“. „Ein Sohn soll seinen Vater ehren und ein Knecht seinen Herrn. Bin ich nun Vater, wo ist meine Ehre? Bin ich Herr, wo fürchtet man mich?“ (Mal. 1,6). Hier unterscheidet er „Ehre“ und „Furcht“ - aber zugleich bringt er beide zusammen, indem er am Anfang beide unter der Forderung zusammenfaßt, ihn zu „ehren“. Die Furcht des Herrn soll also für uns Ehrerbietung sein, die aus solcher Ehre und Furcht zusammengefügt ist. Es ist auch nicht verwunderlich, wenn ein und dasselbe Herz beide Regungen in sich empfängt. Denn wer bei sich selbst erwägt, was für ein Vater Gott gegen uns ist, der hat ausreichend Grund, eine Kränkung dieses Gottes schlimmer zu verabscheuen als den Tod, auch wenn es keine Hölle gäbe! Aber der Leichtsinn unseres Fleisches, der sich so gern der Sünde hingibt, ist so groß, daß wir, um ihn immerzu am Zügel zu halten, auch noch den anderen Gedanken gründlich festhalten müssen: dem Herrn, unter dessen Gewalt wir stehen, ist alle Ungerechtigkeit ein Greuel, und wer durch ein Lasterleben seinen Zorn über sich hervorruft, der wird seiner Vergeltung nicht entgehen!


Kapitel 2 Sektion 27


Nun sagt freilich Johannes: „Furcht ist nicht in der Liebe; denn die völlige Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein“ (1. Joh. 4,18). Aber das steht zu dem eben Gesagten nicht in Widerspruch. Er redet nämlich von dem Schrecken des Unglaubens, der etwas ganz anderes ist als die Furcht der Gläubigen. Denn die Gottlosen fürchten Gott nicht in dem Sinne, daß sie sich auch dann scheuten, ihn zu beleidigen, wenn sie es ungestraft tun könnten; nein, sie erschrecken furchtbar, wenn sie von seinem Zorn hören, weil sie wissen, daß Gott mit der Macht gerüstet ist, Vergeltung zu üben. Und so fürchten sie sich vor seinem Zorn, weil sie meinen, daß er ihnen immer droht, weil sie in jedem Augenblick erwarten, er könnte ihnen aufs Haupt fallen. Die Gläubigen dagegen fürchten, wie gesagt, die Kränkung Gottes mehr als seine Strafe, sie lassen sich auch nicht von der Furcht vor der Strafe in Verwirrung bringen, als ob diese ihnen immerzu über dem Nacken schwebte, sondern sie lassen sich vorsichtiger machen, sich diese Strafe nicht zuzuziehen. So meint es der Apostel, wenn er zu den Gläubigen spricht: „Lasset euch niemand verführen ...; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Unglaubens“ (Eph. 5,6; Kol. 3,6). Er droht nicht, der Zorn Gottes werde über die Gläubigen selber kommen; aber er fordert sie auf zu erwägen, wie um der Laster willen, die er aufgezählt, der Zorn des Herrn der Ungläubigen wartet, - damit sie (die Gläubigen) ihn auch selber nicht erfahren wollen! Freilich kommt es selten vor, daß sich die Verworfenen schon allein durch einfache Drohungen aufwecken lassen; nein, sie sind in ihrer Verhärtung dermaßen träge und stumpfsinnig geworden, daß sie sich, wenn Gott mit seinen Worten vom Himmel her sein Unwetter ergehen läßt, jedesmal zur Halsstarrigkeit verstocken; aber wenn seine Hand sie niederschlägt, dann werden sie, mögen sie wollen oder nicht, gezwungen, ihn zu fürchten. Diese Furcht nennt man allgemein sklavische Furcht, und man stellt sie der edelgeborenen, freiwilligen Furcht gegenüber, wie sie die Kinder haben sollen. Einige fügen da scharfsinnig noch eine mittlere Art von Furcht ein, weil jene sklavische, gezwungene Regung zuweilen auch einen Menschen dazu bringt, freiwillig zur Furcht Gottes zu gelangen.


Kapitel 2 Sektion 28


Wir sprachen davon, daß der Glaube auf das göttliche Wohlwollen schaut. Wir verstehen das nun so, daß er in diesem Wohlwollen Gottes den Besitz des Heils und des ewigen Lebens ergreift. Ist Gott uns gnädig, so kann uns eben nichts fehlen, und deshalb genügt es uns vollauf zur Gewißheit des Heils, wenn er uns seiner Liebe versichert. „Laß leuchten dein Antlitz“, sagt der Prophet, „so genesen wir!“ (Ps. 80,4). Die Hauptsumme unseres Heils besteht daher nach der Schrift darin, daß alle Feindschaft abgetan ist und er uns in Gnaden angenommen hat (Eph. 2,14). Damit gibt uns die Schrift zu verstehen, daß, wenn Gott mit uns versöhnt ist, keine Gefahr mehr bleibt, sondern alles uns zum Besten dienen muß. Deshalb hat der Glaube, wenn er sich Gottes Liebe zu eigen gemacht hat, die Verheißung des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und den vollkommen sicheren Besitz aller Güter, freilich nur so, wie man solchen aus dem Worte entnehmen kann. Denn der Glaube kann sich nicht etwa eine lange Ausdehnung dieses irdischen Lebens, Ehre und Macht in diesem Leben mit Gewißheit versprechen; dergleichen hat uns der Herr nämlich nicht zusagen wollen. Er begnügt sich vielmehr mit der Gewißheit, daß uns zwar vieles mangeln mag, was uns in diesem Leben helfen könnte, daß uns aber Gott nie fehlen wird! In besonderer Weise aber ruht die Gewißheit des Glaubens auf der Erwartung des kommenden Lebens, die sich ohne jeden Zweifel aus Gottes Wort ergibt! Wieviel Elend und Not auch auf Erden des Menschen warten mag, den Gott in seiner Liebe umfangen hat - sie vermögen doch nicht zu hindern, daß Gottes Wohlwollen volle Glückseligkeit bedeutet. Wollen wir also die Hauptsumme des Glücks beschreiben, so nennen wir Gottes Gnade; denn aus diesem Brunnquell fließt uns jedwedes Gut zu! Man kann es auch in der Schrift immer wieder beobachten, wie wir jedesmal an des Herrn Liebe erinnert werden, wenn vom ewigen Heil, ja auch von irgendeinem Gut die Rede ist, das uns zukommen soll. Deshalb singt David, die göttliche Güte sei, wenn sie ein Mensch in frommem Herzen erfährt, süßer und begehrenswerter als das Leben! (Ps. 63,4). Kurzum, würde uns auch alles nach unseren Wünschen zufließen, so wäre diese Glückseligkeit doch verflucht und jämmerlich, wenn wir unterdessen nicht wüßten, ob Gott uns liebt oder haßt. Leuchtet uns aber Gottes väterliches Antlitz, so wird uns auch das Elend zum Glück, denn es verwandelt sich in eine Hilfe zum Heil! Darum kann Paulus alles Unglück zusammenhäufen und sich doch rühmen, daß nichts von alledem „mag uns scheiden von der Liebe Gottes ...“ (Röm. 8,39); und in seinen Gebeten beginnt er immer mit der Gnade Gottes, aus der ja alles Wohlergehen hervorquillt. So stellt auch David allem Schrecken, der uns in Verwirrung bringen mag, allein Gottes Gnade entgegen: „Und ob ich schon wanderte im Schatten des Todes, so fürchte ich doch kein Unglück; denn du bist bei mir“ (Ps. 23,4; nicht Luthertext). Wir erfahren es ja auch, wie unser Herz immerzu hin und her schwankt, wenn es sich nicht an der Gnade Gottes genügen läßt, in ihr den Frieden sucht und sich allezeit fest einprägt, was der Psalmist sagt: „Wohl dem Volk, des Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!“ (Ps. 33,12).


Kapitel 2 Sektion 29


Als das Fundament des Glaubens bezeichnete ich oben die Verheißung Gottes, die aus Gnaden ergangen ist; denn auf ihr ruht im eigentlichen Sinne der Glaube, Er halt gewiß Gott in allem, was er tut, für wahrhaftig, ob er fordert oder verbietet, ob er verheißt oder droht; er nimmt auch gehorsam seine Befehle an, hält seine Verbote, beachtet seine Drohungen; aber seinen Ausgangspunkt nimmt er doch im eigentlichen Sinne bei der Verheißung; sie ist für ihn Anfang und Ende. Denn er sucht das Leben in Gott, und das besteht nicht in Geboten und Strafandrohungen, sondern es findet sich in der Verheißung der Barmherzigkeit, die aus Gnaden erfolgt. Eine bedingte Verheißung nämlich, die uns auf unsere Werke verweist, verspricht uns das Leben nur für den Fall, daß wir es in uns selber finden. Wollen wir also nicht, daß der Glaube ein zitterndes und schwankendes Ding sei, so müssen wir ihn auf die Verheißung des Heils gründen, wie sie uns der Herr von sich aus freigebig anbietet, nicht um unserer Würdigkeit, sondern vielmehr um unseres Elendes willen. Deshalb gibt der Apostel dem Evangelium das Zeugnis, es sei „das Wort vom Glauben“ (Röm. 10, 8). Den Geboten wie auch den Verheißungen des Gesetzes spricht er dies Zeugnis ab; denn es ist nichts, was unserem Glauben festen Grund geben kann, als diese freigebige Botschaft Gottes, in der er die Welt mit sich selber versöhnt. Daher kommt es auch, daß Paulus so oft den Glauben und das Evangelium aufeinander bezieht; er lehrt, daß ihm der Dienst am Evangelium aufgetragen ist, „den Gehorsam des Glaubens aufzurichten“, und dies Evangelium ist „eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben ..., sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben“ (Röm. 1,5.16.17). Diese Zusammenschau von Glaube und Evangelium ist nicht verwunderlich; denn das Evangelium ist ja „das Amt, das die Versöhnung Predigt“ (2. Kor. 5,18), und deshalb gibt es nichts anderes, das die Freundlichkeit Gottes, deren Erkenntnis der Glaube erfordert, hinreichend kräftig bezeugte. Wenn ich also behaupte, daß der Glaube sich auf diese Verheißung Gottes stützen muß, die aus freier Gnade ergeht, so leugne ich damit nicht, daß die Gläubigen das Wort Gottes in seiner ganzen Fülle und Ausdehnung erfassen und annehmen sollen; sondern ich möchte die Verheißung des Erbarmens Gottes für den eigentlichen Richtpunkt des Glaubens erklären. Die Gläubigen sollen Gott ja gewiß auch als den Richter und Vergelter der Freveltaten erkennen, und doch schauen sie eigentlich auf seine Freundlichkeit, denn er wird ihrer Betrachtung als der vor Augen gehalten, der da „gütig und gnädig“ ist, „langsam zum Zorn“, „von großer Güte“, freundlich gegen alle Menschen, ja, der seine Güte ausgießt über alle seine Werke! (Ps. 86,5; 103, 8; 145, 8).


Kapitel 2 Sektion 30


Bei dieser Lehre will ich mich auch nicht durch das Gebell des Pighius und ähnlicher Hunde aufhalten lassen: sie gehen gegen meine einschränkende Behauptung (daß sich der Glaube besonders an die Verheißung halte) wütend vor und behaupten, damit würde der Glaube zerrissen und es bliebe nur ein einziges Stück von ihm übrig. Ich gebe, wie bereits ausgesprochen, durchaus zu, daß sich der Glaube - wie man sagt - allgemein an Gottes Wahrheit als sein „Objekt“ zu halten hat, ob Gott nun droht oder ob er uns auf seine Gnade hoffen läßt! Deshalb gehörte es nach den Worten des Apostels auch zum Glauben, daß Noah den Untergang der Welt, den er noch nicht sah, doch fürchtete (Hebr. 11,7). Wenn nun auch die Furcht vor einer drohenden Strafe Gottes ein Werk des Glaubens war, so kann man (sagen diese Sophisten) bei der Beschreibung seines Wesens von den Drohungen Gottes nicht absehen. Das ist zwar richtig; aber diese schmähsüchtigen Leute machen mir zu Unrecht den Vorwurf, als wollte ich leugnen, daß der Glaube auf alle Teile des Wortes Gottes Bezug hat. Ich will nur zweierlei aufzeigen: erstens kommt der Glaube niemals zu festem Bestand, bis er zu jener aus Gnaden geschehenden Verheißung durchgedrungen ist, und zweitens kann er uns nur dadurch mit Gott versöhnen, daß er uns mit Christus verbindet. Und dies ist beides wirklich erwähnenswert. Wir suchen einen Glauben, der Gottes Kinder von den Verworfenen unterscheidet, die Gläubigen von den Ungläubigen. Wenn nun jemand glaubt, daß Gottes Gebote recht und seine Drohungen ernst gemeint sind - ist der deshalb für gläubig zu erklären? Ganz gewiß nicht! Der Glaube hat also keinen festen Bestand, wenn er nicht in Gottes Barmherzigkeit gegründet ist. Warum aber überhaupt unsere Erörterung über den Glauben? Doch sicher nur deshalb, weil es uns darum geht, den Weg zum Heil zu wissen. Wie soll uns aber der Glaube anders das Heil verschaffen, als dadurch, daß er uns in Christi Leib einfügt? Es ist also keineswegs widersinnig, wenn wir in unserer Begriffsbestimmung so scharf die hauptsächliche Wirkung des Glaubens betonen und wenn wir zur Feststellung des Unterschiedes dem allgemeinen Glaubensbegriff jenes Kennzeichen unterstellen, das die Gläubigen von den Ungläubigen trennt! Schließlich können uns diese übelwollenden Kritiker gar nicht tadeln, ohne zugleich Paulus mit uns zu strafen, denn er nennt das Evangelium im eigentlichen Sinne das „Wort vom Glauben“ (Röm. 10, 8).


Kapitel 2 Sektion 31


Hieraus aber schließe ich wiederum, was ich bereits oben auseinandergesetzt habe: der Glaube bedarf des Wortes nicht weniger, als die Frucht der lebendigen Wurzel des Baumes! Denn nach Davids Zeugnis können nur die auf Gott hoffen, die seinen Namen kennen (Ps. 9,11). Diese Erkenntnis kommt aber nicht aus jedermanns Einbildung, sondern allein daher, daß Gott selbst der Zeuge seiner Güte ist. Das bestätigt der gleiche Prophet auch an anderer Stelle: „Herr, laß mir deine Gnade widerfahren, deine Hilfe nach deinem Wort!“ (Ps. 119,41). Ebenso: „Ich verlasse mich auf dein Wort, mache mich selig ...“ (Ps. 119,40? Jedenfalls ungenau). Hier müssen wir zunächst auf die Bezogenheit des Glaubens auf das Wort achten und dann darauf, daß sich das Heil daraus ergibt.

Dabei sehe ich jedoch nicht von der Macht Gottes ab: wenn der Glaube sich nicht darauf stützt, daß er auf sie schaut, so kann er Gott niemals die schuldige Ehre geben. Paulus berichtet von Abraham scheinbar etwas Unerhebliches und Gewöhnliches, wenn er von ihm sagt, er habe an die Macht Gottes geglaubt, der ihm einen gesegneten Samen verheißen hatte (Röm. 4,21). Ähnlich von sich selber: „Ich weiß, an wen ich glaube, und bin gewiß, daß er mächtig ist, mir zu bewahren, was mir beigelegt ist, bis auf jenen Tag“ (2. Tim. 1,12; nicht ganz Luthertext). Wenn nun aber jemand bei sich selber erwägt, wieviel Zweifel an Gottes Kraft ihn stets beschleichen, so wird er sehr wohl erkennen, daß ein Mensch, der diese Kraft Gottes nach Gebühr verherrlicht, keine geringen Fortschritte im Glauben gemacht hat. Wir werden zwar alle zugeben, daß Gott kann, was er will, aber wenn uns dann die geringste Anfechtung vor Furcht irremacht und vor Schrecken erschüttert, dann wird offenbar, daß wir der Macht Gottes etwas abbrechen, da wir sie ja hinter den Drohungen des Satans gegen seine Verheißungen offenbar zurücktreten lassen. Deshalb redet auch Jesaja, um die Gewißheit des Heils dem Volke tief ins Herz zu graben, so gewaltig von Gottes unermeßlicher Kraft (z.B. Jes. 40,25ff. und sonst öfters in Jes. 40-45). Oft beginnt er seine Rede mit der Hoffnung auf Vergebung und Versöhnung und verfällt dann scheinbar auf einen ganz anderen Gegenstand und auf weite und überflüssige Abschweifungen, indem er daran erinnert, wie wunderbar Gott das Gebäu des Himmels und der Erde und die ganze Ordnung der Natur regiert; aber tatsächlich dienen auch diese Gedanken dem, was er gerade behandelt; denn wenn Gottes Kraft, mit der er alles vermag, uns nicht in die Augen fällt, so werden unsere Ohren das Wort ungern annehmen und es wenigstens nicht so hoch schätzen, wie es geschehen müßte.

Wir müssen auch bedenken, daß dabei von einer wirkenden Macht die Rede ist; die Frömmigkeit bezieht nämlich, wie wir bereits sahen, Gottes Macht stets auf ihren Nutzen und ihr Werk, sie halt sich vor allem die Werke Gottes vor, in denen er sich als unser Vater bezeugt hat. Darum erinnert die Schrift die Kinder Israel auch so oft an die (ihnen widerfahrene) Erlösung; sie konnten daraus lernen, daß der Gott, der ihnen einmal das Heil geschenkt hatte, auch sein ewiger Hüter sein werde. David gemahnt uns mit seinem eigenen Beispiel daran, daß die Wohltaten, die Gott jedem einzelnen für sich allein erwiesen hat, auch noch fort und fort dazu wirken, unseren Glauben zu stärken; ja, wenn er uns verlassen zu haben scheint, so sollen wir unsere Gedanken weiter zurückgehen lassen, damit uns seine früheren Wohltaten aufrichten; so heißt es in einem anderen Psalm: „Ich gedenke an die vorigen Zeiten; ich rede von allen deinen Taten ...“ (Ps. 143,5), und ebenso: „Darum gedenke ich an die Taten des Herrn; ja ich gedenke an deine vorigen Wunder“ (Ps. 77,12).

Aber ohne das Wort ist alles, was wir über Gottes Macht und Gottes Werke erdenken, inhaltslos, und deshalb ist es nicht unbedacht, wenn wir behaupten, daß es keinen Glauben gibt, ehe uns Gott selber mit dem Zeugnis seiner Gnade voranleuchtet.

Man könnte hier allerdings fragen, was wir denn von Sara und Rebekka halten sollten, die doch beide, dem Anschein nach vom Eifer des Glaubens getrieben, über die Grenzen des Wortes hinausgegangen sind. Sara brannte vor Verlangen nach dem verheißenen Nachkommen und gab darum ihre Magd ihrem Manne zum Weibe (Gen. 16,5). Daß sie vielfältig gesündigt hat, ist nicht zu leugnen, aber hier will ich nur die eine Verfehlung berühren, daß sie sich im Drange ihres Eifers nicht innerhalb der Grenzen des Wortes hielt. Und doch ist jenes Verlangen ganz sicher aus dem Glauben entstanden. Rebekka hatte durch einen Gottesspruch die Gewißheit erhalten, daß ihr Sohn Jakob erwählt war, und deshalb verhalf sie ihm mit böser Kunst zu dem Segen; ihren Mann, der doch der Zeuge und Diener der göttlichen Gnade war, täuschte sie, ihren Sohn veranlaßte sie zur Lüge, Gottes Wahrheit verfälschte sie mit mancherlei Betrug und Hinterlist. Kurzum, sie machte Gottes Verheißung geradezu zum Gespött und tat das Ihrige, um sie gar abzutun (Gen. 27). Und trotzdem fehlte auch in diesem Tun, so freventlich und tadelnswert es war, der Glaube nicht ganz. Denn sie mußte ja vielerlei Hindernisse überwinden, um so eifrig ein Recht zu begehren, das keine Hoffnung auf irdischen Nutzen, dafür aber unendlich viel Last und Gefahr in sich trug! Ebenso werden wir dem heiligen Erzvater Isaak nicht etwa jeglichen Glauben absprechen, weil er an seiner Neigung für den erstgeborenen Sohn Esau festhielt, obwohl ihm in dem nämlichen Gottesspruch kundgetan war, daß die Würde (der Erstgeburt) auf den Jüngeren übergegangen war. Diese Beispiele belehren uns wahrhaftig darüber, daß der Glaube öfters mit Irrtümern untermischt ist; aber dabei hat doch der Glaube stets die Vorherrschaft, sofern er rechter Art ist. Denn wie der besondere Irrtum der Rebekka die Wirkung des Segens nicht aufhob, so hat er auch den Glauben nicht abgetan, der im allgemeinen in ihrem Inneren die Herrschaft führte und sogar der Ausgangspunkt und Urgrund der (an sich bösen) Tat war. Aber gerade darin hat sie bewiesen, wie sehr der Menschengeist auf das Schlüpfrige geraten muß, sobald er sich auch nur ein ganz klein wenig gehen läßt. Obwohl aber Untreue und Schwachheit den Glauben verdunkeln, so vermögen sie ihn doch nicht auszulöschen; unterdessen mahnen sie uns aber daran, wie sorgfältig wir an Gottes Mund hängen müssen, und bestätigen damit unsere Lehre, daß der Glaube ohne die feste Begründung im Worte zergehen muß, wie ja auch Sara, Isaak und Rebekka innerlich in ihren krummen Abwegen zunichte geworden wären, wenn Gott sie nicht mit verborgenem Zügel beim Gehorsam gegen sein Wort festgehalten hätte.


Kapitel 2 Sektion 32


Wiederum hat es seinen guten Grund, wenn wir alle Verheißungen in Christo beschlossen denken; denn der Apostel faßt das ganze Evangelium in der Erkenntnis Christi zusammen (Röm. 1,16) und sagt an anderer Stelle: „Alle Gottesverheißungen sind Ja in ihm und sind Amen in ihm“ (2. Kor. 1,20). Der Grund dafür läßt sich leicht angeben. Wenn nämlich Gott etwas verheißt, so bezeugt er damit seine Freundlichkeit; er gibt uns also keine Verheißung, die nicht ein Zeugnis seiner Liebe gegen uns wäre. Es macht dabei nichts aus, daß die Gottlosen dadurch, daß sie immerfort mit gewaltigen und unablässigen Gaben seiner Milde überschüttet werden, ein um so schwereres Gericht auf sich laden. Denn sie bedenken ja nicht, daß ihnen diese Gaben aus des Herrn Hand zukommen; sie wissen es auch gar nicht, oder wenn sie es einmal erkennen, so erwägen sie doch Gottes Güte nie und nimmer bei sich selbst; deshalb aber können sie aus diesen Gaben ebensowenig eine Belehrung über Gottes Barmherzigkeit empfangen wie die unvernünftigen Tiere, die ja auch je nach ihren Lebensverhältnissen die gleiche Frucht göttlicher Freigebigkeit empfangen und doch nicht darauf achten. Ebensowenig steht hier im Wege, daß sie zumeist die für sie bestimmten Verheißungen verachten und sich dadurch eine um so schärfere Bestrafung zuziehen. Denn die Wirkung der Verheißungen tritt zwar erst dann ein, wenn sie bei uns Glauben gefunden haben; aber ihre Kraft und Eigenart wird doch durch unseren Unglauben und unsere Undankbarkeit in keiner Weise ausgelöscht. Wenn also der Herr durch seine Verheißungen den Menschen auffordert, die Früchte seiner Güte nicht nur in Empfang zu nehmen, sondern sie auch recht zu bedenken, so gibt er ihm damit zugleich seine Liebe zu erkennen. Wir müssen also wieder auf den Satz zurückkommen, daß jede Verheißung ein Zeugnis der Liebe Gottes zu uns ist.

Nun ist es aber außer Zweifel, daß Gott niemanden anders als in Christus liebt; er ist der „geliebte Sohn“, auf dem des Vaters Liebe bleibt und ruht (Matth. 3,17; 17,5) und von dem sie uns zufließt, wie Paulus sagt: „zum Lob seiner herrlichen Gnade, durch welche er uns hat angenehm gemacht in dem Geliebten“ (Eph. 1,6). Durch sein eigenes Dazwischentreten also muß jene Liebe zu uns hingeleitet werden und zu uns gelangen. So sagt der Apostel an anderer Stelle auch: „Er ist unser Friede“ (Eph. 2,14), oder er stellt ihn anderwärts gewissermaßen als ein Band dar, durch das sich Gott in väterlicher Freundlichkeit mit uns verbindet (Röm. 8,3). Auf ihn müssen wir also jedesmal unser Augenmerk richten, wenn uns irgendeine Verheißung dargeboten wird, und Paulus lehrt durchaus folgerichtig, daß in ihm alle Verheißungen Gottes bestätigt und erfüllt werden (Röm. 15, 8).

Dem widersprechen nun aber (scheinbar) einige Beispiele. So erklärt man es für nicht glaubhaft, daß der Syrer Naeman, als er den Propheten über die rechte Art der Gottesverehrung befragte, eine Belehrung über den Mittler empfangen habe - und doch wird ja seine Frömmigkeit gelobt! (2. Kön. 5; Luk. 4,27). Cornelius, der doch ein Heide und ein Römer war, hat kaum wissen können, was nicht einmal allen Juden bekannt war und auch diesen bloß dunkel. Trotzdem waren seine Almosen und Gebete vor Gott angenehm (Apg. 10,31). Auch sind die Opfer des Naeman durch die Antwort des Propheten anerkannt worden (2. Kön. 5,17-19). Und doch konnten beide solche Anerkennung vor Gott und durch den Propheten nur durch den Glauben erlangen! Ähnlich verhielt es sich auch mit dem Kämmerer, zu dem Philippus gesandt wurde: hätte er nicht irgendwelchen Glauben gehabt, so hätte er sich nicht die Mühe einer langen und beschwerlichen Reise gemacht, um anzubeten! (Apg. 8,27). Trotzdem gewahren wir, wie er auf die Frage des Philippus seine Unkenntnis von dem Mittler kundtut! (Apg. 8,31). Hier gebe ich nun zu, daß der Glaube dieser Menschen gewissermaßen „eingehüllt“ war, und zwar nicht nur bezüglich der Person Christi, sondern auch hinsichtlich seiner Kraft und des ihm vom Vater aufgetragenen Amtes. Indessen ist es sicher, daß sie eine anfangsweise Erkenntnis besaßen, die ihnen doch einen gewissen, wenn auch geringfügigen Geschmack von Christus verschaffte. Das kann auch nicht seltsam erscheinen; denn der Kämmerer wäre gewiß nicht aus fernem Lande nach Jerusalem gereist, um einen unbekannten Gott anzubeten, und Kornelius hat, nachdem er die jüdische Religion einmal angenommen hatte, gewiß nicht soviel Zeit darin zugebracht, ohne die Anfangsgründe der wahren Lehre zu erfassen. Und was Naeman betrifft, so wäre es gänzlich widersinnig gewesen, wenn Elisa ihm in ganz kleinen Dingen Weisung erteilt, aber von der wesentlichen Hauptsache geschwiegen hätte! So hatten sie alle gewiß bloß eine dunkle Erkenntnis von Christus, aber es wäre nicht der Wahrheit gemäß, wenn man behaupten wollte, sie hätten gar keine gehabt; denn sie übten sich ja auch in den Opfern des Gesetzes, und diese mußten doch eben durch ihr Ziel, nämlich durch Christus, von allen falschen Opfern der Heiden notwendig unterschieden werden!


Kapitel 2 Sektion 33


Zwar müßte selbst diese nackte, äußere Darlegung des Wortes Gottes voll und ganz hinreichen, um den Glauben aufzurichten, wenn nicht unsere Blindheit und Halsstarrigkeit im Wege stünde. Aber wir können, da wir innerlich so sehr zur Eitelkeit geneigt sind, Gottes Wahrheit nimmermehr anhangen, und weil wir stumpfe Sinne haben, so fassen wir das Licht nicht. Deshalb wird durch das Wort nichts ausgerichtet ohne die Erleuchtung durch den Heiligen Geist. Daraus ergibt sich auch klar, daß der Glaube weit über den menschlichen Verstand geht. Ebenfalls genügt es nicht, daß unser Verstand durch Gottes Geist erleuchtet werde, wenn dieser nicht mit seiner Kraft auch unser Herz stark macht und fest gründet. In diesem Stück gehen die Scholastiker gänzlich in die Irre; sie meinen, unter „Glauben“ sei bloß eine nackte und einfache, aus der „Erkenntnis“ kommende „Zustimmung“ zu verstehen; an der Zuversicht und Gewißheit des Herzens dagegen gehen sie (mit ihrer Begriffsbestimmung) vorbei. Der Glaube ist also in beiderlei Hinsicht eine besondere Gabe Gottes: einerseits wird des Menschen Verstand gereinigt, um die Wahrheit Gottes kosten zu können, und anderseits wird unser Herz in dieser Wahrheit fest gegründet. Denn der Heilige Geist ist nicht nur der Anfänger unseres Glaubens, sondern er mehrt ihn auch stufenweise, bis er uns durch ihn in das Himmelreich hineinführt! „Dies beigelegte Gut“, sagt Paulus, „bewahre durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt!“ (2. Tim. 1,14). Nun erklärt Paulus, der Geist werde uns aus der „Predigt vom Glauben“ zuteil. Wie er das aber meint, ist mit leichter Mühe zu zeigen. Gäbe es nämlich nur eine einzige Gabe des Geistes, so wäre es unsinnig, wenn Paulus den Geist für eine Wirkung des Glaubens erklärt; denn er ist doch dessen Urheber und Grund! Aber Paulus rühmt ja hier die Gaben, mit denen Gott seine Kirche ziert und im Wachsen des Glaubens zur Vollkommenheit führt, und da ist es nicht verwunderlich, daß er jene Gaben dem Glauben zuschreibt, der uns ja dazu bereitet, sie zu empfangen. Man hält es zwar für das denkbar Widerspruchsvollste, wenn es heißt, nur der könne an Christus glauben, dem es gegeben ist (Joh. 6,65); aber das kommt zum Teil daher, daß man nicht beachtet, wie verborgen und erhaben die himmlische Weisheit und wie groß die Stumpfheit des Menschen ist, wenn er Gottes Geheimnisse auffassen soll; zum Teil kommt es auch daher, daß man jene sichere und feste Beständigkeit des Herzens nicht in Betracht zieht, die doch das Wichtigste am Glauben ist!


Kapitel 2 Sektion 34


Wenn nun nach den Worten des Paulus nur „der Geist, der im Menschen wohnt“, Zeuge für den Willen des Menschen ist - wie sollte dann ein Mensch des Willens Gottes gewiß sein können? Und wenn bei uns Gottes Wahrheit schon bei solchen Dingen schwankt, die wir mit eigenen Augen gegenwärtig vor uns sehen, wie sollte sie dann gewiß und fest sein, wenn der Herr Dinge verheißt, die kein Auge sieht und kein Verstand erfaßt; (vgl. 1. Kor. 2,9). Da versagt und ermattet der Scharfsinn des Menschen, ja, es muß sogar als erster Schritt zum Fortschreiten in des Herrn Schule gelten, ihn fahren zu lassen. Denn er hindert uns wie ein zudeckender Vorhang, Gottes Geheimnisse zu erfassen, die nur den „Kleinen“ geoffenbart werden! (Matth. 11,25; Luk. 10,21). Denn die Offenbarung liegt nicht bei Fleisch und Blut (Matth. 16,17), und „der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes; ja, Gottes Unterweisung ist ihm vielmehr eine Torheit; denn sie muß geistlich beurteilt werden“ (1. Kor. 2,14; nicht Luthertext). Also ist die Hilfeleistung des Heiligen Geistes erforderlich, nein, es ist hier seine Kraft allein mächtig! Denn kein Mensch „hat des Herrn Sinn erkannt“, keiner „ist sein Ratgeber gewesen“ (Röm. 11,34), sondern „der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit“ (1. Kor. 2,10). Durch den Geist allein kommen wir dazu, Christi Sinn zu erfassen. „Es kann niemand zu mir kommen“, spricht der Herr selbst, „es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat“ (Joh. 6,44). „Wer es nun hört vom Vater und lernt es, der kommt zu mir; nicht daß jemand den Vater habe gesehen, außer dem, der vom Vater (gesandt) ist!“ (Joh. 6,45f.). Wir können also auf keine Weise zu Christus kommen, ohne daß uns der Geist Gottes zieht; werden wir von ihm gezogen, so werden wir aber auch nach Verstand und Herz weit über das erhoben, was wir aus uns selber erfassen können. Denn die Seele empfängt, wenn er sie erleuchtet hat, gleichsam eine neue Sehschärfe, mit der sie die himmlischen Geheimnisse zu betrachten vermag, deren Glanz sie zuvor in sich selbst blendete. Ist einmal der Verstand des Menschen so durch das Licht des Heiligen Geistes hell gemacht, dann fängt er auch erst an, die Dinge des Reiches Gottes zu schmecken; zuvor war er gänzlich einfältig und töricht und vermochte sie deshalb nicht recht zu erwägen. So redete Christus mit zweien seiner Jünger klar und deutlich von den Geheimnissen seines Reiches, aber er kam bei ihnen erst zum Ziel, als er ihnen „das Verständnis öffnete, daß sie die Schrift verstanden“ (Luk. 24,27.45). So mußte auch den Aposteln, die der Herr doch mit eigenem, göttlichem Munde unterwiesen hatte, doch der „Geist der Wahrheit“ gesandt werden, der ihnen jene Wahrheit, welche sie mit den Ohren erfaßt hatten, auch in den Sinn eindringen ließ! (Joh. 16,13). Zwar ist das Wort Gottes wie die Sonne: es scheint allen, denen es gepredigt wird, aber bei Blinden ohne Frucht! Wir aber sind in diesem Stück allesamt von Natur blind, und deshalb kann der Strahl des Wortes nicht in unseren Sinn eindringen, wenn ihm nicht der Heilige Geist als inwendiger Lehrmeister durch seine Erleuchtung Zugang verschafft!


Kapitel 2 Sektion 35


Ich habe nun schon an anderer Stelle, nämlich als es galt, die Verderbtheit der Natur zu behandeln, deutlicher dargelegt, wie ungeschickt wir Menschen zum Glauben sind (II,2,18ff.). Deshalb will ich den Leser nicht damit ermüden, das Gleiche noch einmal zu wiederholen. Es soll mir genug sein, daß Paulus, wenn er vom „Geist des Glaubens“ redet, darunter eben den Glauben versteht, der uns als Geschenk des Heiligen Geistes zuteil wird (2. Kor. 4,13), den wir aber von Natur nicht besitzen. Deshalb betet er auch für die Thessalonicher, „daß unser Gott ... erfülle alles Wohlgefallen der Güte und das Werk des Glaubens in der Kraft“ (2. Thess. 1,11). Da nennt er den Glauben ein Werk Gottes und zeichnet ihn noch mit einem besonderen Beinamen aus, indem er hinzusetzt, er sei „Gottes Wohlgefallen“; damit bestreitet er, daß der Glaube aus der eigenen Regung des Menschen kommt, ja er ist auch damit noch nicht zufrieden, sondern fügt noch an, er sei ein Erweis göttlicher Kraft. Die Korinther weist er darauf hin, daß der Glaube nicht von der Weisheit der Menschen abhängt, sondern auf die Kraft des Geistes gegründet ist (1. Kor. 2,4). Er redet zwar an dieser Stelle von äußeren Wunderzeichen; aber die Gottlosen stehen ihnen ja blind gegenüber, und deshalb denkt er doch auch zugleich an jenes innerliche Siegel, das er an anderer Stelle erwähnt (z.B. Eph. 1,13; 4,30). Um in dieser herrlichen Gabe seine Güte noch deutlicher hervorleuchten zu lassen, läßt sie Gott nicht unterschiedslos allen zuteil werden, sondern vergibt sie als besondere Gnadenschenkung an wen er will. Zeugnisse dafür habe ich schon angeführt; Augustin ruft als deren getreuer Ausleger aus: „Unser Seligmacher will uns lehren, daß auch das Glauben selber Geschenk und nicht Verdienst ist. Deshalb sagt er: ‘Niemand kann zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater, der mich gesandt hat\' oder: ‘es sei ihm denn von meinem Vater gegeben\' (Joh. 6,44-65). Es ist wundersam: zweie hören; der eine verachtet\'s, der andere steigt empor! Der es nun verachtet, der mag es sich selber zuschreiben; aber der emporsteigt, der soll es nicht selbst für sich in Anspruch nehmen!“ (Predigt 131). Oder er sagt an anderer Stelle: „Wie kommt es denn, daß es dem einen gegeben ist und dem anderen nicht? Ich schäme mich nicht zu sagen: das ist das tiefe Geheimnis des Kreuzes! Aus irgendeiner Tiefe der Ratschlüsse Gottes, die wir nicht zu durchforschen vermögen, geht alles hervor, was wir können. Was ich kann, das sehe ich wohl, aber woher es kommt, daß ich es kann, das sehe ich nicht; nur soviel sehe ich, daß es von Gott kommt! Warum aber zieht er den einen, und den anderen zieht er nicht; Das ist mir zuviel, es ist ein unergründlicher Abgrund, das tiefe Geheimnis des Kreuzes! Ich vermag es bewundernd auszurufen, aber ich kann es nicht disputierend beweisen“ (Predigt 165). Die Hauptsache ist: wenn uns Christus durch die Kraft seines Geistes erleuchtet, so daß wir glauben, so fügt er uns zugleich in seinen Leib ein, so daß wir an all seinen Gütern Anteil gewinnen.


Kapitel 2 Sektion 36


Dann muß aber das, was der Verstand aufgenommen hat, auch in das Herz selbst überfließen. Denn Gottes Wort ist nicht schon dann im Glauben erfaßt, wenn man es ganz oben im Hirn sich bewegen läßt, sondern erst dann, wenn es im innersten Herzen Wurzel geschlagen hat, um ein unbesiegliches Bollwerk zu werden, das alle Sturmwerkzeuge der Anfechtung aushalten und zurückwerfen kann! Wenn es wahr ist, daß das wirkliche Begreifen unseres Verstandes die Erleuchtung durch Gottes Geist ist, so tritt seine Kraft noch viel deutlicher in dieser Stärkung des Herzens in die Erscheinung; die Vertrauenslosigkeit des Herzens ist ja auch soviel größer als die Blindheit des Verstandes, und es ist viel schwieriger, dem Herzen Gewißheit zu verleihen, als den Verstand mit Erkenntnis zu erfüllen. Deshalb ist der Heilige Geist wie ein Siegel: er soll in unserem Herzen die gleichen Verheißungen versiegeln, deren Gewißheit er zuvor unserem Verstande eingeprägt hat. Er ist wie ein Unterpfand zur Bestätigung und Bekräftigung der Verheißungen. „Durch welchen ihr auch“, sagt der Apostel, „da ihr gläubig wurdet, versiegelt worden seid mit dem Heiligen Geist der Verheißung, welcher ist das Pfand unseres Erbes ...“ (Eph. 1,13. 14). Da sieht man, wie Paulus lehrt, daß die Herzen der Gläubigen durch den Heiligen Geist wie von einem Siegel ihre Prägung empfangen. Und er nennt ihn deshalb - so sieht man weiter - den „Geist der Verheißung“, weil er das Evangelium bei uns in Geltung setzt. Ähnlich schreibt er auch an die Korinther: „Gott ist\'s aber, ... der uns gesalbt und versiegelt und in unsere Herzen das Pfand, den Geist gegeben hat“ (2. Kor. 1,21.22). An einer anderen Stelle, wo er von der Zuversicht und Freudigkeit in der Hoffnung redet, erklärt er auch für deren Fundament „das Pfand, den Geist“ (2. Kor. 5,5).


Kapitel 2 Sektion 37


Dabei habe ich nun aber nicht vergessen, was ich oben gesagt habe und was uns die Erfahrung immer wieder ins Bewußtsein zurückruft, nämlich daß der Glaube von den verschiedensten Zweifeln bedrängt wird, daß das Gemüt des Frommen selten zur Ruhe kommt, daß es wenigstens nicht immer einen Zustand der Ruhe zu genießen vermag. Aber bei allen Angriffen, die es erschüttern mögen, taucht es doch immer wieder aus dem Schlund der Anfechtungen empor und bleibt auf seinem Posten stehen. Den Glauben vermag nun allein jene Sicherheit zu erhalten und zu bewahren, bei der wir mit dem Psalmisten festhalten: „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns betroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer fielen“ (Ps. 46,2.3). Diese Zuversicht wird in einem anderen Psalm auch als köstlichste Ruhe gepriesen: „Ich liege und schlafe und erwache; denn der Herr hält mich“ (Ps. 3,6). Nicht als ob David immer fröhlich und guter Dinge gewesen wäre; nein, weil er Gottes Gnade nach dem Maße des Glaubens hatte verspüren dürfen, darum rühmte er sich, unerschrocken alles zu verachten, was den Frieden seines Gemüts beunruhigen konnte. Deshalb fordert uns auch die Schrift zum „Stillesein” auf, wenn sie uns zum Glauben ermuntern will; so bei Jesaja: „Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein!“ (Jes. 30,15); oder in einem Psalm: „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn!“ (Ps. 37,7). Dem entspricht die Mahnung des Apostels an die Hebräer: „Geduld aber ist euch not ...“ (Hebr. 10,36).


Kapitel 2 Sektion 38


Von hieraus läßt sich beurteilen, wie gefährlich die scholastische Lehre ist, wir könnten der Gnade Gottes gegen uns nur in dem Sinne einer „moralischen Vermutung“ (Vermutung auf Grund unserer sittlichen Taten!) gewiß werden, wir müßten also danach gehen, wie weit jedermann die Überzeugung habe, dieser Gnade nicht unwürdig zu sein. Sollten wir nun freilich aus unseren Werken entnehmen, wie der Herr gegen uns gesinnt sei, so würden wir es allerdings nicht einmal mit der leisesten Vermutung feststellen können! Aber der Glaube soll doch nichts anderes als die Antwort auf eine schlichte und aus Gnade uns zukommende Verheißung sein, und deshalb bleibt hier gar kein Hin und Her! Was sollte das für eine Gewißheit sein, mit der wir uns wappnen könnten, wenn wir sagten: Gott ist uns gnädig - aber nur insofern, als wir es mit der Reinheit unseres Lebens verdienen! Ich will aber diese Fragen an anderer Stelle genauer behandeln und ihnen hier deshalb nicht weiter nachgehen. Es ist ja vor allem auch völlig klar, daß zum Glauben nichts so sehr im Widerspruch steht als eine „Vermutung“ oder irgend etwas anderes, das mit dem Zweifel in Verwandtschaft ist!

Ganz übel verdrehen die Scholastiker dabei eine Stelle aus dem Prediger, die sie immerzu im Munde führen: „Niemand weiß, ob er des Hasses oder der Liebe würdig ist!“ (Pred. 9,1; nicht Luthertext). Ich will noch übergehen, daß dieser Text in der üblichen (lateinischen) Übersetzung unrichtig wiedergegeben wird. Aber es kann doch jedes Kind merken, was Salomo mit diesen Worten sagen will, nämlich: wenn jemand aus dem gegenwärtigen Stand der Dinge feststellen will, wen Gott mit Haß verfolgt und wen er mit seiner Liebe umfängt, der müht sich unnütz ab und quält sich umsonst; denn „es begegnet dasselbe einem wie dem anderen, dem Gerechten wie dem Gottlosen ..., dem, der opfert, wie dem, der nicht opfert ...“ (Pred. 9,2). Daraus ergibt sich: wenn Gott einem Menschen alles nach Wunsch gelingen läßt, so ist das nicht immer ein Beweis seiner Liebe, und wenn er jemand ängstigt, so ist das nicht immer ein Zeugnis seines Hasses. Das sagt Salomo, um die Eitelkeit unseres menschlichen Verstandes zu strafen; haben wir doch auch in dieser Frage, die so notwendig klar sein müßte, gar stumpfe Sinne! Er schreibt dementsprechend auch etwas vorher, der Unterschied zwischen der Seele des Menschen und des Viehs sei nicht zu erkennen, weil beide dem Augenschein nach gleicherweise umkommen müßten (Pred. 3,19). Wenn nun daraus jemand folgern wollte, auch die Lehre von der Unsterblichkeit stütze sich bloß auf eine „Vermutung“, so müßte man den doch verdientermaßen für unsinnig halten! Kann man aber dann solche Leute für vernünftig erklären, die aus der Tatsache, daß wir aus dem fleischlichen Anschauen gegenwärtiger Verhältnisse die Gnade Gottes nicht erfassen können, den Schluß ziehen wollen, es gäbe überhaupt keine Gewißheit dieser Gnade?


Kapitel 2 Sektion 39


Aber sie schützen vor, es fei freventliche Vermessenheit, wenn sich ein Mensch die unbezweifelte Erkenntnis des Willens Gottes anmaßen wollte. Das würde ich ihnen gern zugestehen, wenn wir uns herausnähmen, Gottes unbegreiflichen Ratschluß unserem schwachen Verstande unterwerfen zu wollen. Wir sagen aber doch einfach mit Paulus: „Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, daß wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist“ (1. Kor. 2,12). Wie wollen sie dagegen etwas schreien, ohne zugleich dem Heiligen Geiste Verachtung anzutun? Wenn es nun eine schreckliche Gotteslästerung ist, die von ihm uns zukommende Offenbarung für Lüge, für ungewiß oder für zweifelhaft zu erklären - was soll dann Verwerfliches darin liegen, wenn wir ihre Gewißheit behaupten?

Aber sie schreien, auch das sei nicht frei von großer Vermessenheit, daß wir uns des Geistes Christi so hoch zu rühmen wagten! Es ist doch kaum glaublich, daß Leute, die gern für die Lehrmeister aller Welt gehalten werden möchten, dermaßen stumpfsinnig sein sollten, daß sie gleich bei den ersten Anfangsgründen der Religion so schändlich anstoßen! Ich würde es selber ganz sicher nicht annehmen, wenn es nicht ihre Schriften tatsächlich bezeugten! - Paulus erklärt, nur die seien Gottes Kinder, „welche der Geist Gottes treibt“ (Röm. 8,14). Die Scholastiker dagegen behaupten, die Kinder Gottes würden von ihrem eigenen Geist getrieben und seien gänzlich ohne Gottes Geist! Paulus lehrt uns, Gott als unseren Vater anzurufen, und zwar weil uns dieses Wort vom Heiligen Geist in den Mund gelegt wird, der allein unserem Geist Zeugnis geben kann, „daß wir Gottes Kinder sind“ (Röm. 8,16). Die Scholastiker wollen zwar auch niemand von der Anrufung Gottes zurückhalten, aber sie reißen den Heiligen Geist heraus, unter dessen Führung wir Gott erst richtig anrufen können! Paulus bestreitet, daß Menschen, die nicht vom Geiste Christi getrieben werden, Christi Knechte wären (Röm. 8,9). Sie aber erdichten sich ein Christentum, das des Geistes Christi nicht bedarf! Paulus macht uns nur dann Hoffnung auf die selige Auferstehung, wenn wir empfinden, daß Christi Geist in uns wohnt (Röm. 8,11), - sie aber machen sich eine Hoffnung ohne dieses Empfinden zurecht!

Sie werden aber vielleicht entgegnen, sie leugneten gar nicht, daß man mit dem Geist begabt sein müßte, nur sei es ein Zeichen von Bescheidenheit und Demut, wenn man das (für sich selbst) nicht behaupte! Was mag aber dann Paulus gemeint haben, wenn er die Korinther auffordert, sie sollten sich selbst „versuchen“, ob sie im Glauben stünden, sollten sich selbst prüfen, ob sie Christus hätten - weil doch eben der, der nicht erkennt, daß Christus in ihm wohnt, verworfen sei? (2. Kor. 13,5). Johannes sagt doch auch: „Und daran erkennen wir, daß er in uns bleibt: an dem Geist, den er uns gegeben hat“ (1. Joh. 3,24). Was tun wir denn anders, als Christi Verheißungen in Zweifel zu ziehen, wenn wir ohne seinen Geist für seine Knechte gehalten werden wollen, wo er uns doch zugesagt hat, er werde ihn über uns alle ausgießen? (Jes. 44,3; Joel 3,1). Was ist es anders als Beleidigung des Heiligen Geistes, wenn wir den Glauben, sein eigentliches Werk, von ihm abtrennen? Das sind doch die ersten Anfängerübungen im Glauben, und deshalb ist es jämmerlichste Verblendung, wenn man Christen der Vermessenheit bezichtigt, weil sie sich der Gegenwart des Heiligen Geistes zu rühmen wagen; denn ohne dieses Rühmen hat das Christentum keinen Bestand. Die Scholastiker aber beweisen doch mit ihrem eigenen Beispiel, wie sehr Christus recht hatte, wenn er sagte, die Welt könne seinen Geist nicht erkennen, denn er werde nur von denen erkannt, bei denen er „bleibe“ (Joh. 14,17).


Kapitel 2 Sektion 40


Aber um nicht nur durch das Vortreiben dieses einen unterirdischen Stollens danach zu trachten, die Gewißheit des Glaubens zu zerstören, führen sie ihren Angriff auch noch von einer anderen Seite. Gesteht man allenfalls zu, daß sich nach dem gegenwärtigen Stande unserer Gerechtigkeit ein Urteil über Gottes Gnade gewinnen läßt, so behauptet man doch, daß wir über die Beharrung bis ans Ende nichts Endgültiges zu wissen vermögen! Da bliebe uns nun aber eine herrliche Zuversicht auf das Heil, wenn wir zwar für den gegenwärtigen Augenblick auf Grund einer „moralischen Vermutung“ zu der Ansicht kämen, wir seien vor Gott in Gnaden, wenn wir aber keine Ahnung hätten, was morgen geschehen kann! Da redet doch der Apostel ganz anders: „Ich bin gewiß, daß weder Engel, noch Fürstentümer, noch Gewalten, weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn“ (Röm. 8,38f.; ungenau). Da versuchen sich nun die Scholastiker durch eine leichtfertige Lösung herauszuwinden, indem sie schwatzen, das habe Paulus aus einer besonderen (nur ihm allein geltenden) Offenbarung empfangen; aber sie werden doch zu gründlich festgehalten, als daß sie entgehen könnten. Denn Paulus redet an dieser Stelle von den Gütern, die allen Gläubigen gleichermaßen aus dem Glauben zukommen, nicht aber von dem, was er allein für sich selbst erfährt. „Aber“ - so entgegnet man - „er schreckt uns doch oft mit dem Hinweis auf unsere Schwachheit und Unbeständigkeit! Er sagt doch: \'wer sich läßt dünken, daß er stehe, der sehe zu, daß er nicht falle\' (1. Kor. 10,12).“ Das ist richtig; aber das ist doch kein Schrecken, der uns zu Boden werfen, sondern der uns lehren soll, uns unter Gottes Hand zu demütigen, wie es Petrus auseinandersetzt! (1. Petr. 5,6).

Wie töricht ist es ferner, die Gewißheit des Glaubens, die ja ihrem Wesen nach die Schranken dieses Lebens überspringt und sich nach der künftigen Unsterblichkeit ausstreckt, auf einen einzigen Zeitpunkt einzuschränken! Die Gläubigen danken der Gnade Gottes ja gerade dafür, daß sie nun durch Gottes Geist erleuchtet sind und durch den Glauben die Betrachtung des himmlischen Lebens genießen dürfen, und deshalb hat jenes Rühmen rein gar nichts mit Vermessenheit zu tun, im Gegenteil: wenn sich einer scheut, das zu bekennen, so beweist er damit eher die äußerste Undankbarkeit - denn er unterdrückt ja in Bosheit Gottes Güte! -, als etwa Bescheidenheit und Demut!


Kapitel 2 Sektion 41


Wir haben gesehen, daß das Wesen des Glaubens nicht besser und deutlicher beschrieben werden kann, als aus dem Grundwesen der Verheißung heraus, auf der er ja als auf seinem eigenen Fundament ruht und ohne die er gänzlich zerrüttet, ja vielmehr zu nichts gemacht würde. Deshalb habe ich auch meine Begriffsbestimmung von dort her genommen. Diese ist freilich von der Bestimmung oder vielmehr Beschreibung, die der Apostel in Anpassung an seine Erörterung gibt, in keiner Weise verschieden. Er lehrt da, der Glaube sei ein beständiger Grund (subsistentia) von Dingen, die man hofft, und ein Selbsterweis dessen, was man nicht sieht (Hebr. 11,1; nicht Luthertext). Denn der Ausdruck „hypostasis“, den er hier (an erster Stelle) anwendet, bedeutet wohl soviel wie „Stütze“ (fulcrum), also das, worauf ein frommes Gemüt sich stützen und worauf es fest stehen kann. Als ob er sagen wollte: der Glaube ist ein sicherer und gewisser Besitz dessen, was Gott uns verheißen hat; man könnte vielleicht auch „hypostasis“ geradezu mit „gewisse Zuversicht“ übersetzen; das mißfällt mir nicht, ich halte mich aber meinerseits an die gebräuchlichere Übersetzung. Der Apostel will aber andererseits noch weiter zeigen, daß das Verheißene bis zum jüngsten Tage, da die Bücher aufgetan werden (Dan. 7,10), zu erhaben ist, als daß wir es mit unseren Sinnen wahrzunehmen oder mit unseren Augen zu schauen oder mit unseren Händen zu greifen vermöchten; er will uns darauf hinweisen, daß wir es auch nur besitzen können, wenn wir über das Fassungsvermögen unseres Verstandes hinausgehen, unseren Blick über alles das hinausstrecken, was in dieser Welt ist, uns kurzum über uns selber hinaus erheben; deshalb fügt er in seiner Wesensbestimmung des Glaubens noch hinzu, daß diese Gewißheit des Besitzes sich auf Dinge bezieht, die der Hoffnung angehören und die wir deshalb nicht sehen. So schreibt auch Paulus: „Die Hoffnung ..., die man sieht, ist nicht Hoffnung, denn wie kann man des hoffen, das man sieht?“ (Röm. 8,24). Der Verfasser des Hebräerbriefs nennt den Glauben (an zweiter Stelle) ein Anzeichen (index), einen Erweis (probatio) oder auch, wie es Augustin öfters wiedergibt, eine Überzeugung (convictio) von dem, was nicht gegenwärtig ist - im Griechischen heißt es nämlich „elenchos“. Es ist, als wenn er sagen wollte: der Glaube ist ein Augenscheinlichwerden der Dinge, die nicht augenscheinlich sind, ein Schauen dessen, was man nicht sieht, eine Durchsichtigkeit dessen, was dunkel ist, ein Gegenwärtigsein des nicht Gegenwärtigen, ein Aufweis des Verborgenen! Denn die Geheimnisse Gottes - und darum handelt es sich doch bei dem, was unser Heil betrifft! - sind an und für sich und, wie man sich ausdrückt, ihrer „Natur“ nach nicht zu sehen; wir erschauen sie vielmehr einzig und allein in seinem Worte, und dessen Wahrheit muß uns so gewiß sein, daß uns alles, was da gesagt wird, bereits als geschehen und erfüllt zu gelten hat!

Wie soll sich aber unser Herz dazu erheben, in dieser Weise einen Geschmack von Gottes Güte zu bekommen, ohne zugleich ganz und gar zur Gegenliebe zu Gott entflammt zu werden? Denn diese Fülle des Köstlichen, die Gott denen verborgen hat, die ihn fürchten, können wir gar nicht erkennen, ohne dadurch innerlich heftig ergriffen zu werden. Hat sie aber einmal einen Menschen erfaßt, so zieht sie ihn gleich ganz an sich und reißt ihn mit sich fort. Deshalb erfaßt diese Regung - und das ist nicht verwunderlich! - niemals ein verkehrtes und verdrehtes Herz; diese Regung, die uns in den Himmel selbst hineinführt, zu den verborgensten Schätzen Gottes und den heiligsten Geheimnissen seines Reiches Zutritt verschafft, die ja nicht dadurch entweiht werden dürfen, daß ein unreines Herz zu ihnen dringt.

Wenn nämlich die Scholastiker lehren, die Liebe habe den Vorrang vor Glauben und Hoffnung (Sentenzen III,25), so ist das reiner Wahn; denn der Glaube allein bringt in uns ja erst die Liebe hervor. Viel richtiger lehrt da Bernhard von Clairvaux: „Das Zeugnis des Gewissens, das Paulus den Ruhm der Frommen nennt (2. Kor. 1,12), umfaßt, glaube ich, dreierlei. Zuallererst mußt du glauben, daß du die Vergebung der Sünden einzig und allein durch Gottes Nachsicht empfangen kannst; zweitens, daß du keinerlei gutes Werk haben kannst, das nicht wieder er selbst dir gegeben hätte; und endlich, daß du dir mit keinerlei Werken das ewige Leben verdienen kannst, sofern dir nicht auch dies umsonst gegeben wird!“ (Predigt 1 zum Feste Mariae Verkündigung). Er setzt dann aber gleich noch hinzu, das sei noch nicht genug, sondern es sei erst ein gewisser Anfang im Glauben; denn wenn wir glaubten, daß uns keiner die Sünden vergeben kann als Gott allein, so müßten wir auch festhalten, daß sie uns vergeben sind, - bis wir durch das Zeugnis des Heiligen Geistes zu der Gewißheit kämen, daß uns das Heil wohlbereitet ist; denn weil Gott uns die Sünden schenke, weil er uns die Verdienste schenke, weil eben er uns auch den (darauf stehenden) Lohn schenke, - so könnten wir bei jenen ersten Schritten nicht stehenbleiben! (In der gleichen Predigt.) Aber ich muß dies und anderes mehr an der entsprechenden Stelle behandeln; jetzt müssen wir uns damit begnügen, festzustellen, was der Glaube selber ist.


Kapitel 2 Sektion 42


Wo aber nun auch immer dieser Glaube lebendig ist, da hat er notwendig die Hoffnung auf das ewige Heil zum unzertrennlichen Begleiter, ja vielmehr er erzeugt sie, bringt sie hervor. Fehlt diese Hoffnung, so mögen wir noch so geistreich und geziert vom Glauben zu reden wissen - wir können uns doch darauf verlassen, daß wir keinen haben! Denn wenn der Glaube, wie wir gehört haben, eine gewisse Überzeugung von Gottes Wahrheit ist, eine Überzeugung, daß uns diese Wahrheit nicht belügen und betrügen, daß sie nicht ungültig werden kann - so muß doch der, der diese Gewißheit gefaßt hat, zugleich auch erwarten, daß Gott seine Verheißungen halten wird, die doch nach seiner festen Überzeugung notwendig wahr sein müssen! Die Hoffnung ist eben alles in allem nichts anderes als die Erwartung der Dinge, die nach der Überzeugung des Glaubens von Gott wahrhaft verheißen sind. So ist der Glaube gewiß, daß Gott wahrhaftig ist, und die Hoffnung erwartet, daß er zu gelegener Zeit seine Wahrheit offenbart; der Glaube ist gewiß, daß er unser Vater ist, die Hoffnung erwartet, daß er sich an uns stets als solcher erweisen wird; der Glaube ist gewiß, daß uns das ewige Leben gegeben ist, die Hoffnung erwartet, daß es einst enthüllt werden wird; der Glaube ist das Fundament, auf dem die Hoffnung ruht, die Hoffnung nährt und stützt den Glauben. Niemand kann von Gott irgend etwas erwarten, wenn er nicht zuvor seinen Verheißungen glaubt, aber ebenso muß unser schwacher Glaube, um nicht ermattet niederzusinken, dadurch unterstützt und erhalten werden, daß wir geduldig hoffen und warten. Es ist deshalb richtig, wenn Paulus unser Heil als Sache der Hoffnung darstellt (Röm. 8,24). Indem sie stille des Herrn wartet, hält sie den Glauben in Schranken, damit er sich nicht in allzu großer Eile überstürze, stärkt ihn, damit er hinsichtlich der Verheißungen Gottes nicht schwanke oder an ihrer Wahrheit zu zweifeln anfange, erfrischt ihn, damit er sich nicht ermüde, und läßt ihn bis zu jenem äußersten Ziele währen, damit er nicht mitten im Laufe oder auch in dessen Anfang ermatte. Kurzum, die Hoffnung erneuert und belebt den Glauben je und je und sorgt dafür, daß er immer wieder kräftiger sich erhebt, um bis ans Ende zu beharren.

In wievielerlei Weise nun überhaupt der Glaube der Hilfe der Hoffnung bedarf, um Festigkeit zu erlangen, das wird uns noch deutlicher, wenn wir in Betracht ziehen, in wievielerlei Weise die Menschen, die Gottes Wort angenommen haben, von der Anfechtung berannt und in Bedrängnis gebracht werden. Zunächst schiebt der Herr öfters die (Erfüllung seiner) Verheißungen hinaus und hält so unser Herz länger in der Schwebe, als wir es uns wünschen möchten; da ist es denn das Amt der Hoffnung, die Weisung des Propheten zu erfüllen: „Ob sie aber verzieht, so harre ihrer!“ (Hab. 2,3). Zuweilen läßt er uns nicht nur in unserer Mattigkeit schmachten, sondern legt offenkundigen Zorn an den Tag: da ist es eben um so mehr erforderlich, daß uns die Hoffnung zu Hilfe kommt, damit wir es nach dem Worte eines anderen Propheten halten können: „Ich hoffe auf den Herrn, der sein Angesicht verborgen hat vor dem Hause Jakob; ich aber harre sein!“ (Jes. 8,17). Auch erheben sich manchmal, wie sich Petrus ausdrückt, „Spötter“ (2. Petr. 3,3), und fragen: „Wo ist die Verheißung seiner Zukunft? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie von Anfang der Kreatur gewesen ist!“ (2. Petr. 3,4). Ja, solche Gedanken blasen uns unser Fleisch und die Welt gleichermaßen ein! Da muß der Glaube auf die Dulderkraft der Hoffnung gestützt sein und an der Betrachtung der Ewigkeit festgehalten werden, er muß wissen, daß da „tausend Jahre sind wie ein Tag“ (Ps. 90,4; 2. Petr. 3, 8).


Kapitel 2 Sektion 43


Weil Glaube und Hoffnung so fest miteinander verbunden, ja verwandt sind, so gebraucht die Schrift zuweilen die Wörter „Glaube“ und „Hoffnung“ durcheinander. Wenn z.B. Petrus lehrt, wir würden „aus Gottes Macht durch den Glauben bewahret“ bis zur Offenbarung der Seligkeit (1. Petr. 1,5), so schreibt er damit dem Glauben etwas zu, das eigentlich mehr zum Wesen der Hoffnung passen würde; und zwar nicht zu Unrecht, denn die Hoffnung ist ja, wie wir bemerkten, nichts als die Nahrung und Kraft des Glaubens.

Manchmal werden „Glaube“ und „Hoffnung“ auch miteinander verbunden; so heißt es in dem gleichen Briefe: „Auf daß ihr Glauben und Hoffnung zu Gott haben möchtet“ (1. Petr. 1,21). Paulus aber leitet im Philipperbrief aus der Hoffnung die Erwartung ab: denn indem wir geduldig hoffen, lassen wir unsere Wünsche in der Schwebe, bis Gottes gelegene Zeit sich offenbart hat (Phil. 1,20). Dies alles kann man noch deutlicher aus dem bereits angeführten elften Kapitel des Hebräerbriefes entnehmen. Das Gleiche meint auch Paulus an einer Stelle, an der er allerdings uneigentlich redet: „Wir aber warten im Geist durch den Glauben der Gerechtigkeit, auf die man hoffen muß“ (Gal. 5,5). Nachdem wir nämlich das Zeugnis des Evangeliums von Gottes freignädiger Liebe angenommen haben, warten wir, bis Gott offenbarlich zeigt, was jetzt noch unter der Hoffnung verborgen ist!

Ganz klar ist es nun, wie unsinnig es ist, wenn Petrus Lombardus ein zwiefaches Fundament der Hoffnung gelegt denkt, nämlich Gottes Gnade und das Verdienst unserer Werke. Nein, für die Hoffnung kann es keinen anderen Richtpunkt geben als den Glauben; der Glaube aber hat, wie wir bereits ganz klar auseinandersetzten, nur einen einzigen Richtpunkt, nämlich Gottes Barmherzigkeit; und darum müssen wir auf sie sozusagen mit beiden Augen schauen! Aber es ist doch der Mühe wert, zu hören, was für einen kräftigen Grund der Lombarde anführt; er sagt: „Wenn du etwas ohne dein Verdienst zu hoffen wagst, so ist das nicht Hoffnung, sondern Vermessenheit zu nennen!“ Lieber Freund und Leser, sollte man nicht verdientermaßen solche Bestien verabscheuen, die es hoffärtig und vermessen nennen, wenn jemand darauf vertraut, daß Gott wahrhaftig ist? Der Herr will doch, daß wir von seiner Güte alles erwarten sollen; solche Leute erklären es aber für vermessen, wenn man sich auf diese Güte stützt und verläßt! Dieser Meister ist der Schüler wohl wert, wie er sie in den unsinnigen scholastischen Zungendrescherschulen gefunden hat! Wir aber wollen, da wir ja sehen, wie Gott in klaren Weisungen dem Sünder befiehlt, Hoffnung auf das Heil zu fassen, gern so „vermessen“ auf seine Wahrheit trauen, daß wir allein auf sein Erbarmen bauen, alle Zuversicht auf die Werke von uns werfen und fröhlich zu hoffen wagen! Denn er hat gesagt: „Euch geschehe nach eurem Glauben“ (Matth. 9,29) - und er wird nicht trügen!


Drittes Kapitel

Durch den Glauben werden wir wiedergeboren. Hier ist von der Buße zu sprechen

III,3,1


Im Bisherigen habe ich zwar bereits zum Teil auseinandergesetzt, wie der Glaube Christus besitzt und wie wir durch ihn seine Güter genießen; aber das würde alles noch undeutlich bleiben, sofern nicht auch eine Darlegung der Wirkungen hinzukäme, die wir erfahren. Es ist nicht verkehrt, wenn man sagt, der Hauptinhalt des Evangeliums bestehe in der Buße und der Vergebung der Sünden. Wollte man also diese beiden Hauptstücke auslassen, so wäre jede Erörterung über den Glauben inhaltslos und verstümmelt, ja schier unnütz! Christus schenkt uns doch beides, und beides erlangen wir auch im Glauben: die Erneuerung des Lebens und die Versöhnung aus Gnaden; der sachliche Zusammenhang und die geordnete Reihenfolge in der Unterweisung erfordert es also, daß ich hier von diesen beiden Lehrstücken zu sprechen beginne.

 

Zunächst müssen wir aber vom Glauben zur Buße übergehen; haben wir dies Lehrstück recht verstanden, so wird es uns besser klar werden, wieso der Mensch allein durch den Glauben und durch reine Vergebung gerechtfertigt wird und wieso doch von dieser gnadenweisen Anrechnung der Gerechtigkeit die wirkliche Heiligkeit des Lebens - wenn ich mich so ausdrücken darf! - nicht getrennt ist.

 

Daß aber die Buße alsbald auf den Glauben folgt, ja aus ihm entsteht, das muß außer Zweifel stehen. Vergebung und Lossprechung (von den Sünden) wird ja durch die Verkündigung des Evangeliums so dargeboten, daß der Sünder von der Tyrannei des Satans, vom Joch der Sünde, von der elenden Knechtung unter seine Laster frei wird und in Gottes Reich übergeht; deshalb kann nun niemand die Gnade des Evangeliums annehmen, ohne aus den Irrtümern seines bisherigen Lebens heraus auf den rechten Weg zurückzulenken und all seinen Eifer auf ein ernstes Trachten nach der Buße zu richten.

 

Einige meinen, die Buße gehe dem Glauben voran, statt aus ihm hervorzugehen oder wie eine Frucht aus dem Baume zu erwachsen; aber diese Leute haben die Kraft der Buße nie und nimmer verstanden und stützen ihre Ansicht auf unzureichende Beweise.

 

 

 

III,3,2

 

Die Vertreter der letztgenannten Ansicht behaupten nun, Christus und Johannes der Täufer hätten in ihren Reden zuerst das Volk zur Buße aufgefordert, und erst dann hätten sie auch zugefügt: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (Matth. 3,2; 4,17). Der gleiche Auftrag ist nach ihrem Hinweis auch den Aposteln für ihre Predigt mitgegeben worden; auch Paulus ist dieser Regel gefolgt, wie Lukas berichtet (Apg. 20,21). Aber sie klammern sich dabei abergläubisch an die äußerliche Reihenfolge der Silben und achten nicht darauf, in welchem Sinn diese untereinander zusammenhängen. Wenn nämlich der Herr Christus und Johannes bei ihrer Predigt ausrufen: „Tut Buße; denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, so sehen sie doch gerade in der Gnade und der Heilsverheißung den Grund für die Buße! Was sie sagen, ist genau dasselbe, als wenn sie sich ausdrückten: Da das Himmelreich nahe herbeigekommen ist, so tut Buße! Das macht uns auch Matthäus deutlich: er berichtet, wie Johannes in dieser Welt gepredigt hat, und dann erklärt er, in ihm sei die Weissagung des Jesaja in Erfüllung gegangen: „Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste. Bereitet dem Herrn den Weg, macht auf dem Gefilde eine ebene Bahn unserem Gott“ (Jes. 40,3). Bei dem Propheten aber bekommt diese „Stimme“ den Auftrag, mit dem Trost und der fröhlichen Botschaft zu beginnen!

 

Wenn ich nun aber den Ursprung der Buße im Glauben suche, so bedeutet das doch nicht, daß ich mir etwa einen Zeitabstand zwischen beiden erträumte, in welchem der Glaube die Buße hervorbrachte; ich will nur darlegen, daß der Mensch nicht ernstlich nach der Buße trachten kann, wenn er nicht weiß, daß er Gottes Eigentum ist. Die Gewißheit, Gottes Eigentum zu sein, kann aber nur der erlangen, der zuvor seine Gnade ergriffen hat. Doch dies wird im Laufe der Erörterung noch deutlicher werden.

 

Was jene Täuschung (hinsichtlich der Aufeinanderfolge von Glauben und Buße) hervorgerufen hat, mag auch die Beobachtung gewesen sein, daß viele Menschen von den Schrecken des Gewissens bezwungen und zum Gehorsam gebracht werden, bevor sie eine Erkenntnis der Gnade erlangt, ja auch nur von ihr gekostet haben. Das ist nun eine solche Furcht, wie sie Anfänger haben; einige wollen sie gar zu den Tugenden rechnen, weil sie sehen, daß sie dem wahren, rechten Gehorsam immerhin nahekommt. Aber hier handelt es sich ja nicht darum, auf wie verschiedene Weise uns Christus zu sich zieht oder auf das Trachten nach Frömmigkeit vorbereitet; ich sage nur das Eine: es ist keine Aufrichtigkeit zu finden, bei der nicht der Heilige Geist das Regiment führt, den Christus empfangen hat, um ihn seinen Gliedern mitzuteilen. Auch wird ja nach dem Psalmwort: „Bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte“ (Ps. 130,4), nur der wirklich Gott fürchten, der darauf vertraut, daß er ihm gnädig ist; nur der wird sich willig aufmachen, um das Gesetz zu beobachten, der die Gewißheit hat, daß sein Dienst Gott wohlgefällt. Und dabei ist die Nachsicht, mit der Gott unsere Laster vergibt und trägt, ein Zeichen seiner väterlichen Gunst. Das zeigt uns auch ein Mahnwort des Hosea: „Kommt, wir wollen wieder zum Herrn; denn er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen; er hat uns zerschlagen, er wird uns auch verbinden“ (Hos. 6,1). Da wird die Hoffnung auf die Vergebung als ein Antrieb hinzugesetzt, damit das Volk nicht in seinen Sünden verstumpfe.

 

Jeden Schein einer Begründung entbehrt aber der Wahnwitz solcher Leute, die, um ja mit der Buße einen Anfang zu machen, ihren Neulingen im Glauben bestimmte Tage vorschreiben, an denen sie sich in der Buße üben sollen, und sie erst dann in die Gemeinschaft an der Gnade des Evangeliums aufnehmen wollen, wenn diese Tage vorbei sind. Ich spreche hier von den meisten der Wiedertäufer, besonders von denen, die sich wunderbar darin gefallen, für „geistlich“ gehalten zu werden, ferner auch von ihren Genossen, den Jesuiten, und ähnlichem Auswurf. Solche Früchte bringt nämlich jener Schwindelgeist, daß man die Buße, die ein Christenmensch sein Leben lang zu üben hat, auf wenige Lage beschränkt.

 

 

 

III,3,3

 

Einige gelehrte Männer haben nun lange vor dieser Zeit in der Absicht, von der Buße nach der Regel der Schrift schlicht und klar zu reden, den Satz ausgesprochen, sie bestehe aus zwei Stücken: Abtötung und Lebendigmachung.

 

Unter „Abtötung“ (mortificatio) verstehen sie den Schmerz der Seele und das Erschrecken, das aus der Erkenntnis der Sünde und aus dem Empfinden des Zorns Gottes entsteht. Sobald nämlich jemand zur wahren Erkenntnis der Sünde gebracht ist, fängt er auch an, die Sünde wirklich zu hassen und zu verabscheuen, dann mißfällt er sich selbst von Herzen, gesteht, daß er elend und verloren ist, und begehrt, ein anderer Mensch zu werden. Sobald ihn dann ein Empfinden des Gerichtes Gottes erfaßt - denn dies Zweite folgt von selbst aus dem Ersten! - dann liegt er erschüttert und zerschmettert am Boden, erzittert in Demut und Beugung, verzagt und verzweifelt. Das ist der erste Teil der Buße, den man auch gewöhnlich Zerknirschung (contritio) nennt.

Unter „Lebendigmachung“ (vivificatio) versteht man den Trost, der aus dem Glauben zu uns kommt: da darf nämlich der Mensch, den das Bewußtsein der Sünde zu Boden geworfen, die Furcht Gottes erschüttert hat, hernach auf Gottes Güte, Barmherzigkeit und Gnade schauen, auf das Heil, das durch Christus geschieht;

 

da richtet er sich auf, schöpft Atem, faßt wieder Mut und kommt sozusagen vom Tode ins Leben!

 

Diese beiden Ausdrücke (Abtötung und Lebendigmachung) bringen, sofern nur ihre richtige Auslegung festgehalten wird, die Kraft der Buße in geeigneter Weise zum Ausdruck. Dagegen kann ich dem nicht zustimmen, daß man die Lebendigmachung als die Freude versteht, die das Herz empfängt, wenn es aus der Erschütterung und Furcht heraus wieder zur Ruhe gekommen ist. Lebendigmachung bedeutet vielmehr das eifrige Trachten nach einem heiligen und frommen Leben, wie es aus der Wiedergeburt erwächst, es besagt also soviel, als wenn es hieße: der Mensch stirbt sich selber, um Gott zu leben.

 

 

 

III,3,4

 

Andere Theologen gingen von der Beobachtung aus, daß der Begriff „Buße“ in der Schrift verschieden verstanden ist, und deshalb haben sie zweierlei Gestalt der Buße unterschieden. Dazu bedurfte es bestimmter Kennzeichen, und so nannte man die erste Gestalt „gesetzliche Buße“: der Sünder wird durch das Brandmal der Sünde verwundet, vom Schrecken vor Gottes Zorn zerschmettert, und in dieser Verwirrung bleibt er hängen und kann sich nicht herauswinden. Die andere Gestalt der Buße nannte man „evangelisch“: auch hier ist der Sünder in sich selbst schwer getroffen, aber er vermag doch höher zu dringen und ergreift Christus als Arznei für seine Wunde, als Trost in seinem Schrecken, als Hafen für sein Elend.

 

Als Beispiel für die „gesetzliche“ Buße nennt man Kain, Saul und Judas Ischariot (Gen. 4,13; 1. Sam. 15,30; Matth. 27,4); von deren Buße berichtet uns die Schrift, und sie versteht darunter, daß sie die Schwere ihrer Sünde erkannt und Gottes Zorn gefürchtet haben; aber sie verstanden Gott bloß als Rächer und Richter, und über dieser Empfindung sind sie zugrunde gegangen. Ihre Buße war also nichts anderes als gewissermaßen der Vorhof der Hölle: in ihn sind sie schon bei Lebzeiten eingegangen und haben da angesichts des Zornes der Majestät Gottes angefangen, ihre Strafe zu erleiden.

 

Die „evangelische“ Buße können wir an all den Menschen beobachten, die zwar in sich selber vom Stachel der Sünde verletzt waren, aber durch die Zuversicht auf Gottes Erbarmen wieder aufgerichtet und erquickt und zu dem Herrn bekehrt wurden. So wurde Hiskia durch die Todesbotschaft, die er erhielt, in Schrecken gejagt, aber er betete unter Tränen, richtete den Blick auf Gottes Güte und gewann so wieder Zuversicht (2. Kön. 20,2; Jes. 38,2). Auch die Niniviten wurden durch die Schreckensbotschaft von dem Untergang der Stadt erschüttert, aber sie beteten im Sack und in der Asche und hofften, der Herr könnte anderen Sinnes werden und von dem Grimm seines Zorns sich abkehren (Jon. 3,5). David mußte bekennen, daß er mit seiner Volkszählung schrecklich gesündigt hatte, aber er fügte doch die Bitte hinzu: „Herr, nimm weg die Missetat deines Knechts!“ (2. Sam. 24,10). Er erkannte auf die harten Tadelworte des Nathan hin seinen Ehebruch als Schuld an und warf sich vor dem Herrn nieder; aber er hoffte doch zugleich auf Vergebung! (2. Sam. 12,13. 16). Von dieser Art war auch die Buße der Menschen, denen die Predigt des Petrus „durchs Herz ging“, die aber dann doch im Vertrauen auf Gottes Güte weiterhin fragten: „Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir tun?“ (Apg. 2,37). Von dieser Art war auch die Buße des Petrus selber, der zwar „bitterlich weinte“, aber doch nicht aufhörte zu hoffen (Matth. 26,75; Luk. 22,62).

 

 

 

III,3,5

All dies ist wahr; und doch besagt der Ausdruck „Buße“ selbst, sofern ich ihn aus der Schrift verstehen kann, etwas anderes. Daß man dabei nämlich den Glauben mit unter der Buße begreift (im Sinne der „evangelischen“ Buße), das steht im Widerspruch zu den Worten des Paulus in der Apostelgeschichte: „Und habe bezeugt, beiden, den Juden und Griechen, die Buße zu Gott und den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus (Apg. 20,21). Da nennt er Buße und Glauben nebeneinander als zwei verschiedene Dinge. Ja, fragt man, kann denn die wahre Buße ohne den Glauben

 

bestehen? - Gewiß nicht. Man kann sie nicht voneinander trennen, aber man muß sie deshalb doch voneinander unterscheiden! Der Glaube ist ja auch nie ohne die Hoffnung da, und doch sind Glaube und Hoffnung etwas Verschiedenes; so muß man auch Buße und Glauben, obwohl sie durch ein beständiges Band zusammenhängen, doch miteinander verbunden denken, statt sie zu vermischen.

 

Es ist mir zwar nicht verborgen, daß unter dem Ausdruck „Buße“ die ganze Bekehrung zu Gott begriffen wird, zu der ja nicht zuletzt auch der Glaube gehört; in welchem Sinne das aber geschieht, das wird sich leicht zeigen, wenn wir Kraft und Wesen der Buße näher beleuchtet haben. Das Wort „Buße“ ist bei den Hebräern von „Umkehr“ oder „Rückkehr“, bei den Griechen von „Änderung des Sinnes“ oder „Änderung eines Ratschlusses“ hergenommen; beiden sprachlichen Ableitungen entspricht die beschriebene Sache durchaus: Buße ist ja im wesentlichen darin beschlossen, daß wir von uns selbst auswandern und uns zu Gott „kehren“, daß wir den vorigen Sinn ablegen und einen neuen annehmen! Es ist deshalb, nach meinem Urteil wenigstens, keine üble Beschreibung des Begriffs „Buße“, wenn man sagt: Buße ist die wahre Hinkehr unseres Lebens zu Gott, wie sie aus echter und ernster Gottesfurcht entsteht; sie umfaßt einerseits das Absterben unseres Fleisches und des alten Menschen, anderseits die Lebendigmachung im Geiste.

 

In diesem Sinne muß man auch all die Reden verstehen, mit denen einst die Propheten und dann später die Apostel die Menschen ihrer Zeit zur Buße mahnten. Denn sie haben alle auf das Eine gedrungen, daß die Menschen, erschüttert von ihren Sünden, durchbohrt von der Furcht vor Gottes Gericht, sich vor Gott, den sie abtrünnig verlassen hatten, niederwarfen, sich vor ihm demütigten und in wahrer Bekehrung auf seinen rechten Weg zurückkehrten. Die Worte, die sie brauchten, hatten also unterschiedslos alle den gleichen Sinn, ob es nun heißt „sich zu Gott kehren“ oder „zu Gott umkehren“ oder „anderen Sinnes werden“ oder „Buße tun“ (Matth. 3,2). Deshalb heißt es in der Heiligen Geschichte auch, das Bußetun bedeute eine Wendung „zu Gott“: das geschieht, wenn Menschen, die sich von ihm abgewandt und sich in ihren Lüsten haben gehen lassen, nun anfangen, seinem Worte zu gehorchen (1. Sam. 7,3), sich seiner Führung zu unterstellen und zu gehen, wohin er sie ruft! Johannes und Paulus sprechen auch von „würdigen Früchten der Buße“, die einer bringt (Luk. 3, 8; Röm. 6,4; Apg. 26,20), und verstehen darunter, daß einer ein Leben führt, das in allen seinen Taten ein Erweis, ein Zeugnis dieser Umkehr ist.

 

 

 

III,3,6

Bevor wir aber weitergehen, wird es von Nutzen sein, die oben gegebene Beschreibung der Buße noch näher zu erläutern. Es sind in ihr hauptsächlich drei Stücke zu beachten. Wir sprachen zunächst von der Buße als Hinkehr unseres Lebens zu Gott; darunter verlangen wir eine Umgestaltung, nicht nur in äußeren Werken, sondern in der Seele selbst; denn diese kann erst dann mit dem Werk solche Früchte bringen, die ihrer Erneuerung entsprechen, wenn sie ihr altes Wesen abgelegt hat. Das will der Prophet Ezechiel zum Ausdruck bringen; deshalb ruft er den Menschen, die er zur Buße mahnt, die Weisung zu: „Machet euch ein neues Herz!“ (Ez. 18,31). Wenn daher Mose, wie er es öfters tut, zeigen will, wie die Israeliten sich, von der Buße geleitet, zum Herrn bekehren sollten, dann verlangt er, das solle „von ganzem Herzen“, „von ganzer Seele“ geschehen (Deut. 6,5; 10,12; 30,6), und die Propheten sehen wir diese Redeweise mitunter wiederholen (Jes. 24,7); Mose nennt das auch „Beschneidung des Herzens“, und damit dringt er auch in unsere tiefsten Regungen ein (Deut. 10,16; 30,6). Am deutlichsten aber geht der wahre Sinn der Buße aus dem vierten Kapitel des Propheten Jeremia hervor: „Willst du dich, Israel, bekehren, so bekehre dich zu mir ... Pflüget ein Neues und sät nicht unter die Hecken. Beschneidet euch dem Herrn und tut weg die Vorhaut eures Herzens!“ (Jer. 4,1. 3. 4). Sie werden also, das bezeugt ihnen der Prophet, mit all ihrem Eifer um die Erlangung der Gerechtigkeit nichts ausrichten, wenn nicht zu allererst

 

aus dem tiefsten Herzen die Unfrömmigkeit hinausgeworfen wird! Um sie im Tiefsten zu packen, weist er darauf hin, daß sie es mit dem Gott zu tun haben, vor dem keinerlei Ausflüchte etwas nützen; denn er haßt ja ein zwiespältiges Herz! Deshalb verspottet auch Jesaja das verkehrte Treiben der Heuchler, die sich zwar äußerlich, in allerlei Zeremonien, die größte Mühe mit der Bekehrung machten, aber sich unterdessen gar nicht darum sorgten, die Last der Ungerechtigkeiten, mit der sie die Armen gebunden hielten, wegzunehmen! (Jes. 58,6). Da zeigt er sehr schön, in was für Leistungen eine ungeheuchelte Buße sich eigentlich erweist.

 

 

 

III,3,7

 

Ich habe dann in meiner Beschreibung des Begriffs „Buße“ als zweites wesentliches Stück gelehrt, daß die Buße aus der ernsten Furcht Gottes hervorwächst. Ehe sich nämlich das Herz des Sünders zur Bekehrung neigt, muß es zuvor durch den Gedanken an das göttliche Gericht dazu erweckt werden. Ist uns einmal der Gedanke tief ins Herz gedrungen, daß Gott dereinst seinen Richtstuhl besteigen wird, um Rechenschaft zu fordern für alle unsere Worte und Taten, so läßt er den armen Menschen nicht ruhen, auch nicht einen Augenblick aufatmen, nein, er drängt ihn immer wieder, ein ganz anderes Leben zu begehren, um vor jenem Gericht sicher bestehen zu können. Deshalb erwähnt die Schrift bei ihren Aufrufen zur Buße zwischendurch öfters das Gericht, so bei Jeremia: „... auf daß nicht mein Grimm ausfahre wie Feuer und brenne, daß niemand löschen kann, um eurer Bosheit willen!“ (Jer. 4,4). Ähnlich heißt es in der Rede des Paulus an die Athener: „Und zwar hat Gott die Zeit der Unwissenheit übersehen; nun aber gebietet er allen Menschen an allen Enden, Buße zu tun, darum daß er einen Tag gesetzt hat, an welchem er richten will den Kreis des Erdbodens mit Gerechtigkeit ...“ (Apg. 17,30f.). So finden wir es auch an vielen anderen Stellen. Zuweilen zeigt uns die Schrift auch durch den Hinweis auf bereits ergangene Strafen, daß Gott der Richter ist: da sollen die Sünder bei sich bedenken, daß ihnen noch schlimmere Strafgerichte drohen, wenn sie sich nicht beizeiten bekehren. Ein Beispiel dafür haben wir im 29. Kapitel des Deuteronomiums (Deut. 29,19ff.).

 

Da nun die Umkehr damit beginnt, daß wir der Sünde gegenüber Abscheu und Haß empfinden, so nennt Paulus die „göttliche Traurigkeit“ (2. Kor. 7,10) den rechten Grund der Buße. Diese „göttliche Traurigkeit“ bedeutet, daß wir nicht etwa bloß vor der Strafe erschrecken, sondern vor der Sünde selbst Haß und Abscheu empfinden, da wir wissen, daß sie Gott ein Greuel ist. Das ist auch nicht verwunderlich: denn wenn wir nicht hart gestochen würden, so wäre unseres Fleisches Trägheit nicht zu beheben; ja, selbst Stiche würden bei seiner Stumpfheit und Faulheit nicht genügen, wenn Gott uns nicht die Rute zu fühlen gäbe und so tiefer auf uns eindränge! Es ist ja auch noch die Halsstarrigkeit da, die wie mit einem Hammer zertrümmert werden muß. Die Strenge, mit der Gott uns droht, zwingt ihm also die Bosheit unseres Herzens ab; denn freundliche Lockung wäre bei uns Schlafenden vergebens. Die einzelnen Schriftzeugnisse, die uns immer wieder begegnen, will ich hierzu nicht aufzählen.

 

Die Furcht Gottes ist aber auch noch in einem anderen Sinne der Anfang der Buße. Hätte ein Mensch in seinem Leben alle Tugenden erlangt, ohne indessen auf den Dienst Gottes ausgerichtet zu sein, so würde er wohl von der Welt gelobt werden, aber im Himmel wäre sein Leben doch ein Greuel; denn das wichtigste Stück der Gerechtigkeit ist ja gerade, daß man Gott sein Recht und die ihm zukommende Ehre zuteil werden läßt: eben dies Recht, diese Ehre rauben wir Gott aber, wenn wir nicht den festen Vorsatz haben, uns seiner Regierungsgewalt zu unterwerfen.

 

 

 

III,3,8

Jetzt müssen wir zum Dritten noch erläutern, was es denn bedeuten soll, wenn ich oben davon sprach, die Buße umfasse zwei Stücke, nämlich die Abtötung des Fleisches und die Lebendigmachung des Geistes. Die Propheten drücken das klar aus, obwohl sie sich dem Verständnis des Volkes anpassen und deshalb recht schlicht

 

und grob davon reden. So heißt es im 34. Psalm: „Laß ab vom Bösen und tue Gutes“ (Ps. 34,15), oder bei Jesaja: „waschet, reiniget euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen; laßt ab vom Bösen; lernet Gutes zu tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten ...“ (Jes. 1,16f.). Denn wenn sie das Volk vor der Bosheit warnen, so fordern sie damit den Untergang des ganzen Fleisches, das ja voller Bosheit und Verderbnis steckt. Es ist freilich sehr schwer und hart, uns selbst auszuziehen und die angeborene Art fahren zu lassen, denn wir dürfen nicht glauben, das Fleisch sei wirklich gestorben, solange nicht alles abgetan ist, was wir von uns selber haben. Weil aber die ganze Sinnesrichtung des Fleisches „Feindschaft wider Gott“ ist (Röm. 8,7), so ist der erste Schritt zum Gehorsam gegen sein Gesetz die Verleugnung unserer eigenen Natur!

 

Danach aber weist der Prophet (an der erwähnten Stelle, Jes. 1,16f.) auch auf die Erneuerung hin, und zwar auf Grund der Früchte, die aus ihr hervorgehen: Gerechtigkeit, Gericht und Barmherzigkeit. Denn es wäre nicht genug, wenn wir uns der Verpflichtung zu solchen Werken ordnungsmäßig entledigten, sofern nicht unser Gemüt und Herz selber die entsprechende Gesinnung angenommen hätte; dies geschieht aber dann, wenn der Geist Gottes unsere Seele in seine Heiligkeit eintaucht, sie mit neuen Gedanken und Regungen erfüllt, so daß sie wirklich als neu gelten darf. Wir werden uns eben, da wir von Natur von Gott abgewandt sind, sicherlich niemals nach dem ausstrecken, was recht ist, wenn wir uns nicht zuvor selber verleugnet haben. Deshalb wird uns so oft befohlen, den alten Menschen auszuziehen, der Welt und dem Fleische abzusagen, unseren Begierden den Abschied zu geben und uns zu „erneuern im Geist unseres Gemüts“ (vgl. Eph. 4,23). Der Ausdruck „Abtötung“ erinnert uns ja auch selbst daran, wie schwer es ist, die frühere Natur zu vergessen: wir merken an diesem Wort, daß wir erst dann zur Furcht Gottes geschickt sind und die Anfangsgründe der Frömmigkeit zu lernen vermögen, wenn uns das Schwert des Geistes mit Gewalt ertötet und zunichte gemacht hat; Gott will uns sozusagen wissen lassen, daß wir allein durch das völlige Vergehen unserer gewöhnlichen Natur dazu gelangen können, zu seinen Kindern gezählt zu werden.

 

 

 

III,3,9

 

Beides, Ersterben und Lebendigwerden kommt uns durch das Teilhaben an Christus zu. Denn wenn wir wahrhaftig an Christi Tod Anteil haben, dann wird durch seine Kraft unser alter Mensch gekreuzigt, dann erstirbt der sündliche Leib, so daß die Verderbnis der ersten Natur ihre Kraft verliert! (Röm. 6,6). Wenn wir seiner Auferstehung teilhaftig werden, dann erstehen wir durch sie zu neuem Leben, das Gottes Gerechtigkeit entspricht. Ich beschreibe also die Buße mit einem Wort als Wiedergeburt; und der Zielpunkt dieser Wiedergeburt ist allein darin zu suchen, daß das Ebenbild Gottes in uns wiederhergestellt wird, welches durch Adams Übertretung besudelt und so gut wie ausgelöscht war. So lehrt es der Apostel, wenn er sagt: „Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht, und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zu der anderen, als vom Herrn, der der Geist ist“ (2. Kor. 3,18). Ähnlich: „Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist zu rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph. 4,23f.). Oder auch: „Ziehet den neuen Menschen an, der da erneuert wird zu der Erkenntnis nach dem Ebenbilde des, der ihn geschaffen hat“ (Kol. 3,10). So werden wir also durch Christi Wohltat in dieser Wiedergeburt zu der Gerechtigkeit Gottes wieder erneuert, aus der wir in Adam herausgefallen waren; das ist die Art, in der es dem Herrn gefallen hat, all die Menschen vollkommen wieder zurechtzubringen, die er zum Erbe des ewigen Lebens angenommen hat.

 

Diese Erneuerung aber kommt nun nicht in einem Augenblick, auch nicht an einem Tag oder in einem einzigen Jahr zur Vollendung; nein, Gott tilgt bei seinen Auserwählten in dauerndem, ja auch langsamem Weiterschreiten die Verderbnisse des Fleisches, er reinigt sie von ihren Befleckungen und weiht sie zu einem Tempel, der ihm heilig sei, erneuert alle ihre Sinne zu wahrer Reinheit, damit sie sich in ihrem ganzen Leben in der Buße üben: sie sollen wissen, daß dieser Kriegsdienst erst mit dem Tode sein Ende findet. Um so größer ist die Bosheit jenes unsauberen Schwätzers, des abtrünnigen Staphylus: er behauptet in seinem Geschwätz, ich vermengte den Zustand des gegenwärtigen Lebens mit der himmlischen Herrlichkeit, weil ich nach Paulus vom Ebenbilde Gottes (2. Kor. 4,4) behaupte, es bestehe in „wahrhaftiger Heiligkeit und Gerechtigkeit“ (vgl. Eph. 4,24). Als ob man, wenn man ein Ding beschreibt, nicht dessen vollendetes, vollkommenes Wesen suchen müßte! Es wird damit ja auch dem Wachstum nicht der Raum streitig gemacht; ich behaupte nur: so weit jemand der Ähnlichkeit mit Gott nähergekommen ist, muß man von ihm urteilen, in ihm leuchte Gottes Ebenbild hervor. Damit die Gläubigen dahin gelangen, weist ihnen Gott die Kampfbahn der Buße zu, auf der sie ihr Leben lang zu laufen haben.

 

 

 

III,3,10

 

Durch die Wiedergeburt werden also die Kinder Gottes von der Knechtschaft der Sünde frei; aber nicht etwa derart, daß sie gleichsam den vollen Besitz dieser Freiheit bereits erlangt hätten und nun von seiten ihres Fleisches keinerlei Beschwernis mehr empfänden; nein, vielmehr so, daß ihnen immer Anlaß genug zum Streite bleibt, der ihnen Übung verleihen, ja nicht nur dies, sondern der ihnen auch ihre Schwachheit besser zum Bewußtsein bringen soll. Alle kirchlichen Schriftsteller mit einigermaßen gesundem Urteil sind darin einig, daß auch im wiedergeborenen Menschen ein Zündstoff für das Böse bleibt, aus dem in einem fort die Begierden hervorbrechen, die ihn zur Sünde verleiten und aufstacheln. Sie gestehen auch, daß die Heiligen von dieser Krankheit der Begierde dermaßen umstrickt sind, daß sie zuweilen unvermeidlich zur bösen Lust, zur Habgier, zur Ehrsucht oder zu anderen Lastern gereizt und angetrieben werden. Es ist nicht erforderlich, hier viel Mühe auf das Aufsuchen von Aussprüchen der Alten zu verwenden; es genügt dazu der Hinweis auf Augustin, der mit Treue und großem Fleiß die Aussagen aller Kirchenväter dazu gesammelt hat (in der Schrift gegen den Pelagianer Julian, II,1,3). Aus ihm mögen sich die Leser ihre Kenntnis holen, wenn sie eine begründete Anschauung von der Meinung der Alten haben wollen.

 

Man könnte freilich zwischen Augustins Überzeugung und der meinigen einen scheinbaren Unterschied feststellen. Augustin gibt zwar zu, daß die Gläubigen, solange sie in ihrem sterblichen Leibe wohnen, dermaßen von den Begierden gefesselt gehalten werden, daß sie nicht anders können, als zu begehren; er wagt aber nicht, dieses Gebrechen als Sünde zu bezeichnen; vielmehr gibt er sich zur Andeutung dieses Gebrechens mit der Bezeichnung „Schwachheit“ zufrieden und lehrt, erst dann werde daraus die Sünde, wenn zu dem Vorsatz und dem bösen Gedanken das Werk selbst oder die bewußte innere Zustimmung käme, wenn also der Wille diesem ersten Antrieb nachgebe. Ich dagegen halte auch das für Sünde, daß der Mensch überhaupt von irgendeiner Begierde gegen Gottes Gesetz aufgestachelt wird; ja ich behaupte, daß die Bosheit selbst, die all diese vielen Begierden in uns erzeugt, für Sünde zu halten ist. Ich lehre also, daß in den Heiligen, solange sie diesen sterblichen Leib an sich tragen, immer noch Sünde wohnt; denn in ihrem Fleische hat jene Bosheit, die die Begierde hervorbringt, jene Bosheit, die mit der Rechtschaffenheit im Widerspruch steht, ihre Wohnstatt.

Indessen meidet Augustin den Ausdruck „Sünde“ in diesem Sinne nicht immer; so sagt er: „Unter \'Sünde\' versteht Paulus das, woraus alle Sünden hervorgehen, nämlich die fleischliche Begierde. Im Bezug auf die Heiligen nun verliert diese auf

 

Erden ihr Herrschaftsrecht, und im Himmel vergeht sie“ (Predigt 155). Mit diesen Worten gibt er zu, daß die Gläubigen, sofern sie den Begierden des Fleisches unterworfen sind, der Sünde schuldig sind.

 

 

 

III,3,11

 

Daß aber Gott nach dem Zeugnis der Schrift seine Kirche von aller Sünde reinigt (Eph. 5,26f.), daß er diese Gnade der Befreiung durch die Taufe verheißt und diese Zusage in seinen Auserwählten auch erfüllt, das möchte ich eher auf die Befreiung von der Schuld als auf die vom Ansatz der Sünde selbst beziehen. Indem Gott die Seinigen zur Wiedergeburt kommen läßt, bewirkt er freilich, daß die Herrschaft der Sünde in ihnen abgetan wird - denn er schenkt ihnen ja die Kraft seines Geistes, in der sie den Kampf gewinnen und Sieger werden sollen! -; aber die Sünde hört bloß auf, in ihnen zu herrschen, nicht aber auch, in ihnen zu wohnen! Gewiß ist, so sagen wir, der alte Mensch gekreuzigt, gewiß ist in den Kindern Gottes das Gesetz der Sünde abgetan (Röm. 6,6); aber es bleiben doch noch Reste, freilich nicht, um in ihnen zu herrschen, wohl aber, um sie durch das Bewußtsein ihrer Schwachheit zu demütigen. Wir gestehen zwar, daß sie nicht angerechnet werden, als ob sie also gar nicht da wären; aber wir behaupten: allein aus Gottes Erbarmen werden die Heiligen, die sonst mit Recht als Sünder und Schuldige vor Gott stünden, von dieser Schuld freigesprochen. Es ist mir auch nicht schwer, diesen Satz zu beweisen; denn es gibt hierzu klare Zeugnisse der Schrift. Am deutlichsten ist das, was Paulus in Römer 7 ausruft. Zunächst: daß er da als wiedergeborener Mensch redet, habe ich schon an anderer Stelle (II,3,27) gezeigt, auch hat es Augustin mit zuverlässigen Gründen bewiesen. Ich will davon schweigen, daß er da die Ausdrücke „Böses“ und „Sünde“ (als Wiedergeborener und mit Bezug auf diesen!) gebraucht. Aber wie sehr nun auch die Widersacher unserer Lehre hinter diesen beiden Worten eine Ausflucht suchen wollen, so frage ich doch: wer will denn leugnen, daß der Widerstreit gegen Gottes Gesetz (den Paulus nach seiner Aussage in sich trägt!) böse ist? Wer will leugnen, daß die Behinderung der Gerechtigkeit Sünde ist? Wer will endlich bestreiten, daß da, wo geistliches Elend herrscht, auch Schuld ist? Alles dies aber sagt Paulus von der Krankheit aus, von der hier die Rede ist!

 

Wir haben aber auch aus dem Gesetz einen sicheren Beweis, mit dessen Hilfe wir die vorliegende Frage kurz zu lösen vermögen. Da wird uns nämlich befohlen, Gott zu lieben von ganzem Herzen, ganzer Seele und aus allen unseren Kräften (Deut. 6,5; Matth. 22,37). Es sollen also alle Bereiche unserer Seele von der Liebe zu Gott mit Beschlag belegt sein, und deshalb leistet diesem Gebot ganz sicher kein Mensch Genüge, der nur den geringsten Reiz in sein Herz dringen läßt oder auch überhaupt einen Gedanken in seinem Inneren zulassen kann, der ihn von der Liebe zu Gott wegführte und der Eitelkeit preisgäbe! Wie? Sind es etwa keine Kräfte der Seele, wenn wir von plötzlichen Regungen berührt werden, sie mit unseren Sinnen ergreifen und im Gemüt einen Vorsatz fassen? Eröffnen diese unsere Fähigkeiten aber eitlen und bösen Gedanken den Zugang zu sich, so zeigen sie damit doch, daß sie in solchem Maße noch ohne die Liebe zu Gott sind! Wenn also jemand nicht zugeben will, daß alle Begierden des Fleisches Sünden sind, und daß diese Krankheit des Begehrens, die man „Zunder“ nennt, geradezu der Brunnquell der Sünde ist, - so muß er notwendig leugnen, daß die Übertretung des Gesetzes Sünde ist.

 

 

 

III,3,12

Es könnte aber vielleicht jemandem ungereimt erscheinen, daß auf diese Weise allgemein sämtliche Begierden, die sich natürlicherweise im Menschen regen, verdammt würden; er könnte sagen, sie seien uns doch von Gott, dem Urheber der Natur, eingepflanzt. Ich antworte darauf: ich verdamme keineswegs die Begehrungen, die Gott in das Wesen des Menschen mit der ersten Schöpfung eingeprägt hat und die deshalb auch nur mit dem Menschsein des Menschen zusammen entwurzelt werden können; ich wende mich ausschließlich gegen die maßlosen und ungezähmten Regun-

 

gen, die mit Gottes Ordnung im Streit liegen. Aber aus der Bosheit unserer Natur heraus sind alle unsere Anlagen mit Lastern durchsetzt und verderbt, so daß in allem unserem Tun immer wieder Unordnung und Unmäßigkeit an den Tag tritt; da nun unsere Begehrungen von dieser Zuchtlosigkeit nicht getrennt werden können, so behaupte ich, daß sie verderbt sind. Ich kann auch das Wichtigste kurz zusammenfassen: Ich lehre, daß alle Begierden des Menschen böse sind und erkläre sie für der Sünde schuldig, und zwar nicht, sofern sie natürlich sind, sondern sofern sie ordnungswidrig sind; das sind sie aber, weil aus der verderbten, befleckten Natur nichts Reines und Lauteres hervorgehen kann.

 

Von dieser Lehre ist Augustin nicht so weit entfernt, wie es den Anschein hat. Er hatte zwar eine mehr als billige Scheu vor der üblen Nachrede, mit der ihn die Pelagianer zu belästigen trachteten, und darum vermeidet er zuweilen auch das Wort „Sünde“ (An Bonifacius, I,13,27; III,3,5). Aber er schreibt doch auch, in den Heiligen bleibe das Gesetz der Sünde, aufgehoben werde in ihnen allein die Schuld; damit zeigt er ganz deutlich, daß er von meiner Anschauung nicht weit ab ist.

 

 

 

III,3,13

 

Ich will aber noch einige weitere Äußerungen beibringen, aus denen seine Anschauung noch klarer werden wird. So schreibt er in seinem zweiten Buche gegen Julian: „Dies Gesetz der Sünde ist durch die geistliche Wiedergeburt vergeben, aber es bleibt im sterblichen Fleische bestehen. Vergeben ist es, weil in dem Sakrament, durch welches die Gläubigen wiedergeboren werden (nämlich der Taufe!), die Schuld gelöst ist; es bleibt aber zugleich, weil es ja die Lüste bewirkt, gegen welche auch die Gläubigen zu streiten haben“ (Gegen Julian, II,3,5). Oder: „Das Gesetz der Sünde also, das auch ein so großer Apostel in seinen Gliedern trug, wird in der Taufe vergeben, aber nicht etwa beendet“ (Ebenda II,4,8). Oder auch: „Dieses Gesetz der Sünde, das zwar in uns bleibt, dessen Schuld aber in der Taufe gelöst ist, hat Ambrosius ‘Ungerechtigkeit\' genannt; denn es ist in der Tat ‘ungerecht\', wenn ‘das Fleisch gelüstet wider den Geist\'” (Ebenda II,5,12). Ähnlich auch: „Die Sünde ist tot, was die Schuld anlangt, in der sie uns gefangen hielt; aber bis sie durch vollkommenes Begrabensein gänzlich geheilt ist, leistet sie selbst in ihrem Tode noch Widerstand“ (Ebenda II,9,32). Noch klarer drückt er sich im fünften Buche (gegen Julian) aus: „Die Blindheit des Herzens ist Sünde, kraft deren man nicht an Gott glaubt; sie ist zugleich Strafe für die Sünde, mit der das hoffärtige Herz in gerechter Züchtigung bestraft wird, und sie ist zugleich Ursache der Sünde, da der Irrtum des blinden Herzens sich in Taten auswirkt. Genau dementsprechend ist auch die Begierde des Fleisches, gegen die der gute Geist „gelüstet“, einerseits Sünde, weil ihr der Ungehorsam gegen die Herrschaft des Geistes innewohnt, sie ist anderseits auch Strafe für die Sünde, weil sie die Vergeltung für die Schuld und den Ungehorsam des Menschen darstellt, und sie ist zugleich Ursache der Sünde, weil wir ihr innerlich zustimmen und so abfallen, und weil wir ja schon von Geburt an mit ihr besudelt sind“ (Gegen Julian V,3, 8). Hier nennt also Augustin die böse Begierde unzweideutig „Sünde“; denn hier hat er den Irrtum der Pelagianer bereits niedergeworfen und die Wahrheit zum Siege geführt, deshalb hat er hier weniger Scheu vor der bösen Nachrede seiner Gegner! Ganz ähnlich ist es auch in der 41. Johannespredigt, in der Augustin ohne den Blick auf einen Gegner seines Herzens Meinung frei ausspricht: „Wenn du im Fleische dem Gesetz der Sünde dienst, so mache es nach dem Wort des Apostels: ‘So lasset nun die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Leibe, ihr Gehorsam zu leisten in seinen Lüsten\' (Röm. 6,12). Er sagt: Lasset sie nicht herrschen, nicht aber: lasset sie nicht sein. Denn solange du lebst, ist die Sünde notwendig in deinen Gliedern, nur soll ihr die Herrschaft genommen werden: es soll nicht mehr geschehen, was sie befiehlt!“ (Predigt 41 zum Johannesevangelium).

 

Wer nun behauptet, die böse Lust sei keine Sünde, der beruft sich gern auf das Wort des Jakobus: „Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde“ (Jak. 1,15). Aber das läßt sich ohne Mühe zurückweisen; denn wenn wir nicht begreifen, daß er hier allein von den bösen Werken oder den sogenannten Tatsünden redet, dann wird auch der böse Wille für uns nicht als Sünde gelten. Tatsächlich bezeichnet er die Freveltaten und bösen Werke als Ausgeburten der Begierde und belegt sie mit dem Wort „Sünde“, aber daraus folgt doch keineswegs, daß das Begehren etwa keine böse Sache oder daß es vor Gott nicht verdammlich wäre.

 

 

 

III,3,14

 

Heutzutage haben sich nun gewisse Wiedertäufer an Stelle der geistlichen Wiedergeburt irgendeine tolle Schwärmerei erdacht: nach ihrer Einbildung sollen die Gotteskinder bereits in den Stand der Unschuld zurückversetzt sein; sie brauchen sich also keinerlei Mühe mehr darum zu machen, wie sie die Lüste des Fleisches zähmen, nein, sie brauchen sich nur der Führung des Geistes hinzugeben, unter dessen Antrieb es kein Abirren mehr gibt! Man sollte nicht glauben, daß ein menschlicher Verstand auf einen derartigen Wahnsinn verfallen könnte, wenn sie ihre Lehre nicht offen und stolz ausplauderten. Es ist wirklich eine Ungeheuerlichkeit; aber die Wiedertäufer erleiden damit die gerechte Strafe für ihre gotteslästerliche Vermessenheit, daß sie es unternommen haben, Gottes Wahrheit in Lüge zu verkehren. Soll denn wirklich aller Unterschied zwischen Schändlich und Ehrenhaft, Gerecht und Ungerecht, Gut und Böse, Tugend und Laster ein Ende haben? Die Wiedertäufer sagen: „Das ist ein Unterschied, der aus dem Fluch über Adam stammt, von dem uns Christus freigemacht hat!“ Das heißt also: zwischen Hurerei und Zucht, Lauterkeit und Verschlagenheit, Wahrheit und Lüge, Billigkeit und räuberischer Habgier soll kein Unterschied mehr sein! Da sagen sie nun aber: „Laß doch diese unnütze Furcht fahren; der Geist wird dir schon nichts Böses befehlen, du mußt dich nur sicher und unerschrocken seinem Antrieb hingeben!“ Wer wollte sich bei solchen Ungeheuerlichkeiten nicht entsetzen! Und doch ist es unter denen, die, durch den wahnsinnigen Drang der Lust verblendet, den gesunden Menschenverstand verloren haben (sensum communem exuerunt), eine ganz alltägliche Weltweisheit!

 

Ich frage nur: Was ist das für ein Christus, den sie uns vormachen, was ist das für ein Geist, den sie ausspeien? Wir kennen nämlich nur den einen Christus und seinen einen Geist, den die Propheten einst gerühmt haben, den uns das Evangelium als den Erschienenen predigt - aber von dem hören wir nichts dergleichen! Denn dieser Geist ist nicht der Schirmherr von Mord und Hurerei, Trunkenheit, hoffärtigem Wesen, Streit, Habgier und Betrug; er wirkt vielmehr Liebe, Keuschheit, Einfachheit, Bescheidenheit, Frieden, Mäßigung und Wahrheit! Er ist nicht ein Taumelgeist, der unbesonnen Hals über Kopf durch Recht und Unrecht hindurch vorstürmt, sondern er ist voll Weisheit und Verstand und unterscheidet damit Recht und Unrecht nach Gebühr voneinander! Er stachelt keinen Menschen zu ruchlosem, unbändigem Mutwillen auf, sondern macht einen scharfen Unterschied zwischen Erlaubt und Unerlaubt und lehrt uns so, Maß und Mäßigung zu halten. Aber wozu soll ich mir weiter Mühe machen, diesen ungeheuerlichen Wahnwitz zu widerlegen? Für den Christen ist der Geist des Herrn kein tobendes Gespenst, das er im Traum empfinge oder aus anderer Leute Träumerei herbekäme, sondern er sucht fromm in der Schrift, um diesen Geist kennenzulernen. Da aber finden wir zweierlei von ihm gesagt.

Wir hören erstens, daß er uns zur Heiligung gegeben ist: er soll uns von aller Unreinigkeit und Befleckung reinigen und zum Gehorsam gegenüber der Gerechtigkeit Gottes führen. Dieser Gehorsam aber kann nur bestehen, wenn wir unsere Begierden zähmen und unterwerfen; die Schwärmer wollen dagegen diesen Begierden die Zügel schießen lassen! Zweitens hören wir, daß diese Reinigung

 

durch die Heiligung des Geistes doch so vor sich geht, daß wir noch von viel Lastern und großer Schwachheit beherrscht werden, solange wir von der Last unseres Leibes eingeschlossen sind. So sind wir noch weit von der Vollkommenheit entfernt und müssen deshalb Tag für Tag etwas weiterschreiten; wir sind in allerlei Laster verstrickt und müssen deshalb alle Tage gegen sie kämpfen. Daraus folgt, daß wir alle Faulheit, alle fleischliche Sicherheit von uns werfen und mit innerster Anspannung auf der Wacht liegen müssen, damit wir nicht in Unvorsichtigkeit von der Tücke unseres Fleisches hintergangen werden. Wir sollen gewiß nicht glauben, wir könnten weiter vorwärtskommen, als der Apostel Paulus: der aber wurde doch von einem Engel des Satans gequält (2. Kor. 12,7), damit „die Kraft in der Schwachheit sich vollende“ (2. Kor. 12,9; nicht Luthertext), und er macht uns nichts vor, wenn er uns den Widerstreit zwischen Fleisch und Geist in seinem eigenen Fleische vor die Augen stellt! (Röm. 7,6ff.).

 

 

 

III,3,15

 

Der Apostel zählt nun bei der Beschreibung der Buße mit gutem Grunde sieben Regungen auf, die als deren Ursachen, Wirkungen oder auch Bestandteile zu gelten haben, nämlich „Fleiß“ oder Besorgnis, „Verantwortung, Zorn, Furcht, Verlangen, Eifer, Rache“ (2. Kor. 7,11). Es darf dabei nicht widersinnig erscheinen, daß ich nicht genau zu entscheiden wage, ob (und wieweit) hier Ursachen oder Wirkungen der Buße erscheinen; es läßt sich nämlich beides zur Erörterung stellen. Man kann auch sagen, daß es sich hier um Regungen handelt, die mit der Buße verbunden sind. Aber man kann auch unter Übergehung dieser Fragen die Absicht des Apostels feststellen, und deshalb wollen wir uns mit einer schlichten Erläuterung zufrieden geben.

 

Er sagt also zuerst, daß die göttliche Betrübnis den „Fleiß“ wirkt. Denn wer ein ernstliches Mißfallen an sich selber empfindet, weil er gegen seinen Gott gesündigt hat, der wird zugleich zu Fleiß und Achtsamkeit angetrieben, um sich gänzlich aus des Teufels Stricken herauszuwinden und sich vor seinen Nachstellungen besser in acht zu nehmen, damit er nur ja nicht hernach der Leitung durch den Heiligen Geist verlustig gehe und sich von der fleischlichen Sicherheit übermannen lasse.

 

Dann folgt bei Paulus die „Verantwortung“. „Verantwortung“ bedeutet an dieser Stelle nicht etwa soviel wie „Verteidigung“, als ob also der Sünder seine Verfehlung leugnete oder seine Schuld zu verkleinern suchte, um Gottes Gericht zu entgehen; es besagt hier vielmehr soviel wie „Reinigung“, die sich auf Abbitte und nicht auf das Vertrauen zur eigenen Sache gründet. Es geht jetzt wie bei Kindern, die nicht abtrünnig sind: wenn sie ihre Abirrungen erkennen und gestehen, so bitten sie doch um Vergebung; damit das nun recht geschehe, bezeugen sie auf alle mögliche Weise, daß sie die Ehrfurcht, die ihren Eltern zukommt, keineswegs von sich getan haben; kurz, sie entschuldigen sich nicht etwa, um gerecht und unschuldig dazustehen, sondern allein, um Vergebung zu erlangen!

 

Dann redet Paulus vom „Zorn“: der Sünder ist innerlich grimmig gegen sich selbst, rechtet mit sich selbst, zürnt sich selbst, wenn er seine Verkehrtheit und seine Undankbarkeit gegen Gott bedenkt.

 

Unter „Furcht“ versteht der Apostel jenes Erzittern, das jedesmal in unser Herz dringt, wenn wir erkennen, was wir verschuldet haben und wie schrecklich Gottes strenger Zorn gegen den Sünder ist. Denn dann kommt notwendig eine furchtbare Unruhe qualvoll über uns: sie erzieht uns zur Demut und macht uns zugleich für die Folgezeit vorsichtiger. So entsteht also aus der Furcht wiederum der „Fleiß“, die Besorgnis, von der wir oben sprachen; da merken wir, wie eng alle diese Regungen miteinander zusammenhängen.

 

Unter „Verlangen“ scheint mir der Apostel die eifrige Erfüllung der auf uns liegenden Pflichten und die freudige Bereitwilligkeit zum Gehorsam zu verstehen, zu der uns ja am meisten die Erkenntnis unserer Verfehlungen anreizen muß.

 

Hierher gehört auch der „Eifer“, den Paulus gleich anschließend nennt. Er bedeutet einen feurigen Ernst, der uns entzündet, wenn in uns gleich Stacheln die Frage aufkommt: Was habe ich getan? Wohin wäre ich versunken, wenn mir Gottes Erbarmen nicht zu Hilfe gekommen wäre?

 

Am Schluß erscheint dann die „Rache“. Je strenger wir nämlich gegen uns selbst sind und je schärfer wir unsere Sünde an uns strafen, desto eher dürfen wir hoffen, einen gnädigen und barmherzigen Gott zu haben. Ist unsere Seele wirklich vom Schrecken vor Gottes Gericht geängstet, so kann sie gar nicht anders, als auch ihrerseits „Rache“ zu nehmen, indem sie an sich selbst Strafe übt. Die Frommen wissen es wahrlich selber, was für Strafen Beschämung, innere Erschütterung, Seufzen, Selbstverurteilung und all die übrigen Regungen sind, die aus ernster Erwägung der Sünde hervorgehen. Wir wollen indessen bedenken, daß es Maß zu halten gilt, damit uns die Traurigkeit nicht gar verschlinge; denn nichts liegt dem erschrockenen Gewissen näher, als in Verzweiflung zu versinken. Das ist denn auch eine der Künste, die der Satan anwendet, wenn er einen Menschen um der Furcht Gottes willen am Boden liegen sieht: er läßt ihn tiefer und tiefer in den Schlund der Traurigkeit versinken, damit er sich nie wieder erhebe. Gewiß kann die Furcht, die uns zur Demut führt und die von der Hoffnung auf Vergebung nicht weicht, niemals zu groß sein. Aber wir sollen uns doch nach der Weisung des Apostels vorsehen, daß der Sünder, der sich quält und sich darüber selber mißfällt, nicht von allzugroßer Furcht niedergedrückt werde und dabei „matt werde und ablasse“ (Hebr. 12,3). Denn auf diese Weise würden wir ja vor Gott, der uns durch die Buße zu sich ruft, fliehen! Sehr fruchtbringend ist in dieser Hinsicht die Ermahnung, die uns Bernhard von Clairvaux gibt: „Der Schmerz um die Sünde ist notwendig, sofern er nicht ohne Unterlaß währt. Deshalb rate ich: laßt zuweilen auch einmal die qualvolle und schmerzliche Erinnerung an eure Wege beiseiteliegen und lenkt eure Schritte in die weite Ebene der fröhlichen Besinnung auf Gottes Wohltaten! Laßt uns Honig unter den Wermut mischen, damit seine heilsame Bitterkeit, wenn wir sie mit Süßigkeit vermischt und so gemildert trinken, uns das Heil wirklich zu geben vermag! Und wenn ihr über euch selber in Demut nachdenkt, so denkt zugleich auch über den Herrn nach seiner Güte!“

 

 

 

III,3,16

Jetzt können wir auch begreifen, welche Früchte die Buße hervorbringt: es sind die uns aufgetragenen Werke der Frömmigkeit gegen Gott, der Liebe zu den Menschen, und es ist außerdem die Heiligkeit und Reinheit in unserem ganzen Leben. Je mehr Eifer überhaupt ein Mensch daran wendet, sein Leben nach der Regel des Gesetzes Gottes zu prüfen, desto gewissere Zeichen seiner Buße legt er an den Tag. Wenn uns daher der Heilige Geist zur Buße mahnt, so weist er uns bald auf die einzelnen Gebote des Gesetzes, bald auch auf die Pflichten der zweiten Tafel hin. An anderen Stellen macht er es freilich auch so, daß er zunächst die Unreinigkeit im Grunde des Herzens selbst verdammt, uns dann aber auch äußere Zeichen angibt, durch die die Lauterkeit unserer Buße deutlich werden soll. Ein Bild hiervon will ich dem Leser bald vor Augen führen, wenn ich zur Beschreibung des christlichen Lebens komme. Ich will hier nicht die Zeugnisse aus den Propheten alle aufführen, in denen sie teils die Torheit verspotten, in der man Gott mit Zeremonien zu versöhnen trachtet, und zeigen, daß das doch lauter Possenspiel ist, teils auch deutlich machen, daß die äußere Reinheit des Lebens nicht das Hauptstück der Buße ist, weil ja Gott das Herz ansieht. Wer auch nur einigermaßen in der Schrift bewandert ist, der wird ja auch ohne fremde Unterweisung ganz aus sich heraus erkennen: wo wir es mit Gott zu tun haben, da wird nur dann etwas ausgerichtet, wenn wir mit der innersten Regung des Herzens beginnen. Es gibt eine Stelle bei Joel, die nicht wenig dazu dienen kann, auch andere Stellen recht zu verstehen: „Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider!“ (Joel 2,13). Beides ist auch kurz in den Worten

 

des Jakobus ausgedrückt: „Reiniget die Hände, ihr Sünder, und machet eure Herzen keusch, ihr Wankelmütigen!“ (Jak. 4,8). Was uns hier im ersten Gliede gezeigt wird, ist wesentlich eine sich ergebende Folge; die Quelle und der Ursprung tritt uns dann aber im zweiten Gliede entgegen: die verborgene Unreinigkeit soll abgetan werden, damit Gott im Herzen selbst ein Altar errichtet werde.

 

Aber es gibt doch auch bestimmte äußere Übungen, die uns, jedem für sich allein, als Mittel dienen sollen, uns zu demütigen oder unser Fleisch zu zähmen, und die andererseits öffentlich den Zweck haben, die Buße zu bezeugen (2. Kor. 7,11). Diese äußeren Übungen aber fließen aus jener „Rache“, von der Paulus (2. Kor. 7,11) redet; denn es ist einem geängsteten Geiste eigen, in Trauer zu gehen, unter Seufzen und Tränen zu leben, allen Glanz, allen Prunk zu meiden und allen Vergnügungen abzusagen. Ja, wer da weiß, ein wie großes Übel die Widerspenstigkeit unseres Fleisches ist, der sucht alle Mittel, um sie in Schranken zu halten. Und wer es recht bedenkt, wie schlimm es ist, Gottes Gerechtigkeit verletzt zu haben, der kann nicht ruhen, bis er in Demut Gott die Ehre gegeben hat.

 

Dergleichen Übungen erwähnen die alten Kirchenschriftsteller oft, wenn sie von den Früchten der Buße sprechen. Sie begründen freilich die Kraft der Buße durchaus nicht auf diese Übungen; aber der Leser muß es mir nicht übelnehmen, wenn ich ausspreche, was ich denke: jene Alten scheinen mir doch ganz gewiß auf diese Dinge mehr Gewicht zu legen, als es recht ist. Wenn man es richtig überlegt, so wird man mir, das hoffe ich, darin beistimmen, daß sie in doppelter Hinsicht über das rechte Maß hinausgegangen sind. Dadurch, daß sie erstens jene leibliche Übung so stark betonten und sie so gewaltig rühmten, erreichten sie zwar, daß das Volk sie wirklich mit großem Eifer annahm, aber sie verdunkeln damit gewissermaßen das, was doch von weit größerer Bedeutung sein muß. Zweitens gingen sie bei ihrer Forderung nach äußerlichen Kasteiungen immerhin schärfer vor, als es die Sanftmut der Kirche zuläßt. Das muß an anderer Stelle noch behandelt werden.

 

 

 

III,3,17

Es gibt nun aber wirklich Leute, die von der Tatsache, daß sie an mehreren Stellen der Schrift, insbesondere bei Joel (2,12) Weinen und Fasten und (Sitzen in der) Asche nennen hören, gleich dazu übergehen, in Fasten und Weinen das wesentlichste Stück der Buße zu erblicken. Das ist ein Irrwahn, den ich hier beheben muß. Wenn uns gesagt wird, daß wir uns von ganzem Herzen zum Herrn bekehren sollen, wenn wir hören, daß wir nicht unsere Kleider, sondern unsere Herzen zerreißen sollen, so macht dies das eigentliche Wesen der Buße aus. Weinen aber und Fasten werden nicht etwa als beständige und notwendige Auswirkungen der Buße hinzugefügt, sondern sie ergeben sich unter besonderen Umständen. Joel hatte geweissagt, daß den Juden die furchtbarste Zerstörung drohte, und er riet ihnen nun, dem Zorn Gottes zuvorzukommen, und zwar nicht allein durch Umkehr, sondern auch durch offenbare Bezeugungen ihrer Bekümmernis. Wie sich nämlich ein Angeklagter mit ungeschorenem Barte, mit ungekämmtem Haar, in dunklem Trauergewand zu demütigen pflegt, um bei seinem Richter Barmherzigkeit zu erlangen, so sollten auch die Juden, die ja als Angeklagte vor Gottes Gericht geführt wurden, Gott in solch jämmerlicher Gewandung bitten, von seiner Strenge zu lassen. Nun waren wohl freilich Sack und Asche mehr jener Zeit angemessen; Weinen und Fasten dagegen würde auch bei uns sicherlich ein sehr angemessener Brauch sein, sooft uns der Herr mit Unglück oder Not zu drohen scheint. Denn wenn er eine Gefahr sich zeigen läßt, so läßt er uns damit kundwerden, daß er sich zur Strafe bereitet und gleichsam wappnet. Der Prophet hat nun den Seinen kurz zuvor angekündigt, daß über ihre Freveltaten eine strenge Untersuchung eintreten würde; wenn er sie nun zu Weinen und Fasten, das heißt also zur Traurigkeit von Angeklagten, ermahnt, so tut er durchaus recht daran. Auch heutzutage würden die Hirten der Kirche, wenn sie sähen, daß über den Häuptern der Ihrigen ein Unheil drohte, keineswegs übel

 

daran tun, wenn sie sie dazu aufriefen, zu Fasten und Weinen zu eilen; nur müßten sie immerzu mit noch größerem Eifer und noch ernstlicherer Mühe auf die Hauptsache dringen, nämlich, daß es die Herzen zu zerreißen gilt und nicht die Kleider. Es steht außer Zweifel, daß zur Buße nicht immer das Fasten gehört, sondern daß dies für besondere Notzeiten bestimmt ist. Christus gibt ihm deshalb seinen Platz neben der Traurigkeit: er spricht die Apostel von der Verpflichtung zum Fasten los, bis sie seine Gegenwart verloren haben und damit verwaist sind und in Traurigkeit leben müssen (Matth. 9,15). Dabei rede ich indessen vom öffentlichen Fasten. Denn das Leben der Frommen soll dermaßen mit Nüchternheit und Mäßigkeit untermischt sein, daß in seinem ganzen Lauf fortwährend ein gewisses Fasten an den Tag tritt. Da nun aber diese ganze Angelegenheit bei der Behandlung der kirchlichen Zucht aufs neue zur Sprache kommen wird, so will ich sie hier nur knapp berühren.

 

 

 

III,3,18

 

Dies aber will ich hier doch noch einfügen: wenn man den Begriff „Buße“ auf das äußerliche Bekenntnis (der Sünde) überträgt, so gibt man ihm einen uneigentlichen Sinn und biegt ihn von der ursprünglichen Bedeutung, die ich oben dargelegt habe, ab. Denn es handelt sich dann ja nicht eben um die Bekehrung zu Gott, sondern vielmehr um ein Bekenntnis der Schuld und die Bitte um Erlassung der Strafe und der Schuld. Tun wir Buße im Sack und in der Asche, so bedeutet das nichts anderes, als daß wir bezeugen, daß wir uns selbst mißfallen, wenn uns Gott um unserer schweren Missetaten willen zürnt (Matth. 11,21; Luk. 10,13). Es handelt sich hier um ein öffentliches Bekenntnis, in welchem wir uns selbst vor den Engeln und vor der Welt verurteilen und so Gottes Gericht zuvorkommen. So spricht es Paulus aus, indem er die Trägheit solcher Leute straft, die sich in ihren Sünden gefallen: „Denn so wir uns selber richteten, so würden wir nicht gerichtet“ (1. Kor. 11,31). Aber es ist nicht immer erforderlich, daß wir Menschen öffentlich zu Mitwissern und Zeugen unserer Reue machen; dagegen ist es ein Stück der wahren Buße, das unter keinen Umständen fehlen darf, daß wir Gott insonderheit (unsere Sünde) bekennen. Denn es wäre vollkommen widersinnig, daß uns Gott Sünden verziehe, in denen wir uns selbst schmeicheln und die wir heuchlerisch verhehlen, damit er sie nicht an den Tag bringe. Wir sollen auch nicht bloß unsere täglich begangenen Sünden bekennen, sondern ein schwererer Fall soll uns weiterführen und uns Dinge ins Gedächtnis rufen, die schon lange begraben schienen. So schreibt es uns David an seinem Beispiel vor. Er ist innerlich betroffen durch die Beschämung über seine letztgeschehene Freveltat, und da treibt er seine Selbstprüfung zurück bis zum Mutterleibe, und er erkennt an, daß er schon damals verderbt und von der Unreinigkeit des Fleisches befleckt war (Ps. 51,7). Das tut er nicht, um seine Schuld abzuschwächen - wie es ja viele machen, die sich im Haufen der Sünder verbergen, andere mit sich in die gleiche Schuld verstricken und so Straflosigkeit zu erlangen trachten. Ganz anders David: er macht in seiner Aufrichtigkeit seine Schuld noch größer, weil er ja, seit seiner frühesten Kindheit verderbt, nicht aufgehört hat, Böses auf Böses zu häufen. Auch noch an einer anderen Stelle übt er solche Prüfung seines vergangenen Lebens, indem er Gottes Barmherzigkeit für die Sünden seiner Jugend erfleht (Ps. 25,7). Es ist ja auch gewiß: erst dann beweisen wir, daß uns alle Gleichgültigkeit ausgetrieben ist, wenn wir unsere bösen Werke beweinen und Gott um Befreiung von der Last bitten, unter der wir seufzen.

Es ist noch zu bemerken, daß die Buße, die wir nach Gottes Weisung allezeit üben sollen, etwas anderes ist, als jene, die Menschen, welche ganz besonders schändlich gesündigt, in zügellosem Mutwillen der Sünde sich hingegeben oder in irgendwelcher Abtrünnigkeit Gottes Joch abgeworfen haben, gewissermaßen vom Tode erweckt. Wenn die Schrift nämlich zur Buße mahnt, so spricht sie von ihr oftmals gleichsam als dem Übergang oder der Auferweckung vom Tode zum Leben; und wenn sie berichtet, daß das Volk Buße getan habe, so versteht sie darunter, daß es vom

 

Götzendienst und anderem grobem Frevel bekehrt worden sei. Aus diesem Grunde kündigt Paulus auch den Sündern Traurigkeit an, „die nicht Buße getan haben für Unreinigkeit und Hurerei und Unzucht ...“ (2. Kor. 12,21). Diesen Unterschied (zwischen der allgemeinen Verpflichtung zur Buße und dem Bußruf an einzelne Sünder) müssen wir genau beachten, damit wir nicht etwa, wenn wir hören, daß einzelne zur Buße gerufen werden, in lässige Sicherheit versinken - als ob uns die Abtötung des Fleisches nichts mehr anginge. Nein, die Sorge um diese Abtötung des Fleisches können wir gar nicht beiseitelassen: daran hindern uns die bösen Begierden, die uns immerfort kitzeln, und die Laster, die immer wieder ausschlagen. Die besondere Buße (specialis poenitentia), die nur von einzelnen erfordert wird, die der Teufel von der Furcht Gottes weggerissen und in verderbliche Fesseln geschlagen hat, hebt also die gewöhnliche (ordinaria poenitentia) nicht auf, in der wir uns um der Verderbnis unserer Natur willen unser ganzes Leben lang mühen müssen.

 

 

 

III,3,19

 

Wenn es wahr ist - und das steht doch ganz deutlich fest! -, daß das ganze Evangelium wesentlich zwei Stücke umfaßt, nämlich Buße und Vergebung der Sünden, dann müssen wir auch ganz klar sehen, daß der Herr die Seinen eben dazu aus Gnaden rechtfertigt, daß er sie zugleich durch die Heiligung seines Geistes zu wahrer Gerechtigkeit neugestalte. Johannes, der Bote, der vor dem Angesicht Christi her gesandt wurde, um seine Wege zu bereiten (Matth. 11,10), der hat gepredigt: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen:“ (Matth. 3,2). Wenn er zur Buße rief, so ermahnte er damit die Menschen, zu erkennen, daß sie Sünder waren und daß all ihr Wesen und Tun vor dem Herrn verdammt war, damit sie die Abtötung ihres Fleisches und die neue Wiedergeburt im Geiste von ganzem Herzen begehrten. Wenn er aber zugleich das Reich Gottes ankündigte, so rief er die Menschen damit zum Glauben; denn unter dem Reiche Gottes, das nach seiner Lehre „nahe herbeigekommen“ war, verstand er die Vergebung der Sünden, das Heil, das Leben und überhaupt alles, was wir in Christus gewinnen; deshalb lesen wir auch bei den anderen Evangelisten: „Johannes kam und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ (Mark. 1,4; Luk. 3,3). Was heißt das aber anders, als daß die Menschen, unter der Last ihrer Sünden bedrückt und ermattet, zum Herrn sich bekehren und die Hoffnung auf die Vergebung und das Heil gewinnen sollten? So hat auch Christus seine Reden damit angefangen: „Das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubet an das Evangelium:“ (Mark. 1,15). Damit erklärt er zunächst, daß in ihm die Schatzkammern der Barmherzigkeit Gottes erschlossen sind, dann fordert er Buße und dann endlich das zuversichtliche Vertrauen auf Gottes Verheißungen. Wenn er also den ganzen Inhalt des Evangeliums kurz zusammenfassen wollte, so sagte er: „Also mußte Christus leiden und auferstehen von den Toten ... und predigen lassen in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden ...“ (Luk. 24,46. 47). Das haben auch die Apostel nach Christi Auferstehung verkündigt: Christus ist von Gott „erhöht ... zu geben Israel Buße und Vergebung der Sünden“ (Apg. 5,31). Die Verkündigung der Buße im Namen Christi geschieht, wenn die Menschen durch die Lehre des Evangeliums vernehmen, daß all ihre Gedanken, ihre Regungen, ihre Vorsätze verderbt und sündig sind und daß sie deshalb notwendig neu geboren werden müssen, wenn sie in Gottes Reich eingehen wollen. Die Verkündigung der Sündenvergebung geschieht, wenn der Mensch gelehrt wird, daß Christus uns „gemacht ist“ zur Erlösung, zur Gerechtigkeit, zum Heil und zum Leben (1. Kor. 1,30, aber nicht genaues Zitat), daß wir in seinem Namen aus Gnaden vor Gottes Auge gerecht und unschuldig dastehen. Diese zwiefache Gnade wird im Glauben ergriffen, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe; da nun aber der Glaube im eigentlichen Sinne an Gottes Güte hängt, aus der heraus wir die Vergebung der Sünden empfangen, so war es erforderlich, ihn von der Buße sorglich zu unterscheiden.

 

III,3,20

 

Nun öffnet uns der Haß gegen die Sünde, der ja der Anfang der Buße ist, den ersten Zugang zur Erkenntnis Christi; Christus offenbart sich allein elenden, geängstigten Sündern, die da seufzen, die sich abmühen, die beladen sind, die hungern und dürsten, die unter Schmerz und Jammer daniederliegen (Jes. 61,1; Matth. 11,5; Luk. 4,18). Ist es aber so, dann müssen wir uns eben nach dieser Buße ausstrecken, in ihr unser Leben lang uns üben, in ihr bis ans Ende beharren, wenn wir in Christus bleiben wollen. Denn er ist gekommen, die Sünder zu rufen - aber zur Buße! (Matth. 9,13). Er ist gekommen, um die Unwürdigen zu segnen - aber dazu, „daß ein jeglicher sich bekehre von seiner Bosheit“! (Apg. 3,26; 5,31). Die Schrift ist voll von Sprüchen dieser Art. Wo also Gott die Vergebung der Sünden anbietet, da pflegt er durchweg zugleich die Umkehr zu fordern. Er gibt damit zu verstehen, daß seine Barmherzigkeit für den Menschen Ursache zur Umkehr sein soll. So spricht er: „Haltet das Recht und tut Gerechtigkeit; denn mein Heil ist nahe ...“ (Jes. 56,1). Oder: „Zion wird ein Erlöser kommen und denen, die sich bekehren von den Sünden in Jakob ...“ (Jes. 59,20). Oder auch: „Suchet den Herrn, solange er zu finden ist, rufet ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter seine Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich sein erbarmen ...“ (Jes. 55,6. 7). Oder endlich: „So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden vertilgt werden!“ (Apg. 3,19). Dabei ist jedoch zu bemerken, daß die Hinzusetzung dieser Bedingung nicht etwa soviel bedeutet, als ob unsere Reue die Grundlage wäre, auf der wir uns die Vergebung verdienen könnten. Nein, der Herr hat eben dazu beschlossen, sich der Menschen zu erbarmen, daß sie ihre Sünde bereuen, und er zeigt ihnen in jener Bedingung die Richtung, die sie einnehmen müssen, wenn sie Gnade erlangen wollen. Solange wir nun also in dem Gefängnis unseres Leibes unsere Wohnstatt haben, sollen wir beständig mit den Lastern unserer verderbten Natur im Streite liegen, ja mit unserem ganzen natürlichen Sinn. Platon sagt gelegentlich - unter anderem vor allem an vielen Stellen im „Phaidon“ -, das ganze Leben eines Philosophen bestehe im Bedenken des Todes. Noch viel richtiger können wir sagen: das Leben eines Christenmenschen ist eine beständige, eifrige Übung darin, das Fleisch zu töten, bis es ganz gestorben ist und der Geist Gottes in uns die Herrschaft gewonnen hat. Nach meiner Überzeugung ist deshalb der am weitesten fortgeschritten, der es am besten gelernt hat, sich selbst zu mißfallen - freilich nicht etwa, um in diesem Sumpfe stecken zu bleiben und nicht weiter vorwärtszukommen, sondern vielmehr, um zu Gott hinzueilen, zu ihm zu seufzen, damit er als ein Mensch, der in Christi Tod und Leben eingeleibt ist, all sein Trachten auf beständige Buße richte. Bei einem Menschen, der wirklich von echtem Haß gegen die Sünde ergriffen ist, kann es ja gar nicht anders sein. Denn es hat nie ein Mensch die Sünde gehaßt, ohne daß ihn zuvor die Liebe zur Gerechtigkeit erfaßt hätte. Diese Ansicht war die allerschlichteste und sie schien mir dementsprechend auch mit der Wahrheit der Heiligen Schrift am besten übereinzustimmen.

 

 

 

III,3,21

Daß ferner die Buße ein einzigartiges Geschenk Gottes ist, das ist nach meiner Meinung aus der bisherigen Darlegung so deutlich geworden, daß eine längere Erörterung nicht erneut vonnöten ist. Deshalb lobt und bewundert die Kirche Gottes Gnadengabe, daß er „auch den Heiden Buße gegeben” hat zum Heil (Apg. 11,18). Und Paulus befiehlt dem Timotheus Geduld und Sanftmut gegenüber den Ungläubigen und sagt: „Ob ihnen Gott dermaleinst Buße gebe ... und sie wieder nüchtern würden aus des Teufels Strick ...“ (2. Tim. 2,25f.). Gewiß stellt Gott fest, daß er die Bekehrung aller Menschen will, und er läßt seine Ermahnungen unterschiedslos an alle ergehen; daß sie aber zur Wirkung kommen, das hängt von dem Geiste der Wiedergeburt ab. Es wäre uns ja auch leichter, einen Menschen zu erschaffen, als aus eigenen Kräften eine bessere Natur anzunehmen. Deshalb heißen

 

wir auch mit vollem Recht hinsichtlich des ganzen Geschehens der Wiedergeburt „Gottes Werk, geschaffen ... zu guten Werken, zu welchen er uns zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen“ (Eph. 2,10). Wen Gott aus dem Verderben herausreißen will, den macht er durch den Geist der Wiedergeburt lebendig. Das bedeutet nicht, daß etwa die Buße im eigentlichen Sinne die Ursache unseres Heils wäre; nein, es kommt daher, daß sie, wie wir bereits gesehen haben, vom Glauben und von der Barmherzigkeit Gottes nicht zu trennen ist; so bezeugt es ja auch Jesaja: „... Zion wird ein Erlöser kommen und denen, die sich bekehren von den Sünden in Jakob ...“ (Jes. 59,20).

 

Es steht freilich fest: Überall, wo die Furcht Gottes im Schwange geht, da ist der Heilige Geist zum Heil des Menschen wirksam gewesen. Deshalb fassen es bei Jesaja auch die Gläubigen, die darüber klagen und jammern, daß Gott sie verlassen habe, als Zeichen ihrer Verwerfung auf, daß Gott ihr Herz habe verstocken lassen (Jes. 63,17). Und auch der Apostel, der die Abtrünnigen von der Hoffnung auf das Heil ausschließen will, fügt als Grund noch hinzu: „Es ist unmöglich“, sie „wiederum zu erneuern zur Buße“ (Hebr. 6,4.6). Wenn nämlich Gott die Menschen erneuert, die er nicht verlorengehen lassen will, so gibt er damit ein Zeichen seiner väterlichen Gunst und zieht sie gewissermaßen mit den Strahlen seines hellen und freundlichen Angesichts zu sich; auf der anderen Seite aber trifft er die Verworfenen, deren gottloses Wesen unvergebbar ist, mit dem Wetterstrahl der Verstockung.

 

Diese Art der Vergeltung kündigt der Apostel denen an, die mutwillig abfallen, die vom Glauben an das Evangelium weichen und auf diese Weise mit Gott ihr Spiel treiben, seine Gnade verächtlich von sich stoßen und Christi Blut für unrein achten und mit Füßen treten, (Hebr. 10,26-31) ja, soviel an ihnen ist, „den Sohn Gottes wiederum kreuzigen“ (Hebr. 6,6). Damit schneidet er nicht allen mutwilligen Sünden die Hoffnung auf Vergebung ab, wie einige Leute das meinen, die in verkehrter Weise hart sind. Nein, er lehrt, daß der Abfall keinerlei Entschuldigung verdient und daß es deshalb nicht verwunderlich ist, daß Gott mit unerbittlicher Strenge solche lästerliche Verachtung seiner Majestät rächt. Er sagt: „Es ist unmöglich, die, so einmal erleuchtet sind und geschmeckt haben die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt, - wo sie abfallen, wiederum zu erneuern zur Buße, als die ... den Sohn Gottes wiederum kreuzigen und für Spott halten“ (Hebr. 6,4-6). Ebenso sagt er an anderer Stelle: „Denn so wir mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, haben wir fürder kein anderes Opfer mehr für die Sünden, sondern ein schreckliches Warten des Gerichts ...“ (Hebr. 10,26ff.).

Dies sind auch die Stellen, aus deren falschem Verständnis heraus vorzeiten die Novatianer zu ihrem Unsinn gekommen sind. Auf der anderen Seite gab es fromme Männer, die sich an der Härte dieser Aussagen stießen und die von da aus zu der Ansicht gelangt sind, der Hebräerbrief sei unecht - obwohl er doch in jeder Hinsicht den apostolischen Geist wirklich verspüren läßt. Wir haben aber hier nur mit solchen Leuten zu streiten, die diesen Brief anerkennen; da ist es nun aber leicht zu zeigen, wie rein gar nichts die angegebenen Sprüche zur Unterstützung ihres Irrtums beitragen. Zunächst muß doch der Apostel notwendig mit seinem Meister einig gehen; und dieser versichert, daß jede Sünde und Lästerung vergeben werden wird, außer der Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser Welt, noch in der zukünftigen vergeben wird (Matth. 12,31f.; Mark. 3,28f.; Luk. 12,10). Mit dieser einzigen Ausnahme hat sich auch der Apostel ganz sicher begnügt - es sei denn, daß wir ihn zum Widersacher der Gnade Christi machen wollten! Daraus aber ergibt sich, daß keiner einzelnen Sünde die Vergebung versagt wird, mit Ausnahme der einzigen, die aus hoffnungsloser Raserei herkommt und nicht der Schwachheit zugeschrieben

 

werden kann und die es ganz deutlich offenbart, daß der betreffende Mensch vom Teufel besessen ist.

 

 

 

III,3,22

 

Um dies aber näher zu entfalten, müssen wir fragen, was denn jener furchtbare Frevel sei, der keine Vergebung finden soll.

 

Augustin versteht darunter gelegentlich den verbohrten Starrsinn, den ein Mensch bis zu seinem Tode beibehält, und zugleich den gänzlichen Mangel des Vertrauens auf die Vergebung. Aber diese Ansicht paßt nicht genug zu den Worten Christi. Christus sagt, es würde diese Sünde „in dieser Welt“ nicht vergeben werden. Wenn das nicht ohne Sinn sein soll, so muß diese Sünde in diesem Leben begangen werden können. Stimmt dagegen die Ansicht des Augustin, so kann diese Sünde nur ganz getan werden, wenn der Mensch in ihr bis zu seinem Tode verharrt. Andere sagen, die Sünde wider den Heiligen Geist bestehe darin, daß man einen Bruder um die ihm widerfahrene Gnade beneide; aber ich vermag nicht einzusehen, woher man diese Anschauung haben will.

 

Ich will aber eine rechte Deutung hierhersetzen; habe ich diese mit zuverlässigen Schriftzeugnissen begründet, so erledigen sich die anderen alle von selbst. Ich verstehe es also folgendermaßen: Wider den Heiligen Geist sündigt der, der von dem Glanz der göttlichen Wahrheit dermaßen getroffen ist, daß er sich nicht mehr mit Unwissenheit entschuldigen kann - und der dann doch dieser Wahrheit in absichtlicher Bosheit sich widersetzt, und zwar einzig und allein, um ihr Widerstand zu leisten. Christus will ja selbst erläutern, was er gesagt hat, und setzt deshalb gleich hinzu: „Wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den Heiligen Geist, dem wird\'s nicht vergeben ...“ (Matth. 12,32; Mark. 3,29; Luk. 12,10). Matthäus setzt hier (nach einer freilich nicht zuverlässigen Lesart) für Lästerung des Geistes „Geist der Lästerung“.

 

Wie kann nun aber jemand den Sohn schmähen, ohne damit zugleich den Heiligen Geist zu treffen? Das ist zweifellos dann der Fall, wenn jemand Gottes Wahrheit noch nicht kennt und sich unwissend an ihr stößt, wenn jemand Christus unwissend lästert, aber zugleich doch so gesinnt ist, daß er Gottes Wahrheit nicht auslöschen wollte, wenn sie ihm offenbar wäre, und daß er den, den er als den Christus des Herrn erkennte, auch nicht mit einem einzigen Worte verletzen wollte; um wen es so steht, der sündigt wider den Vater und wider den Sohn. Solcher Art Leute gibt es heute viel: sie verfluchen die Lehre des Evangeliums auf das allerschändlichste - und doch wären sie bereit, sie von ganzem Herzen hochzuhalten, wenn sie erkennten, daß es die Lehre des Evangeliums wäre.

Wer nun aber in seinem Gewissen davon überführt ist, daß es Gottes Wort ist, was er von sich weist und bekämpft, und wer dabei trotzdem nicht aufhört, es zu bestreiten, von dem heißt es: er lästert gegen den Heiligen Geist; denn er streitet gegen die Erleuchtung, die doch das Werk des Heiligen Geistes ist. Solcher Menschen gab es unter den Juden einige: sie vermochten dem Geist, der durch Stephanus redete, nicht zu widerstehen - und doch widerstanden sie mit Absicht! (Apg. 6,10). Nun ist es freilich außer Zweifel, daß viele von ihnen vom Eifer um das Gesetz dazu hingerissen wurden; aber augenscheinlich gab es auch solche unter ihnen, die in böser Gottlosigkeit gegen Gott selber wüteten, das heißt: gegen die Lehre, von der sie sehr wohl wußten, daß sie von Gott war. Von derselben Art waren auch die Pharisäer selbst, gegen die der Herr sich so scharf wendet: um die Kraft des Heiligen Geistes zunichte zu machen, belegten sie sie verleumderisch mit dem Namen des Beelzebub (Matth. 9,34; 12,24). Da ist also der „Geist der Lästerung“ am Werk, wo die Vermessenheit des Menschen mit voller Absicht zur Schmähung des Namens Gottes sich hinreißen läßt. Das deutet auch Paulus an: er sagt, ihm sei „Barmherzigkeit widerfahren“, weil er das, was ihn sonst der Gnade des Herrn unwürdig gemacht hätte, „unwissend” und „im Unglauben“ getan hätte (1. Tim.

 

1,13). Stand also neben dem Unglauben die Unwissenheit, so bewirkte das, daß Paulus Vergebung erlangte; daraus folgt aber: tritt zum Unglauben das Wissen hinzu, so ist für Vergebung kein Raum mehr.

 

 

 

III,3,23

 

Wenn man nun genau zusieht, so wird man merken, daß der Apostel (im Hebräerbrief) nicht von einem einzelnen Fall oder zweien redet, sondern von dem allgemeinen Abfall, in welchem die Verworfenen das Heil von sich stoßen. Es handelt sich um Leute, von denen Johannes in seinem ersten Briefe erklärt, sie seien von den Auserwählten ausgegangen, ohne indessen von ihnen zu sein (1. Joh. 2,19). Daß sie nun Gott unversöhnlich finden, nimmt nicht wunder. Denn der Apostel wendet sich gegen solche, die sich einbildeten, ihren Weg zur christlichen Religion zurückfinden zu können, wenn sie auch einmal von ihr abgefallen wären. Diese Leute ruft er von ihrer falschen, gefährlichen Meinung zurück und sagt ihnen, was auch in höchstem Maße Wahrheit ist: Wer Christi Gemeinschaft mit Wissen und Willen von sich geworfen hat, dem steht kein Rückweg zu ihr offen. Das gilt aber nun nicht einfach von solchen Menschen, die in zuchtlosem Mutwillen ihres Lebens das Wort Gottes übertreten, sondern von solchen, die des Wortes ganze Lehre mit voller Absicht verwerfen. Die Worte „Abfallen“ und „Sündigen“ (Hebr. 6,6; 10,26) hat man also falsch aufgefaßt; die Novatianer verstehen unter „Abfallen“ folgendes: es hat jemand aus dem Gesetz des Herrn die Lehre empfangen, daß er nicht stehlen und nicht ehebrechen soll - und er läßt doch nicht vom Diebstahl und vom Ehebruch. Ich behaupte dagegen: in dem Wort „Abfallen“ (in Hebr. 6,6) ist ein stillschweigender Gegensatz mitbeschlossen; darin wird alles noch einmal aufgenommen, was zu dem vorher Gesagten (Hebr. 6,4f.) im Gegensatz steht (d. h. also: Abfall ist das Nein zu all den Gaben, die der Gläubige nach Hebr. 6,4f. empfangen hat!). So ist also hier nicht von irgendeiner besonderen Freveltat die Rede, sondern von der allgemeinen Abwendung von Gott und sozusagen der Abtrünnigkeit des ganzen Menschen, wenn der Apostel also vom Abfall solcher Menschen spricht, „so einmal erleuchtet sind und haben geschmeckt die himmlische Gabe und teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes und geschmeckt haben das gütige Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt“ (Hebr. 6,4f.), so haben wir darunter Leute zu verstehen, die das Licht des Geistes in bewußter Gottlosigkeit ausgelöscht, das Schmecken der himmlischen Gabe verachtet, sich von der Heiligung des Geistes entfremdet und das Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt mit Füßen getreten haben. Um diese klare Bewußtheit solchen gottlosen Wesens noch deutlicher zum Ausdruck zu bringen, fügt er nachher an der anderen Stelle ausdrücklich das Wörtchen „mutwillig“ (Hebr. 10,26) hinzu. Er sagt da: „So wir mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, haben wir fürder kein anderes Opfer mehr für die Sünden“ (Hebr. 10,26). Damit leugnet er nicht etwa, daß Christus ein beständiges Opfer ist, um die Sünden der Heiligen zu sühnen - er setzt ja im ganzen Briefe auseinander, wie es um Christi Priestertum beschaffen sei, und da gibt er jener Tatsache sehr ausführlich Ausdruck! -; hier aber sagt er, daß, wenn man von diesem Opfer abgewichen ist, sonst keines mehr bleibt. Solches Abweichen vom Opfer Christi aber geschieht, wenn man in voller Absicht die Wahrheit des Evangeliums ableugnet.

 

 

 

III,3,24

 

Manche Leute meinen nun, es sei allzu hart und der Freundlichkeit Gottes völlig fremd, daß Menschen, die ihre Zuflucht dazu nähmen, Gottes Barmherzigkeit anzurufen, gänzlich von aller Vergebung ausgeschlossen werden sollten. Doch dies läßt sich leicht klarstellen. Der Apostel behauptet ja gar nicht, daß diesen Menschen die Vergebung verweigert werden würde, wenn sie sich zu dem Herrn bekehren sollten; er leugnet jedoch durchaus, daß sie sich überhaupt noch zur Buße aufmachen könnten: sie sind ja um ihrer Undankbarkeit willen bereits durch Gottes gerechtes Gericht mit ewiger Blindheit geschlagen.

 

Dem steht nicht im Wege, daß der Apostel in diesem Zusammenhang nachher das Beispiel des Esau heranzieht, der unter Tränen und Wehklagen vergebens versuchte, das verlorene Erstgeburtsrecht wiederzuerlangen. Ebensowenig steht dem das Drohwort des Propheten entgegen: „Ich wollte auch nicht hören, da sie riefen ...“ (Sach. 7,13). Denn mit derartigen Ausdrücken wird nicht etwa die wahre Bekehrung oder die wahre Anrufung Gottes beschrieben, sondern vielmehr jene Angst der Gottlosen, in der sie, in die äußerste Not hineinverstrickt, gezwungenermaßen auf das blicken, was sie zuvor so sicher von sich gewiesen haben, nämlich eben dies, daß sie einzig und allein in der Hilfe des Herrn etwas Gutes empfangen können. Eben diese Hilfe des Herrn aber rufen sie nicht eigentlich an, sondern sie seufzen darüber, daß sie ihnen entzogen ist. Wenn der Prophet vom „Rufen“ (Sach. 7,13) und der Apostel von „Tränen“ (Hebr. 12,17) redet, so meinen sie nämlich beide das gleiche: diese namenlose Not, die die Gottlosen aus ihrer Verzweiflung heraus empfinden und die sie brennt und quält.

 

Das letztere sollten wir uns schon sehr genau merken; denn sonst würde Gott ja mit sich selber in Widerspruch geraten: hat er doch durch den Propheten sagen lassen, sobald sich der Gottlose bekehre, werde er ihm gnädig sein (Ez. 18,21ff.). Es ist doch auch, wie ich bereits dargelegt habe, gewiß, daß der Sinn des Menschen nur dadurch zum Besseren gewandelt wird, daß Gottes Gnade ihm zuvorgekommen ist. Auch hinsichtlich der Anrufung wird Gottes Verheißung niemals trügen; aber diese blinde Qual, die die Verworfenen zerreißt, würde doch nur uneigentlich als Bekehrung oder als Anrufung Gottes bezeichnet werden können, diese Qual, die daraus entsteht, daß sie wohl sehen, sie müßten Gott suchen, um Heilung von ihren Nöten zu finden - und doch den Zugang zu ihm fliehen!

 

 

 

III,3,25

 

Wenn nun der Apostel bestreitet, daß Gott durch erheuchelte Buße versöhnt werden könne, so erhebt sich aber die Frage, wieso denn Ahab Vergebung erlangt und die ihm angedrohte Strafe von sich abgewandt habe (1. Kön. 21,28f.). Aus dem weiteren Verlauf seines Lebens geht doch ganz klar hervor, daß er dabei bloß von plötzlicher Angst erschüttert war. Gewiß, er legte einen Sack um, er bestreute sich mit Asche, er setzte sich auf die Erde (1. Kön. 21,27) und, wie es von ihm bezeugt wird, er demütigte sich vor Gott - aber es war ja doch ein Geringes, die Kleider zu zerreißen, wenn das Herz unterdessen verhärtet und von Bosheit geschwellt blieb! Trotzdem gewahren wir, daß sich Gott zur Güte bewegen läßt.

 

Ich beantworte diese Frage so: zuweilen erfahren die Heuchler tatsächlich eine Zeitlang solche Schonung, aber doch so, daß Gottes Zorn immerfort auf ihnen ruht; und dies geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern als öffentliches Beispiel. Was hat auch Ahab selbst für einen Nutzen davon gehabt, daß ihm die Strafe gemildert wurde? Doch einzig den, daß er sie nicht verspürte, solange er auf Erden lebte! So hat Gottes Fluch, wenn auch verborgen, seine feste Wohnstatt in seinem Hause gehabt, er selbst aber ist in das ewige Verderben gefahren.

 

Das gleiche ist auch an Esau zu bemerken: er mußte sich zwar eine Abweisung gefallen lassen, aber auf seine Tränen hin wurde ihm doch ein zeitlicher Segen gewährt (Gen. 27,40; Calvin nennt Gen. 27,18f.). Aber nach Gottes Offenbarungswort konnte das geistliche Erbe nur bei einem der Brüder ruhen; wurde also Esau übergangen und Jakob erwählt, so schloß diese Verwerfung das Erbarmen Gottes aus; nur dieser eine Trost blieb ihm als einem fleischlich gesinnten Menschen noch übrig, daß er sich an der „Fettigkeit der Erde“ und am „Tau des Himmels“ weiden sollte (Verwechslung mit dem an Jakob erteilten Segen Gen. 27,28).

Hier können wir auch verstehen, was es bedeutet, wenn ich oben sagte, dies müsse als Beispiel für andere Menschen dienen: wir sollen lernen, um so eifriger unser Sinnen und Trachten darauf zu richten, rechtschaffene Buße zu tun; denn es steht außer jedem Zweifel, daß Gott gern bereit ist, denen zu vergeben, die sich wahr-

 

haftig und von Herzen zu ihm bekehren: seine Güte wird auch ganz Unwürdigen zuteil, wenn sie nur ein wenig erkennen lassen, daß sie sich selbst mißfallen. Das gleiche Beispiel aber lehrt uns auch, welch ein schreckliches Gericht alle Halsstarrigen zu erwarten haben, die es für lauter Spiel halten, Gottes Drohungen mit schamloser Frechheit und ehernem Herzen zu verschmähen und für nichts zu achten. Auf diese Weise hat Gott den Kindern Israels gar oft die Hand gereicht, um ihrer Not ein Ende zu machen, obwohl ihr Schreien erheuchelt und ihr Sinn zerteilt und treulos war, wie er ja auch in einem Psalm klagt, daß sie gar bald zu ihrer vorigen Lebensart sich zurückwandten (Psalm 7S,36ff. 57). Durch solche freundliche Güte wollte er sie also zu ernstlicher Bekehrung leiten - oder aber sie unentschuldbar machen. Denn wenn er auch eine Zeitlang die Strafe nachläßt, so legt er sich damit kein bleibendes Gesetz auf; nein, er wendet sich zu Zeiten nur mit um so größerer Strenge gegen die Heuchler und verdoppelt die Strafen, damit daraus deutlich werde, wie sehr ihm die Heuchelei zuwider ist. Aber, wie gesagt, er zeigt auch gewisse Beispiele seiner freundlichen Geneigtheit zur Vergebung; dadurch sollen die Frommen dazu ermuntert werden, ihr Leben zu bessern, und es soll zugleich der Hochmut derer um so schärfer verdammt werden, die in ihrer Halsstarrigkeit wider den Stachel locken.

 

Viertes Kapitel

 

 

 

Alles, was sich die Klüglinge in ihren Schulen von der Buße zusammenschwatzen, ist sehr weit von der Reinheit des Evangeliums entfernt. Hier ist auch von der Beichte und der Genugtuung zu sprechen

 

 

 

III,4,1

 

Jetzt komme ich dazu, die Lehre der Klüglinge, der Scholastiker, von der Buße einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Ich will mich dabei so kurz fassen, wie es eben angeht; denn ich habe nicht im Sinne, alles durchzugehen, um dies Buch, das ich doch gern als zusammenfassendes Lehrbuch einrichten möchte, nicht ins Ungemessene wachsen zu lassen. Die Scholastiker haben diesen Fragenkreis, obwohl er an sich keineswegs verwickelt ist, in so viele Bände eingewickelt, daß man nicht eben leicht herauskommen kann, wenn man sich auch nur wenig in ihren Dreck hineinbegibt.

 

Zunächst also: bei ihrem Versuch, die Buße zu beschreiben, zeigen sie mit voller Klarheit, daß sie nie und nimmer begriffen haben, was überhaupt darunter zu verstehen ist. Sie ziehen nämlich einige Aussprüche aus den Büchern der alten Kirchenlehrer heran - die die Kraft der Buße überhaupt nicht zum Ausdruck bringen. So zum Beispiel: Buße tun bedeutet, die vergangenen Sünden zu beweinen und dergleichen nicht zu begehen, was man einst beweinen müßte (Diese erste Umschreibung findet sich bei Gregor I. und ist mitgeteilt bei Petrus Lombardus, Sentenzen IV,14,1). Oder man zieht den Satz heran: Buße tun bedeutet: die vergangenen bösen Werke beklagen und wiederum dergleichen nicht begehen, was zu beklagen ist. (Dieser zweite Satz steht bei [Pseudo-]Ambrosius und ist verwertet bei Petrus Lombardus, Sentenzen IV,14,1 und im Decretum Gratiani II, Von der Buße 3,1). Oder man verwendet als dritten Satz: die Buße ist gewissermaßen eine schmerzhafte Rache, bei der der Mensch an sich selber das straft, was er zu seinem eigenen Schmerz begangen hat. (Stammt von [Pseudo-] Augustin, Von der wahren und der falschen Buße, 8,22 und ist aufgenommen im Decretum Gratiani II, von der Buße 3,4). Zum vierten nimmt man auf die Erklärung Bezug: die Buße ist ein Schmerz im Herzen und eine Bitterkeit in der Seele, um der bösen Werke willen, die einer begangen oder denen er zugestimmt hat. (Von [Pseudo-]Ambrosius, verwendet im Decretum Gratiani II, von der Buße,1,39).

 

Wir wollen nun zugeben, daß diese Erklärungen von den Kirchenvätern ganz gut ausgesprochen sind - obwohl ein zänkischer Mensch auch dies unschwer bestreiten könnte! -; aber diese Sätze hatten doch gar nicht den Zweck, die Buße zu definieren, sondern die Kirchenväter wollten damit bloß die Ihrigen ermahnen, nicht von neuem in die Übeltaten zu verfallen, aus denen sie herausgerissen waren! Wollte man alle Aussprüche dieser Art in Begriffsbestimmungen verwandeln, so müßte man mit dem gleichen Recht auch andere noch zufügen. So sagt Chrysostomus (Predigt von der Buße 7,1): „Die Buße ist eine Arznei, welche die Sünde auslöscht, eine Gabe, die uns vom Himmel geschenkt ist, eine wundersame Kraft, sie ist eine Gnade, welche die Kraft der Gesetze überwindet.“

Nun müssen wir aber weiterhin bemerken, daß die Lehre, die die Scholastiker an jene Kirchenväterzitate anschließen, wesentlich übler ist, als jene (angeblichen) Begriffsbestimmungen selbst. Sie haben sich nämlich dermaßen in äußerliche Übungen hineinverbissen, daß man aus ihren unermeßlichen Bänden nichts anderes entnehmen kann als dies: die Buße sei Zucht und harte Übung, die teils dazu diene, das Fleisch zu zähmen, teils auch dazu, die Laster mit Züchtigung zu strafen. Über die innere Erneuerung des Sinnes, welche die wahre Besserung des Lebens mit sich bringt herrscht ein merkwürdiges Schweigen!

 

Von der Zerknirschung (contritio) und der Niedergeschlagenheit (attritio) ist zwar sehr viel bei ihnen die Rede; sie quälen die Seelen mit gar vielen Zweifeln, richten auch viel Mühsal und Angst an; aber wenn sie dann eben den Eindruck erweckt haben, als hätten sie das Herz im Tiefsten verwundet, dann besprengen sie es leicht mit ihren Zeremonien - und die ganze Bitterkeit ist geheilt!

 

Wenn sie nun die Buße dermaßen scharfsinnig definiert haben, dann teilen sie sie ein, und zwar in Zerknirschung des Herzens (contritio cordis), Bekenntnis mit dem Munde (Beichte, confessio oris) und Genugtuung mit Werken (satisfactio operis) (Sentenzen IV,16,1, Decretum Gratiani II, von der Buße 1,40). Aber diese Einteilung ist ebensowenig gedanklich in Ordnung, wie die zuvor gegebene Definition. Und dabei wollen sie doch den Eindruck erwecken, als ob sie ihr ganzes Leben mit der Aufstellung von Schlußfolgerungen zugebracht hätten! Nun könnte aber jemand hergehen und aus ihrer Begriffsbestimmung Schlußfolgerungen ziehen - so muß man es doch nach der bei den Dialektikern anerkannten Methode machen! -; er könnte sagen: es ist doch möglich, daß ein Mensch seine vorher begangenen Sünden beweint und solche Taten, die zu beweinen sind, nicht begeht, daß er seine vergangenen bösen Werke beklagt und solche, die zu beklagen wären, nicht begeht, daß er solche Sünden an sich straft, über die er Schmerz empfindet, weil er sie begangen hat - und zwar das alles, ohne mit dem Munde zu bekennen! Was wollen die Scholastiker dann machen, um ihre Einteilung aufrechtzuerhalten? Wenn dieser betreffende Mensch wirklich Buße tun kann, ohne mit dem Munde zu bekennen, so kann es doch offenbar auch eine Buße ohne dies „Bekenntnis mit dem Munde“ geben! Nun könnten sie darauf antworten, jene Einteilung bezöge sich auf die Buße, sofern sie ein Sakrament sei. Oder sie könnten auch sagen, man müsse sie als Beschreibung der Buße in ihrem vollendeten Zustand verstehen - den sie doch mit ihrer Umschreibung gar nicht umfassen! Aber daraus ergibt sich gegen mich gar keine Anklage: sie müssen es sich schon selber zuschreiben, weil sie eben die Buße nicht reiner und klarer bestimmen! Ich beziehe jedenfalls in meinem groben Verstand bei jeder Sache, über die man redet, alles auf die gegebene Begriffsbestimmung selbst; denn sie ist der Angelpunkt und die Grundlage der ganzen Erörterung.

 

Aber wir wollen den Scholastikern diese magisterliche Freiheit durchgehen lassen und nun dazu übergehen, die einzelnen Stücke der Ordnung nach zu betrachten. Dabei übergehe ich freilich ohne Beachtung mancherlei Dinge als gottloses Geschwätz, die sie mit großem Stolz als Geheimnisse an den Mann bringen wollen. Aber das tue ich nun nicht etwa aus Unwissenheit. Es würde mir wirklich nicht schwer fallen, all das zu widerlegen, von dem sie scharfsinnig und tief zu reden vermeinen. Ich würde mich aber schämen, den Leser fruchtlos mit dergleichen Unsinnigkeiten zu ermüden. Daß sie tatsächlich über unbekannte Dinge schwatzen, das ist aus den Fragen, die sie aufbringen und verhandeln und in die sie sich jämmerlich verwirren, leicht zu erkennen. So fragen sie, ob Gott die Buße über eine einzige Sünde wohlgefällig sei, wenn man in den anderen halsstarrig verharre. Oder: ob die Strafen, die uns Gott schickte, als Genugtuung gelten könnten. Oder: ob man die Buße für die Todsünden wiederholen könnte. Im letzten Punkt stellen sie in ihrer Bosheit und Unfrömmigkeit den Satz auf, die tägliche Buße bezöge sich allein auf die „läßlichen“ Sünden. Mit grobem Irrtum martern sie sich auch betreffs der Äußerung des Hieronymus, die Buße sei die zweite Planke, die uns nach dem Schiffbruch (zur Rettung) gegeben würde; da zeigen sie, daß sie noch nie von ihrem tollen Irrwahn erwacht sind, um auch nur von fern den tausendsten Teil ihrer Sünden zu empfinden.

 

 

 

III,4,2

Ich möchte aber, daß der Leser darauf achtet: hier wird nicht um einen Eselsschatten gestritten, sondern es geht um die allerernsteste Sache, die es gibt, nämlich um die Vergebung der Sünden. Wenn die Scholastiker zur Buße drei Stücke erfordern, nämlich die Zerknirschung des Herzens, die Beichte mit dem Munde und die

 

Genugtuung mit dem Werk, dann stellen sie damit die Lehre auf, daß diese Stücke auch zur Erlangung der Sündenvergebung nötig seien! Wenn es aber in der ganzen Religion etwas gibt, das wir unbedingt wissen müssen, so gilt es sicherlich, dies zu erkennen und recht festzuhalten, auf welche Weise, nach was für einem Gesetz, unter welcher Bedingung, wie leicht oder wie schwer man Vergebung der Sünden erlangen kann. Wenn diese Erkenntnis nicht klar und gewiß feststeht, so kann das Gewissen nie und nimmer Ruhe finden, keinen Frieden mit Gott, kein Vertrauen und keine Sicherheit haben, sondern es muß immerzu zittern und unstät sein, es lebt in der Hitze und in der Drangsal, es wird gequält und erschreckt, es haßt den Anblick Gottes und flieht vor ihm.

 

Hängt nun aber die Vergebung der Sünden von den Bedingungen ab, welche die Scholastiker daran knüpfen, so gibt es nichts Jämmerlicheres und Verzweifelteres als uns Menschen. Will ein Mensch Vergebung erlangen, so schreibt man ihm als erstes Stück die Zerknirschung (contritio) vor, und zwar verlangt man die „schuldige“ Zerknirschung, also echte und vollständige. Unterdessen aber geben die Scholastiker keinerlei Auskunft darüber, wann denn nun jemand gewiß sein könne, daß er diese Zerknirschung in dem erforderten Ausmaß geleistet habe.

 

Ich bin zwar durchaus der Überzeugung, daß man ernstlich und mit Fleiß darauf dringen soll, daß der Mensch seine Sünden bitterlich beweine und sich dadurch im Mißfallen an ihnen und im Haß gegen sie stärke. Denn das ist eine Traurigkeit, „die niemand gereut“, eine Traurigkeit, die Buße zur Seligkeit wirkt (2. Kor. 7,10). Aber wo ein so bitterer Schmerz verlangt wird, daß er der Größe der Schuld entspricht, und wo man die Zuversicht auf Vergebung nach der Bitterkeit dieses Schmerzes abwägend bemessen will - da werden die armen Gewissen jämmerlich gemartert und geplagt: sie sehen, wie man ihnen die „schuldige“ Zerknirschung über ihre Sünden auferlegt, - aber sie erreichen das erforderte Maß nicht in der Weise, daß sie bei sich selbst zu dem Urteil gelangen könnten, sie hätten nun vollbracht, was sie schuldig waren. Sagt man uns aber, wir sollten nur tun, soviel wir vermöchten, so fallen wir doch stets in die gleiche Not zurück; denn wann wird ein Mensch es wagen dürfen, sich selber zuzusichern, er habe nun alle seine Kraft daran gewandt, die Sünde zu beklagen? Hat nun also das Gewissen lange mit sich selbst im Kampf gelegen, hat es sich in langwierigem Streite gequält, so findet es am Ende doch keinen Hafen, in dem es ruhen könnte, nein, um sich wenigstens an irgendeinem Stück zu erleichtern, ringt es sich den Schmerz ab und preßt es sich Tränen heraus, um damit seine Zerknirschung vollkommen zu machen!

 

 

 

III,4,3

Wenn man mir nun aber sagt, ich erhöbe eine falsche Beschuldigung gegen die Scholastiker, so soll man doch herkommen und mir einen einzigen Menschen zeigen, den die Lehre von einer solchen Zerknirschung nicht entweder zur Verzweiflung getrieben - oder der nun nicht dem Gericht Gottes statt des wahren Schmerzes einen erheuchelten entgegengebracht hätte. Auch ich habe an einer Stelle gesagt, daß die Vergebung der Sünden einem Menschen niemals ohne die Buße widerfahre; denn nur erschrockene, vom Bewußtsein ihrer Sünden innerlich verwundete Menschen können in Lauterkeit Gottes Erbarmen erflehen. Aber ich habe doch gleich hinzugesetzt, daß die Buße nicht etwa die Ursache der Sündenvergebung ist. Dabei habe ich jener Seelenmarter ein Ende bereitet, die in der Forderung bestand, man müsse die tatsächlich schuldige Reue leisten. Nach unserer Lehre soll der Sünder nicht seine Zerknirschung anschauen, auch nicht seine Tränen, sondern er soll beide Augen einzig und allein auf die Barmherzigkeit des Herrn richten. Ich habe nur daran erinnert, daß Christus die „Mühseligen und Beladenen“ zu sich ruft, daß er gekommen ist, „das Evangelium zu verkündigen den Armen“, „zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen ...“, daß er gekommen ist, um die Gebundenen frei auszuführen und die Trauernden zu trösten! (Matth. 11,

 

28; Jes. 61,1f.; Luk. 4,18). Damit sollten die Pharisäer ausgeschlossen werden, die in ihrer Gerechtigkeit so satt sind, daß sie ihre Armut gar nicht merken, und die stolzen Verächter, die vor dem Zorn Gottes sich sicher fühlen und keine Arznei gegen ihre Bosheit suchen. Denn diese Menschen sind nicht mühselig und nicht beladen, sie sind weder zerstoßenen Herzens, noch gebunden, noch gefangen. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man den Menschen lehrt, er solle die Vergebung der Sünden mit rechter und vollkommener Buße - die der Sünder doch nie und nimmer zustande bringt! - verdienen, oder ob man ihn unterweist, nach Gottes Barmherzigkeit zu hungern und zu dürsten, um ihm durch die Erkenntnis seines Jammers seinen Durst, seine Müdigkeit, seine Gebundenheit vor Augen zu führen und ihm zugleich zu zeigen, wo er Erfrischung, Ruhe und Freiheit suchen soll, kurz, ihn zu lehren, daß er in seiner Demut Gott die Ehre gebe!

 

 

 

III,4,4

 

Das zweite Stück ist die Beichte. Da ist nun stets großer Zwist zwischen den kirchlichen Rechtsgelehrten und den scholastischen Theologen gewesen. Die Theologen behaupteten, die Beichte werde uns durch Gottes Gebot befohlen; die Rechtsgelehrten bestritten das und behaupteten, sie werde bloß durch kirchliche Satzungen geboten.

 

In diesem Streit ist nun die ungeheuerliche Unverfrorenheit der Theologen offenbar geworden: alle Schriftstellen, die sie zur Unterstützung ihrer Sache herangezogen haben, die haben sie auch verdreht und mit Gewalt entstellt. Aber sie sahen doch, daß sie nicht einmal auf diese Weise ihre Wünsche durchsetzen konnten; und da sind einige von ihnen, die für ganz besonders scharfsinnig gelten wollten, auf den Ausweg verfallen, die Beichte sei ihrem eigentlichen Wesen nach dem göttlichen Recht entsprungen, ihre Gestalt aber habe sie dann aus dem menschlich gesetzten Recht empfangen. So machen es auch die größten Narren unter den Rechtsgelehrten: sie beziehen die gerichtliche Vorladung auf das göttliche Recht, weil es nämlich heißt: „Adam, wo bist du?“ Auch die gerichtliche Verantwortung des Angeklagten entnehmen sie dem göttlichen Recht, und zwar, weil Adam in der Weise solcher Verantwortung gesagt habe: „Das Weib, das du mir gegeben hast ...“ (Gen. 3,9.12). Dabei behaupten sie dann weiter, die Gestalt der gerichtlichen Ladung und Verantwortung sei aus dem bürgerlichen Recht heraus gegeben!

 

Aber wir wollen nun zusehen, mit welchen Beweismitteln die Scholastiker ihre Behauptung begründen, die Beichte - ob ohne „Gestalt“ oder in ihrer „Gestalt“ - sei Gottes Gebot.

 

Zunächst (1.) sagen sie: der Herr hat die Aussätzigen zu den Priestern geschickt! (Matth. 8,4; Luk. 5,14; 17,14). Wieso - hat er sie denn zur Beichte dahin geschickt? Wer hat denn jemals sagen hören, die levitischen Priester seien zum Beichtehören eingesetzt gewesen? (Deut. 17,8f.). Nun, so nimmt man also seine Zuflucht zur heimlichen Deutung, zur Allegorie. Man sagt: nach dem Gesetz Moses war es den Priestern aufgetragen, zwischen Aussatz und Aussatz zu unterscheiden (Lev. 14,2f.); die Sünde ist aber geistlicher Aussatz - also ist es Sache der Priester, über sie zu urteilen!

 

Ehe ich darauf antworte, frage ich im Vorbeigehen: wenn diese Schriftstelle die Priester zu Richtern über den geistlichen Aussatz macht, warum ziehen sie dann die Feststellung des natürlichen, fleischlichen Aussatzes an sich? Es heißt freilich mit der Schrift ein Spiel treiben, wenn man sagt: Die Schrift überträgt den levitischen Priestern die Feststellung des Aussatzes - das ist eine Sache, die wir für uns in Anspruch nehmen müssen! Die Sünde ist nun aber geistlicher Aussatz - also wollen wir auch die sein, die über die Sünde urteilen!

Jetzt will ich meine Antwort geben: Wenn das priestertum auf jemand anders übertragen ist, so muß notwendig das ihm gegebene Gesetz auch auf jemand anders übertragen werden (Hebr. 7,12: „Wo das Priestertum verändert wird, da muß auch

 

das Gesetz verändert werden!“) Nun ist aber alles Priestertum auf Christus übertragen, in ihm erfüllt und zu seinem Ende gekommen. Auf ihn allein ist also auch jedwedes Recht und jedwede Ehre des Priestertums übergegangen. Wenn die Scholastiker dermaßen auf Allegorien versessen sind, so sollen sie sich dies einzige Priestertum Christi vor Augen stellen und seinen Richtstuhl mit dem freien Urteil über alle Dinge überhäufen; das werden wir dann leicht ertragen. - Zudem ist ihre Allegorie auch deshalb unbrauchbar, weil sie ein rein politisches Gesetz zu den Zeremonien hinüberzieht.

 

Weshalb schickt denn nun Christus die Aussätzigen zu den Priestern? Doch offenbar deshalb, damit die Priester ihm nicht schmähend vorwerfen konnten, er verletze das Gesetz; denn dies schrieb ja dem, der vom Aussatz geheilt war, vor, er solle sich dem Priester zeigen, seine Opfergabe darbringen und damit entsühnt werden. Christus heißt nun die geheilten Aussätzigen zu tun, was das Gesetz befahl. „Gehet hin und zeiget euch den Priestern und opfert die Gabe, die Mose im Gesetz befohlen hat, zu einem Zeugnis über sie“ (Matth. 8,4 und Parallelen; dort steht aber alles in der Einzahl; ferner ähnlich Luk. 17,14). Dies Wunderzeichen sollte den Priestern auch wirklich zu einem Zeugnis werden: sie hatten diese Männer für aussätzig erklärt - und sie mußten sie jetzt geheilt sprechen. Wurden sie damit nicht, ob sie wollten oder nicht, zu Zeugen der Wundertaten Christi? Christus läßt sie sein Wunder untersuchen, und sie können es nicht leugnen; weil sie sich aber doch abwenden, so ist dies Werk ein Zeugnis über sie. So sagt er auch an anderer Stelle: „Es wird gepredigt werden das Evangelium ... in der ganzen Welt, zu einem Zeugnis über alle Völker ...“ (Matth. 24,14). Ebenso: „Und man wird euch vor Fürsten und Könige führen ..., zum Zeugnis über sie ...“ (Matth. 10,18), das heißt also: damit sie im Gericht Gottes um so kräftiger überführt werden. Wenn nun unsere Gegner lieber mit Chrysostomus einig sein wollen: auch er lehrt, Christus habe das um der Juden willen getan, damit er nicht als Verächter des Gesetzes gelte (Predigt vom kanaanäischen Weibe, 9). Freilich scheue ich mich, in so klarer Sache das zustimmende Zeugnis eines Menschen heranzuziehen. Christus sagt doch selber, daß er den Priestern ihr gesetzliches Recht unangetastet überlasse - und dabei waren sie geschworene Feinde des Evangeliums, die immer darauf aus waren, ihr Geschrei gegen es zu erheben, wenn man ihnen nicht das Maul gestopft hätte! Wollen also die papistischen Opferpriester diesen Rechtsbesitz wahren, so sollen sie auch offen zugestehen, daß sie auf die Seite derer gehören, die man mit Gewalt zum Schweigen bringen muß, damit sie Christus nicht schmähen! Denn Christi wahre Diener geht dies nichts an!

 

 

 

III,4,5

(2.) Das zweite Beweisstück entnehmen die Scholastiker der gleichen Quelle: nämlich der Allegorie. Als ob Allegorien viel wert wären, wenn es darum geht, eine Kirchenlehre zu begründen! Aber wir wollen sie meinethalben gelten lassen - ich könnte gar beweisen, daß ich solche Allegorien mit größerem Glanz in Anspruch nehmen kann als sie selber! Sie sagen also: der Herr hat seinen Jüngern aufgetragen, den Lazarus, den er auferweckt hatte, von seinen Leintüchern loszumachen und ihn gehen zu lassen (Joh. 11,44). Da ist nun schon gleich eine Lüge dabei: es steht nirgendwo zu lesen, daß der Herr diesen Auftrag seinen Jüngern gegeben habe, und es ist auch viel wahrscheinlicher, daß er das zu den Juden sagt, die dabei stehen. So soll das Wunder noch deutlicher werden und jedem Verdacht, es könnte Betrug sein, entzogen werden; Christi Kraft sollte noch heller erstrahlen, weil er ja ohne jede Berührung, rein durch sein Wort Tote erweckte! Ich verstehe es wirklich so: der Herr wollte den Juden jeden Argwohn unmöglich machen und wollte deshalb, daß sie selbst den Stein fortwälzten, den Verwesungsgeruch wahrnähmen, die deutlichen Zeichen des Todes bemerkten, daß sie selbst sähen, wie Lazarus allein durch die Kraft des Wortes sich erhob und daß sie selbst den Lebendigen als erste berührten.

 

Das ist auch die Meinung des Chrysostomus. (Sie steht tatsächlich in einer dem Chrysostomus fälschlich zugeschriebenen Schrift: Gegen Juden, Heiden und Ketzer).

 

Ich will aber einmal zugeben, dies Wort sei wirklich an die Jünger gerichtet. Was haben jedoch die Scholastiker davon für Vorteil? Der Herr hätte danach den Aposteln die Macht zum Lösen gegeben. Wieviel passender und richtiger wären diese Worte in heimlicher Deutung doch so zu verstehen, wenn wir sagten: Gott hat seine Gläubigen unterweisen wollen, die, welche er auferweckt hat, nun auch loszumachen; das bedeutet: sie sollen die Sünden, die er doch vergessen hat, nicht wieder ins Gedächtnis rufen, sie sollen die Menschen, die er losgesprochen hat, nicht wieder als Sünder verdammen, sie sollen nicht verurteilen, was er doch vergeben hat, sie sollen nicht hart und streng auf Strafe sinnen, wo er doch barmherzig ist und gerne verschont! Es kann uns nichts so sehr zur Vergebung bewegen, wie das Beispiel des Richters, der da droht, er werde gegen die, welche allzu hart und unmenschlich vorgehen, unversöhnlich sein! - So, nun sollen die Scholastiker hingehen und ihre heimlichen Deutungen an den Mann zu bringen versuchen!

 

 

 

III,4,6

 

(3.) Jetzt kommen sie aber im Kampfe näher an uns heran: jetzt kämpfen sie nämlich mit Schriftzeugnissen, die nach ihrer Meinung ganz klar und deutlich sind! Sie ziehen die Tatsache heran, daß die Menschen, die zur Taufe des Johannes kamen, ihre Sünden bekannten (Matth. 3,6), und dann das Wort des Jakobus: „Bekenne einer dem anderen seine Sünde ...“ (Jak. 5,16).

 

Es ist nun nicht verwunderlich, wenn die Menschen, die sich taufen lassen wollten, ihre Sünden bekannten. Es heißt doch vorher, Johannes habe die Bußtaufe gepredigt, er habe mit Wasser getauft zur Buße. Wen sollte er da anders getauft haben als die, welche sich als Sünder bekannt hatten? Die Taufe ist das Merkzeichen der Sündenvergebung - und wer sollte zu solchem Zeichen zugelassen werden, als Sünder, die sich auch als solche bekannten? Sie bekannten also ihre Sünden, um getauft zu werden.

 

Es hat auch seinen guten Grund, wenn Jakobus die Anweisung gibt, es solle einer dem anderen seine Sünde bekennen. Hätten die Gegner aber nur darauf geachtet, was auf diese Worte unmittelbar folgt, so hätten sie gemerkt, daß ihnen auch diese Stelle wenig Beistand leistet. Jakobus sagt nämlich: „Bekenne einer dem anderen seine Sünden und betet füreinander.“ Er verbindet also das gegenseitige Bekennen der Sünden mit der gegenseitigen Fürbitte. Soll man also allein den Priestern beichten, so soll man auch allein für sie beten. Was käme nun aber heraus, wenn man aus den Worten des Jakobus die Folgerung zöge, allein die Priester vermöchten zu beichten? Wenn er will, daß wir gegenseitig einander beichten- so redet er damit offenbar nur solche an, die auch der anderen Beichte zuhören vermögen! Er sagt doch: „einer dem anderen“, also gegenseitig, einander, jeder dem anderen, oder auch meinetwegen: wechselseitig! Solch wechselseitiges Beichten können aber nur solche Menschen üben, die auch ihrerseits in der Lage sind, Beichte zu hören! Wenn dieses Vorrecht aber allein den Priestern zukommt, so wollen wir auch ihnen allein die Aufgabe überlassen, zu beichten!

Nun wollen wir aber dergleichen Possen beiseitelassen und vernehmen, was der Apostel wirklich meint. Das ist sehr einfach und klar: wir sollen einer dem anderen unsere Schwachheiten anvertrauen, um so gegenseitigen Rat, gegenseitiges Mitleiden und gegenseitigen Trost untereinander zu empfangen. Wenn wir dann gegenseitig um die Schwachheiten unserer Brüder wissen, dann sollen wir für sie zum Herrn beten. Was zieht man nun den Jakobus gegen uns heran? Wir legen doch gerade auf das Bekenntnis der Barmherzigkeit Gottes so großes Gewicht! Es kann aber kein Mensch Gottes Barmherzigkeit „bekennen“, der nicht zuvor seinen Jammer „bekannt“ hat! Ja, wir sagen frei heraus, der sei verflucht, der sich nicht vor Gott, vor seinen Engeln, vor der Kirche, ja vor allen Menschen als Sünder bekennt! Denn der Herr „hat alles beschlossen unter die Sünde“ (Gal. 3,22), „auf daß aller Mund gestopfet

 

werde und alles Fleisch Gott schuldig sei“ (Röm. 3,19; nicht ganz Luthertext), er selbst aber allein gerechtfertigt und erhöht werde!

 

 

 

III,4,7

 

Mich verwundert aber doch, mit welcher Kühnheit sie zu behaupten wagen, die Beichte, von der sie reden, sei göttlicher Rechtssetzung (iuris divini). Ich gebe allerdings zu, daß sie seit sehr alter Zeit in Übung ist. Aber ich kann sehr leicht beweisen, daß diese Übung früher frei war. Auf jeden Fall ist nach dem Bericht ihrer eigenen Chroniken hinsichtlich der Beichte kein Gesetz und keine Satzung aufgestellt worden vor der Zeit des Papstes Innozenz III. - und das war der einhundertdreiundachtzigste Papst! Hätten die Papisten ein älteres Gesetz gehabt, so hätten sie dies ganz sicher für sich in Anspruch genommen und sich nicht mit der Satzung des Laterankonzils (von 1215) zufriedengegeben und damit selbst bei Kindern lächerlich gemacht. In anderen Sachen haben sie doch ohne Scheu gefälschte Beschlüsse zusammengeschmiedet, die sie den ältesten Konzilien zugeschrieben haben, um schon durch das verehrungswürdige Alter einfältigen Leuten die Augen zu blenden. In diesem Stück aber ist es ihnen nicht in den Sinn gekommen, derlei Betrug zu verüben. Es sind also nach ihrem eigenen Zeugnis noch nicht dreihundert Jahre verlaufen, seit Innozenz III. den Menschen diesen Strick um den Hals geworfen hat und die Beichte den Leuten als notwendig auferlegt worden ist.

 

Aber wenn ich nun auch von der Zeit schweige, so macht schon die Barbarei der Worte jenes (Beicht-)Gesetz unglaubwürdig. Die guten Väter ordnen nämlich an, es solle jeder Mensch „von beiderlei Geschlecht“ (utriusque sexus) einmal im Jahre seinem eigenen Priester alle seine Sünden bekennen. Spottlustige Leute wenden nun witzig ein, dieses Gebot sei nur für Zwitter verbindlich (wegen der Formulierung „utriusque sexus“, von beiderlei Geschlecht), beziehe sich dagegen auf keinen Menschen, der einzig Mann oder Weib sei! Eine noch gröbere Torheit ist nun bei den Schülern jener Männer zum Vorschein gekommen: die können nicht erklären, was nun der „eigene Priester“ bedeuten solle!

 

Was nun aber auch die gemieteten Zungendrescher des Papstes sich zusammenschreien mögen, so halten wir doch daran fest, daß Christus nicht der Urheber des Gesetzes ist, das die Menschen zwingt, ihre Sünden aufzuzählen, ja, daß seit der Auferstehung Christi zwölfhundert Jahre vergangen sind, ehe überhaupt ein solches Gesetz aufgestellt wurde. Wir halten daran fest, daß diese Tyrannei erst aufgekommen ist, als die Frömmigkeit und reine Lehre ausgelöscht war und sich die Scheinhirten bereits ohne Bedacht alle möglichen Freiheiten herausgenommen hatten.

Es sind aber auch in den kirchlichen Geschichtsbüchern wie bei den anderen Schriftstellern der Alten Kirche klare Zeugnisse vorhanden, die uns lehren, daß es sich hier um eine bürgerliche Zuchtmaßnahme gehandelt hat, die von den Bischöfen eingerichtet worden ist, nicht aber um ein Gesetz, das Christus und die Apostel gegeben hätten. Ich will aus vielen nur ein einziges anführen, das ein heller Beweis dafür sein wird. Sozomenus (der Kirchengeschichtsschreiber) berichtet, daß diese Ordnung der Bischöfe in den Kirchen des Westens eifrig gehalten wurde, besonders in der Kirche zu Rom (Kirchengeschichte 7,16; Historia tripartita 9,35). Damit macht er deutlich, daß wir es hier nicht mit einer Einrichtung in allen Kirchen zu tun haben. Er erklärt aber weiter, es sei einer von den Priestern besonders dazu bestimmt gewesen, dieses Amt (nämlich das Hören der Beichte) zu verwalten. Damit widerlegt er zum Überfluß deutlich die Lüge der Scholastiker von der Schlüsselgewalt, die der ganzen Priesterschaft ohne Unterschied zu jener Übung (der Beichte) gegeben sein soll; denn die Amtsaufgabe des Beichtehörens kam ja nicht sämtlichen Priestern allgemein zu, sondern war die besondere Sache eines einzelnen, den der Bischof dazu ausgewählt hatte. Das ist der Priester, den man noch heutzutage an den Bischofskirchen „Beichtmeister“ nennt: der Mann, der die Untersuchung bei schweren Freveltaten und bei solchen Dingen hat, in denen die Strafe als Beispiel dienen soll. Dann bemerkt Sozomenus,

 

die Sitte der Beichte habe auch in Konstantinopel bestanden, bis man eine Frau dabei ertappt habe, daß sie unter dem Schein, beichten zu wollen, mit dem dazu bestellten Diakonen Hurerei getrieben hatte. Angesichts dieser Freveltaten hat dann Nectarius, der Bischof dieser Kirche, ein nach seinem heiligen Wandel und nach seiner Bildung hochberühmter Mann, die Übung der Beichte abgeschafft. Hier, hier sollen nun die Esel die Ohren spitzen! Wäre die Ohrenbeichte ein Gesetz Gottes, wie hätte dann Nectarius wagen können, sie aufzuheben oder abzuschaffen? Will man einen Mann wie Nectarius, einen heiligen Mann Gottes, durch das Zeugnis aller Kirchenväter anerkannt, der Ketzerei und der Kirchenspaltung anklagen? Dann muß man aber das gleiche Verdammungsurteil über die Kirche von Konstantinopel fällen, denn diese hat nach der Behauptung des Sozomenus die Beichtsitte nicht nur eine Zeitlang aufgehoben, sondern sie sogar bis auf seine Zeit gänzlich abkommen lassen. Ja, man muß dann nicht nur die Kirche zu Konstantinopel, sondern überhaupt alle Kirchen des Ostens wegen Abfall in den Anklagezustand versetzen, weil sie ein - sofern die Scholastiker Recht haben! - unverletzliches Gesetz, das doch allen Christenmenschen auferlegt sein soll, außer Achtung gesetzt haben!

 

 

 

III,4,8

 

Diese Abschaffung der Beichte aber bezeugt Chrysostomus, der ebenfalls Bischof der Kirche von Konstantinopel gewesen ist, deutlich an sovielen Stellen, daß man sich wundern muß, wieso die Papisten dagegen noch zu mucksen wagen. Er sagt: „Sprich deine Sünden aus, um sie zunichte zu machen; wenn du dich aber schämst, einem Menschen zu sagen, was du gesündigt hast, so sprich es alle Tage in deiner Seele aus! Ich sage nicht, daß du deinem Mitknecht beichten sollst, der dir womöglich Vorwürfe macht; nein, sag deine Sünden Gott, der heilt sie! Bekenne deine Sünde auf deinem Bette, damit dein Gewissen seine Übeltaten dort tagtäglich erkenne“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt zu Ps. 50). Ebenso: „Es ist nun aber auch nicht vonnöten, daß du deine Sünde in Gegenwart von Zeugen beichtest; in deiner eigenen Erkenntnis soll die Erforschung deiner Übertretungen vor sich gehen, und dies Gericht soll ohne Zeugen sein; allein Gott soll sehen, wie du beichtest“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt von der Buße und der Beichte). Oder er sagt: „Ich will dich nicht ins Schauhaus, vor deine Mitknechte führen; ich zwinge dich nicht, Menschen deine Sünde aufzudecken: prüfe dein Gewissen vor Gott und breite es vor ihm aus! Zeige dem Herrn, dem herrlichsten unter allen Ärzten, deine Wunden und bitte ihn um Arznei, zeige sie ihm, der dir nicht Vorwürfe macht, sondern dich aufs allerfreundlichste heilt! (Chrysostomus, Über Gottes unbegreifliches Wesen 5,7). Oder auch: „Sag es wahrhaftig nicht einem Menschen, damit er dich nicht verweist; beichte auch nicht deinem Mitknecht, der deine Beichte womöglich in die Öffentlichkeit trägt, sondern zeige dem Herrn deine Wunden: er trägt Sorge um dich, er ist freundlich, und er ist ein Arzt!“ Bald danach läßt er Gott so reden: „Ich zwinge dich nicht, mitten ins Schauhaus zu treten und viele Menschen als Zeugen zuzuziehen; sag mir ganz allein, ohne andere, deine Sünde, damit ich deine Schwäre heile:“ (Predigt über Lazarus, IV,4). Sollen wir nun sagen, Chrysostomus sei, wenn er dies und dergleichen schreibt, dermaßen vermessen, daß er das Gewissen der Menschen von Banden löse, in die es nach Gottes Gesetz verstrickt wäre? Ganz gewiß nicht; nein, er weiß, daß es sich hier durchaus nicht um Vorschriften aus Gottes Wort handelt, und deshalb wagt er es auch nicht, dergleichen als nötig zu fordern!

 

 

 

III,4,9

 

Damit aber nun die ganze Angelegenheit deutlicher und klarer wird, will ich zunächst nach bestem Wissen und Gewissen darstellen, welche Art von Beichte uns im Worte Gottes überliefert ist; dann will ich auch die Erdichtungen der Papisten heranziehen, und zwar nicht sämtliche - wer sollte auch dieses unergründliche Meer ausschöpfen wollen? -, sondern nur die, in denen sie die Hauptsache ihrer heimlichen (d.h. Ohren-) Beichte zusammenfassen.

 

Es verdrießt mich nun, daran erinnern zu müssen, wie oft der alte Übersetzer, wo er im Text „Loben“ las, dies Wort mit „Bekennen, Beichten“ wiedergegeben hat. Das weiß nämlich selbst der gröbste Laie. Nur muß ich es erwähnen, weil es erforderlich ist, die Vermessenheit der Papisten ins rechte Licht zu setzen, die nämlich solche Stellen, die vom Lobpreis Gottes handeln, auf ihr tyrannisches Gebot deuten! Um zu beweisen, daß die Beichte dazu verhelfe, daß das Herz froh werde, ziehen sie unter gewaltsamer Verdrehung das Psalmwort heran: „(Ich wollte gerne mit ihnen wallen zum Hause Gottes) mit Frohlocken und Danken“ (Ps. 42,7; das Wort „Danken“ ist in der lateinischen Übersetzung mit „Bekennen“ wiedergegeben!). Wenn nun aber eine derartige Sinnverwandlung Geltung haben soll, dann können wir am Ende aus allem alles machen! Aber sie haben eben aufgehört, sich zu schämen, und daran mag der fromme Leser erkennen, daß sie Gott in gerechter Vergeltung in einen verkehrten Sinn hat fallen lassen, damit ihre Vermessenheit nur um so abscheulicher würde. Wenn wir bei der schlichten Lehre der Schrift verharren wollen, so besteht keine Gefahr, daß uns jemand mit solchem leeren Schein betöre.

 

In der Schrift aber wird uns nur eine Art der Beichte vorgeschrieben, nämlich diese: Da allein der Herr Sünde vergibt, vergißt, tilgt, so sollen wir ihm unsere Sünden bekennen, um Vergebung zu erlangen. Er ist der Arzt; so sollen wir ihm unsere Wunden offenlegen. Er ist verletzt und gekränkt worden; so sollen wir von ihm den Frieden erbitten. Er ist der Herzenskündiger und weiß alle unsere Gedanken; so sollen wir herzueilen, um ihm unser Herz auszuschütten. Und schließlich: er ruft die Sünder; so sollen wir nicht zögern, zu ihm hinzugehen! So spricht David: „Darum bekannte ich dir meine Sünde und verhehlte meine Missetat nicht. Ich sprach: ich will dem Herrn meine Übertretungen bekennen. Da vergabst du mir die Missetat meines Herzens“ (Ps. 32,5; bis auf das letzte Wort Luthertext). Oder ein anderes Bekenntnis, auch von David: „Gott, sei mir gnädig ... nach deiner großen Barmherzigkeit!“ (Ps. 51,3). Oder eine Beichte des Daniel: „Wir haben gesündigt, Herr, unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden: wir sind von deinen Geboten ... gewichen“ (Dan. 9,5). Solche Beichtworte kommen in der Schrift immer wieder vor, und es würde wohl einen Band füllen, wenn man sie alle wiedergeben wollte. So sagt Johannes: „So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist der Herr treu ..., daß er uns die Sünden vergibt ...“ (1. Joh. 1,9). Wem sollen wir nun unsere Sünden bekennen? Doch zweifellos ihm! Und das geschieht, wenn wir uns erschrockenen und gedemütigten Herzens vor ihm niederwerfen, wenn wir uns vor ihm von Herzen verklagen und verdammen - und begehren, daß er uns aus seiner Güte und Barmherzigkeit losspreche!

 

 

 

III,4,10

Wer nun von Herzen und vor Gott diese Beichte geübt hat, der wird auch ohne Zweifel mit der Zunge zum Bekenntnis bereit sein, um, sooft es nötig ist, vor Menschen Gottes Barmherzigkeit zu preisen. Und er wird da nicht bloß einem einzigen Menschen gegenüber ein einziges Mal das Geheimnis seines Herzens aussprechen und es ihm dabei gar bloß still ins Ohr sagen, nein, er wird öfter, er wird öffentlich, wenn es alle Welt hört, seine eigene Schande und Gottes Herrlichkeit und Ehre frei heraus ehrlich bekennen. So machte es David: Nathan hatte ihn gestraft, und der Stachel des Gewissens hatte ihn getroffen; da bekannte er seine Sünde vor Gott und vor Menschen und sprach: „Ich habe gesündigt wider den Herrn!“ (2. Sam. 12,13). Das heißt: Ich beschönige nichts, ich suche auch keine Ausflüchte dagegen, daß mich nun alle Leute als Sünder ansehen und daß das, was ich vor dem Herrn heimlich halten wollte, jetzt gar vor den Menschen offen zutage liegt! So folgt also auf jene verborgene Beichte, die Gott gegenüber geschieht, das freiwillige Bekenntnis vor den Menschen, sooft es der Ehre Gottes oder unserer eigenen Demütigung dient. Aus diesem Grunde hat der Herr einst im israelitischen Volke die Einrichtung getroffen, daß das Volk unter Vorsprechen des Priesters seine Missetaten

 

öffentlich im Tempel bekannte (Lev. 16,21). Er sah nämlich voraus, daß sie diese Hilfe nötig hatten, damit jeder einzelne besser dazu angeleitet würde, sich selbst recht zu erkennen. Es ist auch recht und billig, daß wir durch das Bekenntnis unseres Elendes die Güte und Barmherzigkeit unseres Gottes untereinander und vor aller Welt verherrlichen.

 

 

 

III,4,11

 

Diese Art der Beichte sollte m der Kirche ordentlich im Schwange gehen. Sie sollte aber auch außer der Ordnung in besonderer Weise geübt werden, wenn es sich etwa zuträgt, daß das Volk in eine gemeinsame Sünde verstrickt ist. Für diese zweite Art des Sündenbekenntnisses haben wir ein Beispiel in jener feierlichen Beichte, die das ganze Volk auf Anregung und unter Leitung des Esra und des Nehemia ablegte (Neh. 9,1ff.). Die lange Verbannung, die Zerstörung der Stadt und des Tem-pels, der Untergang der Religion - das war ja alles die Strafe für den gemeinsamen Abfall aller; und deshalb konnten sie die Wohltat der ihnen widerfahrenen Befreiung nicht nach Gebühr anerkennen, ohne sich zuvor selber als Angeklagte hinzustellen. Es ist ohne Belang, wenn in einer Versammlung zuweilen einige wenige unschuldig sind; denn sie sind ja Glieder an einem siechen und gebrechlichen Leibe und können deshalb nicht den Anspruch erheben, selbst gesund zu sein. Ja, es kann gar nicht anders sein, als daß auch sie sich irgendeine Befleckung zugezogen haben und so ebenfalls mitschuldig sind.

 

Wenn uns also Pestilenz oder Krieg oder Dürre oder sonst eine Drangsal befällt, so ist es unseres Amtes, zu Trauer und Fasten und anderen Zeichen der Schuldhaftigkeit unsere Zuflucht zu nehmen, aber das Sündenbekenntnis, von dem ja alles andere abhängt, darf dabei unter keinen Umständen unterlassen werden.

 

Jene ordentliche Beichte, die uns ja durch den Mund des Herrn nahegelegt ist, wird auch abgesehen hiervon kein vernünftiger Mensch, der ihren Nutzen recht erwägt, zu verwerfen wagen. Stellen wir uns doch in jeder heiligen Zusammenkunft vor Gottes und der Engel Angesicht - was sollte aber da anders der Anfang unseres Tuns sein, als die Erkenntnis unserer Unwürdigkeit? Nun könnte aber einer sagen: das geschieht doch in jedem Gebet; denn wenn wir um Vergebung bitten, so bekennen wir doch damit unsere Sünden! Das gebe ich zu. Aber wenn man bedenkt, wie groß unsere Sicherheit, unsere Verschlafenheit, unsere Trägheit ist, dann wird man mir auch zugeben, daß es eine heilsame Einrichtung ist, wenn das Christenvolk durch eine feierlich geordnete Beichte zur Demütigung geübt wird. Die Beichtform, die der Herr den Israeliten auftrug, gehört freilich zu der Erziehung unter dem Gesetz; aber die Sache selbst geht auch uns gewissermaßen an. Wir nehmen auch tatsächlich wahr, daß bei wohlgeordneten Kirchen mit viel Frucht die Sitte herrscht, daß der Diener an den einzelnen Sonntagen in seinem und des Volkes Namen ein formuliertes Sündenbekenntnis ausspricht, in dem er alle der Ungerechtigkeit zeiht und den Herrn um Vergebung bittet. Schließlich ist dies auch der Schlüssel, der dem Einzelnen für sich allein und allen zusammen öffentlich die Tür zum Beten auftut.

 

 

 

III,4,12

Außerdem heißt die Schrift zwei Formen der Einzelbeichte (confessio privata) gut. Die erste geschieht um unserer selbst willen. Dahin gehört die Weisung des Jakobus, nach der wir einer dem anderen unsere Sünden bekennen sollen (Jak. 5,16). Er meint nämlich dies: wir sollen einander unsere Schwachheiten aufdecken, um uns dann mit gegenseitigem Rat und gegenseitiger Tröstung beizustehen. Die zweite Form soll um des Nächsten willen geschehen, um ihn zu beruhigen und ihn wieder mit uns zu versöhnen, wenn er in irgendeiner Angelegenheit durch unsere Schuld verletzt worden ist. Bei der ersten Art nennt nun zwar Jakobus niemanden ausdrücklich, an dessen Herzen wir unsere Last ablegen sollen. Er überläßt es unserem freien Ermessen, dem unsere Sünde zu bekennen, der uns dazu aus der Schar der Kirche am meisten geschickt erscheint. Nun sind aber besonders die Hirten (Pastoren) hierzu als geeignet anzusehen, und deshalb werden wir vornehmlich sie zu erwählen

 

haben. Daß sie geeigneter sind als andere, sage ich deshalb, weil sie durch die Berufung in ihren Dienst von Gott dazu ausersehen sind, daß wir durch ihren Mund dazu unterwiesen werden, die Sünde zu dämpfen und von uns zu tun, und daß wir auch durch ihren Mund aus dem Vertrauen auf die Vergebung heraus Trost empfangen sollen (Matth. 16,19; Matth. 18,18; Joh. 20,23). Das Amt der gegenseitigen Ermahnung und Zurechtweisung ist zwar allen Christenmenschen aufgetragen, aber den Dienern am Wort ist es in besonderer Weise befohlen; wenn wir uns also auch alle gegenseitig trösten und in der Zuversicht auf das göttliche Erbarmen starken sollen, so betrachten wir doch die Diener am Wort selbst als Zeugen und Bürgen der Sündenvergebung, die das Gewissen dieser Vergebung versichern sollen. So heißt es ja auch von ihnen, daß sie Sünden vergeben und die Seelen lösen. Wenn man nun hört, daß ihnen dies zugesprochen wird, so soll man auch beachten, daß es zu unserem Nutzen geschieht. Deshalb soll jeder einzelne Gläubige daran denken, daß es, wenn er für sich allein dermaßen vom Empfinden seiner Sünde geängstigt und erschreckt wird, daß er sich ohne fremde Hilfe nicht mehr freimachen kann, seine Aufgabe ist, nicht das Heilmittel beiseitezulassen, das ihm vom Herrn dargereicht wird. Er soll dann von der Einzelbeichte bei seinem Pastor Gebrauch machen und soll den Mann, dessen Amt es ist, das Volk Gottes öffentlich und insonderheit mit der Lehre des Evangeliums zu trösten, zu seiner Erleichterung auch um seine persönliche Hilfeleistung bitten. Das soll aber alles in solchem Maßhalten vor sich gehen, daß nicht an einer Stelle, wo Gott nichts Bestimmtes vorgeschrieben hat, die Gewissen unter ein festes Joch gebunden werden. Daraus ergibt sich, daß diese Beichte frei sein muß und nicht etwa von allen zu fordern ist, sondern nur denen empfohlen werden soll, die merken, daß sie sie nötig haben. Auch sollen selbst diese Leute, die angesichts ihrer Not davon Gebrauch machen, nicht durch ein Gesetz dazu angehalten oder mit List dazu gebracht werden, alle ihre Sünden aufzuzählen, sondern sie sollen nur soweit gehen, wie sie es für dienlich halten, um eine vollkommene Frucht des Trostes zu empfangen. Treue Hirten müssen den Kirchen diese Freiheit nicht bloß lassen, sondern sie auch schützen und tapfer aufrechterhalten, wenn sie wollen, daß ihr Dienst ohne Tyrannei und das Volk ohne Aberglauben bleibe.

 

 

 

III,4,13

 

Von der anderen Form der Einzelbeichte spricht Christus bei Matthäus: „Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe“ (Matth. 5,23f.). Denn so soll die Liebe wiederhergestellt werden, die durch unsere Schuld zerborsten ist: wir sollen die Schuld, die wir begangen haben, anerkennen und Abbitte leisten.

 

Zu dieser Art gehört auch die Beichte derjenigen, die mit ihrer Sünde der ganzen Kirche Anstoß gegeben haben. Denn wenn Christus die Kränkung eines einzelnen Privatmenschen so schwer nimmt, daß er alle, die gegen die Brüder irgendwie gesündigt haben, vom heiligen Dienst zurückhält, bis sie sich in gerechter Genugtuung wieder mit ihnen versöhnt haben - wieviel besser ist es dann begründet, daß der, welcher die Kirche mit irgendeinem schlechten Beispiel beleidigt hat, sie durch Anerkennung seiner Schuld wieder mit sich versöhne! So wurde jener Korinther wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, als er bewiesen hatte, daß er der Zurechtweisung gehorsam war (2. Kor. 2,6).

 

Diese Form der Beichte hat auch in der Alten Kirche bestanden; daran erinnert uns Cyprian. Er sagt: „Sie tun eine gebührliche Zeit hindurch Buße, dann kommen sie zum öffentlichen Bekenntnis ihrer Sünden und empfangen durch die Handauflegung des Bischofs und des Klerus das Recht auf die Gemeinschaft“ (Brief 16,2).

Von anderen Arten und Formen der Beichte weiß die Schrift schlechterdings

 

nichts. Auch ist es nicht unsere Aufgabe, die Gewissen, die uns Christus auf das schärfste zu knechten verbietet, mit neuen Fesseln zu binden.

 

Indessen erhebe ich keinerlei Widerspruch dagegen, daß die Schafe jedesmal, wenn sie am Heiligen Abendmahl teilnehmen wollen, sich ihrem Hirten stellen; ich möchte im Gegenteil, daß diese Gepflogenheit allerorts beobachtet würde. Denn daraus kann einerseits denen, die ein bedrücktes Gewissen haben, eine einzigartige Frucht erwachsen, anderseits bietet sich dabei auch Gelegenheit, die Leute zu ermahnen, die dessen bedürfen. Nur muß alles ohne Tyrannei und Aberglauben vor sich gehen.

 

 

 

III,4,14

 

In diesen drei Arten der Beichte hat die Schlüsselgewalt ihren Platz. Diese ist also erstens wirksam, wenn die ganze Kirche in öffentlichem Bekenntnis ihrer Übeltaten um Vergebung bittet. Zum zweiten wird sie da geübt, wo ein einzelner Mensch, der durch irgendeinen öffentlich ins Auge fallenden Frevel ein allgemeines Ärgernis herbeigeführt hat, seine Buße bezeugt. Und zum dritten geschieht sie dann, wenn ein Mensch, der um der Unruhe seines Gewissens willen die Hilfe des Dieners (am Wort) braucht, diesem seine Schwachheit zur Kenntnis bringt. Dagegen hat es mit der Behebung einer Kränkung eine andere Bewandtnis: freilich geschieht auch diese so, daß dabei dem Frieden des Gewissens gedient wird, aber der hauptsächliche Zweck ist doch der, daß der Haß verschwindet und die Herzen durch das Band des Friedens miteinander geeint werden.

 

Aber jener Nutzen (nämlich der des Schlüsselamtes), von dem ich sprach, ist keineswegs geringzuschätzen, damit wir um so leichter bereit sind, unsere Sünden zu bekennen. (Erster Fall:) Wenn nämlich die ganze Kirche gewissermaßen vor Gottes Richterstuhl steht und sich schuldig bekennt und wenn sie dann ihre einzige Zuflucht in Gottes Erbarmen findet, so ist es kein geringer, kein leichter Trost, daß da ein Gesandter Christi gegenwärtig ist, der den Auftrag empfangen hat, sie zu versöhnen, und aus dessen Munde sie die Verkündigung ihrer Lossprechung vernehmen darf. Hier wird der Nutzen des Schlüsselamtes mit vollem Recht hoch gerühmt, wenn die Ausrichtung dieses Gesandtendienstes mit der gebührenden Ordnung und Ehrerbietung sich vollzieht. Oder ebenso (im zweiten Fall): ein Mensch, der sich von der Kirche auf irgendeine Weise entfremdet hat, empfängt Verzeihung und wird in die brüderliche Gemeinschaft wieder aufgenommen. Was ist es nun da für eine große Wohltat, wenn er gewahr wird, daß ihm von denen verziehen ist, zu denen Christus gesagt hat: „Welchen ihr die Sünden erlasset auf Erden, denen sollen sie auch im Himmel erlassen sein“ (Zusammenstellung aus Matth. 18,18 und Joh. 20,23). Nicht geringere Wirkung und Frucht hat (dritter Fall) die private Absolution, wo sie von Menschen begehrt wird, die ein besonderes Mittel nötig haben, um ihren Schwachheiten aufzuhelfen. Es kommt nämlich nicht selten vor, daß ein Mensch, der die allgemeinen Verheißungen vernimmt, die sich an die ganze Versammlung der Gläubigen richten, trotzdem einigermaßen im Zweifel bleibt und immer noch ein unruhiges Herz hat, als hätte er noch gar keine Vergebung erlangt. Wenn nun ein solcher Mensch seinem Pastor die verborgene Wunde seines Herzens offenlegt und wenn er dann hört, daß das Wort des Evangeliums: „Sei getrost ... dir sind deine Sünden vergeben“ (Matth. 9,2) ihm ganz persönlich zugesprochen ist, so wird er sein Herz stärken, damit es Gewißheit findet, und er wird von dem ungewissen Zagen, das ihn zuvor quälte, frei werden.

Wenn aber von den „Schlüsseln“ die Rede ist, so müssen wir uns immerzu in acht nehmen, nur ja nicht zu träumen, das sei eine von der Verkündigung des Evangeliums getrennte Gewalt. Das muß an anderer Stelle, wenn ich vom Kirchenregiment zu reden habe, aufs neue, und dann ausführlicher dargetan werden. Da werden wir denn auch erkennen, daß jedwedes Recht zu binden oder zu lösen, das Christus seiner Kirche erteilt hat, an das Wort gebunden ist. Das ist aber in ganz besonderer Weise wahr, wenn es sich um das Amt der Schlüssel handelt:

 

seine ganze Kraft beruht darauf, daß die Gnade des Evangeliums durch die Menschen, die der Herr dazu verordnet hat, in den Herzen der Gläubigen öffentlich und insonderheit versiegelt wird - und das kann ausschließlich durch die Predigt geschehen.

 

 

 

III,4,15

 

Was lehren nun die römischen Theologen? Sie geben die Anweisung, daß alle Menschen beiderlei Geschlechts, sobald sie das Alter erreicht haben, in dem sie Gut und Böse unterscheiden können, mindestens einmal im Jahre dem zuständigen Priester alle ihre Sünden zu beichten haben. (So will es das entsprechende Dekret Innozenz\' III. auf dem IV. Laterankonzil). Eine Vergebung der Sünde soll nur dann eintreten, wenn der feste Vorsatz zur Beichte vorgelegen hat. Ist dieser Vorsatz, sofern die Gelegenheit dazu bestand, nicht verwirklicht worden, so soll keinerlei Eingang in das Paradies mehr möglich sein (Sentenzen IV,17,4). Der Priester hat - so lehrt man weiter - die Schlüsselgewalt, mit der er den Sünder zu lösen oder zu binden vermag, damit das Wort Christi: „Was ihr binden werdet auf Erden ...“ nicht außer Kraft sei (Matth. 18,18; Sentenzen IV,17,1).

 

Über diese Schlüsselgewalt liegen sie nun untereinander streitbar im Kriege. Die einen meinen, es bestehe dem Wesen nach nur ein „Schlüssel“, nämlich die Gewalt, zu binden und zu lösen; die (moraltheologische) Kenntnis sei zwar zu guter Anwendung (dieser Gewalt) erforderlich, aber doch gewissermaßen nur ein hinzutretendes Ding und hänge nicht wesentlich an jener Gewalt. Andere merkten nun, daß dies ein allzu zügelloser Mutwille ist, und unterschieden deshalb zwischen zwei „Schlüsseln“, der Unterscheidung (der Sünden) und der (eigentlichen) Gewalt (zu binden und zu lösen). Wiederum sahen aber andere, daß durch diese Mäßigung die Schalkheit der Priester in Schranken gehalten würde, und da haben sie noch andere „Schlüssel“ zugesetzt: sie reden zunächst von der Unterscheidungsgewalt, die sie bei der Feststellung (bestimmter Sünden) brauchen sollten, dann zweitens von der Gewalt, die sie in der Vollstreckung ihrer Entscheidung auszuüben hätten; die Kenntnis kommt nach dieser Ansicht gewissermaßen als „Ratgeber“ hinzu.

 

Jenes „Binden und Lösen“ wagen sie nun gar nicht schlicht auszulegen, nämlich daß es Sünden vergeben und tilgen bedeutet. Denn sie hören doch bei den Propheten den Herrn ausrufen: „Ich, ich bin der Herr ... Ich, ich tilge deine Übertretungen, Israel!“ (Jes. 43,11. 25). Ihre Ansicht ist aber nun die: Dem Priester steht es zu, kundzumachen, welche Menschen gebunden und welche gelöst sind, und zu erklären, welchen Menschen die Sünden vergeben und welchen sie behalten sind. Die Erklärung übt der Priester entweder in der Beichte aus, wenn er losspricht und Sünden „behält“, oder aber durch Urteilsspruch, wenn er jemanden in den Bann tut (exkommuniziert) oder ihn zur Gemeinschaft an den Sakramenten zuläßt.

Nun merken sie aber schließlich doch, daß sie sich noch immer nicht von dem Einwand freigemacht haben, den stets jemand erheben könnte: ihre Priester binden und lösen ja oft den Unrechten, und deshalb wird dieser ja dann im Himmel nicht gebunden oder gelöst! Da antworten sie dann - und das ist ihre äußerste Zuflucht! -, die Übergabe der Schlüssel(-gewalt) müsse begrenzt verstanden werden; Christus habe nur verheißen, daß der gerecht gefällte Urteilsspruch des Priesters vor seinem Richtstuhl bestätigt werden würde, also der, welcher nach Maßgabe der Verdienste des Gebundenen oder Gelösten ausgesprochen worden sei. Weiterhin behauptet man, diese Schlüssel hätte Christus zwar allen Priestern übergeben und sie würden ihnen deshalb von den Bischöfen bei der Beförderung in ihr Amt übertragen - der freie Gebrauch sei aber nur denen gestattet, die ein Kirchenamt verwalteten. Bei den gebannten und ihres Amtes (zeitweise) enthobenen Priestern blieben die Schlüssel an sich bestehen, aber doch nur rostig und gebunden. Die Leute, die das sagen, kann man aber noch für bescheiden und maßvoll halten, wenn man auf andere blickt, die sich auf einem neuen Amboß neue Schlüssel geschmiedet haben, mit welchen man nach ihrer

 

Lehre den Schatz der Kirche zuschließen kann. Diese neuen Schlüssel wollen wir später an ihrem Platze näher betrachten.

 

 

 

III,4,16

 

In meiner Entgegnung will ich kurz auf die einzelnen Stücke der gegnerischen Ansicht eingehen. Vorerst will ich unerwähnt lassen, mit was für einem Recht oder Unrecht man die Seelen der Gläubigen mit seinen Gesetzen in Fesseln legt; das wollen wir an geeigneter Stelle untersuchen. Daß man den Menschen aber das Gesetz auferlegt, alle Sünden müßten aufgezählt werden, daß man Sündenvergebung nur unter der Bedingung für möglich erklärt, daß der Vorrsatz zu beichten fest gefaßt worden sei, daß man schwatzt, es bliebe keinerlei Eingang ins Paradies mehr offen, wenn einer die Gelegenheit zu beichten nicht benutzt habe - dies alles ist unter keinen Umständen tragbar!

 

Man soll alle Sünden aufzählen? Aber David, der doch nach meiner Ansicht wirklich rechtschaffen die Beichte seiner Sünden bei sich bedacht hat, David hat doch trotzdem ausgerufen: „Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Fehle!“ (Ps. 19,13). Er sagt ebenso an anderer Stelle: „Meine Sünden, gehen über mein Haupt; wie eine schwere Last sind sie mir zu schwer geworden“ (Ps. 38,5). Er wußte wahrhaftig, wie tief der Abgrund unserer Sünden ist, er wußte, unter wievielerlei Gestalt der Frevel bei uns auftritt, wieviel Häupter dieses Schlangenuntier hat und was für einen langen Schwanz es hinter sich herzieht! Er unternahm deshalb keine Aufzählung seiner Sünden, sondern rief aus der Tiefe seiner Bosheiten zum Herrn: „Ich bin versunken, ich bin begraben und erstickt, der Hölle Pforten haben mich umfangen, laß mich deine Hand herausziehen, der ich in tiefen Schlamm versunken bin, der ich verschmachte und sterben soll!“ (vgl. Ps. 18,6; Ps. 69,2f.,15f.; nicht Luthertext). Wer will nun daran denken, seine Sünden aufzuzählen, wenn er doch wahrnimmt, daß selbst David die Zahl der seinigen nicht zu fassen vermag!

 

 

 

III,4,17

 

Mit solcher Folter hat man unter furchtbarer Grausamkeit die Seelen von Menschen gequält, die irgendwie vom Empfinden Gottes getroffen waren! Zuerst fingen sie an zu rechnen und zerlegten die Sünden in Aste und Zweige und Zweiglein und Laub - nach der Anweisung jener römischen Priester! Dann erwogen sie die „Art“ der Sünden, die „Menge“, die „Umstände“ - und doch ging die Sache allzu langsam voran! Wenn sie aber dann weitergingen, dann sahen sie allenthalben nur Himmel und Meer, kein Hafen war da und kein Ruheplatz: je mehr Sünden sie durchgegangen waren, desto größer war die Menge, die sich vor ihrem Auge erhob, ja ihre Sünden ragten vor ihnen auf wie ein hoher Koloß - und es war keine Hoffnung zu sehen, je herauszukommen, selbst nicht nach langen Umwegen! So hingen sie denn „zwischen Heiligtum und Fels“, und es fand sich am Ende kein anderer Ausgang als die Verzweiflung!

 

Da kamen denn jene wüsten Folterknechte her und legten auf die Wunden, die sie geschlagen hatten, gewisse Pflaster auf, um sie zu lindern: sie sagten, es solle ein jeder tun, was er vermöchte. Aber alsbald erhob sich neue Sorge, ja neue Qual brachte die elenden Seelen gänzlich um die Besinnung: Ich habe mir nicht genug Zeit genommen, sagte man sich, ich habe nicht die rechte Mühe daran gewandt, ich habe vieles in mangelnder Achtsamkeit ausgelassen - und das vergessen aus mangelnder Sorgfalt ist ja unentschuldbar!

Da gab man den Menschen denn wieder andere Arznei ein, um solche Schmerzen zu lindern. Man sagte: Tu Buße für deine Unachtsamkeit; wenn sie nicht allzu träge ist, dann wird sie vergeben werden. Aber all solche Dinge können die Wunde nicht vernarben lassen, und sie sind nicht sowohl Linderungsmittel für das Übel, als vielmehr Gift, das man mit Honig überstrichen hat, damit man seine Bitterkeit nicht gleich beim ersten Schluck mit Abscheu bemerkt, sondern es nicht eher wahrnimmt, als es bereits ins Innerste gedrungen ist! So quält also jene schreckliche Stimme die

 

Menschen noch immer und schreit ihnen in die Ohren: „Beichte alle deine Sünden!“ - und dieser Schrecken kann nur durch einen festen Trost gestillt werden!

 

Der Leser soll hier auch einmal darüber nachdenken, wieweit es überhaupt möglich ist, sich die Geschehnisse eines ganzen Jahres ins Bewußtsein zu rufen oder alles zusammenzuzählen, was man an den einzelnen Tagen gesündigt hat. Jeder Mensch erhält doch aus eigener Erfahrung die Einsicht, daß unser Gedächtnis schon durcheinandergerät, wenn wir eines Abends auch nur die Sünden eines einzigen Tages überdenken wollen - so groß ist die Menge und die Vielfältigkeit, die sich einem dabei aufdrängt. Dabei rede ich nun nicht von groben und abgestumpften Heuchlern, die da meinen, sie hätten ihre Schuldigkeit getan, wenn sie drei oder vier schwerere Vergehen bedacht haben. Nein, ich rede von den wahren Dienern Gottes; sie nehmen ihre Selbstprüfung gründlich vor und gewahren, wie sie von Sünden ganz überschüttet werden, aber sie sagen sich dann auch noch jenes Johanneswort: „So uns unser Herz verdammt, so ist Gott größer als unser Herz ...“ (1. Joh. 3,20). So erschrecken sie vor dem Angesicht des Richters, dessen Erkenntnis weit über unseren Verstand geht.

 

 

 

III,4,18

 

Nun hat sich zwar ein großer Teil der Welt auf jene Schmeicheleien, mit denen man ein so verderbenbringendes Gift versüßt hat, verlassen. Aber das ist nicht geschehen, weil man etwa glaubte, Gott Genugtuung geleistet oder auch sich selbst wirklich Genüge getan zu haben. Nein, man wollte gleichsam mitten auf dem Meere den Anker auswerfen, um ein wenig von der Seefahrt auszuruhen. Oder man wollte es machen wie ein müder, verschmachteter Wandersmann, der sich an den Weg legt, um zu rasten. Ich brauche mir keine Mühe damit zu machen, diesen Satz zu beweisen. Denn dafür kann sich jedermann selbst Zeugnis ablegen.

 

Ich will zusammenfassend aussprechen, wie es um jenes Gesetz (zu beichten) bestellt war. Zunächst ist es einfach unmöglich; und deshalb kann es nur zugrunde richten, verdammen, verwirren, in Verstörung und Verzweiflung stürzen. Zweitens führt es auch die Sünder von der wahren Empfindung ihrer Sünden weg und macht sie so zu Heuchlern, zu Menschen, die weder Gott kennen, noch sich selber. Denn wenn der Mensch ganz damit beschäftigt ist, seine Sünden aufzuzählen, so vergißt er unterdessen den verborgenen Schlangenpfuhl seiner Laster, seine versteckten Ungerechtigkeiten, seine innere Befleckung - und durch die Erkenntnis dieser Wirklichkeit sollte er doch vornehmlich zur Einsicht in sein Elend geführt werden! Die sicherste Regel für unser Beichten ist aber doch die, daß wir solchen tiefen Abgrund unserer Bosheit erkennen und bekennen sollen, der auch über unser Wahrnehmen hinausgeht. Nach dieser Regel richtete sich, wie wir sehen, das Sündenbekenntnis des Zöllners: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ (Luk. 18,13). Es ist, als ob er sagen wollte: So viel auch an mir ist - ich bin ganz Sünder, und ich vermag die Größe meiner Sünden weder mit meinem Verstand, noch mit meiner Zunge zu fassen: so möge der Abgrund deiner Barmherzigkeit diesen Abgrund der Sünde verschlingen!

 

Wieso, könnte nun jemand fragen, - soll man denn die Sünden nicht einzeln bekennen? Gibt es denn vor Gott kein Sündenbekenntnis, das ihm wohlgefällig wäre, außer dem einen, welches in die paar Wörtlein eingeschlossen ist: Ich bin ein Sünder? Nein, sage ich, wir sollen uns vielmehr Mühe geben, soviel an uns ist, unser ganzes Herz vor dem Herrn auszuschütten. Wir sollen uns nicht bloß mit einem einzigen Wort als Sünder bekennen, sondern uns auch wahrhaftig und von Herzen als solche erkennen; wir sollen unser ganzes Denken darauf richten, wie groß und wie vielfältig der Schmutz der Sünde ist. Wir sollen nicht bloß zugeben, daß wir unrein sind, sondern auch merken, welcher Art und wie groß unsere Unreinigkeit ist und wie vielfältig sie sich auswirkt. Wir sollen uns nicht allein für Schuldner halten, sondern auch erkennen, wieviel Schulden uns drücken und wie mannigfach wir in sie verstrickt sind.

 

Wir sollen uns nicht bloß als verwundet bekennen, sondern auch wahrnehmen, von wie vielen und tödlichen Schlägen wir verletzt sind! Wenn sich aber der Sünder in solcher Selbstprüfung ganz vor Gott ausgeschüttet hat, so soll er ernstlich und aufrichtig bedenken, daß noch viele Sünden übrig sind, daß die Schlupfwinkel seiner Bosheit zu tief liegen, als daß er sie in ihrer ganzen Tiefe ergründen könnte. So muß er denn mit David ausrufen: „Wer kann merken, wie oft er fehlet; verzeihe mir die verborgenen Fehle!“ (Ps. 19,13).

 

Die Römischen behaupten mm weiter, der Mensch empfange keine Sündenvergebung, wenn er nicht den festen Vorsatz gefaßt habe, zu beichten, und die Pforte des Paradieses bleibe dem verschlossen, der die Gelegenheit zur Beichte, sofern sie sich ihm bot, vernachlässigt habe. Das wollen wir ihnen unter keinen Umständen zugestehen! Denn die Vergebung der Sünden ist heutzutage nicht anders beschaffen, als sie es je war. Soviele Menschen nun nach unseren Berichten Vergebung ihrer Sünden von Christus erlangt haben - von keinem einzigen lesen wir, daß er einem Priester die Ohrenbeichte abgelegt habe! Sie konnten auch tatsächlich gar nicht beichten, wo es doch noch keine Beichtpriester gab und auch keine Beichte! Auch Jahrhunderten später war diese Beichte unbekannt, und zu dieser Zeit empfing man also die Vergebung der Sünden ohne diese Bedingung. Aber wir wollen über diese Sache nicht weiter streiten, als ob etwas Zweifelhaftes daran wäre. Das Wort Gottes lehrt uns ja deutlich, und das bleibt ewig. Wir lesen: „Sooft ein Sünder aufseufzt, ... will ich aller Übertretung, die er begangen hat, nicht gedenken“ (Ez. 18,21f.; nicht Luthertext). Wer diesem Wort etwas zuzufügen wagt, der „bindet“ nicht Sünden, sondern die Barmherzigkeit des Herrn!

 

Die Papisten behaupten dagegen aber, man könne kein Urteil sprechen, ohne zuvor von der betreffenden Sache Kenntnis gewonnen zu haben. Aber da ist die Lösung schon bereit: das haben sie sich eben selbst vorwitzig angemaßt; denn sie haben sich selbst zu Richtern bestellt! Es ist auch verwunderlich, daß sie sich mit solcher Sicherheit Grundsätze machen, die kein vernünftiger Mensch zugeben wird. Sie behaupten stolz, ihnen sei das Amt zu binden und zu lösen aufgetragen - als ob das eine Rechtsprechung sein sollte, die an die Form des Prozesses gebunden wäre! Dabei bezeugt die ganze Lehre der Apostel laut, daß diesen jenes Recht unbekannt gewesen ist! Auch geht die klare Erkenntnis, ob der Sünder gelöst wird, nicht den Priester an, sondern vielmehr den, den wir um die Lossprechung bitten (nämlich Gott!); denn der, welcher die Beichte hört, kann nie und nimmer wissen, ob da eine rechte und vollständige Aufzählung der Sünden stattfindet! Eine Lossprechung gäbe es dann also nur in der Weise, daß sie auf die Worte dessen beschränkt würde, der da gerichtet werden soll. Man muß auch weiter bedenken, daß die ganze „Lösung“ (von den Sünden) aus Glauben und Buße besteht; und diese beiden Dinge entziehen sich der Erkenntnis des Menschen, sofern man über einen anderen urteilen soll. Die Gewißheit der „Bindung“ und „Lösung“ unterliegt also nicht dem Urteil eines irdischen Richters; denn der Diener am Wort kann, wo er sein Amt recht verrichtet, nur bedingt lossprechen. Das Wort: „Welchen ihr die Sünden erlasset ...“ ist aber um des Sünders willen gesagt: er soll nicht zweifeln, daß die Vergebung, die ihm nach Gottes Auftrag und Gottes Wort verheißen ist, im Himmel gültig sein wird.

 

 

 

III,4,19

Es ist also kein Wunder, wenn wir die Ohrenbeichte, diese verderbenbringende Pestilenz, die der Kirche in so vielerlei Hinsicht Schaden tut, verdammen, und wenn wir begehren, daß sie abgetan werde. Selbst wenn sie an und für sich eine nicht entscheidende Angelegenheit (res indifferens) wäre - wer müßte nicht doch angesichts der Tatsache, daß sie keinerlei Nutzen und Frucht bringt, wohl aber die Ursache zu soviel Gottlosigkeit, Frevel und Irrtum abgegeben hat, für ihre sofortige Abschaffung eintreten? Man zählt allerdings einigerlei Nutzen der Ohrenbeichte auf, den man als sehr fruchtbringend an den Mann bringen will; aber der ist teils erlogen,

 

teils gänzlich belanglos. Nur einen Nutzen rühmt man mit besonderem Vorrang: die Beschämung des Beichtenden sei eine schwere Strafe, die den Sünder auch für die Folgezeit achtsamer mache und ihn dazu bringe, der Vergeltung Gottes dadurch zuvorzukommen, daß er sich selber strafe. Als ob die Scheu nicht groß genug wäre, mir der wir den Menschen demütigen, wenn wir ihn vor den höchsten, himmlischen Richtstuhl rufen, nämlich vor Gottes Gericht! Das sollte wahrhaftig ein herrlicher Fortschritt sein, wenn wir zwar aus Scham vor einem einzigen Menschen aufhörten zu sündigen, uns aber nicht scheuten, Gott zum Zeugen unseres bösen Gewissens zu haben!

 

Aber auch jene Behauptung selbst ist ganz falsch. Denn man kann allenthalben bemerken, daß der Mensch durch nichts größere Kühnheit, größeren Mutwillen zum Sündigen empfängt, als dadurch, daß er, nachdem er einmal dem Priester seine Beichte abgelegt hat, nun den Rücken wenden und sagen zu können glaubt: Ich habe nichts getan! Auf solche Weise wird der Mensch nicht allein das ganze Jahr hindurch nur kühner zum Sündigen, sondern er fühlt sich auch für den Rest des Jahres vor der Beichte sicher, erhebt nie seine Seufzer zu Gott, geht nie in sich, sondern häuft Sünde auf Sünde, bis er - wie man meint! - alle zusammen auf einmal ausspeit! Hat er sie dann aber ausgespien, so meint er seiner Last ledig zu sein, er meint Gott das Gericht genommen zu haben, das er ja auf den Priester übertragen hat, und er wähnt, Gottes Gedächtnis getilgt zu haben, wo er dem Priester seine Sünde zur Kenntnis gebracht hat! Aber weiter: wer sieht denn den Tag der Beichte fröhlich anbrechen? Wer kommt denn frohen Herzens zur Beichte? Kommt man nicht vielmehr unwillig und wie einer, der sich gehörig wehrt, als ob man beim Halse gewürgt und ins Gefängnis geschleppt würde? Anders mag es allenfalls bei den Priestern selber stehen, die sich durch die gegenseitige Erzählung ihrer Übeltaten köstlich ergötzen - wie durch lustige Geschichtlein! Ich will nicht viel Papier mit dem Bericht über die furchtbaren Greuel vertun, welche die Ohrenbeichte aus sich hervorsprudelt. Nur soviel will ich sagen: wenn schon jener fromme Mann (Nectarius), der um des einen Geredes von der Hurerei willen die Beichte aus seiner Kirche, ja aus dem Gedächtnis der Seinen entfernt hat, darin nicht unbedacht handelte, so mahnt uns heutzutage unendlich viel Hurerei, Ehebruch, Blutschande und Kuppelei an das, was zu tun nötig ist.

 

 

 

III,4,20

Aber hier nehmen die Beichtväter die Schlüsselgewalt für sich in Anspruch und sehen in ihr Bug und Heck ihrer Herrschaft, wie sie sagen. Wir müssen zusehen, wieviel das gelten soll. Man fragt uns: Sollen denn die „Schlüssel“ ohne Ursache gegeben worden sein? Heißt es etwa ohne Ursache: „Was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein“ (Matth. 18,18)? Sollen wir denn Christi Wort inhaltslos machen? Ich entgegne: die Schlüssel sind aus sehr schwerwiegender Ursache gegeben worden! Das habe ich wenig weiter oben bereits auseinandergesetzt, und das werde ich, wenn ich auf den Bann zu sprechen komme, wiederum, und zwar noch ausführlicher darlegen. Aber was will man machen, wenn ich mit einem einzigen Schwertstreich allen solchen Ansprüchen der Priester jeden Ansatzpunkt wegschlage? Was will man nämlich machen, wenn ich behaupte, daß die Priester gar nicht die Platzhalter oder Nachfolger der Apostel sind? Aber auch das wird noch an anderer Stelle zu behandeln sein. Jetzt nur dies: die Papisten bauen sich eben aus dem, was sie nach ihrem Willen am sichersten schützen soll, einen Sturmbock, der all ihre Rüstungen zunichtemachen muß. Denn Christus hat seinen Jüngern die Vollmacht zum Binden und Lösen erst erteilt, als er sie mit dem Heiligen Geist begabt hatte! Ich behaupte daher, daß keinem Menschen die Schlüsselgewalt zusteht, der nicht zuvor den Heiligen Geist empfangen hat. Ich bestreite, daß ein Mensch die Schlüssel verwalten kann, ohne daß der Heilige Geist vorangeht, ihn lehrt und ihm angibt, was er tun soll. Nun schwatzen die Römischen, sie hätten den Heiligen Geist; aber mit

 

der Tat bestreiten sie es - sie müßten uns sonst vormachen, der Heilige Geist sei ein eitles, nichtiges Ding; das tun sie auch wirklich, aber man wird es ihnen nicht glauben! Da haben wir nun aber ein Kriegsgerät, das sie gänzlich darniederwerfen wird: wenn sie den Anspruch erheben, zu irgendeiner Tür den „Schlüssel“ zu besitzen, dann muß man sie stets fragen, ob sie auch den Heiligen Geist hätten, der doch der Lenker und Verwalter der Schlüssel ist! Wenn sie dann antworten, sie hätten ihn - dann muß man sie wieder fragen, ob der Heilige Geist denn irren könnte! Das werden sie nicht ausdrücklich zu behaupten wagen, obwohl sie es in ihrer Lehre verdeckt zu verstehen geben. Man wird also zu folgern haben, daß kein Priester die Schlüsselgewalt besitzt; denn sie „lösen“ ja allenthalben ohne Unterschied, was der Herr binden wollte, und „binden“, was der Herr zu lösen befohlen hat!

 

 

 

III,4,21

 

Nun sehen die Römischen, daß man sie mit ganz einwandfreien Erfahrungsbeweisen überführen kann, wie sie Würdige und Unwürdige ohne Unterschied lösen und binden; aber da eignen sie sich die Schlüsselgewalt ohne die „Kenntnis“ zu. Und obwohl sie nicht zu leugnen wagen, daß diese „Kenntnis“ zur rechten Anwendung (der Schlüsselgewalt) erforderlich ist, schreiben sie doch, die Gewalt sei auch solchen Leuten übertragen, die sie übel austeilen. Aber diese Gewalt bedeutet doch: „Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein“! (Matth. 18,18; Calvin zitiert abgekürzt). Nun muß also entweder Christi Verheißung lügen - oder aber die, welche dieser Vollmacht teilhaftig geworden sind, vollziehen das Binden und Lösen recht.

Eine unangebrachte Beschönigung ist es, wenn sie behaupten, das Wort Christi sei je nach den Verdiensten dessen begrenzt, der da gebunden oder gelöst würde. Auch wir bekennen, daß nur die gebunden und gelöst werden können, die würdig sind, gebunden und gelöst zu werden. Aber die Boten des Evangeliums und die Kirche haben das Wort, nach welchem sie diese Würdigkeit bemessen sollen. Mit diesem Wort können die Boten des Evangeliums allen Menschen in Christus durch den Glauben die Vergebung ihrer Sünden verheißen, und sie können gegen alle und über alle die Verdammnis predigen, die Christus nicht annehmen. In diesem Wort verkündigt die Kirche: „Weder die Hurer noch die Ehebrecher noch die Diebe noch die Mörder noch die Geizigen noch die Ungerechten werden das Reich Gottes ererben“ (1. Kor. 6,9f.; ungenau). Und solche Leute bindet die Kirche mit ganz sicheren Banden. Nach dem selbenWort löst sie die Menschen, die sie als Reuige tröstet. Was aber ist das für eine Vollmacht, nicht zu wissen, was man binden oder lösen soll? Und dabei kann man doch gar nicht binden oder lösen, wenn man das nicht weiß! Weshalb behaupten sie, auf Grund der ihnen gegebenen Vollmacht die Lossprechung zu vollziehen - wenn diese doch ungewiß ist? Was soll uns diese eingebildete Vollmacht, wenn man von ihr gar keinen Nutzen haben kann? Ich habe aber bereits erwiesen, daß wirklich kein Nutzen dabei herauskommt oder daß dieser wenigstens so ungewiß ist, daß man ihn für nichts halten muß. Sie geben selber zu, daß ein erheblicher Teil der Priester die Schlüssel nicht nach Gebühr anwendet, andererseits gestehen sie, die Schlüsselgewalt sei ohne rechtmäßigen Gebrauch kraftlos; wer kann mir nun aber die Gewißheit verschaffen, daß der Priester, der mich löst, ein rechter Verwalter der Schlüssel ist? Wenn er nun ein schlechter Verwalter ist - was kann er dann anders von sich geben, als eben eine solche abgeschmackte Austeilung(sformel) wie diese: Was an dir zu binden oder zu lösen ist, das weiß ich nicht; denn mir fehlt die rechte Anwendung der Schlüssel; aber wenn du es verdienst, so spreche ich dich los!? Soviel vermöchte nun aber auch - ich sage nicht: ein Laie; denn das würden sie nicht gerne hören, sondern - ein Türke oder der Teufel! Denn es heißt doch soviel, als wenn man sagte: Das Wort Gottes habe ich nicht, diese gewisse Richtschnur für das Lösen - aber mir ist die Vollmacht gegeben worden, dich loszusprechen, wenn deine Verdienste danach sind! Da sehen wir nun also, was die Römischen im Auge haben, wenn

 

sie in ihrer Lehre erklären, die Schlüssel seien die Autorität, ein Urteil abzugeben, und die Vollmacht, es zu vollziehen; die „Kenntnis“ komme als Ratgeber hinzu und sei wie ein Ratgeber zu rechter Anwendung der Schlüsselgewalt nütze: Sie wollten eben nach ihren eigenen Lüsten, mutwillig, ohne Gott und sein Wort herrschen!

 

 

 

III,4,22

 

Nun könnte aber der Einwand erfolgen, auch die rechtmäßigen Diener Christi müßten unter solchen Umständen in ihrer Amtsführung ungewiß sein, weil ja die Lossprechung - die doch vom Glauben abhängt! - stets eine zweifelhafte Sache sein werde! Man könnte weiter sagen, die Sünder könnten keinen oder bloß einen kraftlosen Trost empfangen, weil ja der Diener selber gar kein geeigneter Richter über ihren Glauben und deshalb ihrer Lossprechung nicht gewiß sei. Da ist aber die Lösung schon bereit. Die Römischen behaupten, der Priester könne nur die Sünden vergeben, von denen er selbst Kennwis erlangt habe; sie sind also der Meinung, daß die Vergebung vom Urteil des Priesters abhängt: trifft er keine verständige Entscheidung darüber, wer nun der Vergebung würdig sei, dann ist das ganze Verfahren leer und nichtig. Kurzum, die Vollmacht, von der sie sprechen, ist (nach ihrer Meinung) eine richterliche Gewalt, die an die Untersuchung des Tatbestandes gebunden ist, von der die Vergebung und Lossprechung abhängt. In diesem Stück findet sich nun nichts Festes, ja es ist alles ein tiefer Abgrund. Denn wo die Beichte nicht vollständig ist, da ist auch die Hoffnung auf Vergebung verstümmelt. Auch muß der Priester selbst dauernd im Ungewissen bleiben, weil er ja nicht weiß, ob der Sünder seine bösen Werke treulich aufzählt oder nicht! Und schließlich ist bei der Unwissenheit und mangelnden Bildung der Priester deren größerer Teil zur Ausübung dieses Amtes nicht geschickter als der Schuster zum Ackerbau; die übrigen aber müssen sich mit Recht fast alle selber verdächtig vorkommen! Die Ungewißheit und der Zweifel gegenüber der unter dem Papsttum geschehenden Lossprechung kommen also daher, daß man diese Lossprechung auf die Person des Priesters gegründet wissen will, und zwar nicht allein dies, sondern zugleich auch auf dessen richterliche Untersuchung, so daß er also nur über solche Dinge ein Urteil spricht, die ihm vorgebracht sind, die er untersucht hat und deren er den Sünder überführt hat. Wenn nun jemand diese frommen Lehrer fragt, ob denn der Sünder auch dann mit Gott versöhnt wäre, wenn nur einige Sünden vergeben wären, so weiß ich nicht, was sie dann antworten wollen. Einzig werden sie zugeben müssen, daß alles, was der Priester von der Vergebung der Sünden ausspricht, deren Aufzählung er gehört hat, ohne Frucht bleiben muß, solange der Schuldzustand für die anderen Sünden nicht verschwindet! Sehen wir auf den, der da beichtet, so merken wir, daß sein Gewissen von einer verderblichen Angst in Fesseln geschlagen ist; und das geht daraus hervor, daß er, solange er sich - wie man sagt - auf die Entscheidung des Priesters verläßt, aus Gottes Wort nichts Gewisses feststellen kann.

 

Von all diesen Widersinnigkeiten ist die Lehre, die wir vortragen, frei und unberührt. Die Lossprechung ist in folgendem Sinne bedingt: der Sünder soll darauf vertrauen, daß Gott ihm gnädig ist, wenn er nur ehrlich in Christi Opfer seine Versöhnung sucht und sich auf die Gnade verläßt, die ihm angeboten ist. Wer also in seinem Amte als Herold das bekanntmacht, was ihm aus Gottes Wort aufgetragen ist, der kann nicht irren! Der Sünder aber kann eine sichere und klare Lossprechung empfangen, und dabei wird nun die eine schlichte Bedingung hinzugesetzt, daß er Christi Gnade annehmen muß; dies aber geschieht nach der allgemeinen Regel des Meisters selbst, die im Papsttum gottlos verachtet worden ist: „Dir geschehe, wie du geglaubt hast!“ (Matth. 8,13; 9,29).

 

 

 

III,4,23

Wie töricht man (unter dem Papsttum) durcheinanderwirft, was die Schrift von der Schlüsselgewalt lehrt, das habe ich an anderem Ort auszuführen versprochen, und eine geeignetere Stelle dazu wird die Behandlung des Kirchenregiments sein. Trotzdem mag der Leser (bereits hier) daran denken, daß man dabei Worte, die Christus

 

teils von der Predigt des Evangeliums, teils vom Bann ausgesprochen hat, fälschlich auf die Ohrenbeichte oder verborgene Beichte bezieht. Wenn man uns vorhält, das Recht zum Lösen sei den Aposteln gegeben worden, und dieses Recht übten nun die Priester aus, indem sie die ihnen bekanntgewordenen Sünden vergäben - so stellt man damit offenkundig einen falschen und unsinnigen Grundsatz auf. Denn die Lossprechung, die dem Glauben dient, ist ja gar nichts anderes als die Bezeugung der Vergebung, die aus der Gnadenverheißung des Evangeliums genommen ist. Die andere Art der Lossprechung, die mit der Kirchenzucht zusammenhängt, hat mit den verborgenen Sünden nichts zu schaffen, sondern bezieht sich auf das Beispiel, das einer gibt, und dient dazu, ein öffentliches Ärgernis der Kirche zu beheben.

 

Nun aber kratzen die römischen Theologen da und dort Zeugnisse zusammen, die beweisen sollen, es sei nicht ausreichend, wenn man Gott allein oder auch einem Laien seine Sünden bekenne - sofern nicht ein Priester die Untersuchung führte. Aber das ist ein fauler und beschämender Eifer! Gewiß, die Väter der Alten Kirche geben den Sündern den Rat, sich bei ihrem Pastor ihre Last abnehmen zu lassen; aber das darf nicht auf die Aufzählung der Sünden bezogen werden, die dazumal noch nicht in Übung stand. Dann scheinen Petrus Lombardus und seinesgleichen in ihrer Ungeschicklichkeit auch geradezu mit Absicht unechten Büchern verfallen zu sein, die ihnen den Vorwand dazu boten, schlichte Leute zu täuschen. Allerdings gestehen sie richtig zu, die Lossprechung trete ja stets bloß in der Begleitung der Buße auf, und deshalb bleibe eigentlich keinerlei Gebundenheit übrig, wenn jemand von der Buße erfaßt sei, selbst wenn er noch nicht gebeichtet habe. Auf diese Weise wäre es dann die Aufgabe des Priesters, nicht sowohl die Sünden zu vergeben, als vielmehr zu verkündigen und zu erklären, daß sie vergeben sind! Freilich lassen sie dann bei dem Begriff „Erklären“ einen groben Irrtum eindringen, indem sie an die Stelle der Lehrunterweisung eine Zeremonie setzen. Wenn sie aber dann weiter sagen, der Mensch, der vor Gott Vergebung erlangt habe, werde dann auch vor dem Angesicht der Kirche losgesprochen, so beziehen sie eine Einrichtung, die, wie ich bereits ausgeführt habe, der öffentlichen Zucht zugehört und die zur Behebung einer durch schwere und bekanntgewordene Verschuldung entstandenen Kränkung der Kirche dient, unrichtig auf die besondere Übung durch jeden Einzelnen. Aber derartige Milderungen verkehren und verderben sie dann bald darauf, indem sie eine andere Weise der Vergebung anfügen, nämlich die, bei der man den Menschen Strafe und Genugtuung auferlegt; damit sprechen sie ihren Opfern das Recht zu, das zu halbieren, was Gott überall als vollständig verheißen hat. Denn wenn er einfach Buße und Glauben fordert, dann ist diese Teilung (erstens Buße und Glauben, zweitens Strafe und Genugtuung) und diese Einschränkung durch und durch frevelhaft! Denn das bedeutet nichts anderes, als daß sich der Priester gleichsam zum Tribun macht, bei Gott Einspruch erhebt und nicht zulassen will, daß Gott den Sünder aus freier Güte in Gnaden annimmt, sofern sich dieser nicht vor dem Richtstuhl des Tribunen niedergeworfen und dort seine Strafe empfangen hat!

 

 

 

III,4,24

Ich fasse das Ganze zusammen: wenn die Römischen Gott zum Urheber ihrer erdichteten Beichte machen wollen, so ist damit ihre Eitelkeit erwiesen; ich habe auch gezeigt, daß sie die wenigen Stellen, die sie anführen, fälschlich vorbringen. Wenn es aber offenkundig ist, daß es sich hier um ein von Menschen auferlegtes Gesetz handelt, so behaupte ich zugleich, daß es tyrannisch ist und daß seine Aufbringung Gott Unrecht tut; denn Gott bindet die Gewissen an sein Wort und will, daß sie von der Herrschaft der Menschen los sein sollen! Wenn weiter zur Erlangung der Vergebung ein Verfahren als notwendig vorgeschrieben wird, das nach Gottes Willen freiwillig sein sollte, so erkläre ich, daß dies ein schlechterdings unerträglicher Frevel ist. Denn Gott ist nichts so sehr eigen wie die Vergebung der Sünden, auf der unser Heil beruht! Außerdem habe ich bewiesen, daß diese Tyrannei erst

 

aufgekommen ist, als die Welt unter dem Druck schändlicher Barbarei lag. Dann habe ich auch dargelegt, daß wir hier ein verderbenbringendes Gesetz vor uns haben: wo Gottesfurcht lebendig ist, da stürzt es die armen Seelen in Verzweiflung, wo aber ein Mensch in Sicherheit dahinlebt, da streichelt es diese noch mit eitlen Schmeicheleien und macht die Verstockung nur noch größer! Und endlich habe ich auseinandergesetzt, daß alle Milderungen, die sie vorbringen, keinen anderen Zweck haben, als die reine Lehre zu verhüllen, zu verdunkeln und zu verderben, ihre gottlosen Taten aber hinter falschen Farben zu verbergen!

 

 

 

III,4,25

 

Den dritten Platz nimmt bei der Buße nach römischer Lehre die Genugtuung (satisfactio) ein (Sentenzen IV,16,4). Das Geschwätz, das sie nun hiervon machen, läßt sich mit einem Wort widerlegen.

 

Man sagt: es genügt nicht, daß ein Mensch, der Buße tut, von seinen vergangenen bösen Werken absteht und sein Leben bessert, nein, er muß auch für das, was er bereits getan hat, Gott Genugtuung leisten! (Decretum Gratiani, II,33,3,1,63). Es gibt nun nach der römischen Lehre vielerlei Mittel, durch die wir uns von unseren Sünden loskaufen können: Tränen, Fasten, Opfer und Werke der Liebe. Mit diesen Werken sollen wir den Herrn versöhnen, der Gerechtigkeit Gottes Genüge tun, unsere Sünde gutmachen und die Vergebung verdienen (Decretum Gratiani, II,33,3,1,76). Denn Gott hat uns, so erklärt man, zwar durch seine große Barmherzigkeit unsere Schuld vergeben; aber die Strafe bleibt durch die Zuchtübung seiner Gerechtigkeit bestehen; und das ist die Strafe, von der wir uns durch unsere genugtuenden Werke loskaufen müssen (Decretum Gratiani, II,33,3,1,42). Alles läßt sich dahin zusammenfassen: wir empfangen zwar aus Gottes Freundlichkeit die Vergebung für unsere Übeltaten, aber doch so, daß dabei das Verdienst der Werke dazwischentritt; mit diesen Werken wird die Strafe für die Sünden abgetragen, damit der Gerechtigkeit Gottes die schuldige Genugtuung geschehe.

 

Dergleichen Lügen stelle ich die Vergebung der Sünden aus lauter Gnade entgegen; denn nichts ist in der Schrift so deutlich verkündigt wie diese! (Jes. 52,3; Röm. 5,8; Röm. 3,24; Kol. 2,13f.; Tit. 3,5). Zunächst: Was ist Vergebung anders als ein Geschenk aus reiner Güte? Wenn nämlich ein Gläubiger mit einer Quittung bescheinigt, daß er sein Geld bekommen hat, dann sagt man nicht, er habe die Schuld erlassen; davon redet man nur, wenn er ohne jede Zahlung freiwillig aus Wohltätigkeit die Schuld ausstreicht! Und alsdann: weshalb wird denn hinzugesetzt: „Aus Gnaden“? Doch nur, damit jeder Gedanke an Genugtuung verschwinde! Aus was für einer Kühnheit heraus richtet man denn seine genugtuenden Werke noch auf, die von einem so gewaltigen Blitzschlag zu Boden geworfen werden? Wieso? Der Herr ruft durch Jesaja aus: „Ich, Ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht!“ (Jes. 43,25). Verkündet er damit nicht offen, daß er die Ursache und das Fundament zur Vergebung einzig und allein aus seiner Güte hernimmt? Und weiter: die ganze Schrift gibt Christus das Zeugnis, daß „durch seinen Namen alle ... Vergebung der Sünden empfangen sollen“ (Apg. 10,43). Schließt sie damit nicht alle sonstigen „Namen“ aus? Wie kann man dann aber lehren, daß die Vergebung im „Namen“ der genugtuenden Werke empfangen werde? Die Römischen können aber nicht leugnen, daß sie das den genugtuenden Werken zuschreiben, selbst wenn diese gewissermaßen bloß als Hilfen eintreten! Denn wenn die Schrift sagt: „Durch den Namen Christi“ - dann versteht sie darunter, daß wir nichts bringen, daß wir nichts von dem Unsrigen vorwenden, sondern daß wir uns einzig und allein auf Christi Vermittlung stützen! So lehrt Paulus: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu ...“ (2. Kor. 5,19); und dann setzt er alsbald die Art und Weise und die Ursache hinzu: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht!“ (2. Kor. 5,21).

 

III,4,26

 

Die Papisten behaupten nun aber in ihrer Verkehrtheit, die Vergebung der Sünden und die Versöhnung geschähen einmal, nämlich wenn wir in der Taufe durch Christus bei Gott in Gnaden angenommen würden, nach der Taufe aber müßten wir uns durch genugtuende Werke wieder erheben, und das Blut Christi nutze uns nichts, sofern es nicht durch die Schlüssel(gewalt) der Kirche ausgespendet würde. Dabei rede ich nicht von einer zweifelhaften Sache; denn sie haben ihre Unreinigkeit in ganz klaren Schriften an den Tag gebracht, und zwar nicht der eine oder andere, sondern sämtliche Scholastiker! Ihr Meister bekennt allerdings zunächst auf Grund der Lehre des Petrus (1. Petr. 2,24), daß Christus an dem „Holze“ die Strafe für unsere Sünden getragen hat; aber dann ändert er gleich jene Aussage, indem er die Einschränkung hinzusetzt: in der Taufe werden alle zeitlichen Sündenstrafen erlassen, aber nach der Taufe werden sie durch das Mittel der Buße gemindert, so daß also das Kreuz Christi und unsere Buße gleichermaßen zusammenwirken! (Sentenzen III,19,4). Aber Johannes redet ganz anders: „Und ob jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum ... und derselbe ist die Versöhnung für unsere Sünden ... Liebe Kindlein, ich schreibe euch; denn die Sünden sind euch vergeben durch seinen Namen ...“ (1. Joh. 2,1f.12). Er spricht da sicherlich zu Gläubigen: wenn er nun denen Christus als die Versöhnung für die Sünden vor Augen stellt, so zeigt er damit, daß es keine andere Genugtuung gibt, durch welche Gott, der erzürnt ist, gnädig gemacht und versöhnt werden könnte. Er sagt nicht etwa: Einmal ist euch Gott durch Christus gnädig gemacht worden - jetzt müßt ihr euch andere Mittel suchen; nein, er erklärt Christus für den ewigen Fürsprecher, der uns stets durch sein Eintreten bei dem Vater zu Gnaden bringt, er kennt ihn als die stete Versöhnung, in der unsere Sünden getilgt werden. Es bleibt ständig wahr, was der andere Johannes (der Täufer) einst sagte: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde träg\'”(Joh. 1,29). Ich sage: dieses Lamm trägt die Sünden selbst, kein anderer! Und das heißt: da er selber das Lamm Gottes ist, so ist er allein auch das Opfer für unsere Sünden, er allein die Sühne, er allein die Genugtuung! Das Recht und die Vollmacht zur Vergebung kommt im eigentlichen Sinne dem Vater zu, wo er vom Sohne unterschieden wird - wie wir das bereits sahen. So steht hier Christus an zweiter Stelle, weil er die von uns verwirkte Strafe auf sich genommen und damit unsere Schuld vor Gottes Gericht getilgt hat. Daraus folgt, wir haben nur dann Anteil an der Versöhnung, „so durch Christus geschehen ist“ (Anklang an Röm. 3,24), wenn bei ihm die Ehre liegt, welche ihm die Menschen rauben, die Gott mit ihren eigenen genugtuenden Werken zu versöhnen trachten!

 

 

 

III,4,27

 

Hier sind nun zwei Erfordernisse zu erwägen: erstens muß Christus seine Ehre vollkommen und ungeschmälert behalten, zweitens muß das Gewissen der Vergebung der Sünden sicher sein und so Frieden mit Gott haben (vergleiche Kapitel 13).

Jesaja sagt uns, daß der Vater alle unsere Missetaten auf den Sohn gelegt hat, damit wir durch „seine Wunden heil“ würden (Jes. 53,4.6). Das wiederholt Petrus mit anderen Worten: „Christus hat unsere Sünden selbst hinaufgetragen an seinem Leibe auf das Holz ...“ (1. Petr. 2,24). Und Paulus schreibt, die Sünde sei an Christi Fleisch verdammt worden, als er für uns zur Sünde gemacht wurde (Röm. 8,3; Gal. 3,13; 2. Kor. 5,21). Das bedeutet: Die Kraft und der Fluch der Sünde sind an seinem Fleische getötet worden, als er zum Opfer hingegeben wurde, auf das die ganze Last unserer Sünden gelegt werden sollte mit ihrer Vermaledeiung und ihrem Fluch, mit dem furchtbaren Richterspruch Gottes und mit der Verdammnis zum Tode! Hier hört man rein gar nichts von der Phantasterei, nach der ersten Reinigung (in der Taufe) könne nun keiner von uns mehr die Kraft des Leidens

 

Christi erfahren, außer nach dem Maße seiner genugtuenden Buße. Nein, die Schrift ruft uns jedesmal, wenn wir gefallen sind, zu der einigen Genugtuung Christi zurück!

 

Nun halte man sich aber das verderbenbringende Geschwätz der Papisten vor Augen! Man sagt so: Bei der ersten Vergebung der Sünden (in der Taufe) wirkt Gottes Gnade allein; fallen wir aber danach wieder in Sünde, so wirken zur Erlangung der zweiten Vergebung unsere Werke mit! Wenn das nun so ist - bleibt dann Christus auch das unverkürzt erhalten, was ihm oben beigelegt wurde? Nein, was ist das doch für ein entsetzlicher Unterschied, ob unsere Übeltaten alle auf Christus gelegt werden, um in ihm Sühne zu finden - oder ob wir durch unsere eigenen Werke Sühne empfangen; ob Christus die „Versöhnung ist für unsere Sünden“ - oder ob wir Gott durch Werke versöhnen müssen!

 

Das zweite Erfordernis war, daß dem Gewissen zum Frieden verholfen werden müsse. Geht es nun darum, was soll das denn für ein Stillen des Gewissens sein, wenn es hört, die Sünden müßten durch genugtuende Werke getilgt werden? Wann wird es je die Gewißheit haben, mit seinen genugtuenden Werken das rechte Maß erreicht zu haben? Es wird also immerfort im Zweifel sein, ob es nun Gott für gnädig halten darf, es wird immerfort in Qual und Schrecken leben! Denn die Leute, die sich auf geringe Werklein zur Genugtuung verlassen, die denken allzu verächtlich von Gottes Gericht und erwägen, wie ich noch an anderer Stelle darlegen muß, zu wenig, wie groß das Gewicht der Sünde ist. Aber wenn man den Menschen auch zugäbe, sie könnten für eine bestimmte Anzahl von Sünden mit rechter Genugtuung die Vergebung erkaufen - was sollen sie dann tun, wenn sie sich von soviel Sünden bestürmt sehen, daß nicht hundert Leben hinreichen könnten, für sie Genugtuung zu leisten, selbst wenn man sie ausschließlich damit zubrächte? Auch muß man bedenken, daß all die Stellen, in denen die Vergebung der Sünden gelehrt wird, nicht an solche Menschen gerichtet sind, die erst im Glauben unterwiesen werden, sondern an wiedergeborene Kinder Gottes, die lange Zeit im Schoße der Kirche aufgezogen sind! Die Botschaft, die Paulus so herrlich erhebt: „So bitten wir nun an Christi Statt: lasset euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5,20) - diese Botschaft richtet sich nicht an Außenstehende, sondern an solche, die bereits vor langer Zeit wiedergeboren waren! Und doch gibt er allen genugtuenden Werken den Abschied und weist diese Menschen zu Christi Kreuz! Oder wenn Paulus an die Kolosser schreibt: „daß alles ... versöhnt würde zu ihm selbst, es sei auf Erden oder im Himmel, damit daß er Frieden machte durch das Blut an seinem Kreuz ...“ (Kol. 1,20) - so beschränkt er das nicht auf den Augenblick, da wir in die Kirche aufgenommen werden, sondern er dehnt das auf den ganzen Lauf unseres Lebens aus. Das ergibt sich leicht aus dem Zusammenhang, wo er von den Gläubigen sagt, daß sie „die Erlösung durch das Blut Christi haben“, nämlich „die Vergebung der Sünden“ (Kol. 1,14). Es ist allerdings überflüssig, hier noch mehr Stellen zusammenzuhäufen, wie sie immer wieder vorkommen.

 

 

 

III,4,28

Die Scholastiker nehmen nun aber ihre Zuflucht zu der abgeschmackten Unterscheidung, einige Sünden seien „läßliche“ Sünden (peccata venialia), andere dagegen „Todsünden“ (peccata mortalia). Für die Todsünden ist danach der Mensch schwere Genugtuung schuldig, die „läßlichen Sünden“ lassen sich dagegen mit leichteren Mitteln tilgen, nämlich durch ein „Vaterunser“, durch Besprengung mit Weihwasser und durch die in der Messe erfolgende Lossprechung. So treiben sie mit Gott ein unsinniges Spiel! Und obwohl sie die Begriffe „läßliche Sünde“ und „Todsünde“ immerzu im Munde führen, so haben sie es noch nicht fertiggebracht, sie voneinander zu unterscheiden - abgesehen davon, daß sie die Gottlosigkeit und Unreinigkeit des

 

Herzens für eine „läßliche Sünde“ erklären! Wir verkündigen dagegen, weil es uns die Schrift, die Regel über Gerecht und Ungerecht, so lehrt, - daß „der Tod der Sünde Sold“ ist, und daß, „welche Seele sündigt, die soll sterben“ (Röm. 6,23; Ez. 18,20). Ferner sagen wir, daß die Sünden der Gläubigen „läßlich“ sind, und zwar nicht, weil sie etwa nicht den Tod verdienten, sondern weil nach Gottes Erbarmen „nichts verdammliches an denen ist, die in Christo Jesu sind“ (Röm. 8,1), weil ihnen die Sünden nicht zugerechnet werden und weil sie in der Vergebung getilgt werden!

 

Ich weiß, was für ungerechte Schmähungen man gegen diese unsere Lehre vorbringt: man behauptet, das sei hier die widersinnige Behauptung der Stoiker von der Gleichheit der Sünden; aber ich werde die Gegner ohne Mühe durch ihre eigenen Worte widerlegen. Ich frage sie nämlich, ob sie nicht unter den Sünden, die sie (alle gleichermaßen) für „Todsünden“ erklären, die eine für geringer halten als andere. (Das müssen sie bejahen.) Es ergibt sich also nicht sogleich die Folgerung, die Sünden, die alle miteinander gleichermaßen „Todsünden“ sind, müßten auch (untereinander) gleich sein, wenn die Schrift erklärt, der Sünde Sold sei der Tod, der Gehorsam gegen das Gesetz sei der Weg zum Leben, die Übertretung aber der Tod, so können unsere Gegner da nicht herauskommen! Wie wollen sie nun die Möglichkeit finden, bei einem so großen Haufen von Sünden je mit ihrer „Genugtuung“ zu Ende zu kommen? Nehmen wir an, daß man an einem Tag für eine Sünde Genugtuung leisten kann, so verwickelt man sich eben, während man sein Sinnen darauf richtet, wieder in viele neue Sünden! Denn auch der Gerechteste kann keinen Tag leben, ohne oftmals in Sünde zu fallen (Spr. 24,16). Während sich die Römischen aber rüsten, Genugtuung zu leisten, häufen sie zahlreiche, nein vielmehr zahllose weitere aufeinander! So ist also die Zuversicht auf solche Genugtuung abgeschnitten. Was säumen sie da? Wie wagen sie es, noch an Genugtuung zu denken?

 

 

 

III,4,29

 

Sie versuchen sich nun freilich herauszuwinden - aber „das Wasser bleibt ihnen aus“, wie es heißt! So ersinnen sie sich einen Unterschied zwischen Schuld und Strafe. Sie geben zu, daß die Schuld durch Gottes Barmherzigkeit vergeben wird; ist aber die Schuld vergeben, so bleibt noch die Strafe, und die muß nach der Forderung der Gerechtigkeit Gottes bezahlt werden! Auf den Erlaß der Strafe zielen nun im eigentlichen Sinne die genugtuenden Werke.

Gütiger Gott, was ist das für eine tolle Leichtfertigkeit! Zuerst bekennen sie, daß uns die Vergebung der Schuld rein aus Gnade dargeboten wird - und dann erklären sie doch gleich darauf, sie müsse mit Beten und Weinen und allerlei anderen Übungen verdient werden! Aber auch noch mit dieser Unterscheidung steht alles, was uns die Schrift über die Vergebung der Sünden lehrt, in schroffem Gegensatz. Ich bin zwar der Ansicht, daß ich das bereits mehr als zur Genüge bewiesen habe - aber ich will doch noch einige weitere Schriftzeugnisse anfügen: dahinein sollen denn diese wendigen Schlangen dermaßen verstrickt werden, daß sie nicht einmal die äußerste Schwanzspitze mehr krümmen können! Nach Jeremia besteht „der neue Bund“, den Gott in seinem Christus mit uns geschlossen hat, darin, daß er „unserer Sünden nimmermehr gedenken“ will! (Jer. 31,31-34). Was der Herr hiermit sagen will, das erfahren wir bei einem anderen Propheten; da spricht er: „Und wo sich der Gerechte kehrt von seiner Gerechtigkeit ... soll aller seiner Gerechtigkeit nicht gedacht werden“, und andererseits: „wo sich der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden ... soll aller seiner Übertretung nicht gedacht werden:“ (Ez. 18,24. 21f.). Wenn der Herr erklärt, er werde der gerechten Werke nicht gedenken, so bedeutet das

 

er wird sie nicht mehr strafen! Das Gleiche kommt an anderen Stellen so zum Ausdruck: er „wirft die Sünden hinter sich zurück“ (Jes. 38,17), er „vertilgt sie wie eine Wolke“ (Jes. 44,22), er „wirft sie in die Tiefen des Meeres“ (Micha 7,19), er „rechnet sie nicht zu“ (Ps. 32,2) er „bedeckt sie“ (Ps. 32,1). Das sind Ausdrucksformen, mit denen uns der Heilige Geist deutlich genug auseinandergesetzt hat, was er meint - wenn wir ihm nur gelehrig unser Ohr leihen wollen! Es ist doch wirklich so: wenn Gott die Sünden straft, so rechnet er sie zu; wenn er für die Sünden Vergeltung übt, dann gedenkt er ihrer, wenn er sie vor sein Gericht ruft, dann bedeckt er sie nicht, wenn er sie erforscht, so hat er sie eben nicht hinter sich geworfen, wenn er auf sie blickt, so hat er sie nicht wie eine Wolke vertilgt, wenn er sie vor sich bringt, so hat er sie nicht in die Tiefen des Meeres geworfen! So legt es auch Augustin mit klaren Worten aus: „Wenn Gott die Sünden bedeckt hat, so hat er sie nicht bemerken wollen, wollte er sie nicht bemerken, so hat er sie auch nicht wahrnehmen wollen, wenn er sie nicht wahrnehmen wollte, so wollte er sie auch nicht strafen - er wollte sie nicht kennen lernen, sondern er wollte sie lieber vergeben. Warum hat er denn gesagt, daß die Sünden bedeckt sind? Weil sie nicht mehr gesehen werden sollen! Was hieß das aber: Gott sieht die Sünden? Nichts anderes als: er straft sie!“ (Erklärung zu Psalm 31 [32]). Wir wollen aber aus einer anderen Prophetenstelle vernehmen, nach welcher Ordnung Gott die Sünden vergibt: „Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, so soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich ist wie Scharlach, so soll sie doch wie Wolle werden!“ (Jes. 1,18). Bei Jeremia aber lesen wir: „In denselbigen Tagen wird man die Missetat Jakobs suchen ... aber es wird keine da sein, und die Sünden Judas, aber es wird keine gefunden werden; denn ich will sie vergeben denen, die ich übrigbleiben lasse“ (Jer. 50,20). Will man in Kürze zusammenfassen, was diese Worte für einen Sinn haben, so muß man nur auf der anderen Seite erwägen, was die folgenden Äußerungen bedeuten: „Du hast meine Übertretung in ein Bündlein versiegelt“ (Hiob 14,17) oder: „Die Sünde Judas ist geschrieben mit eisernen Griffeln und mit spitzigen Demanten geschrieben“ (Jer. 17,1). Die letzteren Stellen bedeuten, daß Gott die Sünden rächend vergelten wird. Wenn das aber der Sinn ist - und das ist außer Zweifel! - dann ist es auch nicht zu bezweifeln, daß der Herr in den entgegengesetzten Stellen versichert, er werde jede rächende Vergeltung unterlassen. Hier bitte ich die Leser inständig, nicht auf meine Anmerkungen zu hören, sondern nur zuzugestehen, daß Gottes Wort einigen Raum hat!

 

 

 

III,4,30

Ich möchte doch wissen, was uns denn Christus erworben hat, - wenn von uns noch immer Strafe für unsere Sünden gefordert wird! Wir sagen: „Er hat alle unsere Sünden selbst hinaufgetragen an seinem Leibe auf das Holz“ (1. Petr. 2,24; nicht ganz Luthertext). Damit wollen wir doch nur zum Ausdruck bringen: er hat die Strafe und die Vergeltung auf sich genommen, die wir mit unseren Sünden verdient hatten! Das hat Jesaja noch deutlicher erklärt: „Die Strafe“ - oder auch: die Züchtigung - „liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten“ (Jes. 53,5). Was ist aber diese „Züchtigung“, „damit wir Frieden hätten“? Sie ist die Strafe, die wir mit unseren Sünden verdient hatten und die wir - wenn Christus nicht selbst an unsere Stelle getreten wäre! - hätten tragen müssen, ehe wir mit Gott hätten versöhnt werden können! Da sehen wir ganz deutlich: Christus hat die Strafe für die Sünden auf sich genommen, um die Seinen von ihr loszukaufen! Jedesmal, wenn Paulus von der Erlösung spricht, die durch Christus geschehen ist, braucht er dafür den Ausdruck „Apolytrosis“ (Loskaufung) (Röm. 3,24; 1. Kor. 1,30; Eph. 1,7; Kol. 1,14). Dieser Ausdruck besagt nicht einfach „Erlösung“, wie man dies Wort gemeinhin versteht, sondern bezeichnet auch das Lösegeld und die Genugtuung, die zur Erlösung führen. In diesem Sinne schreibt er auch, Christus habe sich selbst für uns als „Antilytron“ (Lösegeld) hingegeben (1. Tim. 2,6). Augustin sagt: „Was gibt es

 

vor dem Herrn anders für eine Versöhnung, als das Opfer? Und was gibt es anders für ein Opfer als das, welches im Tode Christi für uns dargebracht ist?“ (zu Psalm 129).

 

Einen ganz besonders starken Sturmbock aber gewinnen wir in den Vorschriften, die das Gesetz des Mose für die Sühnung der Sündenschulden gibt. Denn da hat der Herr nicht diese oder jene Art der Genugtuung vorgeschrieben, sondern er verlangt, daß die gesamte Sühne einzig und allein durch die Opfer geschehe. Trotzdem legt er im Gesetz doch sonst die sämtlichen Sühnebräuche gründlichst und in genauester Ordnung dar: Wie kommt es aber, daß er keinerlei Werke anordnet, mit denen man für die begangenen Sünden Heilung suchen könnte, sondern zur Versöhnung einzig und allein dieOpfer fordert? Doch allein daher, daß er hier bezeugen will: es gibt nur eine einzige Art der Genugtuung, in der sein Urteil Genüge findet! Denn die Opfer, die die Israeliten dazumal darbrachten, galten ja nicht als das Werk von Menschen, sondern sie wurden nach ihrer Wahrheit, nämlich nach dem einigen Opfer Christi beurteilt. Was für eine Bezahlung der Herr von uns empfängt, das hat Hosea mit wenigen Worten sehr treffend ausgedrückt: „Du, Gott, nimmst unsere Missetat von uns“ - das ist die Vergebung der Sünden -, „und so wollen wir opfern die Farren unserer Lippen“ - das ist die Genugtuung! (Hos. 14,3; Anfang nicht Luthertext).

 

Ich weiß aber, daß die Scholastiker sich mit einer noch feineren Unterscheidung herauszuwinden versuchen: sie unterscheiden zwischen der ewigen Strafe und den „zeitlichen Sündenstrafen“. Aber sie verstehen unter diesen „zeitlichen Sündenstrafen“ jederlei Züchtigung, die Gott Leib oder auch Seele zufügt, unter alleiniger Ausnahme des ewigen Todes, und deshalb kann ihnen diese Einschränkung (ihrer Gesamtlehre) wenig Erleichterung verschaffen. Denn die Stellen, die ich oben herangezogen habe, wollen uns doch ausdrücklich sagen: wir werden unter der Bedingung von Gott in Gnaden angenommen, daß er uns durch die Vergebung unserer Schuld auch alles vergibt, was wir an Strafe verwirkt haben. Und jedesmal, wenn David oder die anderen Propheten Gott um Vergebung der Sünden bitten, erflehen sie zugleich auch den Erlaß der Strafe. Dahin treibt sie wahrhaftig bereits das Empfinden des göttlichen Gerichts. Und andererseits: wenn sie im Auftrage des Herrn die Barmherzigkeit verheißen, so reden sie in ihrer Predigt fast durchweg mit voller Absicht zugleich von den Strafen und ihrer Erlassung. Wenn der Herr bei Ezechiel ankündigt, er werde der babylonischen Gefangenschaft ein Ende setzen, und zwar um seinetwillen und nicht um der Juden willen (Ez. 36,22. 32) - dann zeigt er damit gewiß deutlich, daß beides (Vergebung und Erlaß der Strafe) aus Gnaden geschieht. Kurzum, wenn wir durch Christus von der Schuld freigemacht werden, dann müssen auch die Strafen aufhören, die aus dieser Schuld kommen!

 

 

 

III,4,31

 

Aber unsere Gegner wappnen sich auch ihrerseits mit Schriftzeugnissen, und wir wollen sehen, welcher Art die Beweismittel sind, die sie für sich in Anspruch nehmen. Sie sagen zunächst: als David um seines Ehebruchs und seines Mordes willen von Nathan einen Verweis empfangen hatte, da empfing er zwar Vergebung der Sünde; trotzdem wurde er hernach durch den Tod des Sohnes, der jenem Ehebruch entstammte, gestraft (2. Sam. 12,13f.).

Solche Strafen, die uns auch nach der Vergebung der Schuld noch treffen müßten, sollen wir nun nach der (römischen) Kirchenlehre durch genugtuende Werke ablösen. Denn Daniel hat den Nebukadnezar ermahnt, er solle sich durch Almosen von seinen Sünden loskaufen (Dan. 4,24). Und Salomo schreibt: „Durch Gerechtigkeit und Frömmigkeit wird Missetat versöhnt“ (Spr. 16,6; nicht Luthertext) und anderwärts: „Liebe deckt zu alle Übertretungen“ (Spr. 10,12). Den letzteren Spruch bekräftigt auch Petrus (1. Petr. 4,8). Ferner sagt der Herr bei Lukas von der großen

 

Sünderin: „Ihr sind viele Sünden vergeben; denn sie hat viel geliebt“ (Luk. 7,47).

 

Wie verdreht und töricht urteilen doch diese Leute immerzu über Gottes Werke! Hätten sie aber darauf geachtet - und daran durften sie unter keinen Umständen vorbeigehen! -, daß es zweierlei Arten des göttlichen Gerichts gibt, so hätten sie auch gemerkt, daß die Züchtigung des David eine ganz andere Art von Strafe ist, als daß man etwa auf den Gedanken kommen könnte, sie diente der Vergeltung !

 

Es ist nun aber für uns alle von außergewöhnlicher Bedeutung, daß wir erkennen, welchen Zweck die Züchtigungen Gottes haben, mit denen er unsere Sünden heimsucht, und wie sehr sie sich von den als Beispiel dienenden Strafen unterscheiden, mit denen er die Gottlosen und Verworfenen zürnend verfolgt. Deshalb wird es nach meiner Ansicht zweckmäßig sein, diesem Tatbestand zusammenfassend nachzugehen.

 

Zum besseren Verständnis nennen wir das eine Gericht „Vergeltungsgericht“, das andere dagegen „Züchtigungsgericht“.

 

Unter dem Vergeltungsgericht verstehen wir nun dies: Gott übt an seinen Feinden dergestalt seine Strafe, daß er seinen Zorn gegen sie zur Auswirkung bringt, sie verwirrt, zerstreut und zunichte macht. Gottes Vergeltung ist also im eigentlichen Sinne da zu erblicken, wo die Strafe mit seinem Zorn verbunden ist.

 

Bei dem Züchtigungsgericht tritt er uns nicht so hart entgegen, daß er etwa zürnt, auch übt er keine Vergeltung, um zugrunde zu richten oder in seinem Grimm den Menschen untergehen zu lassen. Daher handelt es sich hier nicht eigentlich um eine verderbende Strafe oder Vergeltung, sondern um Züchtigung und Vermahnung.

 

Das Vergeltungsgericht übt Gott als Richter, das Züchtigungsgericht als der Vater. Denn wenn ein Richter den Übeltäter straft, so ahndet er das Vergehen selbst und übt Strafe für die Übeltat selbst. Wenn dagegen ein Vater seinen Sohn hart züchtigt, so tut er das nicht, um Vergeltung zu üben oder zu strafen, sondern um ihn zu lehren und ihn für die Folgezeit achtsamer zu machen. Einen etwas anderen, aber doch in der gleichen Richtung laufenden Vergleich braucht Chrysostomus an einer Stelle: „Da wird ein Sohn geschlagen, und es wird auch ein Knecht geschlagen. Aber der Knecht wird eben als Knecht bestraft, weil er gesündigt hat, der Sohn dagegen, der als Freier und als Sohn der Zucht bedarf, wird gezüchtigt. Der Sohn empfängt die Züchtigung als (Mittel zur) Bewährung und Besserung, der Knecht dagegen als Geißel und Strafe.“

 

 

 

III,4,32

 

Um nun aber die ganze Frage kurz und deutlich zu fassen, wollen wir eine zwiefache Unterscheidung eintreten lassen. Zunächst die erste. Wo eine Strafe zur Vergeltung erfolgt, da wirkt sich immer Gottes Fluch und Zorn aus, und diese wendet er doch von den Gläubigen stets ab. Die Züchtigung dagegen ist eine Segnung Gottes und trägt das Zeugnis seiner Liebe in sich, wie die Schrift lehrt (Hiob 5,17; Spr. 3,11f.; Hebr. 12,5f.).

 

Diese Unterscheidung tritt uns in Gottes Wort immer wieder deutlich entgegen. Alles, was die Gottlosen in diesem gegenwärtigen Leben an Trübsal erfahren, das wird uns gleichsam als die Eingangspforte zur Hölle beschrieben, von der aus sie ihre ewige Verdammnis bereits von ferne erblicken; sie werden auch durch diese Trübsal keineswegs gebessert und empfangen aus ihr keinerlei Frucht, im Gegenteil, sie werden durch derartige Vorspiele auf die entsetzliche Hölle vorbereitet, die ihrer einst wartet.

 

Wenn der Herr dagegen seine Knechte züchtigt, so gilt: er züchtigt sie zwar, aber er gibt sie dem Tode nicht preis (Psalm 118,18). Deshalb bekennen sie, wenn er sie mit seiner Rute geschlagen hat, daß ihnen das zu ihrer wahren Erziehung gut gewesen ist (Ps. 119,71). Wie wir aber einerseits überall lesen, daß sie Strafen dieser Art mit fröhlichem Herzen auf sich genommen haben, so haben sie doch andererseits immer wieder um Abwendung der Geißeln von der oben beschriebenen Art flehentlich gebeten! So bittet Jeremia: „Züchtige mich, Herr, doch nach deinem Gericht und nicht in deinem Grimm, auf daß du mich nicht aufreibest. Schütte aber deinen Zorn über die Heiden, so dich nicht kennen, und über die Reiche, so deinen Namen nicht anrufen ...“ (Jer. 10,24f.; nicht Luthertext). Und David sagt: „Ach, Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!“ (Ps. 6,2; 38,2).

Dem widerspricht es nicht, daß wir mitunter hören, daß der Herr seinen Heiligen zürnt, wenn er ihre Sünden ahndet. So geschieht es bei Jesaja: „Ich danke dir, Herr, daß du zornig gewesen bist über mich, und dein Zorn sich gewendet hat, und tröstest mich“ (Jes. 12,1). Ebenso bei Habakuk: „Wenn du erzürnt bist, so gedenke deiner Barmherzigkeit“ (Hab. 3,2; nicht Luthertext). Oder auch bei Micha: „Ich will des Herrn Zorn tragen; denn ich habe wider ihn gesündigt“ (Micha 7,9). Da macht uns der Prophet darauf aufmerksam, daß Menschen, welche mit Recht gestraft werden, mit Murren nicht das mindeste ausrichten, daß es aber den Gläubigen eine Linderung ihres Schmerzes bringt, wenn sie Gottes Ratschluß bedenken. In demselben Sinne hören wir gelegentlich, der Herr „entweihe“ sein „Erbe“ (Jes. 47,6; 42,24), obwohl er es doch, wie wir wissen, in Ewigkeit nicht entweihen wird. Dieser Ausdruck bezieht sich aber auch nicht auf Gottes Ratschluß oder Gesinnung über seinem Strafen, sondern vielmehr auf das heftige Empfinden des Schmerzes, das die Menschen erfaßt, die auch nur irgendwie seine Strenge erfahren müssen. Aber der Herr plagt seine Gläubigen nicht bloß mit geringer Schärfe, sondern er schlägt ihnen zuweilen derartige Wunden, daß sie nicht weit von dem höllischen Verderben weg zu sein meinen. So bezeugt er ihnen zwar, daß sie seinen Zorn verdient haben, und führt es so, daß sie sich in ihren bösen Werken mißfallen, von größerer Sorge erfaßt werden, Gott zu versöhnen, und mit Ernst und Eifer sich aufmachen, um Vergebung zu erlangen - aber eben darin gibt er ihnen unterdessen ein viel strahlenderes Zeugnis seiner Güte als seines Zorns! Denn der Bund, den Gott in unserem wahren Salomo (d. h. in Christus) mit uns geschlossen hat, der hat Bestand, und der, welcher nicht täuschen kann, hat es zugesichert, daß seine Gültigkeit nie außer Kraft gesetzt werden wird! Er sagt aber: „Wo aber seine Kinder mein Gesetz verlassen und in meinen Rechten nicht wandeln, so sie meine Ordnungen entheiligen und meine Gebote nicht halten, so will ich ihre Sünde mit der Rute heimsuchen und ihre Missetat mit Plagen; aber meine Gnade will ich nicht von ihm wenden ...“ (Psalm 89,31-34). Um uns dieser seiner Barmherzigkeit zu versichern, bezeichnet er die Rute, mit der er Salomos Nachkommenschaft strafen will, als „Menschenrute“, und seine Schläge als „der Menschenkinder Schläge“ (2. Sam. 7,14). Durch diese Zusätze deutet er Mäßigung und Linderung an, gibt uns aber zugleich zu verstehen, daß ein Mensch, der es empfindet, daß Gottes Hand wider ihn ist, unabwendbar vom furchtbarsten Todesschrecken erschüttert werden muß. Wie weitgehend er bei der Züchtigung seines (Volkes) Israel jene Linderung hat eintreten lassen, das zeigt er in dem Prophetenwort: „Im Feuer habe ich dich geläutert, doch nicht wie Silber; denn dabei wärest du selbst gar aufgefressen worden ...“ (Jes. 48,10, nicht Luthertext). Er zeigt hier, wie die Züchtigungen seinem Volke zur Läuterung dienen sollen; aber er setzt doch hinzu, daß er sie so sehr mäßigt, daß sein Volk nicht mehr als nötig geschunden wird! Das ist auch sehr vonnöten. Denn je mehr ein Mensch Gott fürchtet, je mehr er sein Leben dem Dienst der Frömmigkeit hingibt, desto zarter ist sein Empfinden im Ertragen des Zorns Gottes! Die Verworfenen nämlich seufzen zwar auch unter ihren Geißeln

 

- aber sie erwägen deren Ursache nicht, ja, sie kehren vielmehr ihren Sünden wie auch dem Gericht Gottes den Rücken zu und verhärten sich deshalb doch in ihrer Stumpfheit, oder aber sie toben und schlagen aus und wehren sich stürmisch gegen ihren Richter - und so verstockt sie dieser erbitterte Sturmlauf in unsinniger Wut! Wenn Gott dagegen die Gläubigen mit seinen Ruten warnt, dann machen sie sich alsbald daran, ihre Sünden zu bedenken, sind ganz und gar von Furcht und Schrecken durchdrungen und nehmen ihre Zuflucht zu demütiger Abbitte. Wenn Gott diese Schmerzen, mit denen sich die armen Seelen martern, nicht linderte, dann würden sie auch bei geringeren Zeichen seines Zorns wohl hundertmal zusammenbrechen.

 

 

 

III,4,33

 

Wir wenden uns jetzt der zweiten Unterscheidung zu. Wenn die Verworfenen mit Gottes Geißeln geschlagen werden, dann fangen sie bereits gewissermaßen an, seinem Gericht gegenüber die schuldige Strafe zu erleiden. Es geht ihnen gewiß nicht straflos durch, daß sie auf derartige Bezeugungen des göttlichen Zorns nicht hören. Aber trotzdem werden sie nicht zu dem Zweck geschlagen, daß sie besseren Sinnes würden, sondern allein dazu, daß sie unter ihrem großen Unglück erfahren, daß Gott der Richter und Vergelter ist. Die Kinder (Gottes) dagegen werden mit Ruten geschlagen - nicht um Gott die Strafe für ihre Übeltaten zu entgelten, sondern um dadurch zur Reue fortzuschreiten! Wir merken also, daß dergleichen Rutenschläge sich vielmehr auf die Zukunft, als auf die Vergangenheit beziehen. Das will ich lieber mit den Worten des Chrysostomus als mit meinen eigenen ausdrücken: „Gott legt uns Strafe auf, nicht um uns für unsere Sünden zu strafen, sondern um uns im Blick auf zukünftige Sünden zu bessern!“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt von der Buße und der Beichte). So sagt auch Augustinus: „Das, was du leidest und was dich klagen macht, das ist doch eine Arznei für dich und keine Strafe, eine Züchtigung und keine Verdammung. Weise die Geißel nicht zurück - wenn du nicht vom Erbe zurückgewiesen werden willst ...“ (Zu Psalm 102). Oder auch: „Ihr Brüder, ihr sollt wissen, daß das ganze Elend des Menschengeschlechts, unter dem die Welt seufzt, ein Schmerz ist, der als Arznei wirkt, und nicht ein Richterspruch, der Strafe verhängt ...!“ (Zu Psalm 138). Diese Äußerungen wollte ich gern anführen, damit niemand meint, die von mir gebrauchte Redeweise sei neu oder weniger gebräuchlich.

Hierauf beziehen sich auch die zornerfüllten Klagen, mit denen sich Gott scheltend gegen die Undankbarkeit des Volkes wendet, weil es in seiner Halsstarrigkeit alle Strafen verachtet hat. So bei Jesaja: „Was soll man weiter an euch schlagen? ... Von der Fußsohle bis zum Scheitel ist nichts Gesundes an ihm ...“ (Jes. 1,5f.). Aber die Propheten sind ja überall von solcherlei Aussprüchen, und so will ich mich damit begnügen, kurz angedeutet zu haben, daß Gott seine Kirche einzig und allein zu dem Zweck straft, daß sie sich unterwerfe und so zur Buße gelange. Wenn er den Saul aus der Königswürde verstieß, dann vollzog er damit vergeltende Strafe an ihm (1. Sam. 15,23), wenn er dagegen dem David sein Kindlein nahm (2. Sam. 12,18), so züchtigte er ihn, um ihn zu bessern. In diesem Sinne ist auch das Wort des Paulus aufzufassen: „Wenn wir ... gerichtet werden, so werden wir von dem Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht samt der Welt verdammt werden“ (1. Kor. 11,32). Das bedeutet: wenn wir Kinder Gottes durch die Hand unseres himmlischen Vaters Trübsal erleiden, so ist das keine Strafe, die uns verwirren, sondern nur eine Züchtigung, die uns erziehen soll! In dieser Frage steht Augustinus voll und ganz auf meiner Seite; er lehrt nämlich, die Strafen, mit denen die Menschen gleichermaßen von Gott gezüchtigt würden, seien in verschiedener Weise zu betrachten: für die Heiligen, die bereits Vergebung empfangen haben, sind sie nach Augustin Kämpfe und Übungen, für die erworfenen dagegen, die ohne Vergebung sind, sind sie Strafen für ihr Ungerechtigkeit. Dabei erinnert er an die Strafen, die dem David und anderen Frommen auferlegt worden sind, und erklärt, diese hätten

 

den Zweck gehabt, daß ihre Frömmigkeit durch dergleichen Demütigungen geübt und erprobt würde (über die Schuld und Vergebung der Sünden II,33.34). Wenn aber Jesaja von Jerusalem sagt: „Ihre Missetat ist vergeben; denn sie hat Zwiefältiges empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden“ (Jes. 40,2) - so beweist das doch nicht, daß die Vergebung von dem Erdulden der Strafe abhinge. Er will vielmehr etwa sagen: Jetzt ist genug Strafe geübt; ihr habt euch nun schon lange in Trauer und Schmerz verzehrt - jetzt aber ist es angesichts der Schwere und Vielfältigkeit eurer Strafen Zeit, daß ihr die Botschaft vollen Erbarmens empfangt und daß euer Herz mich voll Freuden als den Vater erkenne! Denn Gott handelt hier als Vater, dem auch die gerechte Strenge leid tut, wenn er sich genötigt gesehen hat, seinen Sohn gar hart zu strafen!

 

 

 

III,4,34

 

Mit solchen Gedanken muß sich der Gläubige in der Bitterkeit der Trübsal wappnen. „Denn es ist Zeit, daß anfange das Gericht an dem Hause Gottes“ (1. Petr. 4,17), in dem man seinen Namen angerufen hat (Jer. 25,29; nicht nach dem Luthertext). Was sollen aber Gottes Kinder anfangen, wenn sie glauben müßten, diese Strenge, die sie empfinden, sei Gottes Vergeltung? Denn wenn ein Mensch, den Gottes Hand geschlagen hat, daran denkt, Gott sei ein strafender Richter, dann muß er unabwendbar annehmen, Gott sei erzürnt, er sei wider ihn, er muß Gottes Geißel als Fluch und Verdammnis verwünschen, kurzum, er kann sich niemals überzeugen lassen, daß dieser Gott ihn liebt, dessen Gesinnung gegen sich er doch so erfährt, daß er noch immer strafen will! Wer aber bedenkt, daß Gott gegen seine Laster zürnt, ihm selber aber gnädig und wohlgesinnt ist, der erst macht auch unter Gottes Geißeln noch Fortschritte. Im anderen Falle müßte ja auch bei ihm eintreten, was der Prophet nach seiner Klage erfahren hat: „Dein Grimm, mein Gott, ist über mich gegangen; dein Schrecken hat mich gedrückt!“ (Ps. 88,17; nicht Luthertext). Oder er müßte erfahren, was Mose schreibt: „Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsere Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz!“ (Ps. 90,7-9). David dagegen will uns lehren, daß Gottes väterliche Züchtigungen den Gläubigen eher helfen müssen, als daß sie sie zu Boden drücken, und deshalb singt er von ihnen: „Wohl dem, den du, Herr, züchtigest und lehrst ihn durch dein Gesetz, daß er Geduld habe, wenn\'s übel geht, bis dem Gottlosen die Grube bereitet werde!“ (Psalm 94,12f.). Es ist gewiß eine harte Anfechtung, wenn Gott die Ungläubigen verschont und ihre Laster übersieht, seinen Gläubigen gegenüber aber gar hart erscheint. Deshalb fügt der Psalmist als Ursache des Trostes die Unterweisung des Gesetzes hinzu, durch welche die Gläubigen lernen sollen: es geschieht um ihres Heiles willen, wenn Gott sie auf den Weg zurückruft, die Gottlosen dagegen stürzen sich kopfüber in ihre Irrwege, deren Ende die „Grube“ ist. Es macht dabei auch nichts aus, ob die Strafe ewig ist oder zeitlich. Denn Kriege, Hungersnot, Pestilenz und Krankheiten sind (dann) ebensolche Vermaledeiungen Gottes, wie das Urteil des ewigen Todes selber - denn der Herr verhängt sie dazu, Werkzeuge seines Zorns und seiner Vergeltung gegen die Verworfenen zu sein.

 

 

 

III,4,35

Jetzt wird, wenn ich mich nicht täusche, jedermann verstehen, was jene Strafe für einen Sinn hatte, die der Herr einst über David verhängte (2. Sam. 12,13f.). Sie sollte eben ein Zeugnis dafür sein, daß Mord und Ehebruch Gott heftig mißfielen; angesichts dieser Freveltaten wollte Gott zeigen, wie sehr ihn sein geliebter und treuer Knecht beleidigt hatte; und das geschah zu dem Zweck, daß David selber unterwiesen wurde, in Zukunft nicht noch einmal solche Übeltat zu begehen. Dagegen sollte es keine Strafe sein, durch die er Gott irgendwelche Bezahlung leistete. In

 

gleichem Sinne werden wir auch die andere Züchtigung zu beurteilen haben, als nämlich der Herr um des Ungehorsams Davids willen, in den er durch die Zählung des Volkes verfallen war, eben dies Volk mit heftiger Pestilenz heimsuchte (2. Sam. 24,15). Denn die Sündenschuld vergab Gott dem David umsonst; aber es war zum öffentlichen Beispiel für alle Zeiten wie auch zur Demütigung Davids dienlich, daß ein solcher Frevel nicht ungestraft blieb, und deshalb übte er mit seiner Geißel harte Züchtigung an ihm.

 

Diesen Gesichtspunkt müssen wir uns auch angesichts des allgemeinen Fluchs vor Augen halten, den Gott auf die Menschheit gelegt hat. Denn auch wenn wir Gnade empfangen haben, so leiden wir doch alle noch mit unter all dem Elend, das Gott als Strafe für die Sünde über unseren Stammvater verhängt hat. Da erfahren wir nun, daß wir durch solcherlei Übungen daran gemahnt werden, wie heftig Gott an der Übertretung seines Gesetzes Mißfallen hat, damit wir im Bewußtsein unseres jämmerlichen Loses niedergeworfen und gedemütigt werden und uns um so inniger nach der wahren Glückseligkeit sehnen! Ein ganz großer Tor wäre aber der Mensch, welcher memte, die Nöte des gegenwärtigen Lebens wären uns als Strafe für unsere Sünde auferlegt: Das scheint auch Chrysostomus im Sinne zu haben, wenn er schreibt: „Wenn Gott zu dem Zweck straft, daß er die, welche in der Bosheit verharren, zur Buße rufe - so ist die Strafe, wenn die Buße erzeigt ist, überflüssig!“ (An Stagirius III,14). So verfährt der Herr bei jedem einzelnen so, wie er weiß, daß es seiner Art dienlich ist: den einen behandelt er mit größerer Schärfe, den am deren mit freundlicherer Nachsicht. Wenn er also lehren will, daß er beim Vollzug seiner Strafen nicht unmäßig vorgeht, so richtet er gegen das verhärtete und halsstarrige Volk den scharfen Tadel, es habe trotz aller Schläge doch nicht aufgehört zu sündigen (Jer. 5,3). In diesem Sinne hält Gott Klage über Ephraim, er sei „wie ein“ auf der einen Seite bereits ganz angebrannter „Kuchen, den niemand umwendet“ (Hos 7,8). Das heißt: alle Rutenschläge sind ihm nicht ins Herz gedrungen, und so kommt es nicht dazu, daß die Laster ausgebrannt werden und das Volk zum Empfang der Vergebung zubereitet wird. Wenn er so redet, dann zeigt er damit, daß er, sobald ein Mensch Buße tut, auch sogleich zur Versöhnung bereit ist, und daß ihm die Schärfe, mit der er uns für unsere Vergehen züchtigt, durch unsere Halsstarrigkeit abgedrungen wird - denn mit freiwilliger Besserung würde der Sünder der Züchtigung zuvorkommen. Aber unser aller Verhärtung und grobes Wesen sind derart, daß da allewege Züchtigung nottut, und deshalb hat es dem Vater in seiner großen Weisheit gefallen, uns alle ohne Ausnahme unser ganzes Leben lang mit einer uns alle treffenden Geißel zu plagen!

 

Verwunderlich ist aber doch, daß die Römischen ihre Augen so sehr auf das eine Beispiel des David heften, aber nicht von den vielen Beispielen bewegt werden, an denen sich die Vergebung der Sünden aus lauter Gnade hätte anschauen lassen. So lesen wir, daß der Zöllner „gerechtfertigt“ vom Tempel hinabstieg - da folgt keinerlei Strafe! (Luk. 18,14). Petrus erlangte Verzeihung für sein Vergehen (Luk. 22,61) - und wir hören, wie Ambrosius sagt, wohl etwas von seinen Tränen, aber von Genugtuung hören wir nichts! Der Gichtbrüchige hört: Stehe auf, „deine Sünden sind dir vergeben“ (Matth. 9,2) - aber eine Strafe wird ihm nicht auferlegt! All die Lossprechungen, von denen uns die Schrift erzählt, sind nach ihrem Bericht aus Gnaden erfolgt! Aus dieser Fülle von Beispielen hätte man die Regel ableiten sollen - und nicht aus jenem einen, das wer weiß welchen besonderen Inhalt hat!

 

 

 

III,4,36

Wenn Daniel den Nebukadnezar ermahnte: „Mache dich los von deinen Sünden durch Gerechtigkeit und ledig von deiner Missetat durch Wohltat an den Armen“ (Dan. 4,24) - so wollte er damit nicht zum Ausdruck bringen, solche „Gerechtigkeit“ und Barmherzigkeit sei die Versöhnung mit Gott und die Ablösung der Strafe - denn es sei ferne, daß es je eine andere Loskaufung gegeben habe als Christi Blut! -;

 

nein, dieses „Mache dich los“ hat er auf die Menschen und nicht auf Gott bezogen. Er wollte also mit anderen Worten sagen: Du, König, hast ein ungerechtes und gewalttätiges Regiment geführt, du hast die Geringen bedrückt, du hast die Armen beraubt, du hast dein Volk hart und unbillig behandelt - jetzt übe für deine ungerechte Abgabenerpressung, für deine Gewalttätigkeit und Bedrückung Barmherzigkeit und Gerechtigkeit!

 

Den gleichen Sinn hat es, wenn Salomo erklärt: „Liebe deckt zu alle Übertretungen“ (Spr. 10,12): das gilt nicht vor Gott, sondern vor den Menschen selber. Denn der Vers lautet unverkürzt: „Haß erregt Hader; aber Liebe deckt zu alle Übertretungen“. In diesem Verse vergleicht Salomo nach seiner Gewohnheit durch Gegenüberstellung zweier entgegengesetzter Tatbestände das Übel, welches aus dem Haß entsteht, mit den Früchten der Liebe. Er will also sagen: Die Menschen, die sich gegenseitig hassen, die beißen sich, beleidigen und schmähen sich, zerreißen sich untereinander, verkehren alles in Schande - die aber einander lieben, die sehen gegenseitig über vieles hinweg, üben in vielen Dingen Nachsicht, vergeben einander vieles, nicht weil der eine des anderen Fehler billigte, sondern weil er sie trägt und sie durch Ermahnungen heilt, statt sie durch herabsetzende Redensarten schlimmer zu machen!

 

Ohne Zweifel hat auch Petrus diese Stelle in dem gleichen Sinne angeführt (1. Petr. 4,8) - wir müßten ihm sonst schon vorwerfen wollen, er habe die Schrift verfälscht und listig verdreht!

 

Wenn Salomo aber weiter lehrt: „Durch Güte und Treue wird Missetat versöhnt“ (Spr. 16,6), so meint er da auch nicht, Güte und Treue bedeuteten einen Ausgleich vor dem Angesicht des Herrn, so daß Gott also, durch solche Genugtuung versöhnt, die Strafe erlassen würde, die er sonst forderte. Nein, Salomo weist nach der gewohnten Sitte der Schrift darauf hin, daß die Menschen, welche ihren früheren Lastern und Übeltaten den Abschied geben und sich durch Frömmigkeit und Wahrheit zu ihm bekehren, in ihm einen gnädigen Gott finden werden. Er will also etwa sagen: Wenn wir von unseren Missetaten ruhen, dann legt sich der Zorn des Herrn, dann ruht sein Gericht! Damit beschreibt er aber nicht die Ursache der Vergebung, sondern vielmehr die Weise, wie eine wahre Bekehrung vor sich geht. So verkünden die Propheten ja auch oft genug, daß es vergebens ist, wenn die Heuchler Gott erdichtete Zeremonien statt der Buße aufdringen - denn Gott hat an der Aufrichtigkeit und an den Werken der Liebe Gefallen! In diesem Sinne verfährt auch der Verfasser des Hebräerbriefes: er ruft die Leser auf: „Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht“, und mahnt sie dann daran: „Solche Opfer gefallen Gott wohl“ (Hebr. 13,16). Auch wenn Christus die Pharisäer verspottet, weil sie sich nur darum bemühen, die Schüsseln rein zu halten, aber die Reinlichkeit des Herzens vernachlässigen, und wenn er ihnen dann die Weisung erteilt, Almosen zu geben, damit alles rein sei (Matth. 23,25; Luk. 11,39-41) - so ermuntert er sie damit nicht zu „genugtuenden Werken“, sondern er zeigt ihnen nur, welcherlei Reinheit Gott wohlgefällig ist. Von dieser Redeweise ist noch an anderer Stelle die Rede (III,14,21).

 

 

 

III,4,37

Was nun aber die (von den Gegnern herangezogene) Stelle aus dem Lukasevangelium (von der großen Sünderin Luk. 7,36-50, insbesondere Vers 47) betrifft, so wird mir daraus kein Mensch, der das dort vom Herrn gegebene Gleichnis mit vernünftigem Urteil gelesen hat, einen Einwand machen. Der Pharisäer dachte bei sich selbst, das Weib, welches der Herr mit so großer Leichtigkeit an sich hatte herankommen lassen, sei ihm unbekannt. Denn er meinte, er würde ihr doch keinen Zugang gewährt haben, wenn er gewußt hätte, was für eine Sünderin sie tatsächlich war. Daraus schloß er dann, Christus sei kein Prophet, wenn man ihn auf diese Weise täuschen könne. Da wollte nun aber der Herr beweisen, daß diese Frau keine Sünderin mehr sei, da ihr die Sünden schon vergeben wären - und dazu erzählte er ein

 

Gleichnis: „Es hatte ein Gläubiger zwei Schuldner. Einer war schuldig fünfhundert Groschen, der andere fünfzig. Da ... schenkte er\'s beiden. Sage an, welcher unter ihnen wird ihn am meisten lieben?“ Der Pharisäer antwortete: „Ich achte, dem er am meisten geschenkt hat.“ Darauf sagte der Herr: daß dieser Frau ihre Sünden vergeben sind, das sollst du daraus erkennen, daß sie „viel geliebt hat“. Man sieht deutlich, daß der Herr mit diesen Worten ihre Liebe nicht zur Ursache der Sündenvergebung erklärt, sondern zu deren Beweis. Denn diese Worte sind ja dem Gleichnis entnommen und knüpfen an das an, was dort von dem Schuldner gilt, dem fünf, hundert Groschen erlassen waren: von diesem aber sagt Christus nicht, die Schuld sei ihm erlassen, weil er viel geliebt hätte, sondern umgekehrt, er liebe viel, weil ihm die Schuld erlassen sei! Die Anwendung des Gleichnisses muß man sich nun folgendermaßen denken: Du, Pharisäer, denkst, dieses Weib sei eine Sünderin; sie ist aber keine, und das hättest du wissen sollen, denn ihr sind die Sünden vergeben. Daß ihr aber ihre Sünden vergeben sind, das hätte dir ihre Liebe glaubwürdig machen sollen, mit der sie für die empfangene Wohltat dankt! Es handelt sich daher um einen nachträglichen Beweis, bei dem also etwas aus den Anzeichen bewiesen wird, die sich aus ihm ergeben. Wie diese Frau aber die Vergebung der Sünden erlangt hat, das bezeugt der Herr ganz deutlich: „Dein Glaube hat dir geholfen!“ (Vers 50). Denn wir empfangen die Vergebung der Sünden durch den Glauben, durch die Liebe sagen wir Dank und geben wir Zeugnis von der Wohltat des Herrn!

 

 

 

III,4,38

Was nun aber in den Schriften der alten Kirchenlehrer an vielen Stellen von der Genugtuung zu lesen steht, das macht auf mich wenig Eindruck. Ich sehe zwar, daß einige von ihnen - nein, ich will geradeheraus sagen: fast alle, deren Bücher auf uns gekommen sind! - in diesem Stück entweder in Irrtümer gefallen sind oder allzu rauh und hart geredet haben. Aber ich werde doch nicht zugeben, sie wären dermaßen ungebildet und unerfahren gewesen, daß sie wirklich in dem Sinne geschrieben hätten, in dem die neuerlichen Verfechter der „Genugtuungen“ sie lesen. Chrysostomus hat an einer Stelle geschrieben: „Wo ein Mensch Barmherzigkeit begehrt, da hört das Verhör auf; wo einer nach Barmherzigkeit verlangt, da wütet nicht das Gericht; wo die Barmherzigkeit erbeten wird, da ist für Strafe kein Raum, wo Barmherzigkeit ist, da ist keine Richterfrage, wo Barmherzigkeit waltet, da ist uns die Antwort erlassen“ (Pseudo-Chrysostomus, Predigt zu Psalm 50). Man mag diese Worte drehen und wenden, wie man will - sie lassen sich jedenfalls nicht mit den scholastischen Lehrsatzungen in Übereinstimmung bringen! In einem dem Augustinus zugeschriebenen Buche über „die kirchlichen Lehrsatzungen“ heißt es ferner: „Die zur Buße gehörige Genugtuung besteht darin, daß wir die Ursachen der Sünde ausrotten und ihren Lockungen keinen Zutritt mehr verstatten“ (Pseudo-Augustin, Von den kirchlichen Lehrsatzungen 24). Daraus geht klar hervor, daß auch in jenen Zeiten die Lehre von den „Genugtuungen“ durchweg verlacht worden ist, sofern man mit diesen „Genugtuungen“ etwa für bereits begangene Sünden eine Gegenleistung zu bieten glaubte. Denn diese Stelle bezieht jede „Genugtuung“ auf die Achtsamkeit, mit der wir uns für die Folgezeit von der Sünde fernhalten. Ich will dabei nicht noch die Lehre des Chrysostomus anführen, wonach Gott nicht mehr von uns fordert, als daß wir unsere Missetat mit Tränen vor ihm bekennen (Predigten über die Genesis,10,2). Dergleichen Äußerungen kommen nämlich in seinen Schriften und denen anderer wiederholt vor. Freilich bezeichnet Augustin an einer Stelle die Werke der Barmherzigkeit als eine Arznei, mit deren Hilfe wir Vergebung der Sünde erlangten (Handbüchlein,72). Aber er sorgt an einer anderen Stelle selbst dafür, daß sich an diesem Wörtlein niemand stößt; da sagt er: „Das Fleisch Christi ist das wahre und einzige Opfer für unsere Sünden, nicht nur für die, welche in der Taufe alle miteinander vertilgt werden, sondern auch für die, welche hernach noch aus Schwach-

 

heit vorkommen und um derentwillen die ganze Kirche tagtäglich ruft: Vergib uns unsere Schulden! (Matth. 6,12). Auch sie werden durch dieses einige Opfer vergeben“ (An Bonifacius III, 6,16).

 

 

 

III,4,39

 

Die Kirchenväter haben ferner die Genugtuung zumeist nicht als „Gegenleistung“ bezeichnet, die wir Gott darbrächten. Sie verstanden darunter im Gegenteil ein öffentliches Zeugnis, durch welches Menschen, die mit dem Bann bestraft worden waren, der Kirche eine Versicherung ihrer Buße abgaben, wenn sie wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollten. Solchen Büßenden wurden bestimmte Fasten und andere Übungen auferlegt, durch die sie beweisen sollten, daß sie ihr voriges Leben wahrhaftig und von Herzen bereuten, oder besser: durch welche sie die Erinnerung an das früher Geschehene tilgen sollten. Sie leisteten also, wie man sagte, nicht Gott, sondern der Kirche Genugtuung! Das hat Augustin mit eben diesen Worten in seinem „Handbüchlein an Laurentius“ zum Ausdruck gebracht (Handbüchlein,65; zitiert im Decretum Gratiani, II,33,3,1,84). Von diesem alten Brauch haben die Beichten und die „Genugtuungen“ ihren Ausgangspunkt genommen, die heute in Übung stehen. Wahrhaftig eine Schlangenbrut! Denn durch diese neueren Übungen ist es dahin gekommen, daß von jener besseren Gestalt der Dinge nicht einmal mehr ein Schatten übrig ist.

 

Ich weiß freilich, daß die Alten zuweilen ein wenig hart reden, und, wie ich oben bereits gesagt habe, ich leugne auch nicht, daß sie dabei vielleicht (in Irrtum) gefallen sind. Aber Dinge, die an sich bloß mit ein paar Flecken behaftet sind, die werden, wenn die Römischen sie mit ihren ungewaschenen Händen behandeln, ganz und gar besudelt! Wenn aber das Ansehen der alten Kirchenväter hier mit in den Streit geführt werden soll - gütiger Gott, was für „Alte“ drängt man uns da auf! Ein guter Teil der Aussagen, aus denen Petrus Lombardus, ihr Stimmführer, seine Lappen zusammengeflickt hat, ist aus unsinnigen Schwärmereien gewisser Mönche entnommen, die nun unter dem Namen des Ambrosius, des Hieronymus, des Augustinus oder des Chrysostomus umgehen! So nimmt Petrus Lombardus in der hier verhandelten Frage fast alles aus einem dem Augustin zugeschriebenen Buche „Von der Buße“, das tatsächlich von irgendeinem Bänkelsänger in übler Weise gleichermaßen aus guten und schlechten Schriftstellern zusammengeflickt ist, und das zwar Augustins Namen trägt, das aber kein Mensch, der auch nur ein wenig gelehrt ist, als sein Werk anzuerkennen für wert halten wird. Daß ich aber ihre Torheiten nicht allzu scharf untersuche, das mag mir der Leser verzeihen; ich möchte ihm keinen Überdruß bereiten. Es würde mir nicht viel Arbeit machen und wäre doch eine ergötzliche Sache, hier Dinge mit höchster Schande dem Spott preiszugeben, die die Römischen bislang als Geheimnisse ausgegeben haben! Aber ich sehe davon ab, weil ich die Absicht habe, mit meiner Unterweisung Nutzen zu stiften.

Fünftes Kapitel

 

 

 

Von den Anhängseln zur Lehre von den genugtuenden Werken, nämlich vom Ablaß und vom Fegefeuer

 

 

 

III,5,1

 

Aus dieser Lehre von der Genugtuung quillt nun weiter der Ablaß hervor. Was uns nämlich an Fähigkeiten zu solcher Genugtuung mangelt, das kann man nach dem Geschwätz der Römischen durch den Ablaß ergänzen. Ja, sie gehen in ihrer Tollheit so weit, daß sie den Ablaß als Austeilung der Verdienste Christi und der Märtyrer bestimmen, die der Papst mit seinen Bullen vornähme. Nun bedürfen die Vertreter dieser Anschauung allerdings eher des Nießwurz (eines Mittels gegen den Wahnsinn nach damaliger Auffassung), als daß sie etwa eines Beweises würdig wären, und deshalb ist es nicht besonders der Mühe wert, sich mit der Widerlegung so leichtsinniger Irrtümer Arbeit zu machen; denn diese sind ja bereits von vielen Sturmböcken durchstoßen und fangen schon ganz von selber an zu veralten und baufällig zu werden. Trotzdem wird eine kurze Widerlegung für einige unerfahrene Leute von Nutzen sein, und ich will deshalb nicht davon absehen.

 

Man kann wirklich sagen: daß sich der Ablaß so lange halten, daß er in so zügelloser, wilder Ausgelassenheit so lange ungestraft bleiben konnte - das mag uns wirklich zum Beweis dafür dienen, in was für eine tiefe Nacht des Irrtums die Menschen etliche Jahrhunderte lang versunken gewesen sind. Sie sahen, wie sie vom Papst und seinen Bullenträgern offen und unverhüllt zu Narren gehalten wurden; sie sahen, wie man mit ihrem Seelenheil geldgierigen Schacher trieb, sie nahmen es wahr, wie ihre Seligkeit auf den Preis von wenigen Hellern veranschlagt wurde, aber nichts umsonst zu haben war, - sie hatten es vor Augen, wie man sie unter solchem falschen Schein um Opfergaben prellte, die man dann in Ehebruch und Kuppelei und auf Gelagen schnöde verpraßte; sie wußten wohl, daß die vollbäckigsten Ablaßprediger zugleich die schlimmsten Ablaßverächter waren, sie sahen es, wie dieses Untier von Tag zu Tag mit tollerem Mutwillen wütete und immer ausgelassener wurde und wie solch Treiben doch kein Ende fand, nein, wie alle Tage neues Blei dazukam, neue Groschen den Leuten aus der Tasche gelockt wurden! Das alles sahen sie - aber sie empfingen den Ablaß trotzdem mit höchster Ehrerbietung, beteten ihn an, kauften ihn! Und die, welche schärfer sahen als andere Leute, die meinten doch, es sei das nun eben ein frommer Betrug, von dem man sich immerhin mit einigem Nutzen täuschen lassen könnte! Seitdem sich nun zuletzt die Welt gestattet hat, ein wenig klüger zu werden, da erkaltet der Ablaß, er wird nachgerade zu Eis, bis er gänzlich vergeht.

 

 

 

III,5,2

 

Es gibt aber sehr viele Leute, die all den Unflat, all den Betrug, den Diebstahl, den Raub, mit denen uns die Ablaßkrämer bislang betrogen und zu Narren gehalten haben, wohl sehen, aber die eigentliche Quelle dieser Gottlosigkeit nicht bemerken. Es ist also der Mühe wert, wenn wir nicht bloß darlegen, wie der Ablaß beschaffen ist, sondern auch zeigen, was er eigentlich darstellt, wenn er von aller Befleckung gereinigt ist. Die Römischen nennen die Verdienste Christi und der heiligen Apostel und Märtyrer den „Schatz der Kirche“. Die vollkommene Wacht über diese Schatzkammer ist - wie ich bereits kurz erwähnte - nach ihrer erdichteten Darstellung dem römischen Bischof übertragen; und der hat nun die Verwaltung derartig großer Güter inne, daß er sie sowohl selber austeilen, als auch anderen die Vollmacht zu ihrer Austeilung übertragen kann. So erteilt der Papst selbst bald Vollablässe, bald Ablässe für eine bestimmte Zahl von Jahren, die Kardinäle teilen Ablässe auf hundert Tage aus, die Bischöfe auf vierzig Tage!

Aber all diese Ablässe sind - ich will sie beschreiben, wie sie wirklich sind! - tat-

 

sächlich eine Entweihung des Blutes Christi, ein höhnischer Betrug des Satans! Sie sollen das Christenvolk von Gottes Gnade, von dem Leben, das in Christus ist, wegführen, sollen es von dem wahren Wege zum Heil abbringen! Denn wie könnte man Christi Blut schändlicher entweihen als durch die Behauptung, es sei zur Vergebung der Sünden, zur Versöhnung, zur Genugtuung nicht vollgenügend, sofern sein Mangel - als ob es also verdorrt, erschöpft wäre! - nicht von anderer Seite aufgefüllt und ersetzt werde! Nach Petrus geben doch das Gesetz und alle Propheten Christus das Zeugnis, daß wir durch ihn „Vergebung der Sünden empfangen sollen“ (Apg. 10,43). Der Ablaß dagegen läßt den Menschen durch Petrus, Paulus und die Märtyrer Vergebung der Sünden zuteil werden! „Das Blut Jesu Christi macht uns rein von aller Sünde“, sagt Johannes (1. Joh. 1,7). Beim Ablaß dagegen findet man die Abwaschung von den Sünden im Blute der Märtyrer! Paulus sagt: „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde - das heißt: zur Genugtuung für unsere Sünden! - gemacht, auf daß wir würden Gerechtigkeit Gottes in ihm“ (2. Kor. 5,21). Der Ablaß dagegen läßt die Genugtuung für unsere Sünden auf das Blut der Märtyrer gegründet sein. Paulus hat einst den Korinthern mit lauter Stimme bezeugt, daß allein Christus für sie gekreuzigt und gestorben sei (1. Kor. 1,13). Der Ablaß dagegen verkündigt uns, daß auch Paulus und andere für uns gestorben seien! An anderer Stelle sagt Paulus, Christus habe die Gemeinde erworben mit seinem Blut (Apg. 20,28). Der Ablaß dagegen behauptet, daß es noch einen anderen Preis für dieses „Erwerben“ gibt: nämlich das Blut der Märtyrer! Der Apostel schreibt: „Mit einem Opfer hat er in Ewigkeit vollendet, die geheiligt werden“ (Hebr. 10,14). Der Ablaß erklärt demgegenüber, die Heiligung empfange durch die Märtyrer ihre Vollendung - sonst sei sie nicht ausreichend! Johannes sagt, alle Heiligen hätten ihre Kleider „gewaschen ... in dem Blut des Lammes“ (Apk. 7,14) - der Ablaß aber lehrt uns, wir sollten unsere Kleider im Blut der Heiligen waschen!

 

 

 

III,5,3

 

Herrliche Worte hat gegen diesen Raub an Gottes Ehre der Bischof Leo von Rom (Papst Leo I.) in seinem Brief an die Palästinenser gesprochen. Er schreibt: „Gewiß ist der Tod vieler Heiligen ‘wertgehalten vor dem Herrn\' (Ps. 116,15). Aber die Tötung keines einzigen Unschuldigen ist die Versöhnung der Welt gewesen. Die Gerechten haben Kronen empfangen, aber keine gegeben. Aus der Tapferkeit der Gläubigen sind Beispiele der Geduld geworden, aber keine Gaben der Gerechtigkeit. Der Tod jedes einzelnen von ihnen hatte nur Bedeutung für ihn selber, und keiner hat durch sein Ende eines anderen Schuld abgetragen. Denn einzig und allein in Christus, dem Herrn, sind wir alle gekreuzigt, alle gestorben, begraben und wieder auferstanden!“ (Brief 124). Diesen tatsächlich sehr denkwürdigen Ausspruch hat Leo an anderer Stelle noch einmal wiederholt (Brief 165). Klareres ließe sich sicherlich zur Vernichtung jener gottlosen Lehre gar nicht wünschen! Jedoch schreibt auch Augustin ebenso treffend in dem gleichen Sinne: „Gewiß sterben wir Brüder für unsere Brüder; aber trotzdem wird das Blut nicht eines einzigen Märtyrers zur Vergebung der Sünden vergossen; denn das hat Christus für uns getan! Und er hat uns diese Gabe zuteil werden lassen - nicht damit wir sein Tun nachahmten, sondern damit wir uns dankbar daran freuten!“ (Predigten zum Johannesevangelium, 84). Oder an anderer Stelle: „Wie allein der Sohn Gottes zum Menschensohn gemacht worden ist, damit er uns mit sich selber zu Söhnen Gottes machte - so hat auch er allein, ohne Böses verdient zu haben, für uns die Strafe getragen, damit wir, die wir nichts Gutes verdient hatten, durch ihn unverdiente Gnade erlangten!“ (An Bonifacius IV,4,6.)

Gewiß ist die ganze Lehre der Römischen aus entsetzlichem Raub an Gottes Ehre und furchtbaren Lästerungen zusammengeflickt; aber hier haben wir es doch mit einer besonders grauenhaften Gotteslästerung zu tun. Ich will ihre Lehre zusammenfassen,

 

und sie sollen selbst zusehen, ob sie nicht wirklich so gemeint ist: Die Märtyrer haben danach durch ihren Tod Gott gegenüber mehr geleistet und mehr Verdienste erworben, als sie es für sich selber nötig hatten; sie haben also eine große Fülle von Verdiensten übrigbehalten, die nun anderen zufließen kann. Damit nun ein so großes Gut nicht ohne Nutzen bleibt, so wird ihr Blut mit dem Blute Christi vermengt und aus beiden der „Schatz der Kirche“ gebildet, zur Vergebung der Sünden und zur Genugtuung für sie. In diesem Sinne ist dann auch das Wort des Paulus zu verstehen: „Ich erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an den Leiden Christi, für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde“ (Kol. 1,24; nicht Luthertext). (Soweit der Bericht über die römische Lehre.)

 

Was bedeutet das nun anders, als daß man Christus zwar den Namen läßt, im übrigen aber aus ihm einen gewöhnlichen Heiligen macht, den man in der großen Schar kaum noch zu erkennen vermag? Und dabei sollte doch er, er ganz allein verkündigt werden, er allein den Menschen vor Augen gestellt, er allein genannt, er allein angeschaut werden, wenn es sich darum handelt, wie wir Vergebung der Sünden, Versöhnung und Heiligung erlangen! Aber wir wollen ihre Beweisführung hören; sie sagen: damit das Blut der Märtyrer nicht nutzlos vergossen sei, so muß es zum gemeinsamen Nutzen der Kirche angewendet werden. Wieso nun? Ist es denn keine Frucht, Gott durch den Tod zu verherrlichen? Ist es nutzlos, seine Wahrheit mit dem eigenen Blut zu unterschreiben? Sollte es ohne Belang sein, durch die Verachtung des gegenwärtigen Lebens zu bezeugen, daß man ein besseres sucht? Sollte es fruchtlos sein, mit der eigenen Beständigkeit den Glauben der Kirche zu stärken, die Halsstarrigkeit der Feinde aber zu brechen? Aber das ist es eben: die Römischen finden keinerlei Frucht, wenn Christus allein der Versöhner ist, wenn er allein für unsere Sünden gestorben ist, wenn er allein als Opfer zu unserer Erlösung dargebracht ist! Sie sagen so: Petrus und Paulus hätten die Krone des Sieges auch dann erlangt, wenn sie im Bette den Tod erlitten hätten; es würde sich aber nicht mit der Gerechtigkeit Gottes zusammenreimen lassen, wenn die Tatsache, daß sie bis aufs Blut gekämpft haben, ohne Wirkung und ohne Frucht bliebe! Als ob es Gott nicht verstünde, seinen Knechten nach dem Maß seiner Gaben auch größere Herrlichkeit zu verleihen! Die Kirche aber empfängt (aus dem Sterben der Märtyrer) insgemein Nutzen genug, wenn sie sich durch den Triumph dieser Männer zum Kampfeseifer entflammen läßt!

 

 

 

III,5,4

Nun ziehen unsere Widersacher eine Paulusstelle heran, wonach der Apostel „an seinem Fleische erstattet, was noch mangelt an den Leiden Christi“ (Kol. 1,24; siehe oben). Aber wie durchtrieben verdrehen sie diese Stelle! Dieses „Mangeln“ und „Erstatten“ bezieht der Apostel doch nicht auf das Werk der Erlösung, der Genugtuung und der Versöhnung, sondern auf die „Trübsale“ (wie Luther übersetzt!), in denen Christi Glieder, nämlich alle Gläubigen, geübt werden müssen, solange sie in diesem Fleische leben. Er sagt also, an den Leiden Christi „mangle“ noch das, was er in sich selbst einmal gelitten hat, aber nun alle Tage in seinen Gliedern leidet! Christus würdigt uns solcher Ehre, daß er unsere Trübsale als die seinigen ansieht und gelten läßt. Wenn aber Paulus hinzusetzt: „für die Gemeinde“, so bedeutet das nicht: zur Erlösung, zur Versöhnung der Gemeinde, zur Genugtuung für die Gemeinde - sondern zu ihrer Erbauung und zu ihrem Wachstum! So sagt er auch an anderer Stelle: „Ich erdulde alles um der Auserwählten willen, auf daß auch sie die Seligkeit erlangen in Christo Jesu ...“ (2. Tim. 2,10). Und an die Korinther schrieb er: „Wir haben Trübsal oder Angst, so geschieht es euch zugute!“ (2. Kor. 1,6). Auch erklärt er in Kolosser 1 gleich darauf selber, was er meint: er sagt da, er sei der Diener der Gemeinde geworden, und zwar nicht zur Erlösung der Gemeinde, sondern „nach dem ... Predigtamt“, das ihm „gegeben“ war, und nach dem er das Evangelium von Christus verkündigen sollte! (Kol. 1,25). Verlangen die

 

Gegner aber nach einem anderen Ausleger, so sollen sie Augustin hören: „Das Leiden Christi“, sagt er, „geschieht (einerseits) in Christus allein, als in dem Haupte, (andererseits) in Christus und der Gemeinde, als in dem ganzen Leibe. Daher spricht ein Glied (der Kirche), nämlich Paulus: ‘Ich erstatte an meinem Fleische, was noch mangelt an den Leiden Christi\'. Wenn du also, du Hörer, wer du auch sein magst, zu den Gliedern Christi gehörst, so hat alles, was du von denen erleidest, die nicht Christi Glieder sind, an den ‘Leiden Christi gemangelt\'” (Erklärung zu Psalm 61; 4). Wozu aber die Leiden dienen, welche die Apostel für die Kirche auf sich genommen haben, das setzt Augustin an anderer Stelle auseinander: „Christus ist für mich die Tür zu euch; weil ihr die Schafe Christi seid, die er mit seinem Blute erworben hat, so erkennt den Preis, der für euch gezahlt ist - ich zahle diesen Preis nicht, sondern ich verkündige ihn!“ Und dann setzt er gleich hinzu: „Wie er sein Leben für uns gelassen hat, so sollen auch wir unser Leben für die Brüder lassen, und zwar, um den Frieden zu erbauen und um den Glauben zu bekräftigen“ (Predigten zum Johannesevangelium, 47). So hat es Augustin gesagt! Es kann aber gar keine Rede davon sein, daß Paulus gemeint hätte, an den Leiden Christi habe etwas „gemangelt“, sofern es die ganze Fülle der Gerechtigkeit, des Heils und des Lebens betrifft, oder daß er da etwas hätte „erstatten“ wollen - er redet doch selbst so klar und so herrlich davon, wie die überströmende Fülle der Gnade durch Christus so reichlich ausgegossen ist, daß sie alle Gewalt der Sünde weit überwindet! (Röm. 5,15). Allein durch diese Gnade Christi sind alle Heiligen selig geworden, nicht aber durch das Verdienst ihres Lebens und Sterbens, wie es Petrus ausdrücklich bezeugt (Apg. 15,11). Wer also die Würdigkeit irgendeines Heiligen auf etwas anderes gründet als allein auf Gottes Barmherzigkeit, der schmäht Gott und seinen Christus! Aber wozu soll ich mich hier länger aufhalten, als ob die Sache noch dunkel wäre! Derartige Ungeheuerlichkeiten ans Licht zu ziehen, bedeutet ja schon, sie zu überwinden!

 

 

 

III,5,5

 

Wir wollen also solche Greuel fahren lassen. Aber weiter: wer hat denn den Papst gelehrt, die Gnade Jesu Christi, die nach dem Willen des Herrn durch das Wort des Evangeliums ausgeteilt werden soll, in Blei und Pergament einzuschließen? So muß also notwendig entweder das Evangelium Gottes lügen - oder aber der Ablaß! Denn im Evangelium wird uns Christus dargeboten mit der ganzen Fülle der himmlischen Güter, mit all seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Gnade, und zwar ohne jede Einschränkung. Dafür ist Paulus Zeuge; denn nach seinen Ausführungen ist den Dienern das „Wort der Versöhnung“ anvertraut, und die Botschaft dieser Diener soll - gleich als ob Christus selbst durch sie vermahnte - so lauten: „So bitten wir nun ... Lasset euch versöhnen mit Gott. Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ (2. Kor. 5,18ff.). Und die Gläubigen wissen, was die „Gemeinschaft ... Jesu Christi“ vermag, deren Genuß uns nach dem Zeugnis des nämlichen Apostels im Evangelium angeboten wird (1. Kor. 1,9). Der Ablaß nimmt dagegen aus der Schatzkammer des Papstes einen festgesetzten Teil der Gnade, bindet sie an Blei und Pergament, auch an einen bestimmten Ort - und reißt sie von Gottes Wort los!

Fragt man aber nach dem Ursprung dieses Mißbrauchs, so scheint er aus folgendem entstanden zu sein: Vor Zeiten wurden den Büßenden zuweilen derart harte Genugtuungen auferlegt, daß diese nicht für jeden zu ertragen waren; die Leute nun, die sich durch die ihnen auferlegte Bußleistung über das Maß beschwert fühlten, baten die Kirche um Milderung. Der Nachlaß, der solchen Leuten zuteil wurde, wurde „Ablaß“ genannt. Sobald man nun aber diese genugtuenden Werke (von der Kirche) auf Gott übertrug (vgl. III,4,39) und sie für Ablösungsleistungen erklärte, mit denen sich die Menschen vom Urteil Gottes loskaufen könnten - da hat man auch den Ablaß in der gleichen Richtung gezerrt und von ihm gesagt, er sei ein Sühne-

 

mittel, das uns von den verdienten Strafen freimache! Dabei hat man aber die Gotteslästerungen, von denen ich berichtete, mit solcher Schamlosigkeit erdacht, daß es dafür keine Entschuldigung geben kann.

 

 

 

III,5,6

 

Auch mit ihrem Fegefeuer sollen uns die Römischen keine Beschwernis bereiten; denn das ist mit dem gleichen Beil zerschlagen, zerstört und bis auf den Grund ganz und gar umgestürzt. Es gibt nun Leute, die da meinen, man sollte ihnen in diesem Stück durch die Finger sehen, sollte die Erwähnung des Fegefeuers beiseite lassen, weil aus ihr - wie man dann sagt - scharfe Streitigkeiten erwachsen, aber sehr wenig Erbauung erlangt werden kann. Diesen Leuten kann ich mich nicht anschließen. Freilich würde auch ich anraten, dieses Geschwätz zu übergehen, wenn es nicht so ernste Folgen nach sich zöge. Aber dieses Fegefeuer ist aus vielen Gotteslästerungen errichtet und wird alle Tage mit neuen gestützt, es erregt auch viele und schwere Anstöße, und deshalb kann man hier durchaus keine Schonung walten lassen. Man hätte es immerhin vielleicht eine Zeitlang übersehen können, daß die Lehre vom Fegefeuer ohne Gottes Wort in vorwitziger, kühner Vermessenheit erdacht worden ist, daß man bezüglich des Fegefeuers wer weiß welchen von des Satans Kunst bewirkten „Offenbarungen“ Glauben geschenkt hat, daß man zu ihrer Bekräftigung eine ganze Anzahl von Schriftstellen ganz töricht verdreht hat! Und das, obwohl der Herr es nicht leidet, daß menschliche Vermessenheit solchermaßen in die verborgenen Abgründe seiner Gerichte einbricht, obwohl er es streng verboten hat, unter Geringschätzung seines Wortes von den Toten die Wahrheit zu erforschen (Deut. 18,11), und obwohl er es nicht verstattet, daß man sein Wort so schamlos besudelt! Aber geben wir selbst zu, man hätte all dies eine Zeitlang als nicht sehr belangreiche Sache dulden können, so ist doch solches Schweigen ein sehr gefährlich Ding, sobald die Versöhnung für unsere Sünden anderswo gesucht wird, als im Blute Christi, und die Genugtuung auf jemanden anders übertragen wird! Wir müssen also Stimme und Kehle und Lunge gewaltig anstrengen und es laut ausrufen: das Fegefeuer ist eine verderbenbringende Erdichtung des Satans, es macht das Kreuz Christi eitel, es tut Gottes Barmherzigkeit unerträgliche Schmach an, es erschüttert unseren Glauben und stößt ihn um! Denn was ist nach römischer Lehre das Fegefeuer anders als eine Genugtuung, die die Seelen der Verstorbenen nach ihrem Tode für ihre Sünden leisten müssen? Ist also der Wahn zerstört, wir müßten genugtuende Strafen erleiden, so ist auch das Fegefeuer sogleich bis auf die Wurzel zerstört! Wenn es aber auf Grund unserer vorausgehenden Erörterung mehr als deutlich geworden ist, daß Christi Blut die einzige Genugtuung für die Sünden der Gläubigen ist, die einzige Sühne, die einzige Reinigung - was bleibt dann anders übrig, als daß das Fegefeuer nichts weiter ist als eine furchtbare Lästerung Christi? Dabei lasse ich den vielerlei Frevel beiseite, mit dem man es heutzutage verteidigt, auch die Anstöße, die daraus in der Religion erwachsen und viele andere Dinge, die wir aus einer solchen Quelle der Gottlosigkeit haben bervorbrechen sehen:

 

 

 

III,5,7

 

Es ist aber der Mühe wert, den Römischen die Schriftstellen aus der Hand zu schlagen, die sie hier fälschlich und verkehrt an sich zu reißen pflegen.

a) Zunächst sagen sie: Der Herr erklärt doch mit solchem Ernst, daß die Sünde wider den Heiligen Geist weder in dieser Welt noch in der zukünftigen vergeben werden soll (Matth. 12,32; Mark. 3,28f.; Luk. 12,10). Damit gibt er zugleich zu verstehen, daß es gewisse Sünden gibt, die in der zukünftigen Welt vergeben werden. Aber wer bemerkt denn nicht, daß der Herr hier von der Sündenschuld redet? Wenn es aber so ist, was hat diese Sache dann mit ihrem Fegefeuer zu tun? Denn dort soll man doch nach ihrer Einbildung für die Sünden Strafe erleiden, deren Schuld einem - wie sie selbst nicht leugnen - im gegenwärtigen Leben vergeben ist! Damit sie uns nun aber nicht weiter belästigen, so sollen

 

sie eine noch klarere Widerlegung haben. Der Herr wollte jener lästerlichen Bosheit (nämlich der Sünde wider den Heiligen Geist) jede Hoffnung auf Vergebung abschneiden, und deshalb war es ihm nicht genug, zu erklären, sie werde niemals vergeben werden; nein, um es noch stärker auszusprechen, wandte er eine Teilung an, in die er einerseits das Urteil einbegreift, das schon in diesem Leben jeder Mensch in seinem Gewissen empfindet, anderseits aber auch das letzte Urteil, das bei der Auferstehung öffentlich ergeht. Er will also etwa sagen: Hütet euch vor dem boshaften Widerstreben als vor dem ganz sicheren Verderben! Denn wer sich untersteht, das Licht des Heiligen Geistes, das ihm angeboten ist, mit voller Absicht auszulöschen, der wird weder in diesem Leben, das den Sündern zur Bekehrung gegeben ist, Vergebung erlangen, noch auch am jüngsten Tage, wenn Gottes Engel die Schafe von den Böcken scheiden und das Himmelreich von allen Ärgernissen gereinigt wird!

 

b) Ferner bringen die Römischen ein Gleichnis aus dem Matthäusevangelium vor: „Sei willfährig deinem Widersacher, ... auf daß dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen ... Du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest“ (Matth. 5,25f.). Wenn an dieser Stelle unter dem Richter Gott zu verstehen ist, unter dem Widersacher der Teufel, unter dem Diener ein Engel und unter dem Kerker das Fegefeuer - dann will ich mich gern geschlagen geben. Aber es steht doch für jedermann fest, daß Christus hier zeigen will, wieviel Gefahren und Übel sich Menschen bereiten, die hartnäckig das schärfste Recht durchsetzen wollen, statt in Billigkeit und Güte ihre Sache zu betreiben, und daß er dies sagt, um die Seinen möglichst eindringlich zu billiger Eintracht zu ermahnen! Wenn es aber so ist, so möchte ich doch gerne wissen, wo man dann das Fegefeuer finden will!

 

 

 

III,5,8

 

c) Ein weiteres Beweismittel entnehmen die Römischen dem Wort des Paulus, nach dem sich vor Christus beugen sollen „alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind“ (Phil. 2,10). Sie nehmen dabei von vornherein als ausgemacht an, daß unter denen, „die unter der Erde sind“, nicht solche verstanden werden könnten, die zur ewigen Verdammnis verurteilt sind. Also bleibt nur die Möglichkeit übrig, daß es die Seelen sind, die sich im Fegefeuer quälen. Das wäre nun keine üble Beweisführung, wenn der Apostel unter dem „Beugen der Knie hier die wahre Verehrung verstünde, wie sie aus Frömmigkeit geschieht. Aber er lehrt doch tatsächlich, daß Christus die Herrschaft übertragen ist, der alle Kreatur unterworfen werden soll. Dann aber hindert uns nichts, unter denen, „die unter der Erde sind“, die Teufel zu verstehen, die ganz gewiß vor den Richterstuhl des Herrn werden treten müssen, um ihn in Schrecken und Zittern als ihren Richter anzuerkennen. Die gleiche Prophetenstelle (auf die er sich auch Phil. 2,10 bezieht, nämlich Jes. 45,23) erläutert Paulus selbst an anderer Stelle ebenso: „Wir werden alle vor den Richtstuhl Christi dargestellt werden; denn es steht geschrieben: so wahr als ich lebe ... mir sollen alle Knie gebeugt werden ...“ (Röm. 14,10f.).

 

Da macht man aber den Einwand, es gäbe eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes, die sich in dieser Weise nicht deuten ließe, nämlich: „Und alle Kreatur, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde ist und im Meer, und alles was darinnen ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Stuhl sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!“ (Apk. 5,13). Das gebe ich ohne weiteres zu; aber was für Kreaturen sind nun nach ihrer Meinung an dieser Stelle aufgezählt? Es ist nämlich gewisser als gewiß, daß hier von den vernunftlosen und unbeseelten Geschöpfen die Rede ist. Es wird hier nichts anderes behauptet, als daß die einzelnen Teile der Welt, von der höchsten Höhe des Himmels bis zum Mittelpunkt der Erde, auf ihre Weise die Ehre des Schöpfers verkünden sollen.

d) Dann bringt man noch eine Stelle aus der Geschichte der Makkabäer vor (2. Makk. 12,43). Aber das würdige ich keiner Entgegnung, um nicht den Eindruck

 

zu erwecken, als ob ich dieses Werk zu den Büchern der Heiligen Schrift zählte. Aber - so wendet man ein - Augustin hat es doch als kanonisch anerkannt! Aber ich frage zunächst: mit was für einer Gewißheit hat er das getan? Er sagt: „Die Schrift der Makkabäer hat bei den Juden nicht die gleiche Stellung wie das Gesetz, die Propheten und die Psalmen, denen der Herr das Zeugnis gegeben hat, sie seien gleichsam seine Zeugen, indem er sprach: ‘Es muß noch alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist im Gesetz Mose\'s, in den Propheten und in den Psalmen\' (Luk. 24,44). Daß dieses Buch aber von der Kirche angenommen worden ist, das ist nicht ohne Nutzen geschehen, wenn man es besonnen liest oder hört ...“ (Gegen Gaudentius I,31,38). Hieronymus aber lehrt ohne allen Zweifel, daß das Ansehen dieses Buches keine Kraft habe, um daraus Kirchenlehren zu beweisen. Und aus einem alten Buch mit dem Titel „Auslegung des Glaubensbekenntnisses“, das dem Cyprian zugeschrieben wird, geht deutlich hervor, daß das Makkabäerbuch in der Alten Kirche keine Autorität gehabt hat. Was streite ich mich aber hier nutzlos herum! Als ob der Verfasser selber nicht deutlich zeigte, wieviel Ansehen ihm zukommt, indem er am Schlusse um Verzeihung bittet, sofern er etwas weniger gut ausgesprochen hätte (2. Makk. 15,39). Wenn einer aber bekennt, daß seine Schrift der Verzeihung bedarf, dann spricht er doch damit ohne Zweifel laut aus, daß es sich dabei nicht um Offenbarungsworte des Heiligen Geistes handelt! Auch wird die Frömmigkeit des Judas Makkabäus - als er nämlich ein Opfer für die Toten nach Jerusalem sandte - nur deshalb gelobt, weil er eine feste Hoffnung bezüglich der letzten Auferstehung hatte (2. Makk. 12,43). Denn der Verfasser der Geschichte deutet das, was Judas getan hat, nicht darauf, daß er mit seiner Gabe etwa die Erlösung jener Toten erkaufen wollte, sondern darauf, daß er den Wunsch hatte, es möchten die Männer, die für Vaterland und Glauben gefallen waren, mit den übrigen Gläubigen zusammen am ewigen Leben teilhaben! Freilich war diese Tat nicht frei von Aberglauben und falschem Eifer. Mehr als Narren sind aber Leute, die solch einem unter dem Gesetz stehenden Opfer eine Beziehung bis auf unsere Zeit geben wollen: denn wir wissen, daß durch Christi Kommen aufgehört hat, was damals in Übung war.

 

 

 

III,5,9

 

e) Eine unbesiegliche Waffe haben die Römischen aber an Paulus - und die ist nicht so leicht zu zerbrechen. Paulus sagt nämlich: „So aber jemand auf diesen Grund bauet Gold, Silber, edle Steine, Holz, Heu, Stoppeln, so wird eines jeglichen Werk offenbar werden; der Tag wird\'s klar machen; denn er wird durch\'s Feuer offenbar werden, und welcherlei eines jeglichen Werk sei, wird das Feuer bewähren ... Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden, er selbst aber wird selig werden, so doch wie durchs Feuer“ (1. Kor. 3,12. 13. 15). Was soll das nun - so fragen die Römischen - anders für ein Feuer sein als das des Fegefeuers, das die Sündenbefleckung verzehrt, damit wir rein in Gottes Reich eingehen? Die meisten unter den Kirchenvätern haben allerdings angenommen, es sei ein anderes Feuer gemeint, nämlich Trübsal oder Kreuz, durch die der Herr die Seinigen prüft, damit sie in den Befleckungen des Fleisches keine Ruhe finden (so Chrysostomus, Augustin und andere). Diese Ansicht ist viel glaubhafter, als wenn man sich ein Fegefeuer erdenkt! Freilich stimme ich auch diesen Kirchenvätern nicht zu; denn ich glaube eine viel sichere und klarere Deutung dieser Stelle gefunden zu haben.

Bevor ich diese Deutung vorbringe, möchte ich aber wissen, ob die Römischen denn glauben, daß auch die Apostel und alle Heiligen durch dieses Fegefeuer hindurch gemußt hätten. Sie werden das verneinen - das weiß ich wohl. Es wäre ja auch allzu ungereimt, wenn die Männer, deren über das Maß hinausgehende Verdienste nach der Träumerei der Papisten auf sämtliche Glieder der Kirche überströmen, selbst solcher Reinigung bedurft hatten! Der Apostel aber behauptet das! Er sagt nämlich nicht, das Werk einiger Gläubiger solle der Bewährung unterworfen werden, sondern das Werk aller! (Vers 13). Das ist nun nicht ein Beweisstück von mir, sondern es stammt von Augustin, der auf diese Weise jener Deutung der

 

Stelle entgegentritt. Und - was noch merkwürdiger ist! - Paulus sagt nicht, sie müßten wegen irgendwelcher beliebigen Werke durchs Feuer gehen; nein, sie sollen, wenn sie die Kirche mit höchster Treue erbaut haben, ihren Lohn empfangen, wenn lhr Werk im Feuer bewährt ist! (Augustin, Handbüchlein an Laurentius,68.)

 

Zunächst sehen wir, daß der Apostel hier ein Gleichnis braucht: er hat die Lehren, die sich die Menschen in ihrem eigenen Kopfe ausgedacht haben, als „Holz, Heu, Stoppeln“ bezeichnet. Der Sinn dieses Gleichnisses ist unschwer zu ermitteln: wie Holz, wenn man es an das Feuer bringt, sogleich verzehrt wird und vergeht, so werden auch jene (vom Menschen selbst erdachten) Lehren keinen Bestand haben, wenn sie erprobt werden. Nun ist es aber jedermann deutlich, daß eine solche Prüfung vom Geiste Gottes vollzogen wird. Um also den Faden des Gleichnisses weiterzuspinnen und die einzelnen Stücke recht aneinander anzupassen, hat Paulus jene Prüfung durch den Heiligen Geist als „Feuer“ bezeichnet. Denn wie sich Gold und Silber, je näher man sie ans Feuer heranbringt, desto gewisser in ihrer Echtheit und Reinheit bewähren, so empfängt auch die Wahrheit des Herrn, je schärferer geistlicher Prüfung sie unterworfen wird, eine desto klarere Bekräftigung ihrer Autorität. Wie aber andererseits Heu, Holz und Stoppeln, wenn man sie ans Feuer bringt, ergriffen und plötzlich verzehrt werden, so können auch Menschensündlein, die im Worte des Herrn nicht gegründet sind, die Prüfung durch den Heiligen Geist nicht aushalten, sondern sie fallen in sich zusammen und vergehen. Kurz, wenn diese selbsterdachten Lehren mit Holz, Heu und Stoppeln verglichen werden, weil sie gleich Holz, Heu und Stoppeln vom Feuer verbrannt und zunichte gemacht werden, und wenn andererseits solche Zerstörung und Ausrottung dieser Lehren einzig und allein durch den Heiligen Geist erfolgt, - so ergibt sich, daß der Heilige Geist dieses „Feuer“ ist, in welchem sie „bewährt“ werden sollen. Diese Bewährung durch den Heiligen Geist nennt Paulus (Vers 13) den „Tag“ des Herrn, und zwar nach der gewohnten Ausdrucksweise der Schrift. Denn jedesmal, wenn der Herr auf irgendeine Weise den Menschen seine Gegenwart kundtut, so sagt die Schrift, das sei der „Tag des Herrn“. Vornehmlich aber leuchtet uns sein Angesicht dann, wenn seine Wahrheit ihr Licht erstrahlen läßt. Damit ist völlig bewiesen, daß für Paulus das „Feuer“ nichts anderes ist als die Prüfung durch den Heiligen Geist.

 

Wie sollen nun aber durch dieses Feuer die Menschen, die an ihren Werken Schaden leiden müssen, selbst gerettet werden? (Vers 15). Das wird nicht schwer zu begreifen sein, wenn wir bedenken, von was für Menschen der Apostel spricht. Er meint nämlich die Baumeister der Kirche, die wohl den rechten „Grund“ der Kirche (Vers 11 und 12a) beibehalten, auf ihm aber sehr verschiedene Dinge „bauen“; sie weichen also nicht von den hauptsächlichen und notwendigen Stücken des Glaubens ab, sondern verfallen bei geringeren und nicht so gefährlichen in Träumerei, indem sie das Wort Gottes mit ihren eigenen Hirngespinsten vermischen. Solche Leute, sage ich, müssen nun an ihrem Werk Schaden leiden, und zwar dadurch, daß ihre Hirngespinste abgetan werden, „sie selbst aber werden selig, so doch wie durch\'s Feuer“. Das heißt: nicht etwa wird ihre Unwissenheit und Träumerei vor dem Herrn gebilligt, sondern sie werden durch die Gnade und Kraft des Heiligen Geistes von ihr gereinigt! All die Leute also, die z.B. die goldene Reinheit des Wortes Gottes mit diesem Kot des Fegefeuers besudelt haben - die müssen an ihrem Werk Schaden leiden!

 

 

 

III,5,10

Aber - so wendet man weiter ein - es handelt sich doch hier um eine althergebrachte Meinung der Kirche. Diese Einrede macht Paulus zunichte, indem er auch seine Zeit mit unter den Satz einbegreift, in welchem er bezeugt, alle Menschen, dic beim Bau der Kirche etwas aufbrächten, das weniger zum Fundament der Kirche paßt, müßten notwendig an ihrem Werk Schaden leiden.

 

Die Widersacher halten mir aber vor, schon vor dreizehnhundert Jahren habe der Brauch bestanden, für die Verstorbenen zu beten. Da frage ich aber zurück, auf Grund welches Wortes Gottes, welcher Offenbarung, welches Beispiels das denn geschehen sei. Denn hier fehlt es nicht nur gänzlich an Zeugnissen aus der Heiligen Schrift, sondern auch alle Vorbilder der Heiligen, von denen man da liest, weisen nichts dergleichen auf. Man findet da wohl viele und mitunter lange Berichte über die Trauerübungen und über die Art des Begräbnisses, aber von einem Gebet für die Verstorbenen ist auch nicht das mindeste zu bemerken. Da die Sache aber von so großer Wichtigkeit ist, so hätte man sie um so mehr erwähnen müssen. Aber selbst die unter den Alten, die wirklich solche Gebete für die Verstorbenen verrichteten, sahen, daß ihnen dabei Gottes Auftrag und ein rechtmäßiges Beispiel fehlte! Weshalb wagten sie es dann aber? Ich behaupte, daß ihnen dabei etwas Menschliches widerfahren ist, und ich bestehe darauf, daß man deshalb aus ihrem Tun keinerlei Beispiel zur Nacheiferung machen darf. Denn die Gläubigen sollen nach der Anweisung des Paulus kein Werk angreifen, wenn sie dabei kein ruhiges Gewissen haben (Röm. 14,23) - und diese Gewißheit ist dann doch vornehmlich beim Gebet erforderlich. Man könnte allerdings sagen: es ist doch anzunehmen, daß sie durch eine bestimmte Ursache dazu getrieben worden sind. Ja, sie suchten eben einen Trost, um ihren Schmerz zu lindern, und es erschien ihnen auch unmenschlich, vor Gott keinerlei Zeugnis von ihrer Liebe zu den Verstorbenen von sich zu geben. Wie sehr die Natur des Menschen zu solcher Gesinnung geneigt ist, das erfährt ja jedermann.

 

Auch gab es (damals) eine allgemeine Gewohnheit, die wie eine Fackel das Feuer in vielen Herzen angezündet hat! Wir wissen, daß man bei allen Völkern und zu allen Zeiten den Toten Opfergaben gereicht und daß man ihre Seelen alle Jahre gereinigt hat. Obwohl aber der Teufel durch dergleichen Blendwerk mit den törichten Menschen sein Spiel trieb, so nahm er doch den Anlaß zu diesem Betrug aus einem richtigen Grundsalz, nämlich aus der Einsicht, daß der Tod nicht Vergehen ist, sondern der Übergang aus diesem Leben in ein anderes. Und ohne allen Zweifel wird dieser Aberglaube selbst die Heiden vor Gottes Richtstuhl als schuldig überführen, weil sie die Sorge um dieses ewige Leben, an das sie zu glauben bekannten, vernachlässigt haben! Die Christen wollten nun aber nicht schlimmer sein als unheilige Menschen, und deshalb schämten sie sich, den Verstorbenen keinerlei Dienst zu erweisen - als ob sie gänzlich ausgelöscht wären! Daher kommt denn diese übelberatene Geschäftigkeit: die Christen meinten, wenn sie faul darin wären, für ein feierliches Leichenbegängnis zu sorgen, Totenmähler und Totenopfer zu halten, so würden sie sich schweren Vorwürfen aussetzen. Was aber aus diesem verkehrten Wetteifer (mit den Heiden) hervorgegangen war, das hat dann immer neuen Zuwachs erhalten und ist so sehr gesteigert worden, daß im Papsttum die vornehmste Heiligkeit darin besteht, den Verstorbenen in ihrer Pein Hilfe zu bringen. Die Schrift aber schenkt uns doch einen anderen, weit besseren und stärkeren Trost, indem sie uns bezeugt: „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben“ (Apk. 14,13). Sie fügt auch den Grund gleich zu: „Denn sie ruhen von ihrer Arbeit.“ Unserer Liebe aber dürfen wir nicht soweit nachgeben, daß wir dabei in der Kirche eine verkehrte Gebetssitte aufrichten!

Wer auch nur ein wenig Kenntnis der Dinge besitzt, der wird sicher leicht erkennen, daß alles, was man bei den Alten in dieser Sache zu lesen bekommt, der allgemeinen Sitte und der Unerfahrenheit der Menge zugegeben worden ist. Ich gestehe, daß sie auch selber in diesen Irrtum mit hineingerissen waren, wie denn unbesonnene Leichtgläubigkeit allgemein den Menschengeist um seine Urteilsfähigkeit zu bringen pflegt. Unter wieviel Zweifeln sie indessen die Gebete für die Verstorbenen empfehlen, das zeigt sich, wenn man ihre Äußerungen liest. In seinen „Bekenntnissen“ berichtet Augustin, daß seine Mutter Monika leidenschaftlich darum gebeten habe, man möge ihrer am Altar bei der Feier des heiligen Mahles gedenken. Das war ein Wunsch, wie man ihn bei einer alten Frau wohl erwarten kann. Ihr Sohn hat ihn nun

 

aber nicht an dem Maßstab der Schrift gemessen, sondern aus natürlicher Hinneigung zu seiner Mutter gewünscht, die anderen möchten ihn billigen! Das Buch: „von der Fürsorge für die Toten“, das er geschrieben hat, enthält dermaßen viele Unsicherheiten, daß es mit seiner Kälte mit Recht die Hitze eines törichten Eifers auslöschen sollte, sofern jemand ein Anwalt der Toten zu sein begehrt; es wird sicherlich mit seinen abgeschmackten Vermutungen die Menschen, die zuvor besorgt waren, von ihrer Besorgnis befreien! Seine einzige Stütze ist nämlich diese: da die Gewohnheit, für die Toten zu beten, nun einmal aufgekommen sei, so dürfe man diese Pflicht nicht verachten.

 

Ich will aber zugestehen, daß es den alten Schriftstellern der Kirche fromm erschienen ist, den Toten Beistand zu leisten. Aber es ist doch als untrügliche Regel stets festzuhalten, daß wir nicht das Recht haben, in unseren Gebeten etwas Eigenes vorzubringen, sondern daß unsere Wünsche dem Worte Gottes unterworfen werden müssen; denn bei seinem Urteil steht es, vorzuschreiben, um was er gebeten werden soll! Nun gibt uns aber das ganze Gesetz und das ganze Evangelium nicht mit einer einzigen Silbe die Freiheit an die Hand, für die Toten zu beten, und deshalb bedeutet es eine Entweihung der Anrufung Gottes, wenn wir uns hier mehr zu tun unterstehen, als er uns vorschreibt!

 

Damit sich aber unsere Widersacher nicht rühmen, als ob sie sich mit ihrem Irrtum in der Gesellschaft der Alten Kirche befänden, so behaupte ich, daß da doch ein großer Unterschied besteht. Die Alten gedachten der Verstorbenen, um nicht den Eindruck zu erwecken, als hätten sie alle Sorge um sie von sich geworfen; zugleich aber gestanden sie ein, daß sie im Zweifel waren, wie es um die Toten stünde; jedenfalls stellten sie über das Fegefeuer keine sicheren Behauptungen auf, ja, sie hielten es für eine ungewisse Sache. Unsere heutigen Widersacher dagegen verlangen, daß man ihre Träumereien vom Fegefeuer ohne Widerrede als Glaubenslehre gelten läßt! Die Alten befahlen Gott bei der gemeinsamen Feier des heiligen Mahles ihre Toten, und zwar wortkarg und nur, um ihrer Pflicht nachzukommen. Unsere Widersacher dagegen dringen heftig auf die Fürsorge für die Toten und bewirken mit ihrer ungestümen Predigt, daß man diese allem Dienst der Liebe vorzieht.

 

Es wäre uns aber auch nicht schwer, einige Zeugnisse von Kirchenvätern vorzubringen, die all diese Gebete für die Toten, wie sie damals in Übung waren, offen verwerfen. Von dieser Art ist ein Ausspruch Augustins: er lehrt, daß alle auf die Auferstehung des Fleisches und die ewige Herrlichkeit warten, daß aber die Ruhe, die nach dem Tode folgt, von jedem, der ihrer würdig ist, in dem Augenblick seines Todes empfangen wird. Er bezeugt also, daß alle Frommen nicht weniger als die Propheten und Apostel und Märtyrer gleich nach ihrem Tode selige Ruhe genießen (Predigten zum Johannesevangelium, 49). Wenn es aber so um sie bestellt ist, so möchte ich doch nur zu gern wissen, wozu ihnen dann unsere Fürbitte noch nütze sein soll!

 

Gröbere abergläubische Irrtümer, mit denen die Papisten die Herzen einfältiger Leute betört haben, lasse ich hier beiseite; sie sind aber unzählbar und zumeist ganz ungeheuerlich, so daß sie sie mit keiner ehrbaren Farbe beschönigen können. Auch will ich von dem schnöden Schacher schweigen, den sie bei solcher Betörtheit der Welt nach ihrem Gelüsten haben treiben können. Man kann nämlich da an kein Ende kommen, und der fromme Leser wird hier auch ohne die Aufzählung solcher Dinge genug finden, um sein Gewissen zu stärken!

 

Sechstes Kapitel

 

 

 

Von dem Leben eines Christenmenschen; vor allem mit welchen Gründen uns die Schrift dazu ermahnt

 

 

 

III,6,1

 

Im Leben der Gläubigen soll ein Gleichklang, ein Zusammenstimmen zwischen Gottes Gerechtigkeit und ihrem eigenen Gehorsam stattfinden. Das ist der eigentliche Zweck der Wiedergeburt, wie ich bereits zeigte. Auf diese Weise sollen die Gläubigen die Berufung festmachen (Ausdruck nach 2. Petr. 1,10), mit der sie zu Kindern Gottes angenommen sind.

 

Nun faßt zwar Gottes Gesetz jene Erneuerung, durch die Gottes Ebenbild in uns wiederhergestellt wird, in sich; aber wir haben in unserer Trägheit viel Ansporn und Hilfe nötig, und so wird es von Nutzen sein, aus den verschiedenen Schriftstellen die rechte Weise zu entnehmen, wie wir unser Leben einrichten sollen, damit die, denen es mit ihrer Bekehrung Ernst ist, in ihrem Eifer nicht auf Irrwege geraten.

 

Wenn ich mich nun aber anschicke, das Leben eines Christenmenschen darzustellen, so bin ich mir voll und ganz bewußt, damit einen sehr vielgestaltigen und schwierigen Stoff anzugreifen, der in seiner Umfänglichkeit einen dicken Band füllen könnte, wenn man ihn erschöpfend behandeln wollte. Wir sehen ja auch, wie weitläufig die Mahnreden der Alten auseinanderfließen, wenn sie sich (auch) nur auf die einzelnen Tugenden beziehen. Dabei herrscht aber keineswegs ein übertriebener Wortreichtum. Es ist eben so: wenn man sich vorgenommen hat, irgendeine Tugend in einer Rede recht zu preisen, dann drängt die Fülle des Stoffes von selbst zu einer solchen Breite des Stils hin, daß man meint, man hätte seine Sache nicht nach Gebühr dargestellt, wenn man nicht viel gesagt hätte! Ich habe nun aber nicht die Absicht, die Lebensunterweisung, die ich jetzt vorzutragen im Sinn habe, soweit auszudehnen, daß sie auch noch die gesonderte Behandlung der einzelnen Tugenden mit einschlösse und auch ausgedehnte Ermahnungen dazu enthielte. Das kann man aus den Schriften anderer, vor allem aus den Predigten der Kirchenväter entnehmen. Mir soll es übrig genug sein, wenn ich den Weg zeige, auf dem ein frommer Mann zum rechten Ausrichtungspunkt für die Gestaltung seines Lebens geführt werden kann, und wenn ich eine allgemeine Regel kurz umschreibe, nach der er seine Verpflichtungen recht feststellen kann. Für große Reden wird vielleicht später einmal die Zeit kommen - oder ich will diese Aufgabe, zu der ich nicht eben geschickt bin, anderen überlassen! Ich liebe von Natur die Kürze; und wenn ich auch weitläufiger reden wollte, so würde es mir vielleicht nicht gelingen. Selbst wenn eine wortreichere Art zu reden höchsten Beifall fände, so würde ich sie trotzdem schwerlich versuchen. Die Aufgabe des hier vorliegenden Werkes dagegen erfordert es geradezu, daß wir die schlichte Lehre mit möglichster Kürze umreißen.

 

Wie aber die Philosophen bestimmte Grenzen für Recht und Ehrbarkeit kennen und von da her alle einzelnen Pflichten und die ganze Schar der Tugenden ableiten, - so hat auch die Schrift in dieser Hinsicht ihre Ordnung, ja, sie läßt die herrlichste Einteilung walten, die viel sicherer ist als alles, was die Philosophen hier bieten. Es besteht nur ein Unterschied: die Philosophen waren ehrgeizige Leute und haben sich deshalb mit großem Fleiß um eine ausgesuchte Klarheit der Anordnung bemüht, um auf diese Weise die Gewandtheit ihres Geistes an den Tag zu legen; der Heilige Geist dagegen trieb sein Lehramt ohne Künstelei, und deshalb hat er die geordnete Darstellungsweise nicht so scharf und unentwegt innegehalten. Aber da und dort bringt er sie doch und gibt uns damit genugsam zu verstehen, daß wir sie nicht vernachlässigen dürfen.

 

III,6,2

 

Diese Unterweisung, die uns die Schrift gibt und von der hier die Rede ist, besteht nun vor allem in zwei Stücken. Das erste liegt darin, daß die Liebe zur Gerechtigkeit, zu der wir sonst von Natur keineswegs geneigt sind, in unser Herz hineingeträufelt und eingeführt wird. Das zweite Stück hat sein Wesen darin, daß uns ein Richtmaß vorgeschrieben werden soll, das uns in unserem Trachten nach der Gerechtigkeit nicht vom Wege abirren läßt.

 

Dann hat die Schrift viele und ausgezeichnete Ursachen, um die Gerechtigkeit recht anzupreisen; viele von ihnen haben wir schon oben an verschiedenen Stellen erwähnt, einige weitere werden wir hier noch zu berühren haben, von welchem Fundament sollte sie besser den Ausgangspunkt nehmen können, als von der Ermahnung: „Ihr sollt heilig sein; denn der Herr, euer Gott, ist heilig“? (Lev. 19,2; 1. Petr. 1,15f.). Wir liefen ja alle in der Irre wie versprengte Schafe, wir hatten uns heillos in dem Irrgarten dieser Welt verlaufen - und da hat er uns gesammelt, um uns zu seiner Herde zu machen! Wenn wir unsere Verbundenheit mit Gott erwähnen hören, dann sollen wir immer daran denken, daß die Heiligkeit das Band sein muß, durch welches sie besteht. Das bedeutet nicht, daß wir etwa durch das Verdienst unserer Heiligkeit in die Gemeinschaft mit Gott gelangten. Wir müssen im Gegenteil zuerst ihm anhängen, damit uns seine Heiligkeit durchdringe und wir dann folgen, wohin er uns ruft! Aber jener obige Satz gilt doch, weil es gar sehr zu Gottes Ehre gehört, daß er keinen Umgang mit Ungerechtigkeit und Unreinheit habe! Darum liegt nach der Lehre der Schrift hier der Sinn unserer Berufung, den wir stets im Auge behalten müssen, wenn wir Gott auf sein Rufen antworten wollen: (Jes. 35, 8 u. a.). Was sollte es auch für einen Zweck haben, uns aus der Bosheit und Befleckung dieser Welt, in die wir gänzlich versunken waren, herauszureißen, wenn wir uns nun erlauben wollten, uns in jener Bosheit und Befleckung unser ganzes Leben lang herumzuwälzen? Auch mahnt uns die Heilige Schrift zugleich daran, daß wir ja, um zum Volke des Herrn gezählt zu werden, in der heiligen Stadt Jerusalem wohnen müssen; diese Stadt aber hat sich der Herr selber geheiligt, und deshalb gebührt sich\'s nicht, daß sie durch die Unreinheit ihrer Bewohner entweiht werde! Daher solche Worte wie: „Wer wird wohnen in deiner Hütte? ... Wer ohne Tadel einhergeht und recht tut ...“ (Ps 15,1f.; Psalm 24 und andere Stellen). Denn das Heiligtum, in dem er seine Wohnung hat, darf nicht voll Unreinigkeit sein wie ein Viehstall!

 

 

 

III,6,3

Um uns noch besser aufzumuntern, hält uns dann die Schrift weiterhin vor Augen: wie Gott, unser Vater, sich in seinem Christus selber mit uns versöhnt hat, so hat er uns auch in ihm das Ebenbild vorgezeichnet, nach dem wir nach seinem Willen gestaltet werden sollen (Röm. 6,18). Nun sollen doch die Leute, die da meinen, allein bei den Philosophen trete uns die Lehre von den guten Sitten recht und sinnreich angeordnet entgegen, einmal herkommen und mir bei den Philosophen eine herrlichere Anordnung aufzeigen! Wenn uns die Philosophen eine ganz ausgezeichnete Ermahnung zur Tugend geben wollen, dann tragen sie uns doch nichts anderes als den Satz vor, wir sollten der Natur gemäß leben. Die Schrift dagegen schöpft ihre Ermahnungen aus der wahren Quelle: sie gibt uns nicht allein die Vorschrift, unser Leben auf Gott zu richten, der sein Geber ist und dem es verpflichtet ist, sondern sie lehrt uns auch, daß wir dem wahren Ursprung und dem wahren Gesetz unserer Erschaffung gegenüber entartet sind, und setzt dann hinzu, daß uns Christus, durch den wir bei Gott wieder in Gnaden angenommen sind, als Beispiel vor Augen gestellt ist, dessen Gestalt wir in unserem Leben zur Abbildung bringen müssen. Was kann man Wirksameres suchen als dies Eine? Ja, was kann man überhaupt über dies Eine hinaus noch suchen? Wir werden also dazu vom Herrn zu Kindern angenommen, daß unser Leben Christus, das Band unserer Kindschaft, zur Darstellung bringe! Wenn wir uns nun also nicht der Gerechtigkeit

 

hingeben und angeloben, dann fallen wir nicht bloß in schnöder Treulosigkeit von unserem Schöpfer ab, sondern wir verleugnen auch unseren Erlöser.

 

Einen weiteren Anlaß zu ihrer Ermahnung entnimmt die Schrift all den Wohltaten Gottes, die sie uns ins Gedächtnis ruft, und all den einzelnen Tatsachen, die unser Heil ausmachen. Da sich uns Gott, so lehrt sie uns, als unser Vater erzeigt hat, würden wir den Vorwurf schrecklichsten Undanks auf uns ziehen, wenn wir uns ihm nicht wiederum als Kinder erzeigten! (Mal. 1,6; Eph. 5,1; 1. Joh. 3,1). Da uns Christus mit seinem Blute gereinigt hat und uns diese Abwaschung durch die Taufe hat zuteil werden lassen, geht es nicht an, daß wir uns mit neuem Schmutz beflecken! (Eph. 5,26; Hebr. 10,10; 1. Kor. 6,11; 1. Petr. 1,16; 1. Petr. 1,19). Da uns Christus in seinen Leib eingefügt hat, müssen wir, die wir seine Glieder sind, uns sorglich davor hüten, uns mit Makel und Unreinigkeit zu besudeln! (1. Kor. 6,15; Joh. 15,3ff.; Eph. 5,23ff.). Da er, unser Haupt, zum Himmel emporgestiegen ist, ist es billig, daß wir allen Erdensinn von uns tun und von ganzem Herzen nach dem Himmel trachten! (Kol. 3,1ff.). Da uns der Heilige Geist Gott zu Tempeln geweiht hat, müssen wir uns Mühe geben, daß Gottes Ehre durch uns verherrlicht werde, und wir dürfen es nicht dahin kommen lassen, daß wir durch den Unflat der Sünde entheiligt werden! (1. Kor. 3,16; 6,19; 2. Kor. 6,16). Da unsere Seele und unser Leib für die himmlische Unverwesbarkeit und einen unverwelklichen Kranz bestimmt sind, müssen wir alles daransetzen, daß sie rein und untadelig behalten werden auf den Tag des Herrn! (1. Thess. 5,23; Anklang an Phil. 1,10). Das sind wahrhaftig treffliche Fundamente zur rechten Gestaltung unseres Lebens, dergleichen man bei den Philosophen nie und nimmer antreffen wird; denn wenn diese die Tugend preisen wollen, so kommen sie doch nie über die natürliche Würde des Menschen hinaus!

 

 

 

III,6,4

Hier ist nun der Ort, an dem ich mich mit aller Schärfe gegen solche Leute wenden muß, die mit Christus nur dem Titel und dem Zeichen nach zu tun haben und doch Christen genannt werden wollen. Mit was für Frechheit rühmen sie sich denn seines heiligen Namens? Mit Christus haben doch nur die etwas zu schaffen, die aus dem Worte des Evangeliums seine rechte Erkenntnis empfangen haben. Nach den Worten des Apostels aber haben alle die Menschen Christus nicht recht kennengelernt, die nicht gelehrt sind, „den alten Menschen“ abzulegen, „der durch die Lüste im Irrtum sich verderbet“, und Christus „anzuziehen“ (Eph. 4,22-24). Solche Leute verraten also, daß sie die Erkenntnis Christi fälschlich und unter Beleidigung des Herrn für sich in Anspruch nehmen - wie wohlgesetzt und geläufig sie auch unterdessen vom Evangelium schwatzen mögen! Denn dies ist nicht eine Zungenlehre, sondern eine Lebenslehre, es wird nicht allein mit Verstand und Gedächtnis begriffen wie die anderen Wissenschaften, sondern der Mensch nimmt es erst dann recht in sich auf, wenn es seine ganze Seele in Besitz nimmt und in der tiefsten Regung des Herzens seinen Sitz und seine Herberge findet! Jene Leute sollen also davon ablassen, Gott zu verlästern und etwas für sich in Anspruch zu nehmen, was sie doch gar nicht sind - oder aber sie sollen sich Christus, ihrem Meister, als Jünger erweisen, die seiner nicht unwert sind! Wir haben der Lehre, in der unsere Gottesverehrung beschlossen ist, den ersten Platz gegeben; denn von ihr geht unser Heil aus; aber diese Lehre muß, wenn sie uns anders Frucht tragen soll, in unser Herz tief eingesenkt werden und in unsere Lebensführung eindringen, ja, sie muß uns in sich hineinbilden! Schon die Philosophen tun recht daran, wenn sie gegen solche Leute aufbrausen und sie mit Schmach und Schande aus ihrer Herde entfernen, die zwar jene „Kunst“ lehren, die doch „die Meisterin des Lebens“ sein soll, sie aber dann in ein scheinkluges Geschwätz verkehren! Mit wieviel besseren Gründen müssen wir dann jene geschwätzigen Klüglinge verabscheuen, die sich damit begnügen, das Evangelium ganz vorn auf den Lippen zu tragen - dessen Wirkung doch hundertmal stärker als alle

 

frostigen Mahnreden der Philosophen in die tiefsten Regungen des Herzens dringen, in der Seele einwurzeln und den ganzen Menschen innerlich erfassen sollte!

 

 

 

III,6,5

 

Indessen verlange ich nicht, daß die Lebensführung eines Christenmenschen nichts als das vollkommene Evangelium atme - obwohl das zu wünschen ist und wir uns notwendig darum mühen müssen. Ich stelle die Forderung nach der „evangelischen Vollkommenheit“ (Evangelica perfectio) nicht mit solcher Härte, daß ich einen Menschen, der sie noch nicht erreicht hat, deshalb nicht als Christen anerkennen würde. Denn in solchem Falle würden ja alle Menschen von der Kirche ausgeschlossen; ist doch kein einziger zu finden, der von jenem Ziel nicht noch gar weit entfernt wäre; viele aber sind noch recht wenig vorwärtsgekommen, und doch hätten sie es nicht verdient, daß man sie ausschlösse.

 

Was soll nun aber geschehen? Wir sollen uns jenes Ziel vor Augen stellen und nach ihm allein unser Trachten richten. Es soll uns jenes Zielzeichen gesetzt sein, nach dem all unsere Anspannung, all unser Rennen sich ausrichten soll! Es gebührt sich nämlich nicht, zwischen Gott und dem Menschen in der Weise zu teilen, daß man von dem, was er uns in seinem Worte vorschreibt, einen Teil annimmt, einen anderen aber nach eigenem Ermessen beiseiteläßt. Denn er befiehlt uns überall an erster Stelle die Rechtschaffenheit als das vornehmste Stück seiner Verehrung; darunter versteht er die aufrichtige Einfalt des Herzens, der aller falsche Schein und alle Heuchelei fern ist; der Gegensatz dazu ist das geteilte Herz. Er will also sagen: der geistliche Anfang rechten Lebens liegt darin, daß wir uns ohne Heuchelei mit der inneren Regung unseres Herzens Gott hingeben, um der Heiligkeit und Gerechtigkeit zu dienen.

 

Es hat aber kein Mensch in diesem irdischen Kerker des Leibes Kraft genug, um mit rechter Freudigkeit seinen Lauf dahinzueilen, ja, die meisten leiden unter solcher Schwachheit, daß sie nur wankend und hinkend, ja auf dem Boden kriechend, bescheiden vorankommen. So sollen wir denn alle nach dem Maß unserer kleinen Kraft unseren Gang tun und den angefangenen Weg fortsetzen! Niemandes Weg wird so unglücklich sein, daß er nicht alle Tage ein Stücklein hinter sich bringen könnte. Wir wollen aber nicht aufhören, danach zu streben, daß wir auf dem Wege des Herrn beständig etwas weiterkommen, wollen auch bei der Geringfügigkeit des Fortschrittes nicht den Mut sinken lassen. Mag auch das Weiterschreiten unseren Wünschen nicht entsprechen, so ist doch die Mühe nicht verloren, wenn nur der heutige Tag über den gestrigen Sieger bleibt. Wir wollen nur in aufrichtiger Einfalt auf unser Ziel schauen und nach dem Zielzeichen uns ausstrecken, wir wollen nicht schmeichlerisch an uns selber Gefallen haben, auch unserer bösen Art nicht nachgeben, sondern in unablässiger Mühe danach ringen, besser zu werden, als wir waren, bis wir dann endlich zur Güte selber hindurchgedrungen sind: sie suchen wir, ihr jagen wir nach durch die ganze Zeit unseres Lebens - dann aber werden wir sie erreichen, wenn wir die Schwachheit unseres Fleisches von uns getan haben und in die vollkommene Gemeinschaft mit Gott aufgenommen sind!

Siebentes Kapitel

 

 

 

Die Hauptsumme des christlichen Lebens; hier ist von der Selbstverleugnung zu reden

 

 

 

III,7,1

 

Das Gesetz des Herrn bietet uns gewiß eine großartige und trefflichst geordnete Anleitung zur Gestaltung unseres Lebens. Doch hat es unserem himmlischen Meister Wohlgefallen, die Seinen noch auf eine genauere Weise nach der Regel zu bilden, die er im Gesetz vorgeschrieben hatte. Der Hauptgrundsatz dieser Erziehungsweise ist der: die Gläubigen haben das Amt, „ihre Leiber zu begeben zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei - welches sei ihr vernünftiger Gottesdienst!“ (nach Röm. 12,1). Aus diesem Satz entnimmt Paulus Ursache zu der Ermahnung: „Und stellet euch nicht dieser Welt gleich, sondern verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der Wille Gottes!“ (Röm. 12,2; Schluß etwas ungenau). Das ist nun eine große Sache, daß wir dem Herrn geheiligt und geweiht sind - um nun in unserem Denken, Reden, Trachten und Handeln nichts anderes zu tun, als was zu seiner Ehre dient! Denn das, was Gott heilig ist, zu unheiligem Gebrauch zu bestimmen, das bedeuter entsetzliches Unrecht gegen ihn!

 

Sind wir nun aber nicht unsere eigenen Herren, sondern gehören wir dem Herrn - so wird sofort klar, welchen Irrtum wir zu meiden haben und worauf alle unsere Werke in unserem ganzen Leben zu richten sind.

 

Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also darf bei unseren Plänen und Taten weder unsere Vernunft noch unser Wille die Herrschaft führen. Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also dürfen wir uns nicht das Ziel setzen, danach zu suchen, was uns nach dem Fleische nütze! Wir sind nicht unsere eigenen Herren - also sollen wir uns und alles, was wir haben, soweit irgend möglich, vergessen!

 

Auf der anderen Seite: Wir sind Gottes Eigentum - also sollen wir ihm leben und ihm sterben! Wir sind Gottes Eigentum - also muß seine Weisheit und sein Wille bei all unserem Tun die Führung haben! Wir sind Gottes Eigentum - also muß unser Leben in allen seinen Stücken allein zu ihm als dem einzigen rechtmäßigen Ziel hinstreben! (Röm. 14, 8). Wie weit ist der schon fortgeschritten, der erkannt hat, daß er nicht sein eigener Herr ist - und der deshalb seiner eigenen Vernunft Herrschaft und Regiment entzogen hat, um sie Gott allein zu überantworten! Denn die schädlichste Pestilenz, die die Menschen nur zugrunderichten kann, herrscht da, wo der Mensch sich selber gehorcht - und der einzige Hafen des Heils liegt dementsprechend darin, daß wir von uns aus nichts denken, von uns aus nichts wollen, sondern einzig dem Herrn folgen, wie er uns vorangeht!

 

Der erste Schritt soll also darin bestehen, daß der Mensch von sich selber abscheidet, um alle Kraft seines Geistes daran zu setzen, dem Herrn zu Willen zu sein. Unter solcher Dienstschaft verstehe ich nicht nur die, welche im Gehorsam gegen das Wort beruht - sondern jene, bei der sich das Herz des Menschen, leer von allem eigenen, fleischlichen Sinn, ganz zu dem Willen des Geistes Gottes bekehrt. Diese Umwandlung, die Paulus auch „Erneuerung (im Geiste) des Gemüts“ nennt (Eph. 4,23), ist den Philosophen sämtlich unbekannt gewesen, obwohl sie doch der erste Schritt ins Leben hinein ist. Sie setzen allein die Vernunft als Meisterin über den Menschen ein, sind der Meinung, man solle allein auf diese hören, ja, sie übertragen und verstatten ihr allein die Herrschaft über die Sitten. Die christliche Weisheit (Cnristiana pnilosopnia) dagegen läßt die Vernunft weichen, gibt ihr auf, sich dem Heiligen Geiste zu unterwerfen, unter sein Joch zu treten, damit der Mensch fürderhin nicht selber lebt, sondern Christus als den in sich trage, der da lebt und regiert! (Gal. 2,20).

 

III,7,2

 

Hieraus folgt nun auch das Zweite: Wir sollen nicht suchen, was unser ist, sondern was aus des Herrn Willen kommt und zur Mehrung seines Ruhms geschieht. Auch das ist ein großer Fortschritt, wenn wir uns selber schier vergessen, jedenfalls alle Rücksichtnahme auf uns hintanstellen und uns anstrengen, all unseren Eifer getreulich auf Gott und seine Befehle zu richten. Wenn uns nämlich die Schrift die Weisung gibt, die private Rücksicht auf uns selber aufzugeben, so tilgt sie damit nicht allein die Habgier, die Machtsucht und das Streben nach Gunst bei den Menschen aus unseren Herzen - nein, sie entwurzelt auch die Ehrsucht, alles Hängen am menschlichen Ruhm und andere, verborgenere Pestilenz dieser Art! Der Christenmensch muß wahrlich so beschaffen und so zubereitet sein, daß er bedenkt: ich habe es in meinem ganzen Leben mit Gott zu tun. Aus diesem Grunde wird er all sein Tun und Lassen nach Gottes Urteil und Ermessen richten; ebenso wird er auch alles Streben seines Herzens fromm auf ihn lenken. Denn wer es gelernt hat, bei allem, was er auszurichten hat, auf Gott zu schauen, der wird dadurch zugleich von allen unnützen Gedanken abgewendet. Dies ist die Selbstverleugnung, die Christus mit solchem Nachdruck allen seinen Jüngern von ihrer ersten Lehrzeit an aufträgt. Hat diese Selbstverleugnung einmal unser Herz ergriffen, so läßt sie zunächst der Hoffart, der Aufgeblasenheit, der Prahlerei, dann aber auch dem Geiz, der Gier, der Ausschweifung, der weichlichen Wollust und all dem anderen, was aus unserer Selbstliebe entsteht, keinen Raum mehr. Wo sie dagegen nicht das Regiment führt, da verbreiten sich schamlos selbst die gemeinsten Laster - oder aber es wird zwar ein Schein der Tugend sichtbar, er ist aber durch böse Ruhmsucht verdorben. Man zeige mir doch, wenn man kann, einen Menschen, der anderen umsonst Gutes tun wollte - ohne sich nach dem Gebot des Herrn selbst verleugnet zu haben! Denn wer von dieser Gesinnung nicht beherrscht wird, der hat zum wenigsten das Lob im Auge, wenn er den Weg der Tugend geht! Gewiß hat es Philosophen gegeben, die behaupteten, man müsse nach der Tugend um ihrer selbst willen streben - aber die, welche das am schärfsten betont haben, die waren von derartiger Anmaßung aufgeblasen, daß es ganz deutlich wird: sie haben bei ihrem Streben nach der Tugend gar nichts anderes im Auge gehabt, als einen Grund für ihre Hoffart zu gewinnen. Gott aber hat kein Gefallen an solchen Haschern nach öffentlicher Gunst und solchen aufgeblasenen Menschen - nein, er gibt uns kund, daß sie schon in dieser Welt „ihren Lohn dahin haben“ (Matth. 6,2. 5. 16), daß die Huren und Zöllner dem Himmelreich näher sind als sie! (Matth. 21,31). Dabei habe ich aber noch gar nicht deutlich gezeigt, wie viele und wie große Hemmungen den Menschen am Eifer um das Rechte hindern, solange er sich noch nicht selbst verleugnet hat. Es ist wahr, was man einst gesagt hat: in der Menschenseele sei eine Welt von Lastern verborgen. Da läßt sich kein anderes Heilmittel finden als dies, daß du dich selbst verleugnest, die Rücksicht auf dich selber beiseiteschiebst und deinen Sinn einzig danach streben lässest, das zu suchen, was der Herr von dir fordert, und allein darum danach zu suchen, weil es ihm wohlgefällt.

 

 

 

III,7,3

Paulus beschreibt noch an anderer Stelle, freilich kurz, ein recht gestaltetes Leben in seinen einzelnen Teilen. „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und züchtigt uns, daß wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes, Jesu Christi, der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken“ (Tit. 2,11-14). Er stellt uns nämlich hier zunächst zu unserer Ermunterung die Gnade Gottes vor Augen und bahnt uns damit den Weg, Gott wahrhaft zu dienen; dann aber behebt er zwei Hindernisse, die uns am meisten hemmen, nämlich das „ungöttliche Wesen“, zu dem wir von Natur nur

 

allzu geneigt sind, und dann die „weltlichen Lüste“, welche sich (noch) viel weiter erstrecken. Unter „ungöttlichem Wesen“ versteht er dabei nicht allein den Aberglauben, sondern er faßt darunter auch alles das zusammen, was mit der ernstlichen Furcht Gottes im Widerspruch steht. Die „weltlichen Lüste“ aber bedeuten soviel wie die Regungen des Fleisches. Wir sollen also nach dem Geheiß des Apostels hinsichtlich beider Tafeln des Gesetzes unsere eigene Art von uns legen und alles, was uns die Vernunft und der eigene Wille diktiert, verleugnen! Alle Lebensgeschehnisse faßt er dann in drei Stücken zusammen: Züchtigkeit, Gerechtigkeit und Gottseligkeit (Vers 12). „Züchtigkeit“ bedeutet dabei ohne Zweifel Keuschheit und Mäßigkeit, zugleich aber auch den reinen und besonnenen Genuß der zeitlichen Güter und das geduldige Ertragen des Mangels. Die „Gerechtigkeit“ umfaßt alle Pflichten der Billigkeit: es soll also jeder empfangen, was ihm zukommt. Dann folgt die „Gottseligkeit“, die uns von den Befleckungen der Welt absondert und uns in wahrer Heiligkeit mit Gott eint. Wo diese drei miteinander unauflöslich verbunden sind, da bewirken sie eine rechte Vollkommenheit. Indessen ist ja nichts so schwer, als der Vernunft des Fleisches den Abschied zu geben, die Begierden zu dämpfen, ja, zu verleugnen - und uns so Gott und unseren Brüdern zu weihen und mitten in dem Schmutz der Erde nach einem engelreinen Leben zu trachten. Darum will Paulus unser Herz aus allen Fesseln losmachen und ruft uns deshalb zur Hoffnung auf die selige Unsterblichkeit zurück. Er erinnert uns daran, daß wir ja nicht vergebens streiten: denn wie Christus einmal als unser Erlöser erschienen ist, so wird er auch bei seinem letzten Kommen die Frucht des Heils, das er uns erworben hat, an den Tag bringen. So macht er alle Lockungen zunichte, die uns umnebeln, so daß wir nicht gebührlich nach der himmlischen Herrlichkeit streben, ja, er lehrt uns, daß wir in der Welt als Fremdlinge wandern müssen, damit uns das himmlische Erbe nicht verlorengeht oder entfällt.

 

 

 

III,7,4

 

Aus diesen Worten des Apostels ersehen wir weiter, daß unsere Selbstverleugnung zum Teil auf die Menschen, zum Teil auch - und zwar vornehmlich - auf Gott gerichtet ist.

Wenn uns die Schrift nämlich für den Umgang mit den Menschen die Weisung gibt: „Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor“ (Röm. 12,10; Phil. 2,3), so daß wir also aus ehrlichem Herzen alles daransetzen sollen, für das Wohlergehen der anderen zu sorgen - so erteilt sie uns damit einen Befehl, den unser Herz nicht fassen kann, wenn es nicht zuvor seines natürlichen Sinnes entledigt worden ist. Denn wir sind ja alle aus furchtbarer Blindheit in Selbstliebe versunken - und deshalb glaubt jeder einen gerechten Grund zu haben, um sich selbst zu erheben, alle anderen dagegen im Vergleich mit sich selber zu verachten. Hat uns Gott etwas geschenkt, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen, so setzen wir gleich unser Vertrauen darauf und erheben unser Herz, wir blasen uns auf, ja wir bersten schier vor Hochmut! Unsere Laster, von denen wir soviele haben, verstecken wir mit Fleiß vor den anderen und machen uns selber schmeichlerisch vor, sie seien geringfügig und unerheblich, ja, wir hätscheln sie gar noch als Tugenden! Treten uns nun aber die gleichen Gaben, die wir an uns selber bewundern, bei anderen entgegen, vielleicht gar in höherem Maß, so tadeln und schmähen wir sie in unserer Bosheit, damit wir nur ja nicht genötigt sind, sie bei ihnen anzuerkennen. Finden wir bei den anderen aber Laster, so begnügen wir uns nicht damit, sie in strengem, bitterem Tadel anzumerken, nein, wir machen sie in unserer Gehässigkeit noch größer! Daher kommt dann die Überheblichkeit, mit der wir alle über die anderen hinausragen wollen - als ob wir von dem allgemeinen Gesetz eine Ausnahme machten -, mit der wir alle Sterblichen stolz und übermütig verachten oder sie wenigstens als unter uns stehend von oben herab ansehen! So müssen die Armen vor den Reichen, die Nichtadligen vor dem Adel, die Knechte vor den Herren, die Ungelehrten vor den Gebildeten zurücktreten -

 

aber es ist keiner dabei, der nicht in seinem Herzen irgendwie den Wahn nährte, er sei etwas besonderes. So trägt jeder Einzelne durch seine Selbstbespiegelung irgendein Königreich in seinem Herzen. Denn jeder spricht sich anmaßend etwas zu, kraft dessen er an sich selbst Gefallen findet - und von da aus sitzt er dann über den Charakter und die Lebensweise des anderen zu Gericht! Wenn es dann aber zum Streite kommt, dann bricht das Gift offen hervor. Gewiß legen nämlich viele Leute einige Sanftmut an den Tag, solange sie lauter Schmeichelhaftes und Liebliches zu hören bekommen - aber wie viele unter ihnen mögen wohl diese bescheidene Haltung bewahren, wenn man sie quält und reizt? Da gibt es kein anderes Heilmittel, als daß die furchtbar schädliche Pestilenz der Ehrsucht und Selbsthilfe aus dem tiefsten Innern herausgerissen werde - wie das ja auch durch die Unterweisung der Heiligen Schrift wirklich geschieht. Denn die Schrift lehrt uns so, daß wir daran denken: die Gaben, die uns Gott gewährt hat, sind nicht unser Besitz, sondern Gottes Geschenk; wenn einer nun darüber hoffärtig wird, so kommt seine Undankbarkeit ans Licht. So sagt Paulus: „Wer hat dich vorgezogen? ... So du es aber empfangen hast, was rühmst du dich denn, als ob du es nicht empfangen hättest?“ (1. Kor. 4,7). Weiterhin sollen wir uns auch durch fleißige Betrachtung unserer Laster zur Demut anhalten. So wird in uns nichts übrigbleiben, das uns aufgeblasen machen könnte - dagegen wird zur Beugung viel Grund vorliegen! Auf der anderen Seite wird uns befohlen, die Gaben Gottes, die wir an anderen Menschen zu sehen bekommen, derart zu achten und hochzuhalten, daß wir damit zugleich die Menschen ehren, denen sie beigelegt sind. Denn wenn der Herr sie solcher Ehre gewürdigt hat, so wäre es schlimme Bosheit, wenn wir sie ihnen absprechen wollten. Den Lastern der anderen gegenüber sollen wir nach der Lehre der Schrift Nachsicht üben - gewiß nicht, als ob wir sie durch Schmeichelei bestärken sollten; aber wir sollen um der Laster willen nicht gegen die Menschen grob werden, denen wir doch mit Wohlwollen und Ehrerbietung begegnen sollen. So wird es denn geschehen, daß wir allen Menschen, mit denen wir zu tun haben, nicht nur zurückhaltend und bescheiden, sondern zuvorkommend und freundlich gegenübertreten. Zur wahren Sanftmut kann man eben auf keinem anderen Wege gelangen, als wenn man sich selbst erniedrigt und ganz von Ehrerbietung gegen den anderen erfüllt ist.

 

 

 

III,7,5

Wie schwer ist es uns doch, unsere Amtspflicht zu erfüllen und stets des Nächsten Vorteil im Auge zu haben! Wenn du nicht aller Rücksicht auf dich selbst den Abschied gibst und dich gewissermaßen selber ausziehst, so wirst du hier nichts erreichen. Wie willst du die Werke an den Tag legen, die Paulus als Werke der Liebe beschreibt - ohne dich selbst zu verleugnen und dich ganz dem Dienst der anderen zu weihen? Er sagt doch: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie neidet nicht, sie blähet sich nicht ... sie suchet nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern ...“ (1. Kor. 13,4f.; etwas ungenau). Wenn auch nur das Eine gefordert würde, daß wir nicht das Unsere suchen sollten - so müßte doch unserer Natur in nicht eben geringem Maß Gewalt angetan werden; denn sie bestimmt uns derart ausschließlich zur Selbstliebe, daß sie es nicht eben leicht hinnehmen würde, wenn wir uns und unsere Interessen leicht hingehen lassen würden, um über das Wohlergehen anderer zu wachen, ja, freiwillig auf unser Recht verzichteten, um es einem anderen zu überlassen! Eben dahin aber will uns die Schrift an der Hand führen, und deshalb mahnt sie uns daran, daß uns alle Gnadengaben, die wir vom Herrn empfangen haben, mit der Bestimmung anvertraut sind, sie zum gemeinen Nutzen der Kirche anzuwenden! Der rechtmäßige Gebrauch aller dieser Gnadengaben besteht also darin, daß wir sie freimütig und gerne mit den anderen teilen! Es läßt sich keine zuverlässigere Regel denken, auch keine kräftigere Ermahnung, sie einzuhalten, als die, daß wir uns unterweisen lassen: all die Gaben, die wir reichlich empfangen haben, sind Gottes uns anvertrautes Eigentum, das

 

uns mit der Bestimmung auf Treu und Glauben hingegeben ist, daß wir es dem Nächsten zugut austeilen!

 

Die Schrift geht aber noch darüber hinaus und vergleicht jene Gaben mit den Fähigkeiten, die den Gliedern des menschlichen Körpers innewohnen. Kein Glied hat seine Fähigkeit für sich selber, wendet sie auch nicht zu seinem eigenen Nutzen an, sondern jedes überträgt sie auf die mit ihm verbundenen Glieder und hat auch keinerlei Nutzen davon als den, der aus dem Wohlergehen des ganzen Leibes kommt. So muß der Fromme alles, was er vermag, für die Brüder vermögen - indem er für sich allein sein Gemerk auf nichts anderes lenkt als darauf, daß sein Herz auf die gemeinsame Erbauung der Kirche gerichtet sei! Den Weg zu Freundlichkeit und Wohltun werden wir also finden, wenn wir bedenken: für alles, was uns Gott übertragen hat und mit dem wir dem Nächsten zu helfen vermögen, sind wir als Haushalter eingesetzt, und wir sind verpflichtet, über die Verteilung solcher Gaben einst Rechenschaft abzulegen. Die rechte Austeilung wird aber einzig die sein, die sich nach der Regel der Liebe richtet. So werden wir das eifrige Trachten nach dem Wohlergehen des anderen nicht allein mit der Sorge um unseren eigenen Nutzen stets verbinden - nein, wir werden diese Sorge jenem eifrigen Trachten unterordnen.

 

Damit uns nun aber nicht vielleicht verborgen bleibt, daß dies das Gesetz ist, nach dem wir alle Gaben, die wir von Gott empfangen haben, recht verwalten sollen - so hat Gott eben diese Ordnung bereits in die geringsten Geschenke seiner Güte vorzeiten hineingelegt. Er hat nämlich geboten, ihm die Erstlinge der Früchte darzubringen (Ex. 22,28; 23,19). Dadurch sollte dem Volke bezeugt werden, es sei unrecht, wenn es für sich selber aus solchen Gütern Nutzen ziehen wollte, die nicht zuvor dem Herrn geweiht waren! Diese Gaben Gottes sind aber erst dann für uns geheiligt, wenn wir sie mit eigener Hand ihrem Geber selbst wieder dargebracht haben; es ist also alles das ein unreiner Mißbrauch der Gaben, was jene Darbringung nicht erkennen läßt. Es wäre nun aber ein vergebliches Bemühen, wolltest du Gott durch Hergabe deines Besitzes etwa reich machen! Da nun aber dein Wohltun nicht zu ihm zu dringen vermag, so sollst du es nach den Worten des Propheten gegen seine Heiligen üben, die auf Erden sind! (Ps. 16,2f. nach der lateinischen Übersetzung). Deshalb werden die Almosen mit heiligen Opfern verglichen, so daß sie also heute jenen Opfern entsprechen, die einst unter dem Gesetz bestanden (Hebr. 13,16).

 

 

 

III,7,6

Damit wir aber weiter nicht müde werden, wohlzutun (Gal. 6,9) - und das würde sonst sehr bald geschehen! -, muß auch das andere noch hinzutreten, was der Apostel uns sagt: „Die Liebe ist langmütig, ... sie läßt sich nicht erbittern!“ (1. Kor. 13,4f.). Der Herr gibt uns die Vorschrift, allen Menschen ohne Ausnahme Gutes zu tun; und darunter ist ein erheblicher Teil dessen gänzlich unwürdig, wenn man diese Menschen nach ihrem eigenen Verdienst beurteilt. Da kommt uns nun die Schrift aufs beste zu Hilfe, indem sie uns lehrt, daß wir nicht auf das zu achten haben, was die Menschen aus sich selber verdienen, sondern daß wir unser Augenmerk bei allen Menschen auf das Ebenbild Gottes zu richten haben, dem wir alle Ehre und Liebe zu erweisen schuldig sind. Mit besonderem Fleiß haben wir auf dieses Ebenbild Gottes bei den Hausgenossen des Glaubens zu achten, sofern es in ihnen ja durch Christi Geist erneuert und wiederaufgerichtet ist (Gal. 6,10). Was für ein Mensch dir nun auch entgegentreten mag, der deiner Dienstleistung bedarf, so hast du keinen Grund, dich ihm zu entziehen und dich ihm nicht zu widmen. Sage du nur, er sei dir fremd: der Herr hat ihm aber ein Kennzeichen aufgeprägt, das dir wohl bekannt sein soll; in diesem Sinne hat er dir doch gesagt: „Entzieh dich nicht von deinem Fleisch!“ (Jes. 58,7). Sage du nur, er sei ein verachteter, nichtswürdiger Mensch: der Herr aber zeigt dir ihn als einen Menschen, den er der Zier seines Ebenbildes gewürdigt hat! Sage du nur, er habe dir keinen Dienst geleistet, der dich wiederum verpflichte: Gott hat ihn aber gleichsam zu seinem Stellvertreter einge-

 

setzt - und du sollst dich diesem Menschen gegenüber für so viele und so große Wohltaten erkenntlich erweisen, mit denen Gott dich zu seinem Schuldner gemacht hat! Sage du nur, er sei es nicht wert, daß du dir um seinetwillen auch nur die geringste Mühe machtest - aber das Ebenbild Gottes, das dir hier entgegentritt, ist doch wohl wert, daß du ihm dich und alles, was dein ist, zur Verfügung stellst! Selbst wenn der andere nicht nur nichts Gutes um dich verdient, sondern dich gar noch mit Beleidigungen und Schmähungen gereizt hat - so ist selbst das noch kein guter Grund, weshalb du aufhören dürftest, ihn mit Liebe zu empfangen und ihm die Dienste der Liebe zu erzeigen! (Matth. 6,14; 18,35; Luk. 17,3). Du magst wohl sagen: Er hat an mir ganz etwas anderes verdient! Aber was hat denn der Herr verdient? Wenn dir der Herr gebietet, ihm alles zu vergeben, was er wider dich gefehlt hat, so will er doch sicherlich, daß du die Sünde des anderen ihm zurechnest! Es gibt nur einen Weg, um das zu erreichen, was der menschlichen Natur gänzlich zuwider, geschweige denn schwer ist, nämlich daß wir lieben, die uns hassen, daß wir Böses mit Gutem vergelten und Segnung gegen Schmähung setzen! (Matth. 5,44). Und dieser Weg liegt darin, daß wir daran denken: wir sollen nicht die Bosheit der Menschen in Betracht ziehen, sondern in ihnen auf das Ebenbild Gottes achten; das bedeckt und vertilgt ihre Missetaten und reizt uns durch seine Schönheit und Würde, den Menschen zu lieben und ihm mit Freundlichkeit zu begegnen.

 

 

 

III,7,7

Dieses Ersterben (des alten Menschen) wird also in uns erst dann statthaben, wenn wir die Liebespflicht gegen unseren Nächsten erfüllen. Diese Erfüllung findet sich noch nicht da, wo ein Mensch bloß alle Werke der Liebe ableistet - selbst wenn er keines unterläßt! Sie ist erst da vorhanden, wo einer das aus aufrichtiger Liebesgesinnung heraus tut! Denn es kann vorkommen, daß einer, soweit es die äußeren Pflichten betrifft, alles ohne Ausnahme leistet, was er leisten soll, daß er aber doch von der rechten Art und Weise solcher Leistung noch weit entfernt ist. Man kann Leute sehen, die für sehr freigebig gelten wollen und die doch nichts geben, ohne durch hoffärtige Blicke oder gar überhebliche Worte dem Beschenkten Vorhaltungen zu machen. In unseren unglücklichen Zeiten ist es dabei zu solchem Jammer gekommen, daß wenigstens die meisten Menschen kaum Almosen geben können, ohne dabei (den Armen) zu schmähen. Das ist eine Niedertracht, die nicht einmal bei den Heiden geduldet werden sollte, von den Christen nämlich wird doch noch ganz etwas anderes gefordert, als daß sie einen freundlichen Blick an den Tag legen und ihre Dienstleistung durch gütige Worte angenehm machen. Sie sollen zunächst die Person dessen, den sie ihrer Hilfe bedürftig sehen, annehmen und sich sein Unglück ebenso zu Herzen gehen lassen, als ob sie es selber erführen und durchmachten; so sollen sie dazu gebracht werden, ihm aus der Empfindung der Barmherzigkeit und der Menschlichkeit heraus ebenso zu Hilfe zu kommen, wie sie es sich selber zugut tun würden. Wer in dieser Gesinnung daran geht, seinen Brüdern zu helfen, der wird seine Dienstleistung nicht mit Anmaßung oder mit Vorhaltungen beschmutzen, er wird zugleich auch den Bruder, dem er wohltut, nicht als Hilfsbedürftigen verachten oder ihn als einen, der ihm etwas schuldig ist, unter ein Joch zwingen - ebensowenig, wie wir doch ein krankes Glied grob anfahren, wenn der übrige Leib sich darum müht, es wieder zum Leben zu bringen, oder wie wir etwa meinen, dieses kranke Glied sei den übrigen nun in besonderer Weise verpflichtet, weil es ja mehr Hilfe auf sich gezogen als geleistet habe! Denn wir glauben doch nicht, daß die Dienstgemeinschaft unter den Gliedern für ein unverdientes Geschenk zu halten ist; sie ist doch vielmehr die Erfüllung einer Verpflichtung, die aus dem Gesetz der Natur stammt und deren Verleugnung ungeheuerlich wäre. Daraus ergibt sich nun aber auch, daß ein Mensch, der eine bestimmte Dienstleistung vollbracht hat, nun nicht denken soll, er sei frei - es kommt ja allgemein immer wieder vor, daß ein reicher Mann etwas von seinem Besitz hingibt und dann andere Lasten auf andere abschiebt, als ob sie ihn nichts an-

 

gingen. Nein, es soll vielmehr jeder bei sich bedenken, daß er mit allem, was er ist und hat, seines Nächsten Schuldner ist - und daß sein Wohltun gegenüber dem Nächsten erst dann sein Ende findet, wenn sein Vermögen dazu aufhört; denn soweit sein Vermögen reicht, muß es auch nach der Regel der Liebe bestimmt sein!

 

 

 

III,7,8

 

Vornehmlich aber richtet sich unsere Selbstverleugnung, wie ich bereits ausführte, auf Gott. Darüber will ich jetzt wiederum, und zwar ausführlicher sprechen. Vieles ist hierüber allerdings bereits gesagt, und es wäre überflüssig, das zu wiederholen. Es muß uns genügen, mit unserer Betrachtung soweit zu gehen, wie es dazu dient, uns zu Gleichmut und Geduld zu führen.

 

Zunächst also: wenn wir Mittel und Wege suchen, unser gegenwärtiges Leben angenehm und ruhig zu gestalten, so ruft uns die Schrift dazu auf, uns selber und alles, was unser ist, dem Ermessen des Herrn hinzugeben und ihm alle Regungen unseres Herzens auszuliefern, damit er sie zähme und unter sein Joch nehme. Wir sind ja voll wilder Lust und unendlicher Gier, Reichtum und Ehre zu erstreben, nach Macht ehrgeizig zu verlangen, Reichtümer aufzuhäufen und all die anderen Narreteien zu sammeln, die uns zu Prunk und Prahlerei zu dienen scheinen! Auf der anderen Seite haben wir eine seltsame Furcht vor Armut, Verachtung und Niedrigkeit, einen merkwürdigen Haß gegen das alles - und dadurch werden wir angestachelt, es uns mit allen Mitteln vom Halse zu schaffen. Daraus läßt sich erkennen, wie unruhig ein Mensch in seinem Wesen ist, der sein Leben nach eigenem Gutdünken gestaltet, wieviel Künste er versucht, mit wieviel Eifer er sich müde macht! Und das alles, um zu erlangen, wonach seine ehrgeizige und habgierige Gesinnung ausgeht, und um andererseits der Armut und Niedrigkeit zu entkommen!

 

Damit nun also der Fromme sich nicht in dergleichen Stricke verfängt, muß er folgenden Weg einschlagen. Zunächst soll er von keiner anderen Seite ein Mittel zum Wohlergehen zu gewinnen trachten oder hoffen oder bedenken, als allein aus dem Segen des Herrn heraus. Auf diesen Segen also soll er sich ruhig und vertrauensvoll verlassen und stützen. Denn mag auch das Fleisch meinen, es habe an sich selber voll und ganz genug, indem es mit eigenem Mühen nach Ehre und Reichtum strebt und sich mit eigenem Eifer darum anstrengt oder auch durch die Gunst der Menschen dazu verholfen bekommt - so ist doch sicherlich das alles nichts, und wir können auch mit Verstand und Mühe nichts erreichen, als sofern uns der Herr zu beidem das Gedeihen schenkt! Auf der anderen Seite aber findet sein Segen allein auch durch alle Hindernisse hindurch den Weg und schenkt uns, daß uns alles fröhlich und glücklich ausgehe. Aber weiter: wir könnten uns wohl auch allenfalls ohne Gottes Segen allerhand Ruhm und Reichtum verschaffen - wir sehen ja, wie die Gottlosen alle Tage große Ehren und Reichtümer aufhäufen -; aber ein Mensch, auf dem Gottes Fluch lastet, kann ja doch nicht das geringste Stücklein Glück kosten, und deshalb werden wir ohne Gottes Segen nur Dinge erlangen, die uns zum Bösen ausschlagen. Nun sollen wir aber doch unter keinen Umständen nach etwas trachten, das den Menschen nur mehr ins Elend stürzen kann!

 

 

 

III,7,9

 

Wir glauben also, daß es allein auf Gottes Segen beruht, wenn unsere Sachen gut fortschreiten und es uns ergeht, wie wir es wünschen; geht uns aber sein Segen ab, so haben wir Elend und Not aller Art zu gewärtigen. Ist es aber so, dann haben wir uns weder auf unsere eigene Klugheit noch auf unseren eigenen Fleiß zu verlassen, auch nicht auf Menschengunst zu stützen oder auf den leeren Wahn des Glücks zu vertrauen und mit alledem gierig nach Reichtum und Ehre zu streben, nein, wir sollen stets auf den Herrn schauen, um durch seine Leitung zu dem Los geführt zu werden, das er uns vorgesehen hat, wie es auch aussehen mag.

Dann wird es erstens geschehen, daß wir nicht mit Frevel, List und falschen Künsten, mit Raubsucht oder mit Unrecht gegen unseren Nächsten darauf los rennen

 

Reichtümer zu erraffen oder Ansehen an uns zu reißen; sondern wir werden einzig nach solchen Gütern trachten, die uns nicht von der Unschuld wegführen! Wer sollte denn unter Betrug und Raub und sonstigen bösen Praktiken hoffen wollen, Gottes Segen werde ihm Hilfe leihen? Denn der Segen Gottes folgt nur dem, der rein denkt und recht handelt, und deshalb ruft er alle, die ihn erflehen, von unaufrichtigem Denken und bösem Tun ab! Weiter wird uns auch ein Zügel angelegt, damit wir nicht in maßloser Gier entbrennen, reich zu werden, und uns nicht ehrsüchtig an äußeres Ansehen hängen. Denn woher soll ein Mensch die Frechheit nehmen, darauf zu vertrauen, Gott werde ihm helfen, um Dinge zu erlangen, die er im Widerspruch mit seinem Worte begehrt? Denn das sei ferne, daß Gott mit der Hilfe seines Segens begleite, was er doch mit eigenem Munde verflucht! Und endlich: wenn es uns nicht nach Wunsch und Erwartung gelingt, so werden wir doch vor der Ungeduld zurückgehalten, auch vor der Verwünschung unserer Lage - sei sie nun, wie sie wolle. Denn wir wissen, daß dies Murren wider Gott wäre, nach dessen Ermessen Reichtümer und Armut, Verachtung und Ehren ausgeteilt werden. Ich fasse zusammen: wer sich in der beschriebenen Weise auf Gottes Segen stützt, der wird nicht mit üblen Künsten nach solchen Dingen haschen, die die Menschen gewöhnlich wild begehren - denn er wird bedenken, daß ihm solcherlei Künste doch nichts nützen werden. Er wird aber auch, wenn ihm etwas recht gelingt, diesen Erfolg nicht sich selber zuschreiben, auch nicht seinem Fleiß, seiner Geschäftigkeit oder seinem Glück; nein, er wird in Dankbarkeit anerkennen, daß Gott der Geber ist. Wenn andere Leute in ihren Sachen blühenden Erfolg haben, er selbst aber nur wenig vorwärtskommt, ja, gar zurückgeworfen wird, so wird er doch seine Armut mit größerer Gelassenheit und größerer Sanftmut des Herzens tragen, als irgendein Weltmensch einen mittelmäßigen Erfolg, der nur seinen Wünschen nicht entspricht. Er hat nämlich einen Trost, bei dem er sich zuversichtlicher zufriedengeben kann, als bei der größten Fülle des Reichtums und der Macht: er bedenkt, daß der Herr sein Ergehen so ordnet, wie es seinem Heil zuträglich ist. So war David gesinnt, wie wir sehen: er folgte Gott nach und überließ sich seiner Führung, und er bezeugte dabei, daß er einem „entwöhnten Kinde“ gleich sei und nicht in „Dingen wandelte“, die hoch oder für ihn zu wunderbar waren (Ps. 131,1f.).

 

 

 

III,7,10

Jedoch soll ein frommer Sinn nicht nur in solchem Fall Ruhe und Geduld bewahren; nein, solche Ruhe und Geduld muß auch in allen anderen Wechselfällen herrschen, denen dies gegenwärtige Leben unterworfen ist. Es übt also nur der die rechte Selbstverleugnung, der sich dem Herrn ganz hingegeben hat, so daß er sein Leben in allen einzelnen Stücken der Führung durch seinen Ratschluß unterstellt. Wenn einer diese Gesinnung in seinem Herzen trägt, so wird er, was auch kommen mag, sich weder für elend halten, noch auch im Haß gegen Gott über sein Los Klage erheben. Wie notwendig aber diese Gesinnung ist, das wird uns deutlich werden, wenn wir bedenken, wieviel Unfällen wir doch unterworfen sind. Krankheiten aller Art plagen uns immer wieder; bald wütet die Pestilenz, bald bringen Kriegsnöte grausame Qualen über uns, bald raffen Frost oder Hagel die Hoffnung des Jahres dahin und bringen uns Mißwachs, der uns dem Mangel aussetzt; oder der Tod raubt uns Weib oder Eltern oder Kinder oder Verwandte; oder unser Haus fällt einer Feuersbrunst zum Opfer. Das sind Ereignisse, unter deren Wirkung wohl Menschen ihr Leben verfluchen, den Tag ihrer Geburt vermaledeien, Himmel und Tageslicht verwünschen, Gott dreinreden und ihn - da sie nicht um Worte verlegen sind, wenn es zu lästern gilt! - der Ungerechtigkeit und wilden Grausamkeit beschuldigen. Der Gläubige dagegen soll auch in solchen Geschehnissen Gottes Milde und väterliche Nachsicht anschauen. Sind ihm also (z.B.) die nächsten Verwandten weggenommen und sieht er sein Haus vereinsamt, so wird er doch nicht aufhören, den Herrn zu preisen, nein, er wird vielmehr bei sich bedenken: Es wird trotz allem

 

die Gnade des Herrn, die in meinem Hause wohnt, dies Haus nicht vereinsamt bleiben lassen! Hat der Reif die Saaten erstarren lassen, hat der Frost sie vernichtet, hat der Hagel sie zu Boden geschlagen, und sieht der Gläubige über dem allen den Hunger drohen - so wird er doch nicht den Mut verlieren, er wird sich auch nicht mit Haß gegen Gott wenden, sondern er wird zuversichtlich dabei bleiben: „Wir aber sind dennoch unter dem Schutz des Herrn und Schafe, die er auf seiner Weide erzogen hat“ (Ps. 79,13; nicht Luthertext); er wird uns also auch in der größten Mißernte Nahrung verschaffen! Oder wird er mit Krankheit geplagt, so wird ihn selbst die größte Bitterkeit des Schmerzes nicht zerbrechen, so daß er etwa in Ungeduld verfiele und so mit Gott haderte, nein, er wird in der Geißel Gottes doch Gerechtigkeit und Milde erkennen und sich so zur Geduld aufrufen! Kurz, was ihm auch zustoßen mag - er weiß doch, daß es durch die Hand des Herrn so verordnet ist, und er wird es deshalb sanftmütig und dankbaren Herzens auf sich nehmen, um nur nicht halsstarrig der Leitung dessen zu widerstreben, in dessen Gewalt er einmal sich und alles, was sein ist, begeben hat.

 

Vor allem muß sich ein Christenmensch in seinem Herzen von jenem törichten und jämmerlichen Trost der Heiden fernhalten: diese wollten ihr Herz gegen das Unglück wappnen und haben es deshalb dem „Schicksal“ zugeschrieben; sie erklärten dann aber, gegen das „Schicksal“ sich zu ereifern, sei töricht, da es blind und unberechenbar sei und mit verbundenen Augen Schuldige und Unschuldige gleichermaßen verwunde. Die Frömmigkeit hat genau die umgekehrte Regel: Gottes Hand allein regiert und waltet Glück und Unglück, und zwar stürmt sie nicht unbedacht daher, sondern teilt uns in herrlich geordneter Gerechtigkeit Gutes wie Böses zu!

Achtes Kapitel

 

 

 

Vom Tragen des Kreuzes als einem Stück der Selbstverleugnung

 

 

 

III,8,1

 

Ja, ein frommer Sinn muß noch höher dringen, nämlich dahin, wohin Christus seine Jünger ruft: daß jeder sein Kreuz auf sich nehme (Matth. 16,24). Denn wen der Herr zum Kind angenommen und der Gemeinschaft mit den Seinen gewürdigt hat, der muß sich auf ein hartes, mühseliges, unruhiges Leben gefaßt machen, das von gar vielen und vielerlei Übeln erfüllt ist. So ist es der Wille des himmlischen Vaters, die Seinigen auf diese Weise zu üben, damit er gewißlich erprobt, wie es mit ihnen steht. Bei Christus, seinem eingeborenen Sohne, hat er den Anfang gemacht, und gegenüber allen seinen Kindern folgt er der gleichen Ordnung. Denn Christus war zwar Gottes Sohn, den er mehr als alle anderen liebte (Matth. 3,17; 17,5) und auf dem das Wohlgefallen des Vaters ruhte; und doch sehen wir, wie er so gar nicht nachsichtig oder weichlich behandelt worden ist; man kann deshalb wirklich sagen, daß er nicht nur während seines ganzen Erdenwandels mit beständigem Kreuz geplagt worden ist, sondern daß sein ganzes Leben nichts war als das Bild solchen beständigen Kreuzes. Der Apostel zeigt uns die Ursache dafür: er mußte „an dem, was er litt“, Gehorsam lernen! (Hebr. 5, 8).

 

Weshalb sollen wir nun uns von diesem Geschick ausnehmen, das doch Christus, unser Haupt, auf sich nehmen mußte - besonders, wo er das doch um unsertwillen getan hat, um uns an sich selber ein Beispiel der Geduld vor Augen zu stellen? Deshalb lehrt auch der Apostel, daß allen Kindern Gottes das Ziel gesetzt ist, Christus gleichgestaltet zu werden (Röm. 8,29). Daraus ergibt sich für uns ein herrlicher Trost: ergeht es uns hart und rauh und meinen wir, darin Unglück und Böses zu erleben, so haben wir (in Wirklichkeit) Anteil an Christi Leiden; denn wie er aus einem Labyrinth aller Übel in die himmlische Herrlichkeit eingegangen ist, so sollen auch wir „durch viel Trübsale in das Reich Gottes gehen“ (Apg. 14,22). So gibt uns Paulus an anderer Stelle selbst die Lehre: wenn wir „die Gemeinschaft seiner Leiden“ lernen, dann erfahren wir zugleich auch die „Kraft seiner Auferstehung“, und wenn wir „seinem Tode ähnlich werden“, so werden wir dadurch zur Teilnahme an der herrlichen Auferstehung bereitet! (Phil. 3,10f.). Wie sehr kann es zur Linderung aller Bitterkeit des Kreuzes dienen, daß wir, je mehr uns Unglück anficht, auch eine desto gewissere Bekräftigung unserer Gemeinschaft mit Christus erlangen! Durch die Gemeinschaft mit ihm werden uns die Leiden selber gesegnet, ja, sie bieten uns auch viel Beistand zur Förderung unseres Heils!

 

 

 

III,8,2

 

Zudem hatte unser Herr nur insofern nötig, das Kreuz auf sich zu nehmen, als es galt, dem Vater seinen Gehorsam zu bezeugen und zu beweisen. Für uns dagegen ist es aus vielen Gründen vonnöten, unser Leben unter beständigem Kreuz zuzubringen. Zunächst sind wir ja von Natur nur allzu geneigt, unserem Fleische alles zuzuschreiben, und deshalb kommen wir, wenn uns unsere Schwachheit nicht handgreiflich gewissermaßen vor die Augen gestellt wird, leicht dazu, unsere Kraft über das rechte Maß zu schätzen und nicht zu zweifeln, sie werde gegenüber allen Schwierigkeiten ungebrochen und unbesiegt bleiben - komme, was da wolle. So geraten wir denn in ein törichtes und eitles Vertrauen auf unser Fleisch; darauf verlassen wir uns und kommen zu einer halsstarrigen Hoffart gegen Gott selber, als ob wir an unseren eigenen Fähigkeiten ohne seine Gnade genug hätten.

Diese Vermessenheit kann Gott nicht besser dämpfen, als wenn er uns durch die Erfahrung beweist, an wieviel Schwachheit, ja, auch an wieviel Gebrechlichkeit wir leiden. Deshalb plagt er uns mit Schande oder Armut oder mit dem Verlust unserer Lieben oder mit Krankheit oder mit anderen Nöten - und das auszuhalten, sind wir viel zu schwach; was an uns ist, so müssen wir bald unterliegen! So gedemütigt,

 

lernen wir, seine Kraft anzurufen, die uns allein unter der Last unserer Trübsal standhalten läßt. Auch die heiligsten Menschen, die gewiß erkannt haben, daß sie durch Gottes Gnade und nicht durch eigene Kraft Bestand haben, auch sie sind trotzdem ihrer Tapferkeit und Standhaftigkeit sicherer, als es recht ist - wenn sie Gott nicht durch die Prüfung des Kreuzes zu tieferer Selbsterkenntnis führt. Solche falsche Sorglosigkeit hat sich auch bei David eingeschlichen: „Ich sprach, da mir\'s wohlging: Ich werde nimmermehr darniederliegen. Denn, Herr, durch dein Wohlgefallen hattest du meinen Berg stark gemacht; aber da du dein Antlitz verbargest, erschrak ich“ (Ps. 30,7f.). Er bekennt hier, wie unter glücklichen Verhältnissen seine Sinne in Trägheit abgestumpft waren, so daß er Gottes Gnade, von der er abhängen sollte, hintanstellte und sich stattdessen auf sich selber stützte, ja sich dauerndes Standhalten versprach. Wenn das aber solch einem Propheten zugestoßen ist - wer unter uns müßte sich dann nicht fürchten, um sich in acht zu nehmen? Haben sich Menschen unter ruhigen Verhältnissen ihrer Beständigkeit und Geduld geschmeichelt und sie für gar groß gehalten, so lernen sie, unter den Widerwärtigkeiten gedemütigt, erkennen, daß es lauter Heuchelei war. Durch dergleichen Beweise, meine ich, werden die Gläubigen an ihre Gebrechen erinnert und schreiten so zur Demut fort, so daß sie alles verkehrte Vertrauen auf das Fleisch von sich ablegen und zu Gottes Gnade ihre Zuflucht nehmen. Haben sie dann das getan, so erfahren sie auch die Gegenwart der göttlichen Kraft, in der Hilfe genug und übergenug zu finden ist.

 

 

 

III,8,3

 

Eben hiervon redet nun Paulus, wenn er uns lehrt, daß „Trübsal Geduld bringt, Geduld aber bringt Erfahrung ...“ (Röm. 5,3f.). Gott hat den Gläubigen verheißen, ihnen in der Trübsal beizustehen - und sie „erfahren“ die Wahrheit dieser Verheißung, wenn sie, von seiner Hand gestützt, „geduldig“ standhalten, was sie aus eigener Kraft keineswegs vermöchten! Die „Geduld“ bringt also den Heiligen die „Erfahrung“, daß Gott die Hilfe, die er ihnen verheißen hat, auch wirklich erzeigt, wenn es nötig ist. Das dient dann wieder zur Bekräftigung ihrer Hoffnung; denn es wäre ja eine gar zu große Undankbarkeit, wenn sie die Wahrheit Gottes, die sie als beständig und kräftig erfahren haben, nicht auch für die Zukunft erwarteten. Wir sehen bereits, wieviel Gutes hier in einem einzigen Zusammenhang aus dem Kreuz uns zukommt. Das Kreuz stürzt nämlich unseren Wahn um, in dem wir uns der eigenen Kraft fälschlich vermessen haben, es macht unsere Heuchelei, die uns soviel Genuß bereitet, offenbar, es schlägt unser gefährliches Vertrauen auf unser Fleisch zu Boden; hat es uns aber solchermaßen gedemütigt, so lehrt es uns, uns allein auf Gott zu verlassen, und so kommt es, daß wir nicht unterdrückt werden und nicht unterliegen. Dem Siege aber folgt die Hoffnung; denn der Herr hat doch dadurch, daß er seine Verheißung erfüllte, auch für die Zukunft seine Wahrheit bestätigt. Wahrlich, selbst wenn diese Ursachen allein stünden, so wäre doch deutlich, wie sehr uns die Übung unter dem Kreuze nottut. Denn es ist nicht von geringer Bedeutung, daß uns unsere blinde Selbstliebe weggenommen wird und wir uns so unserer Schwachheit recht bewußt werden, - daß wir die eigene Schwachheit zu Herzen nehmen, um uns selber mißtrauen zu lernen, - daß wir uns selber mißtrauen, um unser Vertrauen auf Gott zu setzen, - daß wir das Vertrauen unseres Herzens auf Gott ruhen lassen, um auf seine Hilfe zu bauen und so unbesiegt bis ans Ende zu beharren, - daß wir durch seine Gnade festbleiben, damit wir erkennen, daß er wahrhaftig ist in seinen Verheißungen, - daß wir die Unverbrüchlichkeit seiner Verheißungen erfahren, um dadurch eine Stärkung unseres Glaubens zu empfangen!

 

 

 

III,8,4

Wenn der Herr den Seinen Trübsal schickt, so hat er dabei auch noch einen anderen Zweck im Auge: er will ihre Geduld erproben und sie zum Gehorsam erziehen. Freilich nicht, als ob sie ihm einen anderen Gehorsam leisten könnten als den, den er ihnen selber gegeben hat; aber er hat sein Wohlgefallen daran, auf solche

 

Weise die Gnadengaben, die er seinen Heiligen geschenkt hat, mit vortrefflichen Beweisen bezeugen und verherrlichen zu lassen, damit sie nicht untätig im Inneren verborgen bleiben. Wenn er also die Kraft und Beständigkeit zum Dulden, mit der er seine Knechte ausgerüstet hat, offen zutage treten läßt, dann heißt es: er erprobt ihre Geduld. Daher kommen denn solche Aussagen wie die, Gott habe den Abraham „versucht“ (Gen. 22,1) und er habe nun erfahren, daß er „Gott fürchte“, weil er sich ja nicht geweigert habe, seinen eigenen, einzigen Sohn zu opfern (Gen. 22,12). Deshalb lehrt auch Petrus, unser Glaube werde durch die Trübsale ebenso erprobt, wie das Gold im Ofen mit Feuer bewährt werde (1. Petr. 1,7). Wer wollte es aber nicht für förderlich erklären, daß die herrliche Gabe der Geduld, die der Gläubige von seinem Gott empfangen hat, auch in Gebrauch gesetzt und auf diese Weise sicher und offenbar werde? Auf andere Weise würden die Menschen sie ja nie und nimmer nach Gebühr schätzen! Gott tut also durchaus recht daran, wenn er seinen Gläubigen Ursache gibt, die Kräfte zu erwecken, die er ihnen hat zuteil werden lassen - damit sie nicht im Dunklen verborgen bleiben oder gar unnütz daliegen und verderben! Ist es aber so, dann besteht für die Trübsale der Heiligen, ohne die ja ihre Geduld nichts wäre, eine sehr gewichtige Ursache.

 

Das Kreuz erzieht, so sage ich, die Gläubigen auch zum Gehorsam, und zwar deshalb, weil sie auf diese Weise gelehrt werden, nicht nach ihren eigenen Wünschen, sondern nach Gottes Willen zu leben. Wahrlich, wenn ihnen alles nach Wunsch gelänge, so wüßten sie ja gar nicht, was es heißt: Gott nachfolgen! Wie uns Seneca berichtet, gab es ein altes Sprichwort, mit dem man einen Menschen zum Ertragen des Unglücks ermunterte: Folge Gott nach! (Vom glückseligen Leben 15,5). Damit gab man nämlich zu verstehen, daß der Mensch sich erst dann recht unter Gottes Joch beuge, wenn er seiner Rute Hand und Rücken darbiete! Es ist doch die billigste Forderung, daß wir uns dem himmlischen Vater in allen Dingen gehorsam zu erweisen haben, - dann aber dürfen wir uns auch dem nicht entziehen, daß er uns auf allerlei Weise daran gewöhnt, ihm solchen Gehorsam zu leisten.

 

 

 

III,8,5

Wie sehr uns solcher Gehorsam nottut, das können wir indessen erst ganz durchschauen, wenn wir zugleich in Betracht ziehen, wie sehr unser Fleisch geneigt ist, Gottes Joch mutwillig abzuwerfen, sobald es etwas weichlicher und nachsichtiger behandelt wird. Es geht ihm genau wie widerspenstigen Pferden: hat man sie einige Tage lang müßig stehen lassen und dabei gut genährt, dann lassen sie sich hernach vor Wildheit nicht mehr bändigen, erkennen auch ihren Reiter nicht mehr an, dessen Befehl sie zuvor doch gehorcht haben! Von uns gilt immerfort und allgemein, was Gott an dem Volke Israel beklagt: wenn wir dick und fett geworden sind, dann schlagen wir gegen den aus, der uns doch aufgezogen und ernährt hat! (Deut. 32,15). Gottes Wohltätigkeit sollte uns dazu verlocken, seine Güte zu betrachten und ihr mit heißer Liebe zu danken. Aber unsere Bosheit ist so groß, daß wir gerade im Gegenteil durch seine Nachsicht stets verdorben werden, und deshalb ist es für uns hoch vonnöten, daß wir gewissermaßen in Zucht gehalten werden, um uns nicht in solchem Übermut gehen zu lassen. Damit wir nun nicht durch maßlosen Überfluß an Gütern ungebärdig werden oder unter hohen Ehren in Hoffart geraten oder uns von anderen Gütern der Seele, des Leibes oder des Besitzes aufblasen und zum Übermut verführen lassen, - so tritt dem der Herr selber, je wie er es für förderlich hält, entgegen und bändigt und zügelt die Wildheit unseres Fleisches durch das Heilmittel des Kreuzes! Er tut das auf verschiedenerlei Weise, nämlich so sehr es für jeden einzelnen heilsam ist. Denn wir leiden ja nicht alle gleich schwer an den gleichen Gebrechen, bedürfen auch nicht alle gleich harter Heilbehandlung. Deshalb kann man auch wahrnehmen, wie der eine mit dieser, der andere mit jener Art von Kreuz geplagt wird. Wenn aber der himmlische Arzt den einen zarter behandelt, den anderen mit schärferer Arznei zur Genesung bringt - denn er ist ja um die Gesundheit aller

 

besorgt! -, so läßt er doch keinen frei und unberührt davonkommen; denn er weiß ja, daß alle ohne Ausnahme krank sind!

 

 

 

III,8,6

 

Nun hält es der Vater in seiner großen Freundlichkeit aber nicht bloß für nötig, unserer Schwachheit zuvorzukommen, sondern er muß auch öfters unsere vergangenen Missetaten strafen, um uns im gebührenden Gehorsam gegen sich zu erhalten. Wenn wir also Trübsal erleiden, so muß uns jedesmal alsbald die Erinnerung an unser voriges Leben in den Sinn kommen: dann werden wir ohne Zweifel finden, daß wir etwas begangen haben, was solche Züchtigung verdient hat. Allerdings sollten wir die Ermahnung zur Geduld nicht in erster Linie von der Erkenntnis der Sünde herleiten. Denn die Schrift gibt uns eine weit bessere Betrachtungsweise an die Hand: sie sagt, wir würden im Unglück „von dem Herrn gezüchtigt, auf daß wir nicht samt der Welt verdammt werden!“ (1. Kor. 11,32). So schickt es sich, daß wir gerade in der Bitterkeit der Trübsale die Güte und Freundlichkeit unseres Vaters gegen uns erkennen; denn er läßt auch dann nicht davon ab, unser Heil zu fördern. Er schickt uns die Trübsal nicht, um uns zu verderben oder zugrundezurichten, sondern vielmehr, um uns von der Verdammnis der Welt freizumachen. Diese Erwägung wird uns zu dem führen, was die Schrift an anderer Stelle lehrt: „Mein Kind, verwirf die Zucht des Herrn nicht und sei nicht ungeduldig über seine Strafe. Denn welchen der Herr liebt, den straft er, und hat doch Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn“ (Spr. 3,11f.). Wenn wir die Rute unseres Vaters verspüren - ist es dann nicht unsere Aufgabe, uns als gehorsame, gelehrige Kinder zu erzeigen, statt es in Halsstarrigkeit so zu machen wie verlorene Leute, die sich in ihren Übeltaten verhärtet haben? Gott läßt uns verlorengehen, wenn er uns nicht nach unserem Abfall von ihm durch Züchtigung wieder zu sich ruft - und der Apostel muß recht behalten, wenn er sagt: „Seid ihr aber ohne Züchtigung, ... so seid ihr Bastarde und nicht Kinder!“ (Hebr. 12, 8). Wir sind also gänzlich verkehrt, wenn wir ihn nicht ertragen können, wo er uns sein Wohlwollen gegen uns und seine Sorge um unser Heil deutlich macht. Nach der Lehre der Schrift besteht zwischen den Ungläubigen und den Gläubigen der Unterschied: die Ungläubigen werden, gewissermaßen als Sklaven ihrer eingewurzelten und eingebrannten Bosheit, durch Schläge nur schlimmer und halsstarriger; den Gläubigen dagegen ist die aufrichtige Gesinnung von Kindern zuteil geworden, und deshalb schreiten sie zur Buße fort. Nun mag jeder wählen, zu welcher Gruppe er lieber gehören will. Ich habe aber hierüber schon an anderer Stelle gesprochen, und deshalb will ich mich mit dieser kurzen Erwähnung begnügen und jetzt schließen.

 

 

 

III,8,7

Ein herrlicher Trost ist es weiter, wenn wir um der Gerechtigkeit willen Verfolgung erleiden. Denn dann muß uns der Gedanke kommen, welch hoher Ehre uns Gott würdigt, daß er uns auf diese Weise mit dem besonderen Zeichen seines Kriegsdienstes auszeichnet. Wenn ich vom Erleiden der Verfolgung um der Gerechtigkeit willen spreche, so denke ich nicht nur an solche Menschen, die um der Verteidigung des Evangeliums willen, sondern auch an solche, die über irgendwelchem Eintreten für die Gerechtigkeit in Not geraten. Wenn wir nun, sei es dadurch, daß wir Gottes Wahrheit gegen die Lügen des Satans verteidigen, oder dadurch, daß wir die Guten und Unschuldigen gegen die Ungerechtigkeiten der Bösen in Schutz nehmen, der Welt Ungunst und Haß auf uns ziehen müssen, und wenn von daher unserem Leben oder unserem Besitz oder unserer Ehre Schaden droht, so soll es uns nicht hart oder beschwerlich sein, uns auch in solchen Dingen Gott zu Dienste zu stellen, wir sollen uns auch nicht jämmerlich vorkommen in einer Lage, in der er uns mit seinem eigenen Munde selig gepriesen hat! (Matth. 5,10). Gewiß ist die Armut, wenn man sie an und für sich betrachtet, ein Elend, auch Verbannung, Verachtung, Gefangenschaft und Schande; und der Tod selber ist schließlich der Gipfel aller Not.

 

Ist aber unseres Gottes Gnade für uns, so kann uns das alles nur zum Glück ausschlagen. Deshalb wollen wir uns an Christi Zeugnis genügen lassen, statt an dem falschen Wahn des Fleisches. Dann wird es geschehen, daß wir jedesmal nach dem Beispiel der Apostel fröhlich sind, wenn er uns würdig befindet, „um seines Namens willen Schmach zu leiden“ (Apg. 5,41). Wieso denn? Wenn wir unschuldig und mit gutem Gewissen durch eine Freveltat der Gottlosen unser Vermögen verlieren, so werden wir zwar vor den Menschen in Mangel versetzt, vor Gott im Himmel aber wächst uns ja gerade dadurch wahrer Reichtum zu! Wenn wir von Haus und Hof verjagt werden, so werden wir desto fester in Gottes Hausgenoffenschaft aufgenommen. Quält oder verachtet man uns, so schlagen wir desto festere Wurzeln in Christus. Bedeckt man uns mit Schmach und Schande, so haben wir im Reiche Gottes einen um so herrlicheren Platz! Mordet man uns hin, so eröffnet sich uns dadurch der Eingang zum seligen Leben! Wir wollen uns schämen, solche Widerfahrnisse, denen der Herr so hohen Wert beigelegt hat, geringer zu schätzen, als die schattenhaften, vergänglichen Lockungen des Lebens!

 

 

 

III,8,8

 

Mit solchen und ähnlichen Ermahnungen bietet uns die Schrift also reichlichen Trost für alle Schmach und Widerwärtigkeit, die wir in der Verteidigung der Gerechtigkeit auf uns zu nehmen haben. Was ist es da für eine große Undankbarkeit, wenn wir solche Nöte nicht gern und fröhlich aus Gottes Hand annehmen, zumal diese Art Kreuz den Gläubigen am meisten eigen ist und Christus durch sie in uns verherrlicht werden will, wie auch Petrus lehrt (1. Petr. 4,12ff.). Edlen Naturen ist es nun bitterer, Schmach zu tragen, als hundertmal den Tod zu erleiden, und deshalb ermahnt uns Paulus ausdrücklich, daß unser nicht bloß Verfolgungen warten, sondern auch Schmähungen, weil „wir auf den lebendigen Gott gehofft haben“ (1. Tim. 4,10). An anderer Stelle ermahnt er uns ja auch, unseren Wandel „durch böse Gerüchte und gute Gerüchte“ zu führen (2. Kor. 6,8).

 

Es wird nun aber von uns keine Freudigkeit gefordert, die jedes Empfinden der Bitterkeit und des Schmerzes aufhöbe; sonst, wenn die Gläubigen nicht vom Schmerz gequält und von der Not geängstigt würden, gäbe es ja für sie auch gar keine Geduld unter dem Kreuz! Wäre die Armut nicht hart, die Krankheit nicht schmerzvoll, die Schmach nicht peinigend, der Tod nicht schrecklich - was wäre es dann für eine Tapferkeit und Geduld, sich nichts daraus zu machen? Alle diese Nöte quälen natürlicherweise mit der ihnen innewohnenden Bitterkeit unser aller Herz; aber gerade darin zeigt sich die Tapferkeit des Gläubigen, daß er, wenn ihn das Empfinden solcher Bitterkeit anficht, dennoch wacker Widerstand leistet und den Sieg erringt, mag der Kampf auch schwer sein! Seine Geduld erweist sich darin, daß er sich, wenn er hart aufgestachelt wird, dennoch von der Furcht Gottes zügeln läßt, nur nicht in irgendwelche Ungehaltenheit zu verfallen. Seine Freudigkeit leuchtet daraus hervor, daß er, wenn ihn Traurigkeit und Kummer verwunden, doch in Gottes geistlichem Troste Ruhe findet!

 

 

 

III,8,9

Die Gläubigen fechten also einen Kampf gegen ihr natürliches Schmerzempfinden aus, wenn sie sich der Geduld und Mäßigung befleißigen. Diesen Widerstreit beschreibt uns Paulus sehr fein, wenn er sagt: „Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir ängsten uns nicht; uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um ...“ (2. Kor. 4,8f.). Da sehen wir, daß geduldiges Kreuztragen nicht etwa Abstumpfung bedeutet, daß es nicht etwa bedeutet, daß wir jedes Schmerzempfinden verlieren. So haben die stoischen Philosophen in ihrer Torheit einst den einen hochgemuten Menschen genannt, der alles menschliche Gefühl von sich tut und dem Glück innerlich so gegenübersteht wie dem Unglück, traurigen Erlebnissen genau so wie freudigen, ja, der sich wie ein Stein von nichts erregen läßt. Und was haben sie nun mit ihrer hochtrabenden Weisheit zuwege gebracht? Sie haben ein Bild der Geduld gemalt, das man unter den Menschen weder je gefunden hat noch je wird

 

finden können. Im Gegenteil: während sie eine allzu vollkommene und übertriebene Geduld haben wollen, haben sie die Kraft der Geduld aus dem Menschenleben weggenommen!

 

Heutzutage gibt es auch unter den Christen wieder Stoiker: die halten nicht nur Seufzen und Weinen, sondern auch Traurigkeit und Besorgnis für ein Laster. Dergleichen Widersinnigkeiten kommen nun gemeinhin von müßigen Leuten, die sich mehr im Spekulieren als im Handeln üben und uns dann bloß solche widersinnigen Sachen hervorbringen können. Wir wollen jedoch mit jener eisernen Philosophie nichts zu tun haben, die unser Meister und Herr nicht nur mit dem Wort, sondern auch mit seinem Beispiel verdammt hat. Er hat über seine eigenen und anderer Leute Bedrängnisse geseufzt und Tränen vergossen, hat auch seine Jünger nicht anders unterwiesen. „Ihr werdet weinen und heulen“, sagt er, „die Welt aber wird sich freuen“ (Joh. 16,20). Ausdrücklich hat er die Traurigen selig gepriesen, - damit niemand aus der Traurigkeit ein Laster machte! (Matth. 5,4). Es ist auch kein Wunder, daß er so verfährt. Sollen nämlich alle Tränen verdammt werden - was für ein Urteil wollen wir dann über den Herrn selber fällen, von dessen Leib blutige Tränen herabrannen? (Luk. 22,44). Soll jede Angst als Zeichen des Unglaubens gelten - was wollen wir dann mit dem Zittern und Beben anfangen, das ihn nach dem Bericht der Evangelien schwer zu Boden geworfen hat? (Matth. 26,37). Erregt alle Traurigkeit unser Mißfallen - wie wollen wir es dann billigen, daß er von sich selbst bekennt: „Meine Seele ist betrübt bis an den Tod“? (Matth. 26,38).

 

 

 

III,8,10

Was ich eben gesagt habe, das war dazu bestimmt, um fromme Herzen vor der Verzweiflung zurückzuhalten, damit sie nicht jedes Trachten nach der Geduld gänzlich fahren lassen, weil sie doch das natürliche Schmerzempfinden nicht ablegen können. Denn wenn einer aus der Geduld Empfindungslosigkeit, aus einem tapferen und standhaften Menschen einen Klotz macht, dann muß ihm solche Verzweiflung notwendig zustoßen! Die Schrift nämlich erteilt den Heiligen das Lob der Geduld dann, wenn sie von der Härte der Not angefochten werden und doch darüber nicht zerbrechen und zu Boden fallen, wenn die Bitterkeit sie quält und sie dennoch von geistlicher Freude erfüllt sind, wenn die Angst sie bedrückt und sie dennoch aufatmen, weil Gottes Trost sie fröhlich macht. Unterdessen ist in ihrem Herzen ein harter Widerstreit lebendig: ihr natürliches Empfinden flieht und scheut sich vor dem, von dem es fühlt, daß es ihm zuwider geht, die fromme Gesinnung dagegen dringt auch durch diese Schwierigkeiten hindurch zum Gehorsam gegen Gottes Willen. Diesen Widerstreit hat der Herr zum Ausdruck gebracht, als er zu Petrus sprach: „Da du jünger warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest. Wenn du aber alt wirst, ... wird ein anderer dich gürten und führen, wohin du nicht willst“ (Joh. 21,18). Es ist nicht anzunehmen, daß sich Petrus, wenn es nötig war, Gott durch den Tod zu verherrlichen, widerwillig und widerstrebend hätte zum Sterben schleppen lassen; sonst verdiente sein Martyrium wenig Lob. Aber obwohl er auch mit der größten Freudigkeit seines Herzens der göttlichen Weisung gehorchte, so hatte er doch seine menschliche Art nicht abgelegt, und deshalb wurde er von einem zwiespältigen Willen auseinandergezerrt. Betrachtete er jenen blutigen Tod, den er erleiden sollte, an und für sich, so überwältigte ihn das Grausen vor ihm, und er wäre ihm gern entflohen. Bedachte er aber auf der anderen Seite, daß ihn Gottes Befehl in jenes Sterben hineinrief, so war die Furcht besiegt und zu Boden getreten, und er nahm den Tod gern und fröhlich auf sich. Wollen wir also Christi Jünger sein, so müssen wir danach trachten, in unserem Herzen von solcher Ehrerbietung, solchem Gehorsam gegen Gott erfüllt zu werden, daß alle widerstrebenden Regungen dadurch gezähmt und ihrer Herrschaft unterworfen werden können. So wird es dazu kommen, daß wir auch in den größten Ängsten des Herzens standhaft an der Geduld festhalten - was für Kreuz uns auch quälen mag! Denn das Unglück selber wird immer seine Härte haben, die uns peinigt. Ficht uns Krankheit an, so

 

werden wir seufzen und unruhig werden und nach Heilung begehren, drückt uns Armut, so wird uns der Stachel der Sorge und der Traurigkeit peinigen, ebenso werden wir bei Schmach, Verachtung und Unrecht Schmerz empfinden, wir werden beim Tode unserer Lieben, wie es die Natur erfordert, bittere Tränen weinen - aber der Schluß wird immer sein: Der Herr hat es so gewollt, deshalb wollen wir seinem Willen folgen. Ja, mitten unter der Pein des Schmerzes, unter Seufzen und Tränen muß doch immer wieder dieser Gedanke in uns aufkommen, der unser Herz dazu geneigt macht, eben das freudig zu tragen, um des willen es sich so ängstigen läßt!

 

 

 

III,8,11

 

Den besten Weg aber, das Kreuz geduldig zu ertragen, finden wir dann, wenn wir Gottes Willen betrachten. Deshalb muß ich noch mit kurzen Worten klarstellen, was für ein Unterschied zwischen der philosophischen und der christlichen Geduld besteht. Denn es sind wahrlich unter den Philosophen nur ganz wenige zu solcher Einsicht gelangt, daß sie erkannten: in der Trübsal werden wir durch Gottes Hand geübt, und daß sie zu dem Urteil kamen, man müsse in diesem Stück Gott Gehorsam leisten. Aber selbst diese führen als Ursache nur die Auskunft an, es sei nun einmal so notwendig. Das heißt aber nun nichts anderes, als daß man behauptet: wir müssen Gott nachgeben, weil es nun einmal vergebens wäre, gegen ihn anzukämpfen. Denn wenn wir Gott bloß gehorchen, weil es notwendig ist, so hat unser Gehorsam ein Ende, wenn wir einmal entrinnen können. Die Schrift dagegen heißt uns, etwas ganz anderes am Willen Gottes ins Auge zu fassen, nämlich zunächst seine Gerechtigkeit und Billigkeit und dann auch seine Sorge um unser Heil. In diesem Sinne sind also die christlichen Ermahnungen zur Geduld zu verstehen. Ob uns nun Armut plagt oder Verbannung oder Gefangenschaft oder Schmach oder Krankheit oder der Verlust unserer Lieben oder sonst etwas dergleichen: immer sollen wir bedenken, daß uns nichts von alledem begegnen kann ohne den Willen und die Vorsehung Gottes. Weiter müssen wir aber im Auge behalten, daß er stets nur nach völlig gerechter Ordnung handelt. Wieso nun - verdienen nicht unsere unzähligen und tagtäglichen Missetaten strenger und mit härteren Ruten gestraft zu werden, als er sie uns in seiner Güte zu fühlen gibt? Ist es nicht durchaus billig, daß unser Fleisch gebändigt und ins Joch gespannt wird, damit es nicht nach seiner Art in wilder Gier seinen Übermut treibe? Ist Gottes Gerechtigkeit und Wahrheit etwa nicht wert, daß wir um ihretwillen Not leiden? In unseren Trübsalen wird doch Gottes unbezweifelbare Gerechtigkeit kund, und deshalb können wir nicht murren oder uns widersetzen, ohne damit ungerecht zu werden. Jetzt hören wir schon nicht mehr jenes frostige Gerede: Man muß Gott weichen, weil es nun einmal notwendig ist. Nein, wir vernehmen eine lebendige und wirksame Weisung: Wir sollen gehorchen, weil es vor Gott unrecht ist, zu widerstreben; wir müssen es geduldig tragen, weil Ungeduld Widerspenstigkeit gegen Gottes Gerechtigkeit ist.

 

Nun ist uns aber nur das lieblich, wovon wir wissen, daß es zu unserem Heil und zu unserem Besten dient. Deshalb reicht uns unser lieber Vater auch an diesem Stück seinen Trost dar, indem er uns sagt, daß er eben durch das Kreuz, welches er uns zu tragen gibt, für unser Heil sorgt. Wenn es nun aber feststeht, daß unsere Bedrängnisse uns heilsam sind, weshalb sollten wir sie dann nicht mit dankbarem und friedsamem Herzen auf uns nehmen? Wenn wir sie also geduldig erleiden, so unterliegen wir nicht einer Notwendigkeit, sondern beruhigen uns bei dem, was uns gut ist. Solche Gedanken, meine ich, machen trotz allem das Herz in geistlicher Freude weit, so sehr es sich auch unter dem Kreuz aus dem natürlichen Empfinden der Bitterkeit heraus zusammengepreßt hat! Daraus ergibt sich denn auch die Danksagung, die nicht ohne Freude sein kann. Das Lob des Herrn und die Dankbarkeit gegen ihn kann nur aus einem freudigen, fröhlichen Herzen kommen; und es gibt nun gar nichts, was diesem Lobpreis Eintrag tun dürfte. Daraus wird ersichtlich, wie notwendig es ist, daß die Bitterkeit des Kreuzes durch geistliche Freude gemildert werde.

Neuntes Kapitel

 

 

 

Vom Trachten nach dem zukünftigen Leben

 

 

 

III,9,1

 

Welcherlei Trübsal uns aber auch drücken mag, so müssen wir immer ihren Zweck ins Auge fassen: wir sollen uns daran zu gewöhnen lernen, das gegenwärtige Leben zu verachten, und so zum Trachten nach dem zukünftigen gereizt werden. Gott weiß aber nun sehr wohl, wie sehr wir von Natur zu einer unsinnigen Liebe zu dieser Welt geneigt sind, und deshalb wendet er das beste Mittel an, um uns da herauszuziehen und uns die Schläfrigkeit auszutreiben, damit wir nicht allzu beharrlich in solcher Liebe festhängen bleiben! Wir möchten zwar alle gern den Anschein erwecken, als ob wir uns unser ganzes Leben hindurch nach der himmlischen Unsterblichkeit sehnten und ausstreckten. Denn wir schämen uns, die unvernünftigen Tiere in keiner Hinsicht zu übertreffen, und deren Zustand wäre tatsächlich keineswegs geringer als der unsere, - wenn wir nach dem Tode keine Hoffnung auf das ewige Leben mehr hätten! Prüft man nun aber die Überlegungen, das Sinnen und Trachten und das Handeln der Menschen, so wird man da nichts anderes finden als die Erde! Daher aber kommt jene Stumpfheit, daß unser Verstand sich von dem leeren Glanz des Reichtums, der Macht und der Ehre derart überwältigen und blenden läßt, daß er nicht mehr weiterblicken kann. Auch unser Herz wird von der Habgier, dem Ehrgeiz und der Lust dermaßen mit Beschlag belegt und beschwert, daß es sich nicht mehr höher zu erheben vermag. Kurz, unsere ganze Seele ist in die Lockungen des Fleisches verstrickt und sucht deshalb ihr Glück auf der Erde. Diesem Übel will der Herr entgegenwirken und belehrt die Seinen durch fortgesetzte Beweise des Elendes über die Eitelkeit des gegenwärtigen Lebens. Damit sie sich also von diesem Leben keinen ungestörten, sicheren Frieden versprechen, läßt er es zu, daß sie oft von Krieg oder Aufruhr oder Räuberei oder anderem Frevel beunruhigt und angefochten werden. Damit sie nicht allzu gierig nach dem vergänglichen, zerbrechlichen Reichtum jagen oder sich über den Reichtum, den sie besitzen, beruhigen, bringt er bald durch Verbannung, bald durch Unfruchtbarkeit des Bodens, bald durch eine Feuersbrunst oder auf andere Weise Mangel über sie oder hält sie wenigstens auf einem mittelmäßigen Stand. Damit sie es sich in den Freuden der Ehe nicht allzu wohl sein lassen, läßt er sie durch Bosheit der Ehegattin plagen oder demütigt sie durch üble Nachkommenschaft oder betrübt sie durch den Verlust der Liebsten. Aber selbst wenn er in allen diesen Dingen Nachsicht gegen sie walten läßt, so sorgt er doch dafür, daß sie sich nicht in törichtem Selbstruhm blähen oder aus Selbstvertrauen übermütig werden: er stellt es ihnen durch Krankheiten und Gefahren vor Augen, wie unbeständig und vergänglich alle Güter sind, die der Sterblichkeit unterliegen. Wir kommen erst dann unter der Zucht des Kreuzes recht voran, wenn wir lernen: dies Leben ist, wenn man es an und für sich betrachtet, unruhig, stürmisch und auf gar vielerlei Weise jämmerlich, dagegen in keiner Hinsicht wirklich glücklich, und alles, was man als Güter dieses Lebens ansieht, ist unbeständig, flüchtig, eitel, mit vielen Übeln untermischt und durch sie verdorben. Erst dann sind wir in der Schule des Kreuzes vorangekommen, wenn wir aus solcher Einsicht zugleich den Schluß ziehen, daß wir hier nichts zu suchen und nichts zu erwarten haben als Kampf und daß wir unsere Augen zum Himmel erheben müssen, wenn wir eine Krone gewinnen wollen! Wir haben also festzuhalten: unser Herz wird sich nie und nimmer ernstlich zum Verlangen und zum Trachten nach dem zukünftigen Teben erheben, wenn es nicht zuvor mit der Verachtung des gegenwärtigen erfüllt ist!

 

 

 

III,9,2

Wir stehen hier vor einem Entweder-Oder, neben dem es kein Drittes mehr gibt: entweder muß uns die Erde unwert sein - oder aber sie hält uns in maßloser Liebe gefangen! Lebt also in uns irgendwie die Sorge um die Ewigkeit, so müssen wir fleißig darauf dringen, daß wir uns aus diesen üblen Fesseln herauswinden. Nun

 

hat aber das gegenwärtige Leben gar viel Schmeichelndes, mit dem es uns betören, viel scheinbare Anmut und Lieblichkeit und Süßigkeit, mit der es uns locken will, und deshalb tut es uns sehr not, daß wir immer wieder davon weggerufen werden, um nicht von dergleichen Reizen umstrickt zu werden. Ich möchte doch wissen, lieber Leser, was würde geschehen, wenn wir hier eine dauernde Fülle von Gütern und Glück zu genießen bekämen - wo uns doch noch nicht einmal der beständige Stachel des Übels recht dazu aufrütteln kann, das Elend dieses Lebens zu bedenken!

 

Des Menschen Leben ist wie ein Rauch oder ein Schatten - das ist nicht nur gelehrten Leuten wohlbekannt, sondern es gilt auch den Einfältigen als eine allbekannte sprichwörtliche Wahrheit. Man hat auch erkannt, daß es sich dabei um eine Wahrheit handelt, die zu wissen ganz besonders nützlich ist, und darum hat man sie mit vielen trefflichen Aussprüchen angepriesen. Und doch gibt es schier nichts, was wir nachlässiger erwägen und weniger bedenken! Denn bei allem, was wir ins Werk setzen, tun wir so, als wollten wir hier auf Erden unsterblich werden! Wenn ein Leichenzug uns begegnet oder wenn wir zwischen Gräbern einhergehen, so tritt uns da das Bild des Todes vor die Augen, und angesichts dessen - das gebe ich zu - philosophieren wir wohl gewaltig über die Eitelkeit dieses Lebens! Indessen tun wir auch das nicht immer, und meistens macht alles das gar keinen Eindruck auf uns. Aber wo wir ans Philosophieren geraten, da ist das eine Augenblicksweisheit - sobald wir den Rücken wenden, ist sie bereits verflogen, und sie hinterläßt nicht die mindeste Erinnerungsspur. Kurz, sie verweht wie ein Theaterbeifall bei irgendeinem ergötzlichen Spiel! Aber wir schlagen uns nicht nur den Tod aus dem Sinn, sondern auch die Sterblichkeit selber, als ob nie ein Gerücht davon zu uns gedrungen wäre, und wenden uns wieder zu oberflächlicher Sicherheit zurück, als ob wir auf Erden unsterblich wären. Wenn uns einer einmal das Sprichwort hersagt, der Mensch sei ein Eintagstierlein, so geben wir das zwar zu; aber wir achten es doch so wenig, daß der Gedanke, wir hätten hier dauernden Bestand, trotzdem tief im Herzen festsitzt. Wer will da noch leugnen, daß wir es alle aufs höchste nötig haben - ich meine, nicht bloß mit Worten daran gemahnt, sondern - mit möglichst vielen Erfahrungen davon überführt zu werden, wie jämmerlich es um unser irdisches Leben bestellt ist! Denn selbst wenn wir davon überführt sind, so hören wir doch kaum auf, vor falscher, törichter Bewunderung dieses Lebens zu erstarren, als ob es die höchste Vollendung des Guten in sich trüge! Hat es Gott nötig, uns zu erziehen, so ist es wiederum unsere Pflicht, auf ihn zu hören, wenn er uns ruft und uns in unserer Stumpfheit aufstachelt, damit wir die Welt gering achten und uns von ganzem Herzen daran machen, nach dem zukünftigen Leben zu trachten.

 

 

 

III,9,3

So sollen sich die Gläubigen an die Verachtung des gegenwärtigen Lebens gewöhnen, aber doch so, daß daran weder ein Haß gegen dies Leben entsteht, noch auch Undankbarkeit gegen Gott. Denn mag auch dies Leben mit unendlichem Jammer erfüllt sein, so zählen wir es doch mit Recht zu den Segnungen Gottes, die man nicht verachten darf. Wenn wir in ihm also keinerlei göttliche Wohltat anerkennen, so machen wir uns einer nicht geringen Undankbarkeit gegen Gott selbst schuldig. Besonders für die Gläubigen muß es ein Zeugnis des göttlichen Wohlwollens sein, denn es ist doch ganz dazu bestimmt, der Förderung ihres Heils zu dienen. Gott will sich nämlich, bevor er uns das Erbe der ewigen Herrlichkeit offen enthüllt, durch geringere Beweisstücke als unser Vater erzeigen: solche Beweise sind all die Güter, die er uns tagtäglich zuteil werden läßt. Wenn uns also dieses Leben dazu dient, Gottes Güte kennenzulernen, wie können wir es dann verschmähen, als ob es auch nicht einen Funken Gutes in sich trüge? Diese Empfindung und Gesinnung müssen wir annehmen, um dies Leben zu den Gaben der göttlichen Freundlichkeit zu rechnen, die wir nie und nimmer von uns weisen dürfen. Die Schrift gibt uns dafür sehr viele und völlig klare Zeugnisse. Aber selbst wenn die nicht da wären, so mahnte uns auch

 

die Natur selber, dem Herrn unseren Dank dafür zu sagen, daß er uns an das Licht dieses Lebens gebracht hat, daß er uns dies Leben zum Gebrauch überlassen hat und uns alle erforderlichen Mittel darreicht, um es zu erhalten.

 

Wir haben noch viel mehr Ursache zum Danken, wenn wir erwägen, daß wir in diesem Leben gewissermaßen auf die Herrlichkeit des Himmelreichs vorbereitet werden. Denn der Herr hat es so geordnet, daß die, welche einst im Himmel gekrönt werden sollen, zuvor auf Erden Kämpfe bestehen, damit sie nicht triumphieren, ohne die Schwierigkeiten des Krieges überstanden und den Sieg erfochten zu haben.

 

Dazu kommt noch eine weitere Ursache (zum Danken): wir fangen schon in diesem Leben unter gar vielerlei Wohltaten an, die Süßigkeit der Güte Gottes zu schmecken, und dadurch soll unsere Hoffnung und unser Verlangen geschärft werden, ihre völlige Offenbarung zu erwarten. Es steht also fest, daß unser irdisches Dasein, wie wir es leben, eine Gabe der göttlichen Freundlichkeit ist, um derentwillen wir Gott verpflichtet sind und demgemäß auch an ihn gedenken und ihm dankbar sein müssen. Ist das aber deutlich, dann werden wir auch recht darangehen, den jämmerlichen Zustand dieses Lebens zu betrachten; dadurch werden wir eben auch von der allzugroßen Gier nach ihm frei gemacht, zu der wir, wie gesagt, von Natur ganz von selbst geneigt sind.

 

 

 

III,9,4

 

Nun muß das, was wir der verkehrten Liebe zu dem gegenwärtigen Leben abziehen, zur Stärkung des Verlangens nach einem besseren dienen. Ich gebe zu, daß die Menschen, welche gemeint haben, am allerbesten sei es, überhaupt nicht geboren zu sein, am zweitbesten, möglichst schnell wieder dahingerafft zu werden - wirklich ganz recht empfunden haben; denn es fehlte ihnen ja Gottes Licht und die wahre Gottesfurcht, und was sollten sie da am Leben anders sehen als Unglück und Häßlichkeit? Andere begingen den Geburtstag der Ihrigen mit Trauern und Wehklagen, Begräbnisse dagegen mit offen zur Schau getragener Fröhlichkeit; auch sie haben nicht ohne Ursache gehandelt, und doch ist ihr Tun ohne Frucht geblieben. Denn sie waren ja der rechten Lehre des Glaubens beraubt und sahen darum nicht, wie das, was an und für sich weder glücklich noch begehrenswert ist, doch den Frommen zum Besten dient; deshalb kamen sie bei ihrem Urteil nicht über die Verzweiflung hinaus.

Wenn also die Gläubigen das sterbliche Leben erwägen, dann soll dabei als Hauptgesichtspunkt folgendes dienen: wenn sie erkennen, daß dies Leben an und für sich nichts anderes als ein Elend ist, so sollen sie mit desto größerer Freudigkeit und Bereitschaft sich ganz dem Trachten nach jenem kommenden, ewigen Leben widmen. Ist es einmal zu diesem Vergleich gekommen, dann kann man das irdische Leben nicht nur ruhig geringschätzen, sondern soll es auch im Vergleich mit dem zukünftigen gänzlich verachten und verschmähen. Denn wenn der Himmel unsere Heimat ist, was ist dann die Erde anders als Verbannung? Wenn das Auswandern aus dieser Welt der Eingang ins Leben ist, was ist die Welt dann anders als ein Grab? Was bedeutet dann das Verweilen in der Welt anders, als daß wir in den Tod versunken sind? Führt uns die Befreiung vom Leibe zu wahrer Freiheit - was ist dann dieser Leib anders als ein Kerker? Wenn die höchste Seligkeit darin besteht, daß wir Gottes Gegenwart genießen, ist es dann nicht ein Elend, sie noch entbehren zu müssen? Wir „wallen“ aber wirklich „ferne vom Herrn“, bis wir von dieser Welt den Abschied genommen haben. Vergleicht man also das irdische Leben mit dem himmlischen, so wird man es ohne Zweifel leichtlich verachten und unter die Füße treten. Jedoch sollen wir es nie und nimmer hassen, es sei denn, sofern es uns der Sünde unterworfen sein läßt; aber auch dieser Haß soll nicht eigentlich auf das Leben selber gerichtet werden. Wie dem aber auch sei, wir sollen jedenfalls diesem Leben gegenüber in der Weise Widerwillen und Haß empfinden, daß wir nach seinem Ende verlangen, zugleich aber auch bereit sind, nach dem Willen des Herrn in ihm zu verbleiben; unser Widerwille soll also fern von jeglichem Murren und aller Ungeduld

 

sein. Das Leben ist eben wie ein Wachtposten, auf den uns der Herr gestellt hat und den wir nicht verlassen dürfen, bis er uns abberuft. So beweint auch Paulus sein Los, weil er länger, als er es wünschen könnte, von den Fesseln des Leibes gebunden gehalten wird, und er seufzt in heißem Verlangen nach Erlösung (Röm. 7,24), und doch will er Gottes Befehl gehorchen und bekennt, daß er zu Leben und Sterben bereit ist (Phil. 1,23f.). Er weiß, daß er es Gott schuldig ist, seinen Namen durch Tod oder Leben zu verherrlichen (Röm. 14, 8), und da ist es Gottes Sache, festzustellen, was am meisten zu seiner Verherrlichung dient. Wenn wir also dem Herrn leben und sterben sollen (Röm. 14, 8), so wollen wir auch seinem Ermessen die Grenze von Tod und Leben überlassen. Aber doch so, daß wir im Sehnen nach dem Tode brennen und fleißig nach ihm trachten, das Leben aber gegenüber der kommenden Unsterblichkeit verachten und wünschen, es um der Sündenknechtschaft willen hinzugeben, wenn es dem Herrn gefällt.

 

 

 

III,9,5

 

Es ist indessen geradezu ungeheuerlich, daß viele Menschen, die sich für Christen ausgeben, jene Sehnsucht nach dem Tode gar nicht kennen und sich stattdessen dermaßen vor ihm ängstigen, daß sie schon erzittern, wenn sie ihn irgendwie nennen hören, als ob er etwas ganz Verderbenbringendes, Unglückseliges wäre! Es ist gewiß nicht verwunderlich, daß das natürliche Empfinden in uns erschrickt, wenn es davon hört, daß wir aufgelöst werden sollen. Auf keine Weise zu ertragen ist es aber, daß auch in einem Christenherzen nicht das Licht der Frömmigkeit leuchten sollte, das solcherlei Ängste mit überlegenem Troste überwindet und unterdrückt! Denn wenn wir bedenken, daß diese unbeständige, gebrechliche, vergängliche, baufällige, welke, faule Hütte unseres Leibes abgerissen werden soll, um alsbald in beständige, vollkommene, unvergängliche, himmlische Herrlichkeit verwandelt zu werden - muß dann unser Glaube das nicht heiß ersehnen, wovor unsere Natur zurückschreckt? Wenn wir beachten, daß wir durch den Tod aus der Verbannung heimgerufen werden, um in unserer Heimat, und zwar unserer himmlischen Heimat unsere Wohnstatt zu finden - sollte uns daraus gar kein Trost erwachsen?

 

Aber man wendet ein: es gibt kein Ding, das nicht danach strebt, sich zu erhalten! Das gebe ich durchaus zu, und ich behaupte, daß wir eben deshalb auf die zukünftige Unsterblichkeit schauen müssen; denn da wird uns ein bleibender Zustand zuteil, wie er auf Erden nirgendwo sichtbar ist! Großartig ist es, wenn Paulus uns lehrt, daß die Gläubigen fröhlich in den Tod gehen, nicht weil sie „entkleidet“, sondern weil sie „überkleidet“ zu werden begehren (2. Kor. 5,2). Selbst die unvernünftigen Lebewesen, ja, gar die seelenlosen Geschöpfe bis herunter zu Holz und Steinen wissen ja um ihre gegenwärtige Eitelkeit und schauen nach dem jüngsten Tag, dem Auferstehungstag aus, damit sie mit den Kindern Gottes von der Eitelkeit frei werden! (Röm. 8,19). Sollten da nicht wir, die wir mit dem Lichte der Vernunft begabt, ja, über alle Vernunft hinaus vom Geiste Gottes erleuchtet worden sind, sollten wir nicht, wenn es um unser Sein und Wesen geht, unsere Herzen über diesen Erdenstaub erheben?

 

Aber es ist hier nicht unsere Aufgabe und auch nicht der Ort dazu, gegen eine so furchtbare Verdrehung anzugehen. Ich habe ja schon im Anfang klar ausgesprochen, daß ich mich hier keineswegs auf eine ausführlichere Behandlung der einzelnen Hauptlehrstücke einlassen kann. Jenen furchtsamen Gemütern möchte ich raten, das Büchlein des Cyprian „Von der Sterblichkeit“ zu lesen - sofern sie nicht gar wert wären, an die Philosophen verwiesen zu werden! Bei denen könnten sie wahrnehmen, was sie für eine Verachtung des Todes an den Tag legen - und darüber sollten sie dann doch zu erröten anfangen!

Als feststehend wollen wir aber die Tatsache ansehen, daß keiner in Christi Schule rechte Fortschritte gemacht hat, der nicht mit Freuden auf den Tag seines Todes und der letzten Auferstehung wartet! Mit diesem Kennzeichen beschreibt nämlich Paulus

 

alle Gläubigen (Tit. 2,13), und die Schrift hat allgemein die Gepflogenheit, uns dahin zu verweisen, wenn sie uns die Ursache zu vollkommener Freude vor Augen halten will. Der Herr sagt: „Frohlocket und hebet eure Häupter auf, darum daß sich eure Erlösung naht!“ (Luk. 21,28; die ersten beiden Worte sind zugefügt). Ich frage nur: ist es denn zu begreifen, daß in uns bloß Trauer und Entsetzen hervorruft, was doch nach dem Willen des Herrn nur dazu dienen sollte, Frohlocken und Jubel in uns zu erwecken? Wenn es so bei uns steht - weshalb rühmen wir uns dann noch des Herrn als unseres Meisters? Nein, wir wollen einen besseren Sinn in uns aufkommen lassen und gegen allen Widerstand der blinden, stumpfen Fleischesbegierde ohne Zögern das Kommen des Herrn nicht nur herbeiwünschen, sondern es mit Seufzen und Sehnsucht als das glückseligste von allen Ereignissen erwarten! Denn er wird uns als Erlöser kommen, der uns aus diesem unergründlichen Schlund von Übel und Elend herauszieht und uns in das selige Erbe seines Lebens und seiner Herrlichkeit einführt!

 

 

 

III,9,6

 

Es ist doch wirklich so: das ganze Volk der Gläubigen gleicht, solange es auf dieser Erde wohnt, notwendig den Schafen, die zur Schlachtbank geführt werden; denn es muß Christus, seinem Haupte, gleichgestaltet werden (Röm. 8,36). Die Gläubigen wären also die trostlosesten unter allen Menschen, wenn sie ihr Herz nicht zum Himmel erhöben und dadurch all das, was in dieser Welt ist, überwänden und die gegenwärtige Gestalt der Dinge hinter sich ließen (1. Kor. 15,19). Aber wenn sie einmal ihr Haupt über alles Irdische erhoben haben, dann sehen sie wohl, wie die Gottlosen in blühendem Reichtum und in Ehren leben, sie nehmen es wahr, wie sie ungestörten Frieden genießen, wie sie in allerlei Pracht und Überfluß stolz dahergehen und alle Vergnügungen im Überfluß haben - sie werden auch durch die Bosheit der Gottlosen bedrückt, müssen von ihrem Stolz Verachtung leiden, werden von ihrer Habgier ausgeplündert und von anderlei Willkür geplagt - aber dennoch werden sie auch in solchen Übeln leichtlich standhalten. Denn vor ihren Augen steht der Tag, an dem der Herr seine Gläubigen in die Ruhe seines Reiches aufnimmt, an dem er „alle Tränen abwischen wird von ihren Augen“, an dem er sie mit dem Kleid der Herrlichkeit und der Freude antut, sie mit der unaussprechlichen Süßigkeit seiner Freuden weidet, an dem er sie zur Gemeinschaft an seiner erhabenen Herrlichkeit erhebt und sie endlich des Teilhabens an seiner Seligkeit würdigt! (Jes. 25, 8; Off. 7,17). Jene Gottlosen aber, die auf Erden in hoher Blüte standen, wird er in die äußerste Schmach verstoßen, er wird ihre Vergnügungen in Pein, ihr Lachen, ihre Freude in Heulen und Zähneklappern verwandeln, ihren Frieden wird er durch die bittere Qual des Gewissens stören und ihre Weichheit mit unverlöschlichem Feuer strafen, die Gottesfürchtigen aber, deren Geduld sie mißbraucht haben, wird er über ihre Häupter setzen! Nach dem Zeugnis des Paulus besteht nämlich die Gerechtigkeit darin, daß Gott den Elenden und zu Unrecht Geplagten „Ruhe gibt“, den Gottlosen aber, die den Frommen „Trübsal antun“, Trübsal „vergelten wird“, „wenn nun der Herr Jesus wird offenbart werden vom Himmel ...“ (2. Thess. 1,6f.). Das ist wahrlich unser einziger Trost; würde der uns genommen, so müßten wir entweder völlig verzweifeln oder uns aber zu unserem Verderben von den eitlen Trostgründen der Welt beschwichtigen lassen! Auch der Prophet bekennt ja, daß er beinahe gestrauchelt wäre mit seinen Füßen, als er sich bei der Betrachtung des gegenwärtigen Wohlergehens der Gottlosen zu lange aufgehalten hatte; er bekennt, daß er sich nur dadurch wieder hat aufrichten können, daß er in das Heiligtum des Herrn hineinging und seine Augen auf das letzte Ende richtete, das Frommen und Gottlosen bevorsteht (Ps. 73,2. 17). Um zu einem kurzen Schluß zu kommen: Erst dann triumphiert im Herzen der Gläubigen das Kreuz Christi über Teufel und Fleisch, über die Sünde und die Gottlosen, wenn ihre Augen sich auf die Kraft der Auferstehung richten!

 

Zehntes Kapitel

 

 

 

Wie wir das gegenwärtige Leben und seine Mittel gebrauchen sollen

 

 

 

III,10,1

 

Mit solchen Grundlinien gibt uns die Schrift zugleich die rechte Unterweisung darüber, welches der rechte Gebrauch der irdischen Güter sei. Es handelt sich dabei um eine Frage, die wir bei der Gestaltung unseres Lebens durchaus nicht beiseitelassen dürfen. Denn wenn wir leben sollen, so müssen wir auch die zum Leben erforderlichen Mittel benutzen. Wir können auch dem nicht aus dem Wege gehen, was mehr dem Genuß als der Notdurft zu dienen scheint. Wir müssen also Maß halten, um jene Mittel mit reinem Gewissen zur Notdurft oder auch zum Genuß zu verwenden. Dieses Maß schreibt uns der Herr in seinem Wort vor: er lehrt uns, daß dieses gegenwärtige Leben für die Seinen gewissermaßen eine Wanderschaft ist, auf der sie zum Himmelreich streben. Wenn wir die Erde also bloß durchwandern sollen, so müssen wir ihre Güter ohne Zweifel dazu verwenden, daß sie unseren Lauf fördern, statt ihn zu hemmen. So gibt Paulus den keineswegs unsachgemäßen Rat, diese Welt zu gebrauchen, als gebrauchten wir sie nicht, und den Besitz in der gleichen Gesinnung zu kaufen, wie man ihn verkauft (1. Kor. 7,30f.).

 

Wir befinden uns aber hier auf schlüpfrigem Boden, und man kann nach beiden Seiten sehr leicht abstürzen, deshalb wollen wir uns befleißigen, festen Fußes dahin zu treten, wo man sicher stehen kann. Es hat nämlich einige sonst gute und heilige Männer gegeben, die sahen, daß Maßlosigkeit und Ausschweifung immerzu in zügelloser Gier über jedes Maß hinausgehen, wenn man sie nicht streng in Zucht hält - und deshalb suchten sie einem derart verderblichen Übel abzuhelfen; dabei aber kam ihnen nur ein einziges Mittel in den Sinn: sie verstatteten dem Menschen den Gebrauch der leiblichen Güter nur insoweit, als dies zur Notdurft erforderlich war. Das ist nun gewiß ein frommer Rat; aber seine Urheber waren doch bei weitem zu streng. Denn sie taten etwas höchst Gefährliches: sie legten dem Gewissen schärfere Fesseln an, als die, mit denen sie des Herrn Wort bindet. Unter „Notdurft“ verstehen sie nun weiter, der Mensch solle sich alles dessen enthalten, was er entbehren kann; nach ihrer Meinung kann man also außer Brot und Wasser kaum etwas genießen. Andere waren noch strenger: so berichtet man von einem Thebaner namens Krates, der alle seine Reichtümer ins Meer warf, weil er meinte, wenn sein Besitz nicht zugrundeginge, so würde er von ihm zugrundegerichtet.

 

Heutzutage gibt es aber viele Leute, die einen Vorwand suchen, um die Schwelgerei des Fleisches im Gebrauch der äußeren Dinge zu entschuldigen, und die dabei seiner Ausgelassenheit einen Weg bahnen wollen; diese nehmen nun - was ich ihnen in keiner Weise zugebe! - als ausgemacht an, diese Freiheit dürfe durch keinerlei gesetztes Maß begrenzt werden, sondern man müsse es dem Gewissen des Einzelnen überlassen, daß er an sich nehme, soviel er für erlaubt halte. Ich gestehe zwar, daß man hier die Gewissen nicht mit feststehenden, genauen Gesetzesformeln binden soll und kann; aber da die Schrift für den rechten Gebrauch (der irdischen Güter) allgemeine Regeln gibt, so sollen wir ihn doch gewiß nach diesen Regeln bemessen.

 

 

 

III,10,2

Der Hauptgrundsatz soll dabei folgender sein: der Gebrauch der Gaben Gottes geht nicht vom rechten Wege ab, wenn er sich auf den Zweck ausrichtet, zu dem uns der Geber selbst diese Gaben erschaffen und bestimmt hat. Er hat sie nämlich zu unserem Besten erschaffen und nicht zu unserem Verderben. Deshalb wird keiner den rechten Weg besser innehalten als der, welcher diesen Zweck fleißig im Auge behält. Wenn wir nun also bedenken, zu welchem Zweck er die Nahrungsmittel geschaffen hat, so werden wir finden, daß er damit nicht bloß für unsere Notdurft sorgen wollte, sondern auch für unser Ergötzen und unsere Freude! So hatte er bei unseren Kleidern außer der Notdurft auch anmutiges Aussehen und Anständigkeit

 

als Zweck im Auge. Kräuter, Bäume und Früchte sollen uns nicht nur mancherlei Nutzen bringen, sondern sie sollen auch freundlich anzusehen sein und seinen Wohlgeruch haben. Wäre das nicht wahr, so könnte es der Prophet nicht zu den Wohltaten Gottes rechnen, daß „der Wein des Menschen Herz erfreut“ und daß „seine Gestalt schön werde vom Öl“ (Ps. 104,15). Dann könnte uns die Schrift auch nicht immer wieder zum Lobpreis seiner Güte daran erinnern, daß er selbst solches alles den Menschen gegeben hat! Auch die natürlichen Gaben der Dinge selbst zeigen uns ausreichend, wozu und wieweit man sie genießen darf. Hat doch der Herr die Blumen mit solcher Lieblichkeit geziert, daß sie sich unseren Augen ganz von selber aufdrängt, hat er ihnen doch so süßen Duft verliehen, daß unser Geruchssinn davon erfaßt wird - wie sollte es dann ein Verbrechen sein, wenn solche Schönheit unser Auge, solcher liebliche Duft unsere Nase berührte? Wie, hat er denn nicht die Farben so unterschieden, daß die eine anmutiger ist als die andere? Wie, hat er nicht Gold und Silber, Elfenbein und Marmorstein solche Schönheit geschenkt, daß sie dadurch vor anderen Metallen und Steinen kostbar werden? Hat er nicht überhaupt viele Dinge über den notwendigen Gebrauch hinaus kostbar für uns gemacht?

 

 

 

III,10,3

 

Deshalb fort mit jener unmenschlichen Philosophie, die uns die Kreaturen nur zur Notdurft will brauchen lassen und uns damit einer erlaubten Frucht der göttlichen Wohltätigkeit beraubt, auch nur da zur Geltung kommen kann, wo sie einem Menschen alle Sinne weggenommen und ihn zum Klotz gemacht hat!

 

Aber nicht weniger fleißig müssen wir auf der anderen Seite der Begierde des Fleisches begegnen; wenn man die nicht in die Ordnung zwingt, dann geht sie ohne Maß über die Ufer, und sie hat, wie gesagt, ihre Fürsprecher, die ihr unter dem Vorwande der uns zugestandenen Freiheit alles und jedes erlauben. Ihr legt man nun zunächst dadurch einen Zügel an, daß man festhält: es ist alles dazu für uns erschaffen, daß wir den Geber erkennen und ihm für seine Güte gegen uns Dank sagen. Wo bleibt aber solche Danksagung, wenn man sich an Speisen und Wein derart maßlos übernimmt, daß man stumpf oder zur Erfüllung der Pflichten der Frömmigkeit oder seines Berufs untüchtig wird? Wo bleibt die Erkenntnis Gottes, wenn das Fleisch vor lauter Überfluß zu schändlicher Gier ausschweift, wenn es mit seiner Unreinigkeit das Herz ansteckt, so daß man nicht mehr sehen kann, was gut und ehrbar ist? Was die Kleider angeht - wo bleibt da die Dankbarkeit gegen Gott, wenn wir sie überreich zieren und uns dann selbst in ihnen bewundern und andere geringschätzen, oder wenn wir uns durch ihren Glanz, ihre Pracht zur Unkeuschheit verleiten lassen? Wo bleibt die Erkenntnis Gottes, wenn unser Herz an die Großartigkeit unserer Kleider gefesselt ist? Viele Leute geben ja alle ihre Sinne dem Genuß dermaßen hin, daß ihr Herz davon erdrückt zu Boden liegt. Viele haben an Marmor oder Gold oder Gemälden solches Vergnügen, daß sie gleichsam selber zu Marmor werden, sich gewissermaßen in Metall verwandeln oder den gemalten Bildern ähnlich werden! Andere werden vom Duft der Küche und von der Süße der Wohlgerüche dermaßen abgestumpft, daß sie nichts Geistliches mehr zu riechen vermögen! Das Gleiche kann man auch in bezug auf andere irdische Güter beobachten. Deshalb wird offenbar schon durch die hier gegebene Erwägung die Freiheit, Gottes Gaben zu mißbrauchen, einigermaßen im Zaum gehalten, und es bestätigt sich hier die Regel des Paulus, wir sollten für unser Fleisch nicht etwa so sorgen, daß es dabei seinen Lüsten leben könnte (Röm. 13,14); denn wenn man den Lüsten zuviel nachgibt, dann treiben sie ihre Ausschweifung ohne Maß und Beherrschung!

 

 

 

III,10,4

Den sichersten und gebahntesten Weg aber finden wir, wenn wir das gegenwärtige Leben verachten und nach der himmlischen Unsterblichkeit unser Trachten richten. Daraus ergeben sich nämlich zwei Regeln. Die erste finden wir in der Anweisung des Paulus: „Die diese Welt gebrauchen, sollen gesinnt sein, als ob sie sie nicht gebrauchten ... die da Weiber haben, als hätten sie keine, die da kaufen, als kauften sie nicht ...“ (1. Kor. 7,29-31; nicht Luthertext und nicht in der gegebenen

 

Reihenfolge). Die zweite Regel heißt: sie sollen den Mangel mit Friedsamkeit und Geduld und gleicherweise den Überfluß mit Mäßigung zu tragen wissen. Wenn Paulus uns die Weisung erteilt, diese Welt zu gebrauchen, als gebrauchten wir sie nicht, dann tilgt er damit nicht nur alle unmäßige Schlemmerei in Essen und Trinken, nicht nur alle gar zu große Weichlichkeit, alle Ehrsucht, alle Hoffart und Aufgeblasenheit und allen Eigensinn in unserer Nahrung, in Häusern und Kleidern - nein, überhaupt jede Sorge und Sucht, die uns vom Denken an das himmlische Leben und vom Eifer um die Durchbildung unserer Seele abführt oder uns darin hemmt! Es ist aber recht, was einst Cato gesagt hat: wer sich groß um seine äußere Zier mühe, der mühe sich eben sehr wenig um die Tugend. Und ein altes Sprichwort sagt ähnlich: Wer sich viel mit der Sorgfalt um seinen Leib befaßt, der kümmert sich gewöhnlich um seine Seele nicht!

 

So darf man also gewiß die Freiheit der Gläubigen in solchen äußerlichen Dingen nicht an bestimmte Formeln binden; aber einem Gesetz ist sie doch unterworfen, und das heißt: sie sollen sich möglichst wenig selber zugeben, dagegen in beständiger Anspannung ihres Herzens darauf bedacht sein, allen Aufwand an überflüssigem Reichtum zu meiden und vollends die Ausschweifung zu dämpfen. Sie sollen sich fleißig hüten, sich nicht aus Hilfen Hemmnisse zu bereiten!

 

 

III, 10,5

 

Die zweite Regel heißt (vgl. Sektion 4, Seite 469, Zeile 1): wenn einer in engen und kargen Verhältnissen lebt, so soll er geduldig zu entbehren wissen, um sich nicht in maßloser Begierde nach dem, was ihm fehlt, zu beunruhigen. Wer sich an diese Regel hält, der ist in der Schule des Herrn nicht wenig vorangekommen. Wer andererseits in diesem Stück nicht wenigstens einige Fortschritte gemacht hat, der wird sich schwerlich als Jünger Christi erweisen können. Denn zunächst gesellen sich zum Trachten nach irdischen Dingen vielerlei andere Laster. Und dann wird ja auch der, welcher den Mangel ohne Geduld trägt, beim Überfluß in der Regel das gegenteilige Gebrechen an den Tag legen. Das verstehe ich so: wenn einer sich in geringer Kleidung schämt, dann wird er sich in köstlichem Gewände brüsten; ist einer mit einfachem Mahl nicht zufrieden und läßt er sich von der Begierde nach einem vornehmeren beunruhigen, so wird er auch die Genüsse maßlos mißbrauchen, wenn sie ihm einmal zufallen; wenn jemand eine vor der Öffentlichkeit verborgene und niedrige Stellung einnimmt und das nur schwer und unruhigen Herzens erträgt, so wird er sich, sofern er einmal zu Ehren kommt, schwerlich von aufgeblasenem Stolz zurückhalten. Darum soll jeder, der ohne Heuchelei nach Frömmigkeit trachtet, danach streben, daß er lerne, was der Apostel uns an seinem eigenen Beispiel zeigt: „Ich bin ... geschickt, beides, satt sein und hungern, beides, übrig haben und Mangel leiden“ (Phil. 4,12).

Außerdem hat die Schrift noch eine dritte Regel, um uns für den Gebrauch der irdischen Dinge das rechte Maß zu geben. Von ihr haben wir schon einiges gesagt, als von den Geboten der Liebe die Rede war. Wir stellten da nämlich fest: all diese irdischen Dinge sind uns dergestalt aus Gottes Freundlichkeit geschenkt und in Nutzung gegeben, daß sie gewissermaßen anvertrautes Gut darstellen, über welches wir einst Rechenschaft ablegen müssen. So sollen wir dies Gut also austeilen und uns dabei stets das Wort in den Ohren klingen lassen: „Tu Rechnung von deinem Haushalten!“ (Luk. 16,2). Zugleich sollen wir auch bedenken, wer das eigentlich ist, der auf diese Weise Rechenschaft von uns fordert: es ist doch der, der uns Enthaltsamkeit, Nüchternheit, Besonnenheit und Mäßigkeit so sehr anempfohlen hat und demgemäß Ausschweifung, Hoffart, Prahlerei und Eitelkeit verflucht. Er billigt keine andere Austeilung unserer Güter als die, bei der auch die Liebe waltet. Er hat alle Vergnügungen, die das Menschenherz von der Keuschheit und Reinheit wegführen oder unseren Sinn mit Finsternis umhüllen, bereits jetzt mit eigenem Munde verdammt.

 

III,10,6

 

Zum Schluß ist noch wichtig zu bemerken, daß der Herr jedem einzelnen von uns befiehlt, bei allem Tun und Lassen auf seinen Beruf zu achten. Denn er wußte ja, wieviel brennende Unrast den Menschengeist erfüllt, wieviel unstete Leichtfertigkeit ihn hin- und hertreibt und wie gierig sein Ehrgeiz ist, die verschiedensten Dinge zugleich an sich zu nehmen! Er hat also, damit nicht durch unsere Torheit und Ver-messenheit alle Dinge im Himmel und auf Erden durcheinandergeworfen würden, die verschiedenen Lebensgestalten (vitae genera) eingesetzt und jeder ihre besonderen Pflichten zugeordnet. Und damit keiner unbedacht seine Grenzen überschreite, hat er diese Lebensgestalten Berufe genannt. Für jeden einzelnen von uns ist also unsere Lebensgestalt gewissermaßen ein Wachtposten, den uns der Herr zugewiesen hat, damit wir nicht unser Leben lang umgetrieben werden. Diese Unterscheidung (der Berufe) ist von sehr großer Bedeutung; ja, nach ihr richtet sich die Beurteilung all unseres Handelns vor Gott; und zwar oft wesentlich anders, als unsere Menschenoder Philosophenvernunft urteilen würde. So gilt es z.B. auch bei den Philosophen als die herrlichste aller Taten, wenn einer sein Vaterland von der Tyrannis befreit. Das Wort des himmlischen Richters dagegen spricht gegen den, der als Privatmann die Hand gegen einen Tyrannen erhoben hat, ein klares Verdammungsurteil.

 

Ich will mich aber nicht mit der Aufzählung von Beispielen aufhalten. Die Hauptsache ist, wenn wir wissen, daß die Berufung des Herrn der Ausgangspunkt und die Grundlage für alles rechte Handeln ist; wer sich danach nicht richtet, der wird in (der Stellung zu) seinen Pflichten nie und nimmer den rechten Weg innehalten! Ein solcher Mensch mag wohl zuweilen etwas vollbringen, das dem Anschein nach löblich ist; aber wie es auch vor Menschenaugen aussehen mag: vor Gottes Thron wird es verworfen werden. Zudem wird (bei einem solchen Menschen) auch in den einzelnen Lebensgebieten selber keinerlei Gleichmaß herrschen. Darum wird unser Leben am richtigsten gestaltet werden, wenn wir es nach diesem Gesichtspunkt richten. Denn dann wird sich keiner von seiner eigenen Vermessenheit dazu treiben lassen, mehr zu unternehmen, als es sein Beruf mit sich bringt; dann wird er eben wissen, daß es uns verwehrt ist, unsere Grenzen zu überspringen. Wer ein unbeamteter Mann ist, der wird sein ohne öffentliche Aufgaben dahingehendes („privates“) Leben ohne Verdrießlichkeit führen, damit er nicht den Platz verläßt, an den ihn Gott gestellt hat. Auf der anderen Seite wird es uns in Sorgen, Mühen und Schwierigkeiten und anderen Lasten keine geringe Erleichterung bereiten, wenn jeder Einzelne weiß, daß Gott in all diesen Dingen sein Führer ist. Ist er obrigkeitliche Person, so wird er dann williger sein Amtswerk ausüben, ist er Familienvater, so wird er seine Pflicht fleißig tun - und es wird jeder in seiner Lebensgestalt Unannehmlichkeit, Sorgen, Verdruß und Ängste tragen und herunterschlucken, wenn er gewiß sein darf, daß jedem seine Last von Gott auferlegt ist. Daraus entspringt dann auch ein herrlicher Trost: denn wenn wir nur unserem Beruf gehorchen, so wird kein Werk so unansehnlich und gering sein, daß es nicht vor Gott leuchtet und für sehr köstlich gehalten wird!

 

Elftes Kapitel

 

 

 

Von der Rechtfertigung durch den Glauben. Was bedeutet der Ausdruck und um was handelt es sich in der Sache?

 

 

 

III,11,1

 

Ich glaube oben bereits eingehend genug auseinandergesetzt zu haben, wie für die Menschen, die vom Gesetz verflucht sind, nur ein einziges Mittel besteht, das Heil wiederzuerlangen, nämlich der Glaube. Desgleichen hoffe ich genügend gezeigt zu haben, was dieser Glaube selbst ist, welche Wohltaten Gottes er dem Menschen zuteil werden läßt und welche Früchte er in ihm wirkt. Die Hauptsache war dies: Christus ist uns durch Gottes Freundlichkeit gegeben; im Glauben erfassen und besitzen wir ihn. Durch die Gemeinschaft mit ihm empfangen wir vornehmlich eine doppelte Gnade: einerseits werden wir durch seine Unschuld mit Gott versöhnt, so daß er jetzt nicht mehr unser Richter ist, sondern wir an ihm unseren gnädigen Vater im Himmel haben, und andererseits werden wir durch seinen Geist geheiligt und trachten nun nach Unschuld und Reinheit des Lebens. Von dieser Wiedergeburt, welche die zweite Gnade darstellt, ist nun schon die Rede gewesen, soweit es mir zureichend erschien. Um was es sich bei der Rechtfertigung handelt, das wurde deshalb kürzer berührt, weil die Sache es erforderte, daß wir uns zunächst zweierlei deutlich machten: einerseits ist der Glaube, durch den allein wir die Gerechtigkeit aus Gnaden durch Gottes Barmherzigkeit erlangen, durchaus nicht etwa müßig, ohne alle guten Werke, und andererseits müssen wir auch wissen, wie denn diese guten Werke der Heiligen beschaffen sind, um die sich ja ein Teil dieser ganzen Frage dreht. Jetzt müssen wir diese Frage (nämlich die nach der Rechtfertigung) gründlich durchdenken, und dabei ist stets fest im Auge zu behalten, daß sie den hauptsächlichen Pfeiler darstellt, auf dem unsere Gottesverehrung ruht - Grund genug, hier die größte Aufmerksamkeit und Sorgfalt walten zu lassen! Weißt du nicht vor allen Dingen, wie es bei Gott um dich steht und was er für ein Urteil über dich spricht, so gibt es keinen Grund, auf dem dein Heil ruhen könnte und deshalb auch kein Fundament, auf dem du die Frömmigkeit gegen Gott aufrichten könntest! Wie notwendig es ist, hier Erkenntnis zu erwerben, das wird uns noch deutlicher werden, wenn wir uns dieser nun selbst zuwenden.

 

 

 

III,11,2

Wir müssen uns aber hüten, nicht gleich beim ersten Anfang zu straucheln - und das müßte geschehen, wenn wir in die Auseinandersetzung einträten, ohne zu wissen, um was es sich überhaupt handelt! Deshalb wollen wir zunächst untersuchen, was eigentlich gemeint ist, wenn es heißt: „Der Mensch wird vor Gott gerechtfertigt“ oder „er wird durch den Glauben“ oder „durch die Werke“ „gerechtfertigt“. Wenn von einem Menschen gesagt werden kann: „Er wird vor Gott gerechtfertigt“, so bedeutet das: er wird vor Gottes Gericht als gerecht angesehen und ist um seiner Gerechtigkeit willen Gott angenehm. Denn die Ungerechtigkeit ist Gott zuwider, und deshalb kann der Sünder vor seinen Augen keine Gnade finden, sofern er Sünder ist und als solcher angesehen wird. Wo also Sünde ist, da tritt auch Gottes Zorn und Strafvergeltung hervor. Gerechtfertigt wird aber der, der nicht als Sünder, sondern als Gerechter gilt; in dieser Eigenschaft kann er vor Gottes Gericht, vor dem alle Sünder zusammenbrechen müssen, bestehen. Wird ein unschuldiger Mann als Angeklagter vor einen gerechten Richter geführt und geschieht dort der Urteilsspruch seiner Unschuld entsprechend, so heißt es von ihm: er ist vor dem Richter gerechtfertigt worden. Genau so wird der vor Gott grechtfertigt, der aus der Schar der Sünder herausgenommen wird und in Gott den Zeugen und Verteidiger seiner Gerechtigkeit findet. Wenn es also von einem Menschen heißen soll, er sei durch seine Werke gerechtfertigt, so kann das nur dann der Fall sein, wenn sich in seinem Leben eine solche Reinheit und Heiligkeit findet, die vor Gottes Thron das Zeugnis

 

verdient, gerecht zu sein, oder wenn er durch die tadellose Sauberkeit seiner Werke Gottes Urteil entsprechen und Genüge leisten kann. Durch den Glauben dagegen wird der gerechtfertigt, der, von der Werkgerechtigkeit ausgeschlossen, Christi Gerechtigkeit durch den Glauben ergreift; ist er mit dieser Gerechtigkeit Christi umkleidet, so erscheint er vor Gottes Blick nicht als Sünder, sondern gleich als gerecht. Unter „Rechtfertigung“ verstehe ich also schlicht die Annahme, mit der uns Gott in Gnaden aufnimmt und als gerecht gelten läßt. Ich sage nun weiter: sie beruht auf der Vergebung der Sünden und der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi.

 

 

 

III,11,3

 

Das läßt sich mit vielen klaren Schriftzeugnissen bestätigen. Zunächst läßt sich nicht abstreiten, daß die oben gegebene Erklärung des Wortes „Rechtfertigung“ den eigentlichen Sinn trifft und die gebräuchlichste ist. Es würde aber zu weit führen, hier all die einschlägigen Schriftstellen aufzuzählen und untereinander zu vergleichen; es mag daher genügen, wenn ich den Leser darauf aufmerksam gemacht habe; er wird dann ganz von selbst leicht die entsprechenden Beobachtungen machen. Ich will nur einige wenige Stellen anführen, in denen ausdrücklich von der Rechtfertigung, von der hier ja die Rede ist, gesprochen wird.

 

Wenn uns da zunächst Lukas berichtet, das Volk habe nach dem Anhören der Rede Christi „Gott gerechtfertigt“ (Luther: „recht gegeben“, Luk. 7,29), oder wenn uns Christus sagt, die Weisheit müsse „sich rechtfertigen lassen von ihren Kindern“ (Luk. 7,35), so bedeutet das an der ersten Stelle nicht, daß der Mensch Gott Gerechtigkeit verschaffe; denn die bleibt unangetastet Gottes Eigentum, mag sich die ganze Welt auch mühen, sie ihm streitig zu machen; es bedeutet bei dem zweiten Wort auch nicht, daß der Mensch die Lehre des Heils erst gerecht mache - denn das ist sie ohnehin. Beide Worte bedeuten vielmehr das gleiche: Gott und seine Lehre bekommen das Lob zugemessen, das sie tatsächlich verdienen. Wenn Christus auf der anderen Seite den Pharisäern vorhält, sie rechtfertigten sich selbst (Luk. 16,15), so versteht er das nicht so, als ob sie wirklich mit rechtem Tun Gerechtigkeit erwürben, sondern er will sagen, sie maßten sich ehrgeizig den Ruf einer Gerechtigkeit an, die sie gar nicht besäßen! Was hier gemeint ist, kann der besser verstehen, der des Hebräischen kundig ist: da heißen nämlich nicht nur die Menschen „Übeltäter“, die sich einer Übeltat bewußt sind, sondern (alle) die, welche unter dem Verdammungsurteil stehen. Wenn z.B. Bathseba sagt: „Ich und mein Sohn Salomo müssen Sünder sein ...“ (1. Kön. 1,21), so erkennt sie damit keine Übeltat an, sondern beklagt sich, daß sie mitsamt ihrem Sohne dem Vorwurf ausgesetzt und zu den Verworfenen und Verdammten gerechnet werden würde. Der Zusammenhang macht dabei aber leicht deutlich, daß dies Wort auch im Lateinischen ausschließlich ein über einen Menschen oder eine Sache ergehendes Urteil bedeutet, nicht aber irgendeine Eigenschaft dieser Sache selber bezeichnet.

Was aber unseren eigentlichen Gegenstand betrifft: Paulus schreibt: „Die Schrift aber hat es zuvor gesehen, daß Gott die Heiden durch den Glauben gerecht macht“ (Gal. 3, 8); das kann man aber nur so verstehen, daß Gott Gerechtigkeit aus dem Glauben zurechnet. Ähnlich sagt er Röm. 3,26, Gott mache den Gottlosen gerecht, „der da ist des Glaubens an Jesum“; da kann der Sinn nur der sein, daß Gott den Sünder durch das Gnadengeschenk des Glaubens von der Verdammnis freimacht, die er mit seiner Gottlosigkeit verdient hatte. Noch deutlicher zeigt das jenes Schlußwort, wo Paulus ausruft: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, welcher ... vertritt uns!“ (Röm. 8,33f.). Das bedeutet doch das gleiche, als wenn er sagte: Wer will die verklagen, die Gott losgesprochen hat? Wer will die verdammen, die Christus mit seinem Schutz verteidigt? Rechtfertigen bedeutet also nichts anderes, als einen Men-

 

schen, der unter Anklage stand, gleichsam auf Grund erwiesener Unschuld von der Schuld loszusprechen. Wenn uns nun Gott auf Grund des Eintretens Christi für uns rechtfertigt, so spricht er uns nicht in Anerkennung unserer eigenen Unschuld los, sondern durch Zurechnung der Gerechtigkeit: wir werden also in Christus für gerecht gehalten, obwohl wir es in uns nicht sind. So hören wir es auch Apostelgeschichte 13 in der Rede des Paulus: „... daß euch verkündigt wird Vergebung der Sünden durch diesen und von allem, wovon ihr nicht konntet im Gesetz Mose\'s gerecht werden. Wer aber an diesen glaubt, der ist gerecht“ (Apg. 13,38). Hier sieht man, daß im Anschluß an die Vergebung der Sünden die Rechtfertigung gewissermaßen als Erläuterung zugesetzt wird. Man sieht auch deutlich, daß Rechtfertigung klar den Sinn von Freisprechung hat, daß sie den Werken des Gesetzes abgesprochen wird und daß sie eine reine Gnadengabe Christi ist; man gewahrt auch, daß sie durch den Glauben ergriffen wird, und man sieht schließlich, daß da als Bedingung die Genugtuung vorausgesetzt ist: Paulus sagt, wir würden durch Christus von unseren Sünden gerechtfertigt. Wenn so (z.B.) von dem Zöllner gesagt wird: „Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus ...“ (Luk. 18,14) - dann können wir doch nicht behaupten, er habe die Gerechtigkeit durch irgendein Verdienst der Werke errungen! Es heißt also: Er hat Vergebung der Sünden erlangt und ist daraufhin vor Gott für gerecht gehalten worden! Er ist also nicht durch Anerkennung seiner Werke, sondern durch den gnädigen Freispruch Gottes gerecht geworden. Es ist deshalb sehr fein, wenn Ambrosius das Bekenntnis der Sünden die rechte Rechtfertigung nennt! (Auslegung des 118. Psalms,10).

 

 

 

III,11,4

Nun wollen wir aber den Streit um das Wort „Rechtfertigung“ fahren lassen und die Sache selber betrachten. Schauen wir sie aber an, so wie sie uns beschrieben wird, so wird kein Zweifel mehr bleiben. Paulus sagt Epheser 1, Vers 5 (und 6). „Und er hat uns verordnet zur Kindschaft gegen ihn selbst durch Jesum Christum, nach dem Wohlgefallen seines Willens, zu Lob seiner herrlichen Gnade, durch welche er uns hat angenehm gemacht ...“ (Eph. 1,5f.). „Angenehm gemacht“ ist gleichbedeutend mit „angenommen“. Paulus bezeichnet hier also ganz sicher die Rechtfertigung als „Annahme“. Er will nämlich hier eben das gleiche sagen, wie er es sonst gewöhnlich ausdrückt: Gott rechtfertigt uns aus lauter Gnaden (Röm. 3,24). Im vierten Kapitel des Römerbriefs aber nennt er die Rechtfertigung zunächst „Zurechnung der Gerechtigkeit“ (Röm. 4,6), und dann schließt er sie ohne Bedenken mit der Vergebung der Sünden zusammen. Er sagt: „Nach welcher Weise auch David sagt, daß die Seligkeit sei allein des Menschen, welchem Gott (zugute hält oder) zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke, da er spricht: \'Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind ...\'” (Röm. 4,6f.; die Klammer ist erläuternder Zusatz Calvins). Hier ist doch ganz sicher nicht von einem Teil der Rechtfertigung die Rede, sondern vom Ganzen! Paulus bezeugt dabei, daß David eine Beschreibung der Rechtfertigung gegeben hat, wenn er die selig preist, denen ihre Sünden aus Gnaden vergeben werden! Daraus wird deutlich, daß diese Gerechtigkeit, von der er redet, einfach das Gegenteil von Schuldzustand bedeutet! In dieser Beziehung ist die klarste Stelle die, wo Paulus die Botschaft des Evangeliums darin zusammenfaßt: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“ Denn Gott will uns nach diesem Wort durch Christus in Gnaden annehmen, indem er uns unsere Sünden nicht zurechnet (2. Kor. 5,18ff.). Der Leser muß da den ganzen Zusammenhang gründlich erwägen: Paulus macht gleich nachher den erläuternden Zusatz: „Denn er hat Christus, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor. 5,21, nicht ganz Luthertext); damit will er zeigen, auf welche Weise unsere Versöhnung zustande gekommen ist; der Ausdruck „Versöhnen“

 

bedeutet also zweifellos nichts anderes als „Rechtfertigen“. Auch der Satz, den uns Paulus an anderer Stelle ausspricht, nämlich daß wir durch Christi Gehorsam gerecht werden (Röm. 5,19), würde gewiß keinen Bestand haben, wenn wir nicht in ihm und außer uns selber vor Gott für gerecht erklärt würden!

 

 

 

III,11,5

 

Nun hat aber Osiander wer weiß was für ein Ungeheuer von „wesenhafter Gerechtigkeit“ (essentialis iustitia) aufgebracht. Er hatte gewiß nicht im Sinn, die Gerechtigkeit aus Gnaden abzutun; aber er hat sie dermaßen mit Finsternis umhüllt, daß er fromme Gemüter damit in Dunkelheit versetzt und sie des ernstlichen Empfindens der Gnade Christi verlustig gehen läßt. Ich muß also, bevor ich zu anderen Fragen übergehe, dieses Wahngebilde widerlegen.

 

Zunächst: diese Spekulation ist lauter unnützer Vorwitz. Osiander häuft zwar viele Schriftzeugnisse auf, um zu beweisen, daß Christus mit uns eins wird und wir mit ihm - was doch keines Beweises bedarf! -; aber er achtet nicht auf das Band dieser Einheit und deshalb verstrickt er sich selber. Es ist uns aber leicht, alle seine Knoten aufzulösen, da wir daran festhalten, daß unsere Einung mit Christus durch die verborgene Kraft seines Geistes erfolgt.

 

Dieser Mann hat einen Gedanken gefaßt, der den Lehren der Manichäer verwandt ist: er will nämlich Gottes Wesen in den Menschen übergehen lassen. Daraus ist ihm dann noch ein zweites Hirngespinst entsprungen: Daß Adam zum Bilde Gottes gestaltet worden ist, soll seinen Grund darin haben, daß Christus bereits vor dem Fall zum Urbild der menschlichen Natur bestimmt war. Ich will mich aber kurz fassen und deshalb bei der hier vorliegenden Frage bleiben.

 

Osiander behauptet, wir seien mit Christus eins. Das geben wir zu; dagegen bestreiten wir, daß Christi Wesen mit dem unseren vermischt werde. Weiterhin stellen wir aber fest, daß jener Ausgangspunkt (nämlich das Einssein Christi mit uns!) dann verkehrterweise so gedreht wird, daß Osiander folgendes Blendwerk herausbekommt: Christus ist unsere Gerechtigkeit, weil er ewiger Gott, weil er die Quelle der Gerechtigkeit, ja, weil er Gottes Gerechtigkeit selber ist. Nun muß der Leser verzeihen, wenn ich hier solche Dinge, die nach den Erfordernissen rechter Unterweisung auf später verschoben werden müssen, bloß berühre. Osiander entschuldigt sich freilich, er habe mit dem Ausdruck „wesenhafte Gerechtigkeit“ bloß im Sinn, dem Satz entgegenzutreten, wir würden um Christi willen (propter Christum) als gerecht angesehen. Aber er erklärt doch ganz deutlich, daß er mit der Gerechtigkeit, die uns aus Christi Gehorsam und Todesopfer zugekommen ist, nicht zufrieden ist und deshalb vorgibt, wir wären wesensmäßig in Gott gerecht, und zwar durch Eingießung seines Wesens und seiner Eigenart. Das ist nämlich der Grund, weshalb er so scharf behauptet, in uns wohne nicht allein Christus, sondern auch der Vater und der Heilige Geist! Ich gebe zwar zu, daß dies stimmt, aber ich behaupte, daß er es unsinnig verdreht. Er hätte nämlich besser überlegen sollen, in welcher Weise solche „Einwohnung“ stattfindet! Vater und Geist sind doch in Christus, und wie in ihm „wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol. 2,9), so besitzen wir in ihm Gott ganz! Was er also vom Vater und vom Heiligen Geist für sich allein vorbringt, führt nur zu dem Ziel, schlichte Leute von Christus abzuziehen.

Dann behauptet er eine wesensmäßige Vermischung: danach ergießt sich Gott in uns hinein und macht uns gewissermaßen zu einem Stück von ihm selber. Die Tatsache nämlich, daß es durch die Kraft des Heiligen Geistes zu solchem Zusammenwachsen mit Christus kommt, daß er dadurch unser Haupt wird und wir seine Glieder werden - die gilt ihm schier gar nichts, wenn sich nicht sein Wesen mit uns vermischt! Aber, wie gesagt, kommt seine eigentliche Meinung noch besser zum Vorschein, wenn er vom Vater und vom Heiligen Geiste redet: wir werden danach nicht einzig und allein durch die Gnade des Mittlers gerechtfertigt,

 

auch wird uns die Gerechtigkeit nicht schlicht und vollkommen in seiner Person dargeboten, sondern wir werden der göttlichen Gerechtigkeit teilhaftig, wenn sich Gott wesenhaft mit uns eint.

 

 

 

III,11,6

 

Behauptete nun Osiander bloß, wenn Christus uns rechtfertige, so würde er durch wesenhafte Verbindung der unsere, und er sei unser Haupt nicht allein, sofern er Mensch sei, sondern lasse auch das Wesen seiner göttlichen Natur in uns überfließen - dann könnte er sich mit geringerem Schaden an seiner Liebhaberei weiden, dann brauchte man vielleicht auch wegen eines solchen Wahngebildes nicht einen so großen Streit zu erheben. Aber tatsächlich ist dieser Grundsatz wie ein Tintenfisch, der durch Ausscheidung schwarzen, durcheinanderwirbelnden Blutes seine vielen Fangarme verbirgt. Wenn wir also nicht mit Wissen und Wollen ertragen möchten, daß uns jene Gerechtigkeit entrissen wird, die uns allein die Zuversicht verleiht, uns unseres Heils zu rühmen, dann müssen wir hier hart widerstehen. Denn in dieser ganzen Erörterung verwendet er das Dingwort „Gerechtigkeit“ und das Tätigkeitswort „rechtfertigen“ in doppeltem Sinne: Rechtfertigen bedeutet danach nicht allein, daß wir durch gnädige Vergebung mit Gott versöhnt werden, sondern zugleich auch, daß wir gerecht gemacht werden; dementsprechend ist Gerechtigkeit nicht gnädige Zurechnung, sondern Heiligkeit und Reinheit, wie sie uns Gottes Wesen, das in uns seinen Sitz hat, einflößt! Er behauptet dann auch weiter mit Nachdruck, Christus sei nicht insofern unsere Gerechtigkeit, als er unsere Sünden als Priester sühnte und den Vater so mit uns versöhnte, sondern vielmehr, insofern er ewiger Gott und das Leben ist!

Um den ersteren Satz zu beweisen, nämlich um zu zeigen, daß uns Gott nicht bloß durch seine Vergebung, sondern durch die Wiedergeburt rechtfertige, stellt er die Frage, ob denn Gott die Menschen, die er rechtfertige, nun lasse, wie sie von Natur wären, ohne an ihren Lastern etwas zu verändern. Darauf ist aber sehr leicht eine Antwort zu geben: wie nämlich Christus nicht in Stücke zerrissen werden kann, so sind auch diese zwei, die wir miteinander und in fester Verbundenheit in ihm empfangen, nämlich Gerechtigkeit und Heiligung voneinander untrennbar! Wenn also Gott einen Menschen in Gnaden annimmt, dann beschenkt er ihn auch mit dem Geiste der Kindschaft und erneuert ihn durch dessen Kraft zu seinem Ebenbilde. Man kann auch die Helligkeit der Sonne nicht von ihrer Wärme abtrennen - aber sollen wir deswegen behaupten, die Erde werde durch das Licht der Sonne erwärmt und durch ihre Wärme erhellt? Gibt es etwas passenderes für unsere Sache hier als diesen Vergleich? Die Sonne gibt der Erde durch ihre Wärme Leben und Fruchtbarkeit, mit ihren Strahlen erleuchtet und erhellt sie sie; hier liegt eine wechselseitige und untrennbare Verbundenheit vor - aber schon die Vernunft verbietet es uns, das, was dem einen eigen ist, auf das andere zu übertragen! Eine ähnliche Sinnwidrigkeit liegt aber in der Vermischung der zwiefachen Gnade, die Osiander so nachdrücklich vollzieht, weil Gott nämlich tatsächlich die, welche er aus Gnaden für gerecht erklärt, auch zum Dienste der Gerechtigkeit erneuert, vermischt Osiander dieses Geschenk der Wiedergeburt mit jener gnädigen Annahme und behauptet, das sei beides ein und dasselbe! Die Schrift dagegen verbindet diese beiden Gaben auch, zählt sie aber trotzdem getrennt auf, damit uns Gottes vielfältige Gnade noch deutlicher entgegentrete. Es ist nämlich nicht überflüssig, wenn Paulus sagt, Christus sei uns gegeben zur „Gerechtigkeit und zur Heiligung ...“ (1. Kor. 1,30). Wie oft folgert er auf Grund des uns zugekommenen Heils, auf Grund der väterlichen Liebe Gottes, auf Grund der Gnade Christi, daß wir nun auch zu Heiligkeit und Reinheit gerufen sind! Wenn er das aber tut, so zeigt er damit ganz deutlich, daß es zwei verschiedene Dinge sind, ob wir der Rechtfertigung teilhaftig werden oder ob wir neue Kreaturen werden!

 

Was nun aber die Schrift angeht, so verfälscht Osiander genau alle Stellen, die er heranzieht. Wenn Paulus sagt: „Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen rechtfertigt, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit“ (Röm. 4,5, nicht ganz Luthertext) - so legt das Osiander so aus, als ob Paulus vom Gerecht machen spräche. Mit der gleichen Leichtfertigkeit verdreht er das ganze vierte Kapitel des Römerbriefs. Ja, er schämt sich auch nicht, die oben von mir angeführte Stelle in diese falsche Beleuchtung zu rücken: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht!“ (Röm. 8,33). Und dabei ist es doch sonnenklar, daß hier einfach von Schuld und Freispruch die Rede ist und daß die Meinung des Apostels auf der Gegenüberstellung beruht. So läßt sich Osiander sowohl bei jener Beweisführung als auch bei seiner Heranziehung der Schriftzeugnisse bei übler Unzuverlässigkeit ertappen!

 

Ebensowenig richtig ist auch seine Darstellung über das Wort „Gerechtigkeit“: er behauptet, dem Abraham sei sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet worden, nachdem er Christus - der Gottes Gerechtigkeit und Gott selber sei - angenommen und dadurch kraft herrlicher Tugenden eine hervorragende Stellung gewonnen habe. Wir merken daraus deutlich, wie er aus zwei unverdorbenen Dingen in verkehrter Weise ein einziges verdorbenes macht. Denn die Gerechtigkeit, von der hier die Rede ist, bezieht sich nicht etwa auf den ganzen Gang der Berufung des Abraham; nein, der Geist bezeugt uns, daß Abrahams Tugenden zwar herrlich und hervorragend waren und er sie in langer Beharrlichkeit immer größer gemacht hat - daß er aber Gottes Wohlgefallen einzig und allein erlangt hat, weil er die ihm in der Verheißung angebotene Gnade im Glauben annahm. Daraus folgt, daß bei der Rechtfertigung, wie es Paulus so trefflich behauptet, keinerlei Raum für die Werke übrig bleibt.

 

 

 

III,11,7

 

Hier macht nun Osiander die Einrede, die rechtfertigende Kraft komme dem Glauben nicht etwa an sich selbst zu, sondern nur insofern, als er Christus annimmt. Das gebe ich gern zu. Denn wenn der Glaube aus sich selbst heraus oder, wie man sagt, zufolge der ihm innewohnenden Kraft rechtfertigte, so würde er das bloß teilweise fertig bekommen, da er ja stets schwach und unvollkommen ist; unsere Gerechtigkeit wäre dann verstümmelt, und sie würde uns deshalb auch bloß ein Stücklein vom Heil verschaffen. Wir aber verfallen nun auch in keiner Weise in solcherlei Einbildungen, sondern behaupten, daß im eigentlichen Sinne Gott einzig und allein uns rechtfertigt. Dann übertragen wir eben dies auf Christus, weil er uns ja zur Gerechtigkeit gegeben worden ist; den Glauben dagegen vergleichen wir gewissermaßen mit einem Gefäß; denn wir können Christi nur dann teilhaftig werden, wenn wir selber gar ausgeleert sind und mit dem offenen Munde unserer Seele herzutreten, um Christi Gnade zu begehren. Daraus ergibt sich: wenn wir behaupten, daß man Christus selbst im Glauben eher empfängt als seine Gerechtigkeit, so nehmen wir ihm damit die Kraft, uns zu rechtfertigen, durchaus nicht weg.

Indessen kann ich die gewundenen Vergleiche dieses Klüglings nicht anerkennen. So sagt er z.B., der Glaube sei Christus - als ob ein irdener Topf ein Schatz wäre, weil in ihm Gold verborgen liegt! Daß unser Glaube, obwohl ihm an und für sich keinerlei Würde noch Wert zukommt, uns doch dadurch rechtfertigt, daß er eben Christus zu uns bringt - das ist ganz genau so, wie dies, daß ein mit Geld gefüllter Topf einen Menschen reich macht. Ich behaupte also, daß es töricht ist, wenn man den Glauben, der doch bloß ein Werkzeug ist, durch das wir die Gerechtigkeit erlangen, mit Christus vermischt, der die tatsächliche (materiale) Ursache, ja, der der Geber und zugleich der Diener dieser Wohltat ist! Damit ist auch schon der Knoten aufgelöst, wie man das Wort „Glaube“ im Zusammenhang mit der Rechtfertigung zu verstehen habe.

 

III,11,8

 

Noch mehr übersteigt sich Osiander dann bei der Behandlung der Frage, auf welche Weise wir Christus annehmen. Er erklärt nämlich, durch den Dienst des äußeren Wortes nähmen wir das innere an, (und das sagt er,) um uns von dem hohepriesterlichen Amt Christi und von der Person des Mittlers auf Christi ewige Gottheit zu führen. Wir aber teilen Christus nicht, sondern wir bekennen, daß eben der, der uns in seinem Fleische mit dem Vater versöhnte und uns dadurch die Gerechtigkeit schenkte, auch das ewige Wort Gottes ist; zugleich aber bekennen wir, daß er das Amt des Mittlers nicht hätte erfüllen und uns die Gerechtigkeit nicht hätte erwerben können, wenn er nicht ewiger Gott wäre. Das Fündlein des Osiander besagt demgegenüber: da Christus Gott und Mensch ist, so ist er uns nicht im Hinblick auf seine menschliche Natur, sondern im Blick auf die göttliche zur Gerechtigkeit gemacht worden. Bezieht sich dies aber im eigentlichen Sinn auf Christi Gottheit, so kommt es ihm folgerichtig nicht in besonderer Weise (ausschließlich) zu, sondern er hat es mit dem Vater und dem Heiligen Geiste gemeinsam; denn der eine hat keine andere Gerechtigkeit als der andere. Zudem wäre es unangemessen, wenn wir sagten, er sei uns zugut zu etwas gemacht worden, was er doch von Natur seit aller Ewigkeit gewesen ist! Aber selbst wenn ich zugebe, Gott sei uns zur Gerechtigkeit gemacht worden - wie reimt sich dann der dazwischengesetzte Ausdruck, nämlich: er sei „von Gott gemacht ...?“ (1. Kor. 1,30). Nein, wir haben es hier ganz gewiß mit einer besonderen Eigentümlichkeit der Mittlerperson zu tun; diese faßt gewiß die göttliche Natur in sich, wird aber hier mit einem eigenen Titel benannt, durch den sie sich vom Vater und vom Heiligen Geiste unterscheidet.

Es ist aber lächerlich, wie Osiander dabei triumphierend auf das eine Wort des Jeremia verweist, der uns verheißt, der Herr werde unsere Gerechtigkeit sein (Jer. 51,10). Es ergibt sich doch aus dieser Stelle nur dies, daß Christus, der unsere Gerechtigkeit ist, Gott ist, geoffenbaret im Fleisch (Anklang an 1. Tim. 3,16). Wir haben an anderer Stelle aus einer Rede des Paulus das Wort herangezogen, Gott habe sich die Gemeinde „durch sein eigen Blut erworben“ (Apg. 20, 28). Wenn nun einer daraus schließen wollte, das Blut, mit dem unsere Sünden getilgt wurden, sei göttliches Blut gewesen und göttlicher Natur - wer sollte einen solch abscheulichen Irrwahn ertragen? Trotzdem meint Osiander, mit solch kindischer Spitzfindigkeit alles erreicht zu haben, und nun ist er gewaltig stolz, jubiliert und stopft viele Seiten voll mit seinem Wortschwall! Und dabei ist die Lösung ganz einfach und leicht zu erlangen: es soll allerdings heißen, der Herr werde, wenn er zu Davids Sproß geworden sei, unsere Gerechtigkeit sein; aber Jesaja lehrt uns, in welchem Sinne das gemeint ist: „Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen“ (Jes. 53,11). Wir bemerken: hier redet der Vater; er teilt dem Sohne das Amt der Rechtfertigung zu; er fügt auch die Ursache bei: der Sohn ist gerecht -, und er gibt auch die Art und Weise oder, wie man sagt, das Mittel an, nämlich die Lehre, durch die Christus erkannt wird. Es ist nämlich angebrachter, den Ausdruck „daath“ passiv zu verstehen (also: die Erkenntnis, die man von ihm hat, nicht die er selber besitzt). Daraus ziehe ich nun die Folgerung, daß uns Christus zur Gerechtigkeit gemacht wurde, als er Knechtsgestalt annahm, zweitens, daß er uns rechtfertigte, sofern er dem Vater Gehorsam leistete, und daß er uns also solche Gerechtigkeit nicht nach seiner göttlichen Natur zuteil werden läßt, sondern auf Grund der Amtsaufgabe, die ihm aufgetragen war. Denn Gott ist zwar allein die Quelle der Gerechtigkeit, und wir sind nur durch Teilhaben an ihm gerecht; aber wir haben uns in unglückseligem Abfall von seiner Gerechtigkeit entfremdet, und deshalb müssen wir trotzdem auf das untergeordnete Heilmittel (inferior remedium) zurückgehen, daß uns Christus durch die Kraft seines Sterbens und Auferstehens rechtfertigt.

 

III,11,9

 

Er mag nun aber den Einwand erheben, dies Werk gehe in seiner Herrlichkeit über die Natur des Menschen hinaus, und deshalb könne es nur der göttlichen Natur zugeschrieben werden. Da gebe ich das erste zu, dagegen behaupte ich, daß er bei dem zweiten in törichte Wahnvorstellungen verfällt. Gewiß hätte Christus nämlich unsere Seelen nicht mit seinem Blut reinigen, gewiß hätte er den Vater nicht mit seinem Opfer versöhnen und uns von der Schuld losmachen können, auch das Priesteramt hätte er überhaupt nicht zu führen vermocht - wenn er nicht wahrer Gott gewesen wäre; denn das Vermögen des Fleisches vermag solche Last nicht zu tragen. Aber doch ist es sicher, daß er all dies nach seiner menschlichen Natur vollbracht hat! Fragt man, wie wir gerechtfertigt worden sind, so antwortet Paulus: Durch Christi Gehorsam! (Röm. 5,19). Leistete er aber solchen Gehorsam anders als durch Annahme der Knechtsgestalt? Daraus folgern wir, daß uns seine Gerechtigkeit im Fleische entgegentritt. Dementsprechend hat Paulus auch in anderen Worten die Quelle der Gerechtigkeit nirgendwo anders gesehen als im Fleische Christi - ich wundere mich nur sehr, wieso Osiander sich nicht schämt, eben diese Worte mehrmals anzuführen. „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit Gottes“ (2. Kor. 5,21; Schluß nicht Luthertext). Den Ausdruck „Gerechtigkeit Gottes“ rühmt Osiander mit vollen Backen, und er erhebt schon seinen Siegesgesang, als ob er erwiesen hätte, daß es sich dabei um sein Hirngespinst, nämlich die „wesenhafte Gerechtigkeit“ handle! Und dabei lauten die Worte doch ganz anders, sie sagen uns, daß wir um der durch Christus geschehenen Versöhnung willen gerecht sind! Daß man unter der „Gerechtigkeit Gottes“ die „Gerechtigkeit“ verstehen muß, „die vor Gott gilt“ (wie es Luther übersetzt!) - das sollte selbst Anfängern bekannt sein. In der gleichen Weise wird doch bei Johannes die „Ehre bei Gott“ der „Ehre bei den Menschen“ gegen- übergestellt (Joh. 12,43). Ich weiß wohl, daß unter der Gerechtigkeit Gottes zuweilen auch die Gerechtigkeit verstanden wird, deren Geber er selber ist und mit der er uns beschenkt. Daß aber an dieser Stelle nichts anderes gemeint ist, als daß wir, auf das Sühnopfer des Todes Christi gegründet, vor Gottes Richterstuhl bestehen - das begreifen vernünftige Leser auch, wenn ich schweige.

 

Indessen ist an dem Ausdruck nicht viel gelegen; wenn doch Osiander nur darin mit uns einig wäre, daß wir in Christus gerechtfertigt werden, insofern er für uns zum Sühnopfer gemacht worden ist - was allerdings zu seiner göttlichen Natur durchaus nicht paßt! In diesem Sinne stellt uns auch Christus, wenn er uns die Gerechtigkeit und das Heil versiegeln will, die er uns hat zuteil werden lassen, in seinem Fleische ein sicheres Unterpfand dafür vor Augen. Er nennt sich zwar das „lebendige Brot“ (Joh. 6,51), aber er fügt doch zu näherer Erläuterung hinzu: „Mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank“ (Joh. 6,55). Diese Lehrweise wird bei den Sakramenten anschaulich: diese richten zwar unseren Glauben auf den ganzen, ungeteilten Christus, aber sie zeigen uns zugleich, daß die wesentliche Ursache unserer Gerechtigkeit und unseres Heils in seinem Fleische ruht. Nicht als ob ein bloßer Mensch aus sich selbst heraus rechtfertigte oder lebendig machte - sondern weil es Gott gefallen hat, das, was an und für sich verborgen und unbegreiflich war, in dem Mittler offenbar zu machen! Deshalb pflege ich zu sagen: Christus ist uns gewissermaßen eine offengelegte Quelle, aus der wir schöpfen können, was sonst ohne Frucht in jenem verborgenen, tiefen Brunnquell versteckt bliebe, der uns in der Person des Mittlers aufquillt! Auf diese Weise und in diesem Sinne leugne ich nicht, daß uns Christus als Gott und Mensch rechtfertigt, daß dieses Werk zugleich auch dem Vater und dem Heiligen Geiste mit zukommt, ja, daß überhaupt die Gerechtigkeit, deren uns Christus teilhaftig macht, des ewigen Gottes ewige Gerechtigkeit ist - Osiander muß nur den sicheren und klaren Beweisgründen Raum geben, die ich angeführt habe!

 

III,11,10

 

Damit nun aber Osiander mit seiner Sophisterei die Unerfahrenen nicht täusche, so gebe ich zu, daß wir dieses unvergleichlichen Schatzes beraubt sind, ehe Christus unser eigen wird. Bei uns steht also jene Verbindung des Hauptes mit den Gliedern, jene Einwohnung Christi in unseren Herzen, kurz, jene verborgene Einung (mystica unio) an höchster Stelle, daß also Christus unser eigen wird und uns der Güter, die er selber inne hat, teilhaftig macht! Wir schauen ihn also nicht außer uns, von ferne an, damit uns seine Gerechtigkeit zugerechnet werde; nein, weil wir ihn angezogen haben und in seinen Leib eingefügt sind, kurz, weil er sich herabgelassen hat, uns mit sich eins zu machen, darum rühmen wir uns, daß wir Gemeinschaft der Gerechtigkeit mit ihm haben. So widerlegt sich der Vorwurf des Osiander, wir hielten den Glauben für Gerechtigkeit. Gewiß, wir sagen, daß wir im Glauben leer zu ihm kommen, damit wir seiner Gnade Raum geben und er ganz allein uns mit ihr erfülle - aber es ist doch nicht so, als ob wir dadurch Christus seines Rechtes beraubten! Osiander dagegen verachtet diese geistliche Verbundenheit (mit Christus) und will eine grobe Vermischung Christi mit den Gläubigen haben. Wer nun diesen fanatischen Irrtum von der wesenhaften Gerechtigkeit nicht unterschreiben will, den beschimpft er als „Zwinglianer“, weil er nicht der Meinung sei, daß wir im Abendmahl Christus fleischlich genössen! Ich sehe es aber als den höchsten Ruhm an, wenn ich von seiten dieses hoffärtigen und seinen Gaukeleien ergebenen Menschen solch eine Schmähung zu hören bekomme. Freilich trifft er damit nicht allein mich, sondern auch der ganzen Welt wohlbekannte Schriftsteller, die er eigentlich bescheiden verehren sollte. Mir aber macht es nichts aus, weil ich nicht meine eigene Sache betreibe; so kann ich denn in dieser Sache um so lauterer vorgehen, da ich von jeder bösen Absicht frei bin.

 

Daß also Osiander so unangemessen auf die wesenhafte Gerechtigkeit und die wesenhafte Einwohnung Christi in uns drängt, hat folgenden Sinn: Erstens soll sich Gott in grober Vermischung in uns überfließen lassen - wie Osiander auch beim Abendmahl von einem fleischlichen Genießen träumt! -, zweitens soll uns Gott seine Gerechtigkeit einhauchen, durch die wir mit ihm wesenhaft gerecht werden sollen - wie denn nach Osiander diese Gerechtigkeit einerseits Gott selber ist, anderseits aber zugleich Gottes Rechtschaffenheit, Heiligkeit und Reinheit.

 

Die Schriftzeugnisse, die Osiander anführt und die vom himmlischen Leben handeln, verdreht er alle und bezieht sie so auf den gegenwärtigen Zustand. Ich will mir mit ihrer Zurückweisung nicht sehr viel Arbeit machen. So sagt Petrus: durch Christus sind uns „die teuren und allergrößten Verheißungen geschenkt, nämlich daß wir dadurch teilhaftig werden der göttlichen Natur“ (2. Petr. 1,4; Anfang und Schluß ungenau zitiert). Diese Stelle zieht Osiander heran - als ob wir schon jetzt in dem Zustand wären, den wir nach der Verheißung des Evangeliums bei Christi endlichem Kommen erlangen sollen! Dann werden wir allerdings, wie Johannes uns sagt, Gott sehen, wie er ist, weil wir ihm dann gleich sein werden! (1. Joh. 3,2; nicht genau zitiert). Ich wollte den Lesern nur einen entfernten Geschmack geben und damit zeigen, daß ich mich nun absichtlich von diesem Geschwätz abwende, nicht weil es schwer wäre, es zu widerlegen, sondern weil ich mich nicht mit unnützer Arbeit abmühen will!

 

 

 

III,11,11

Mehr Gift ist indessen noch in dem zweiten Gliede (der obigen Behauptung) enthalten, also in Osianders Lehre, wir seien mit Gott zusammen gerecht (vgl. oben). Aber selbst wenn diese Lehre nicht so verderbenbringend wäre, so ist sie - das meine ich bereits zureichend bewiesen zu haben! - doch kalt und inhaltlos, ja sie zerfließt über ihrer Eitelkeit, und deshalb muß sie vernünftigen und frommen Lesern mit Recht abgeschmackt vorkommen! Unter keinen Umständen aber ist das gottlose Unterfangen zu dulden, unter dem Vorwand einer „zwiefachen Gerechtigkeit“ die Heilszuversicht ins Wanken zu bringen und uns über die Wolken emporzuheben, da-

 

mit wir die Gnade der Versöhnung nicht im Glauben erfassen und Gott nicht mit fröhlichem Herzen anrufen sollen! Osiander lacht die Leute aus, die die Lehre vertreten, „Rechtfertigen“ sei ein vom gerichtlichen Brauch hergenommenes Wort (verbum forense); denn nach seiner Ansicht müssen wir ja tatsächlich gerecht sein! Er verwirft auch nichts mehr als die Behauptung, wir würden durch gnädige Zurechnung (der Gerechtigkeit Christi) gerechtfertigt. Nun, wenn uns Gott nicht durch Freisprechung und Verzeihung rechtfertigt - dann weiß ich nicht, was das Wort des Paulus bedeuten soll: „Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu ... Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt!“ (2. Kor. 5,19. 21). Hier wird mir zunächst bestätigt, daß die für gerecht erklärt werden, die mit Gott versöhnt werden. Dann wird zwischendurch auch die Art und Weise dargetan: Gott rechtfertigt uns durch Verzeihung! Im gleichen Sinne wird auch an anderer Stelle (Röm. 8,33) die Rechtfertigung in einen Gegensatz zur Beschuldigung gestellt, eine Gegenüberstellung, die uns klar zeigt, daß die Redeweise vom gerichtlichen Brauch hergenommen ist. Auch wer nur einigermaßen in der hebräischen Sprache bewandert ist, der weiß - wenn er nur ein ruhiges Hirn hat! - sehr wohl, daß der Ausdruck daher (vom richterlichen Brauch) kommt, er weiß auch, was für einen Sinn und was für eine Bedeutung er hat. Ich erinnere ferner an die Behauptung des Paulus, nach welcher David die Gerechtigkeit ohne Werke mit den Worten beschreibt: „Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind ...“ (Röm. 4,7; Ps. 32,1). Da soll mir nun Osiander antworten, ob die Rechtfertigung damit vollständig beschrieben ist oder nur halb! Paulus führt den Propheten doch gewiß nicht als Zeugen an, als ob er lehrte, die Vergebung der Sünden sei bloß ein Teil der Gerechtigkeit oder sie leiste zur Rechtfertigung des Menschen bloß einen Beitrag! Nein, er faßt unter der Vergebung aus Gnaden die ganze Gerechtigkeit zusammen, wenn er sagt: „Selig ist der Mann, dem die Sünden bedeckt sind, dem Gott die Übertretungen vergeben hat, dem der Herr die Missetat nicht zurechnet!“ (Ps. 32,1f.; in lockerer Wiedergabe). Nach der Meinung und dem Urteil des Propheten kommt so die Seligkeit solchen Mannes nicht daher, daß er tatsächlich gerecht ist, sondern durch Zurechnung!

Osiander macht da den Einwand, es bringe Gott Schande und sei seiner Natur zuwider, wenn er Menschen rechtfertige, die tatsächlich gottlos blieben. Da müssen wir aber im Gedächtnis behalten, was ich oben ausgeführt habe: die Gnade, kraft deren wir gerechtfertigt werden, kann von der Wiedergeburt nicht abgetrennt werden, obwohl es zwei verschiedene Dinge sind! Aber es ist uns doch aus der Erfahrung mehr als hinreichend bekannt, daß in den Gerechten stets Überbleibsel der Sünde bleiben, und deshalb muß die Rechtfertigung ganz anders erfolgen, als die Umgestaltung zu neuem Leben. Denn dies zweite fängt Gott in seinen Auserwählten an, er führt es auch während ihres ganzen Lebenslaufs allmählich, zuweilen auch langsam, weiter - aber stets so, daß sie vor seinem Richterstuhl des Todesurteils schuldig sind! Die Rechtfertigung aber geschieht nicht teilweise, sondern vielmehr so, daß die Gläubigen, gleichsam mit Christi Reinheit bekleidet, freien Herzens im Himmel erscheinen! Ein Stück Gerechtigkeit würde auch die Gewissen nicht beruhigen, ehe es feststünde, daß wir Gott wohlgefällig sind, weil wir ohne Einschränkung vor ihm gerecht sind! Die Lehre von der Rechtfertigung wird also verdreht und von Grund auf umgestoßen, wenn Zweifel ins Herz hineindringt, wenn die Heilszuversicht erschüttert wird und die freie, unerschrockene Anrufung (Gottes) Verzug erleidet, ja, wo nicht Ruhe und Friede samt geistlicher Freude fest aufgerichtet werden. Darum schließt auch Paulus aus der Unrichtigkeit des Entgegengesetzten, „das Erbe“ werde nicht „durch das Gesetz erworben“ (Gal. 3, 18); denn dann wäre der Glaube nichts (Röm. 4,14); er müßte ja ins Wanken geraten,

 

wenn er auf die Werke achtete, weil da auch unter den Heiligsten niemand etwas findet, worauf er sein Vertrauen setzen könnte!

 

Zwischen Rechtfertigung und Wiedergeburt, die Osiander durcheinanderwirft und dann zusammen als „zwiefache Gerechtigkeit“ bezeichnet, besteht also ein Unterschied. Den drückt Paulus sehr treffend aus. Spricht er von seiner wirklichen (realen) Gerechtigkeit oder von der ihm geschenkten Reinheit - also von dem, was Osiander mit dem Titel „wesenhafte Gerechtigkeit“ bezeichnet! - so ruft er wehklagend aus: „Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes!“ (Röm. 7,24). Nimmt er aber seine Zuflucht zu der Gerechtigkeit, die allein in Gottes Barmherzigkeit gegründet ist, so trotzt er hochgemut gegen Leben und Tod, gegen Schmach und Hunger, gegen Schwert und alle Widrigkeit: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht! ... Denn ich bin gewiß, daß nichts mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist ...“ (Röm. 8,33. 38f.; zusammenfassend). Er verkündet uns deutlich, daß er eine Gerechtigkeit besitzt, die allein und vollkömmlich vor Gott zum Heil genügt, so daß jene jämmerliche Knechtschaft, deren er sich bewußt ist und angesichts deren er zuvor sein Los beweint hat, doch der Zuversicht des Rühmens nichts abbricht und kein Hindernis bereitet! Diese Zwiefältigkeit ist allen Heiligen wohlbekannt, ja gewohnt: sie seufzen unter der Last ihrer Ungerechtigkeiten, und doch tauchen sie in sieghafter Zuversicht unterdessen über alle Ängste empor!

 

Wenn aber Osiander einwendet, das sei der Natur Gottes zuwider, so fällt der Einwand auf ihn selbst zurück. Denn obgleich er die Heiligen mit seiner „zwiefachen Gerechtigkeit“ wie mit einem Pelzrock kleidet, muß er doch notgedrungen zugeben, ohne die Vergebung der Sünden sei niemand Gott wohlgefällig. Ist das aber wahr, so soll er doch schließlich auch zugeben, daß wir - wie man sagt - hinsichtlich des Teils, der uns zugerechnet wird, für gerecht erklärt werden, ohne es tatsächlich zu sein! Wieweit soll der Sünder dann aber von dieser gnädigen Annahme Gebrauch machen, die an die Stelle der (fehlenden!) Gerechtigkeit treten soll? Zu elf Zwölfteln oder nur zu einem Zwölftel? Da wird er sicherlich unsicher und unstet hin- und herschwanken: denn soviel Gerechtigkeit, wie er braucht, um zuversichtlich zu sein, darf er sich (dann!) doch nicht nehmen! Es ist aber gut, daß in dieser Sache nicht der Richter ist, der Gott hier ein Gesetz vorschreiben will! Indessen wird es schon bestehen bleiben: „daß du recht behaltest in deinen Worten und rein bleibest, wenn du gerichtet wirst!“ (Ps. 51,6). Was ist das doch für eine Vermessenheit, den höchsten Richter zu verdammen, wenn er aus Gnaden den Sünder losspricht, - und dabei jene Antwort außer Kraft setzen zu wollen: „Wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich!“ (Ex. 33,19). Und dabei hatte doch Moses Fürbitte, die Gott mit dieser Antwort zum Schweigen brachte, nicht den Sinn, daß Gott keinen verschonen möge, sondern den umgekehrten: daß er aller Schuld gleichermaßen abtun und sie, so sehr sie auch schuldig waren, doch alle freisprechen möge! Wir sagen nun zwar, daß Gott die Sünden der verlorenen Menschen deshalb begräbt und diese Menschen vor ihm gerecht sein läßt, weil er ja die Sünde haßt und deshalb nur die lieben kann, die er rechtfertigt! Aber das ist eine wundersame Art von Rechtfertigung: unter Christi Gerechtigkeit gedeckt, erschrecken die Gläubigen nicht vor dem Gericht, dessen sie schuldig sind, und wenn sie sich selber mit Recht verdammen, so gelten sie doch außer sich selber für gerecht!

 

 

 

III,11,12

Jedoch sind die Leser zu ermahnen, auf das „Geheimnis“, das Osiander ihnen angeblich nicht verheimlichen will, mit Eifer ihre Augen zu richten. Er hält sich nämlich zunächst lange und ausführlich mit der Behauptung auf, wir erlangten Gnade vor Gott nicht allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, denn es sei Gott unmöglich, Menschen für gerecht gelten zu lassen, die es nicht sind - ich benutze seine eigenen Worte! Dann kommt er endlich zu dem Schluß, Christus sei uns nicht nach seiner menschlichen, sondern nach seiner göttlichen Natur zur Gerech-

 

tigkeit gegeben, und obgleich diese nur in der Person des Mittlers zu finden sei, so sei sie doch nicht eines Menschen Gerechtigkeit, sondern Gottes! Hier windet er nun nicht sein Stricklein aus den zweierlei Gerechtigkeiten, sondern nimmt der menschlichen Natur Christi das Amt der Rechtfertigung stracks fort. Es ist dabei aber der Mühe wert, den Grund festzuhalten, den er anführt. Er erklärt, an der gleichen Stelle (an der Christus als unsere Gerechtigkeit erscheint, nämlich 1. Kor. 1,30) heiße es auch, Christus sei uns „gemacht ... zur Weisheit“ - und das komme doch nur dem ewigen Wort zu! Also sei Christus als Mensch auch nicht unsere Gerechtigkeit! Ich erwidere: gewiß ist der eingeborene Sohn Gottes auch Gottes ewige Weisheit gewesen; bei Paulus aber (nämlich eben 1. Kor. 1,30) wird ihm diese Bezeichnung („Weisheit“) in anderem Sinne zugeschrieben, nämlich weil in ihm „verborgen liegen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis!“ (Kol. 2,3). Er hat uns also das, was er bei dem Vater besaß, offenbart; und so bezieht sich das Wort des Paulus nicht auf das Wesen des Sohnes Gottes, sondern auf unsere Erfahrung an ihm; es kommt also wirklich der menschlichen Natur Christi zu! Denn er leuchtete wohl als das Licht in der Finsternis, bevor er Fleisch annahm; aber es war doch ein verborgenes Licht, bis derselbe Christus in der Natur eines Menschen als die Sonne der Gerechtigkeit hervortrat! Deshalb nennt er sich ja das „Licht der Welt“! (Joh. 8,12).

 

Es ist auch ein törichter Einwand, wenn Osiander behauptet, die Kraft zur Rechtfertigung gehe über das Vermögen der Engel wie erst recht der Menschen weit hinaus. Dies hängt doch nicht von der Würdigkeit irgendeiner Kreatur, sondern von Gottes Anordnung ab! Wenn es den Engeln gefallen sollte, Gott Genugtuung zu leisten, so würden sie damit nichts ausrichten, weil sie eben nicht dazu bestimmt sind. Diese Aufgabe war eben dem Menschen Christus eigentümlich, der „unter das Gesetz getan“ wurde, um uns von dem „Fluch des Gesetzes“ zu erlösen! (Gal. 3,13; 4,4).

 

Eine gar zu bösartige Schmähung ist es auch, wenn Osiander denen, die da bestreiten, daß Christus nach seiner göttlichen Natur unsere Gerechtigkeit sei, den Vorwurf macht, sie ließen von Christus bloß ein Stück übrig, ja, was noch schlimmer ist, sie machten zwei Götter, weil sie zwar zugäben, daß Gott in uns wohne, aber doch behaupteten, wir seien nicht durch Gottes Gerechtigkeit gerecht. (Ich antworte darauf:) Wenn wir Christus den Urheber des Lebens nennen, sofern er den Tod erlitt und so „die Macht nahm dem, der des Todes Gewalt hatte“ (Hebr. 2,14) - so rauben wir doch damit dem ganzen Christus, der da „Gott ist, geoffenbaret im Fleisch“, diese Ehre nicht! Wir halten mit dieser Unterscheidung bloß fest, wieso denn Gottes Gerechtigkeit zu uns kommt, damit wir sie genießen. Hier hat also Osiander einen schlimmen Fall getan! Wir leugnen auch nicht, daß das, was uns in Christus offen dargeboten ist, aus Gottes verborgener Gnade und Kraft herkommt; auch streiten wir nicht darüber, daß die Gerechtigkeit, die uns Christus zuteil werden läßt, Gottes Gerechtigkeit ist, die von ihm ausgeht. Und doch halten wir unentwegt daran fest, daß unsere Gerechtigkeit und unser Leben im Tode und in der Auferstehung Christi bestehen! Ich übergehe hier die beschämende Fülle von Schriftstellen, mit denen Osiander ohne verständige Auswahl, ja, ohne gesunden Menschenverstand die Leser belastet hat (und ihnen die Behauptung aufdringen will), überall, wo die Schrift von der Gerechtigkeit spricht, sei darunter die „wesenhafte Gerechtigkeit“ zu verstehen! Es gibt z.B. wohl hundert Stellen, an denen David Gottes Gerechtigkeit um Hilfe anruft - und Osiander schämt sich nicht, sie alle (in seinem Sinne) zu verfälschen!

Ebensowenig stichhaltig ist sein weiterer Einwurf, im eigentlichen und rechten Sinne heiße Gerechtigkeit das, was uns zum rechten Handeln treibe, Gott allein aber „wirke in uns das Wollen und das Vollbringen“: (Phil. 2,13). Auch wir bestreiten ja gar nicht, daß uns Gott durch seinen Geist zur Heiligkeit und

 

Gerechtigkeit des Lebens erneuert. Aber man muß doch dabei zusehen, ob er das unmittelbar und von sich aus tut - oder aber durch die Hand seines Sohnes, dem er die ganze Fülle des Heiligen Geistes anvertraut hat, damit er aus seinem Überfluß seinen Gliedern in ihrem Mangel Hilfe leiste. Und weiter: allerdings kommt die Gerechtigkeit aus dem verborgenen Brunnquell der Gottheit zu uns; aber daraus folgt noch nicht, daß Christus, der sich doch im Fleische für uns geheiligt hat (Joh. 17,19), nach seiner göttlichen Natur unsere Gerechtigkeit sei.

 

Nicht weniger leichtfertig ist es, wenn Osiander bemerkt, Christus sei selbst durch die göttliche Gerechtigkeit gerecht gewesen, weil er auch selber dem ihm auferlegten Amte nicht Genüge getan hätte, wenn der Wille des Vaters ihn nicht getrieben hätte. Obwohl ich an anderer Stelle ausgeführt habe, daß alle Verdienste, die Christus selbst erworben hat, aus Gottes reinem Wohlgefallen herfließen, so ergibt sich daraus doch keine Berechtigung für das Gespinst, mit dem Osiander seine eigenen Augen und diejenigen schlichter Leute verblendet. Wer sollte denn den Schluß erlaubt finden: weil Gott die Quelle und der Ursprung unserer Gerechtigkeit sei, darum seien wir wesenhaft gerecht und wohne das Wesen der Gerechtigkeit Gottes in uns? Gewiß, um seine Kirche zu erlösen, zieht Gott nach den Worten des Jesaja seine „Gerechtigkeit an wie einen Panzer“ (Jes. 59,17) - aber tut er das, um Christus der Waffen zu berauben, die er ihm gegeben hat, und um ihn so zu einem unvollkommenen Erlöser zu machen? Dabei will aber doch der Prophet bloß darlegen, daß Gott von außen nichts entlehnt und daß er zu unserer Erlösung keinerlei fremde Hilfe gebraucht hat. Das hat Paulus kurz mit anderen Worten ausgesprochen: Gott habe uns das Heil geschenkt, „damit er seine Gerechtigkeit aufweise ...“ (Röm. 3,25; nicht Luthertext). Damit ist aber doch in keiner Weise umgestoßen, was er an anderer Stelle lehrt, nämlich daß wir „durch eines Gehorsam“ gerecht sind! (Röm. 5,19). Kurz, wer eine zwiefache Gerechtigkeit ineinander verwickelt, damit die armen Seelen nicht rein und einzig in Gottes Erbarmen Ruhe finden, der krönt Christus zum Spott mit zusammengeflochtenen Dornen!

 

 

 

III,11,13

Viele Menschen träumen nun von einer Gerechtigkeit, die aus Glauben und Werken zusammengesetzt sein soll. Ich muß also auch das noch erweisen, daß die Gerechtigkeit aus dem Glauben und die Werkgerechtigkeit in solchem Gegensatz zueinander stehen, daß, wo die eine besteht, notwendig die andere umgestoßen wird! Der Apostel sagt: „Ich achte es alles für Kot, auf daß ich Christum gewinne und in ihm erfunden werde, daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christum kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird“ (Phil. 3,8f.). Man sieht, wie Paulus hier entgegengesetzte Dinge miteinander vergleicht und wie er zeigt, daß der, welcher Christi Gerechtigkeit erlangen will, seine eigene Gerechtigkeit fahren lassen muß. Deshalb führt er den Untergang der Juden an anderer Stelle auf die Ursache zurück, daß sie „ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten“ trachteten und deshalb „der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht Untertan“ waren (Röm. 10,3). Wenn wir aber durch Aufrichtung unserer eigenen Gerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes zunichte machen, so ergibt sich daraus deutlich, daß jene voll und ganz abgetan werden muß, damit wir diese erlangen! Das gleiche zeigt Paulus auch, wenn er erklärt, nicht durch das Gesetz werde unser eigener Ruhm ausgeschlossen, sondern durch den Glauben (Röm. 3,27). Daraus folgt: solange eine noch so geringe Gerechtigkeit aus den Werken bleibt, behalten wir auch noch einigen Anlaß zum Rühmen. Nun schließt aber der Glaube alles Rühmen aus, und deshalb kann die Gerechtigkeit aus den Werken unter keinen Umständen mit der Gerechtigkeit aus dem Glauben zusammen bestehen. In diesem Sinne redet Paulus im vierten Kapitel des Römerbriefs mit solcher Klarheit, daß er für keinerlei Sophisterei oder Ausflüchte mehr Raum läßt. Er erklärt: „Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat er wohl Ruhm.“ Aber er setzt gleich hinzu: „Aber nicht vor Gott!“ (Röm. 4,2). Die Schlußfolgerung lautet

 

also: Abraham ist nicht durch die Werke gerechtfertigt worden. Er gibt uns dann noch einen zweiten Beweis, und zwar auf Grund der Unmöglichkeit des Gegenteils: Wenn für die Werke ein Lohn entrichtet wird, so geschieht das „aus Pflicht“ und „nicht aus Gnade“ (Röm. 4,4). Dem Glauben dagegen wird die Gerechtigkeit aus Gnade zugerechnet! Also geschieht es nicht aus dem Verdienst der Werke heraus. Darum fort mit dem Traum solcher Leute, die sich eine aus Glauben und Werken zusammengesetzte Gerechtigkeit erdichten!

 

 

 

III,11,14

 

Aber die Klüglinge, die sich aus der Verfälschung der Schrift und aus inhaltlosem Geschwätz ein Spiel und ein Vergnügen machen, meinen nun eine scharfsinnige Ausflucht zu haben: sie beziehen die Aussagen des Paulus auf solche Werke, welche noch nicht wiedergeborene Menschen bloß dem Buchstaben nach und durch Anstrengung ihres freien Willens, abseits von der Gnade Christi vollbringen; da-gegen leugnen sie, daß sich diese Worte auf die geistlichen Werke beziehen. So wird also der Mensch nach ihrer Meinung einerseits durch den Glauben, andererseits durch die Werke gerechtfertigt - nur soll es sich dabei nicht um seine eigenen Werke handeln, sondern um Gaben Christi und um Früchte der Wiedergeburt. Paulus hat danach also solche Worte nur deshalb gebraucht, weil er die Juden, die sich auf ihre eigenen Kräfte verließen, davon überführen wollte, daß sie sich törichterweise die Gerechtigkeit anmaßten, wo uns doch einzig und allein Christi Geist solche Gerechtigkeit zuteil werden lasse und nicht etwa der Eifer, der aus der eigenen Regung der Natur herstammt! Aber die Klüglinge ziehen nicht in Betracht, daß Paulus bei der Gegenüberstellung der Gerechtigkeit aus dem Gesetz und der Gerechtigkeit aus dem Evangelium, die er uns an anderer Stelle gibt, jegliche Werke ausschließt, mit was für einem Titel sie auch geschmückt sein mögen! (Gal 3,11f.). Denn nach seiner Lehre besteht die Gerechtigkeit aus dem Gesetz darin, daß der das Heil erlangt, der erfüllt, was das Gesetz gebietet. Die Gerechtigkeit aus dem Glauben aber besteht darin, daß wir glauben, daß Christus gestorben und auferstanden ist. Zudem werden wir am gegebenen Ort noch sehen, daß Heiligung und Gerechtigkeit verschiedene Wohltaten Christi sind. Daraus folgt: wo die Kraft, uns zu rechtfertigen, dem Glauben zugeschrieben wird, da kommen auch die geistlichen Werke nicht in Betracht! Wenn Paulus - was ich oben bereits angeführt habe - von Abraham erklärt, er habe keinerlei Grund, sich vor Gott zu rühmen (Röm. 4,2), weil er ja nicht durch Werke gerecht sei, so darf man das nicht auf den im Buchstaben begründeten, äußerlichen Schein von Tugenden beschränken, auch nicht auf die Anstrengung des freien Willens; nein, (Paulus will sagen): so geistlich und schier engelgleich das Leben des Erzvaters auch gewesen sein mag, so reichten die Verdienste der Werke doch nicht hin, um ihm vor Gott Gerechtigkeit zu verschaffen.

 

 

 

III,11,15

 

Die römischen Schultheologen reden hier ein wenig ungeschliffener, indem sie ihre „Vorbereitungen“ (auf den Empfang des Heils, die der Mensch selbst leisten soll!) mit hineinmengen. Trotzdem reden auch jene oben genannten Klüglinge den schlichten und unerfahrenen Leuten eine nicht weniger schlimme Lehrsatzung ein, indem sie unter dem Vorwande des Heiligen Geistes und der Gnade die Barmherzigkeit Gottes, die allein die erschrockenen Seelen zur Ruhe bringen kann, verdecken. Wir dagegen bekennen mit Paulus, daß vor Gott die Täter des Gesetzes gerechtfertigt werden; da wir aber alle weit davon entfernt sind, das Gesetz zu halten, so schließen wir daraus, daß uns auch die Werke, die uns (eigentlich) am allermeisten zur Gerechtigkeit verhelfen sollten, doch gar nichts helfen, weil sie uns eben fehlen!

Was nun die gewöhnlichen Papisten oder Scholastiker anbetrifft, so sind sie hier in doppelter Hinsicht einer Täuschung verfallen: Erstens nennen sie den Glauben

 

die Sicherheit des Gewissens, mit der wir von Gott den Lohn für unsere Verdienste erwarten, zweitens verstehen sie unter der Gnade Gottes nicht die Zurechnung der unverdienten Gerechtigkeit, sondern den Heiligen Geist, der uns beim Trachten nach Heiligkeit seinen Beistand leiht. Sie lesen bei dem Apostel: „Wer zu Gott kommen will, der muß zuvor glauben, daß er sei und denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde“ (Hebr. 11,6). Aber sie beachten nicht, wie nun solches „Suchen“ vor sich geht. Welchen Wahnvorstellungen sie hinsichtlich des Wortes „Gnade“ huldigen, wird aus ihren Schriften ganz offenbar. So erläutert Petrus Lombardus die uns von Christus geschenkte Rechtfertigung in zwiefacher Weise. Erstens, sagt er, rechtfertigt uns der Tod Christi dadurch, daß durch ihn in unserem Herzen die Liebe erweckt wird, durch die wir gerecht gemacht werden; zweitens wird durch ihn die Sünde ausgelöscht, in deren Gefangenschaft uns der Teufel begeben hatte - so daß er also jetzt keinen Anlaß mehr hat, uns zu verdammen! (Sentenzen III,19,1). Man sieht, wie er Gottes Gnade in der Rechtfertigung vornehmlich darin erblickt, daß wir durch die Gnade des Heiligen Geistes zu guten Werken angeleitet werden. Er wollte darin natürlich der Meinung Augustins folgen; aber er folgt ihr eben aus weiter Ferne und weicht von der rechten Nachahmung (seines Vorbildes) erheblich ab: denn wenn Augustin etwas klar gesagt hat, so macht es Petrus Lombardus unklar, und was bei Augustin nicht so gar unrein ist, das verderbt er! Die Schultheologie ist dann noch stets zum Schlimmeren abgeirrt, bis sie sich schließlich in jähem Zusammenbruch in eine Art Pela-gianismus verwickelt hat. Freilich ist auch die Ansicht Augustins selber, oder wenigstens seine Ausdrucksweise, nicht in allen Stücken annehmbar. Gewiß, er nimmt in hervorragender Weise dem Menschen jeden Ruhm auf Grund irgendwelcher Gerechtigkeit und schreibt ihn ganz der Gnade Gottes zu; aber dann bezieht er trotzdem die Gnade auf die Heiligung, in der uns der Heilige Geist eine Wiedergeburt zu neuem Leben schenkt.

 

 

 

III,11,16

 

Wenn dagegen die Schrift von der Gerechtigkeit aus dem Glauben redet, so führt sie uns ganz anderswohin: nach ihrer Weisung sollen wir uns von dem Blick auf unsere eigenen Werke abwenden und allein auf Gottes Barmherzigkeit und Christi Vollkommenheit schauen. Die Ordnung der Rechtfertigung ist nämlich nach der Lehre der Schrift diese: von Anfang an läßt sich Gott aus lauter gnädiger Güte herab, den sündigen Menschen anzunehmen; er sieht dabei nichts an ihm, das ihn zur Barmherzigkeit bewegen könnte, als allein sein Elend. Er gewahrt, wie der Mensch gänzlich nackt und leer ist an guten Werken, aber dann nimmt er aus sich selbst die Ursache, ihm wohlzutun. Dann berührt er den Sünder selber mit dem Empfinden seiner Güte, damit er das Vertrauen auf seine eigenen Werke fahren läßt und sein ganzes Heil auf Gottes Barmherzigkeit gründet. Dies ist das Empfinden des Glaubens, durch den der Sünder in den Besitz seines Heils gelangt, indem er aus der Lehre des Evangeliums erkennt, daß er mit Gott versöhnt ist, da er durch das stellvertretende Eintreten der Gerechtigkeit Christi Vergebung der Sünden erlangt hat und dadurch gerechtfertigt ist, und indem er bedenkt, daß trotz seiner Wiedergeburt durch den Geist Gottes seine Gerechtigkeit immerfort nicht auf den guten Werken beruht, um die er sich müht, sondern allein auf Christi Gerechtigkeit. Wenn man diese Tatsachen alle einzeln erwogen hat, dann ergibt sich daraus eine deutliche Erläuterung unserer Auffassung. Allerdings könnten sie wohl noch besser in anderer Reihenfolge angegeben werden, als es geschehen ist. Aber es liegt wenig daran - wenn nur die einzelnen Stücke im Zusammenhang miteinander stehen, so daß wir den ganzen Tatbestand recht auseinandergelegt und zuverlässig begründet vor uns haben.

 

 

 

III,11,17

Hier müssen wir noch einmal an die bereits festgestellte Wechselbeziehung zwischen Glaube und Evangelium zurückdenken. Der Glaube, so heißt es, macht uns nämlich deshalb gerecht, weil er die im Evangelium uns dargebotene Gerech-

 

tigkeit empfängt und ergreift. Wenn es aber heißt, daß diese Gerechtigkeit durch das Evangelium uns dargeboten wird, so ist damit jede Beachtung der Werke ausgeschlossen. Das zeigt Paulus uns an vielen Stellen, besonders aber an zweien. Zunächst vergleicht er im Römerbrief Gesetz und Evangelium miteinander und erklärt: die Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, richtet sich nach dem Wort: „Welcher Mensch dies tut, der wird dadurch leben!“ (Röm. 10,5). Die „Gerechtigkeit aus dem Glauben“ (Röm. 10,6) dagegen verkündet das Heil unter folgender Bedingung: „So man von Herzen glaubt ..., und so man mit dem Munde bekennt Jesum, daß er der Herr sei, und daß ihn Gott von den Toten auferweckt hat ...“ (Röm. 10,10.9, miteinander verflochten). Da sieht man es doch ganz deutlich, wie der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium darin sich auswirkt, daß das Gesetz die Gerechtigkeit den Werken zuschreibt, das Evangelium sie dagegen aus Gnaden schenkt, ohne alle Mitwirkung von Werken! Eine gewichtige Stelle! Sie kann uns aus vielen Schwierigkeiten heraushelfen, wenn wir erkennen, daß die Gerechtigkeit, die uns durch das Evangelium geschenkt wird, von den Bedingungen des Gesetzes gelöst ist. Das ist auch der Grund, weshalb Paulus mehrfach unter offenkundiger Aufrichtung eines Gegensatzes Gesetz und Verheißung einander gegenüberstellt, so z.B.: „So das Erbe durch das Gesetz erworben würde, so würde es nicht durch Verheißung gegeben ...“ (Gal. 3,18), dazu im gleichen Kapitel noch andere Aussagen in demselben Sinne.

 

Allerdings hat auch das Gesetz seine Verheißungen. Es muß also in den Verheißungen des Evangeliums etwas Besonderes und (vom Gesetz) Verschiedenes liegen, wenn wir nicht zugeben wollen, jene Nebeneinanderstellung sei unangebracht. Dieses Besondere der Verheißungen des Evangeliums besteht darin, daß sie aus lauter Gnade geschehen und einzig auf Gottes Erbarmen gegründet sind, während die Verheißungen des Gesetzes von einer Bedingung abhängig sind, nämlich von den Werken! Nun soll mir aber keiner dazwischenschreien, hier werde doch nur die Gerechtigkeit zurückgewiesen, die die Menschen von sich selbst aus und kraft ihres freien Willens vor Gott zu bringen sich unterstehen! Nein, Paulus lehrt uns ohne jede Einschränkung: das Gesetz erreicht mit seinem Befehlen nichts (Röm. 8,3) - denn es ist ja keiner da, der es erfüllte, weder bei dem großen Haufen, noch auch bei den Allervollkommensten! Gewiß ist die Liebe das wichtigste Hauptstück des Gesetzes; denn der Geist Gottes gestaltet uns zu ihr hin. Aber warum ist auch sie für uns nicht Ursache unserer Gerechtigkeit? Eben darum, weil sie selbst in den Heiligen schwach ist und deshalb an sich keinerlei Lohn verdient!

 

 

 

III,11,18

Die zweite Stelle lautet: „Daß aber durchs Gesetz niemand gerecht wird vor Gott, ist offenbar; denn ‘der Gerechte wird seines Glaubens leben!\\\' Das Gesetz aber ist nicht des Glaubens, sondern der Mensch, der es tut, der wird dadurch leben!\\\'” (Gal. 3,11f.). Wie sollte diese Beweisführung bestehen können, wenn es nicht feststünde, daß beim Glauben die Werke nicht zur Anrechnung kommen, sondern völlig von ihm zu trennen sind? Paulus sagt uns: das Gesetz ist etwas anderes als der Glaube. Wieso aber? Eben deshalb, weil zur Gerechtigkeit nach dem Gesetz die Werke erforderlich sind! Es ergibt sich also: zur Gerechtigkeit aus dem Glauben sind die Werke nicht erforderlich! Diese Vergleichung läßt offenbar werden, daß der, welcher durch den Glauben gerechtfertigt wird, ohne Verdienst der Werke, ja abseits von allem Verdienst der Werke die Rechtfertigung erlangt - denn der Glaube empfängt ja die Gerechtigkeit, die das Evangelium uns zuteil werden läßt! Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium besteht also darin, daß dieses die Gerechtigkeit nicht an Werke bindet, sondern sie allein auf Gottes Barmherzigkeit gründet. Im gleichen Sinne behauptet Paulus im Römerbrief, Abraham habe keinen Anlaß zum Rühmen, weil ihm sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet worden sei (Röm. 4,2ff.). Als Begründung führt er an, daß für die Gerechtigkeit aus dem Glauben da Raum ist, wo keine Werke sind, die auf Lohn An-

 

spruch hätten! Wo Werke sind, führt er aus, da wird ihnen der schuldige Lohn zugemessen; was aber dem Glauben geschenkt wird, das geschieht aus lauter Gnade! Denn die Worte, die er an dieser Stelle verwendet, führen in ihrem Sinn zu diesem Ergebnis. Einige Verse später erklärt er, wir empfingen das Erbe aus Glauben, damit wir es aus Gnaden erlangten, und daraus zieht er die Folgerung, dies Erbe sei uns aus Gnaden gegeben, da wir es ja im Glauben empfingen! (Röm. 4,16). Wieso ist das möglich? Einzig deshalb, weil der Glaube, ohne jede Unterstützung durch die Werke, ganz auf Gottes Erbarmen ruht! Im gleichen Sinne ist es auch zweifellos zu verstehen, wenn er an anderer Stelle lehrt, „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“, sei zwar „bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“, aber sie sei doch „ohne Zutun des Gesetzes offenbart“! (Röm. 3,21). Denn indem er das Gesetz ausschließt, behauptet er, daß wir keinerlei Hilfe durch die Werke empfangen, auch die Gerechtigkeit nicht durch das Tun von Werken erlangen, sondern ganz leer kommen, um sie zu ergreifen!

 

 

 

III,11,19

 

Der Leser bemerkt nun, mit was für Fug und Recht heutzutage die Klüglinge unsere Lehre schmähen, weil wir sagen, der Mensch werde „allein“ durch den Glauben gerechtfertigt. Daß der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird, das wagen sie nicht zu bestreiten, weil es ja so oft in der Schrift ausgesprochen wird. Da sich aber das „allein“ nirgendwo ausdrücklich findet, so wollen sie es nicht leiden, daß wir es hinzusetzen! Wirklich? Was wollen sie aber dann auf die Ausführungen des Paulus antworten, der doch behauptet, die Gerechtigkeit komme nur dann aus dem Glauben, wenn sie uns aus reiner Gnade zuteil werde? (Röm. 4,2ff.). Wie soll sich aber dies „aus reiner Gnade“ mit den Werken reimen? Mit was für Schmähungen wollen sie auch den Worten ausweichen, die er an anderer Stelle ausspricht, wenn er sagt, im Evangelium werde uns „geoffenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“? (Röm. 1,17). Wird die Gerechtigkeit im Evangelium offenbart, so ist sie darin nicht zerfetzt oder halb, sondern ganz und vollkommen beschlossen. Das Gesetz hat also in ihr keinen Raum. Es ist aber eine nicht bloß verkehrte, sondern geradezu lächerliche Ausflucht, wenn sie sich so sehr gegen das Wörtlein „allein“ versteifen. Wenn einer den Werken alles wegnimmt - mißt er es nicht damit voll und ganz dem Glauben allein zu? Lieber Leser, was sollen denn eigentlich solche Sätze bedeuten wie: „Die Gerechtigkeit ist ohne Zutun des Gesetzes offenbart“ (Röm. 3,21) oder „der Mensch wird aus Gnaden gerecht“ (Röm. 3,24; ungenau), und zwar „ohne des Gesetzes Werke“ (Röm. 3,28);

Aber hier haben die Klüglinge eine ganz schlaue Ausflucht. Sie haben sie freilich nicht selber ausgedacht, sondern aus Origenes und einigen anderen von den alten Kirchenvätern entnommen. Aber sie ist trotzdem völlig unangebracht. Sie schwatzen nämlich, in derartigen Schriftworten würden nur die in Zeremonien geschehenden Gesetzeswerke ausgeschlossen, nicht aber die „sittlichen“. So erreichen sie mit ihrem fortwährenden Gezänk, daß sie nicht einmal die Grundbegriffe der Denkkunst erfassen! Der Apostel zieht doch zur Begründung seiner Lehre die Stellen heran: „Welcher Mensch das tut, der wird dadurch leben“ (Röm. 10,5; Gal. 3,12; Lev. 18,5) und: „Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in alledem, was geschrieben steht in dem Buch des Gesetzes, daß er\'s tue!“ (Gal. 3,10; Deut. 27,26). Meinen denn nun jene Leute, der Apostel sei von Sinnen, wenn er diese Schriftworte heranzieht? Wenn sie nicht verrückt sind, so werden sie doch nicht behaupten, hier werde denen das Leben verheißen, die die Zeremonien beobachten, oder denen der Fluch gesprochen, die sie nicht recht halten! Wenn aber diese Stellen auf das sittliche Gesetz bezogen werden müssen, so ist es außer Zweifel, daß auch den sittlichen Werken das Vermögen zur Rechtfertigung abgesprochen wird! In der gleichen Richtung gehen auch solche Schlußfolgerungen, wie sie Paulus anstellt: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ - also wird durch das Gesetz „kein Fleisch

 

gerecht!“ (Röm. 3,20). Oder: „Das Gesetz richtet Zorn an“ - also wirkt es nicht die Gerechtigkeit! (Röm. 4,15, im Zusammenhang mit Vers 16). (Ähnlich:) Weil das Gesetz unser Gewissen nicht sicher machen kann, darum taugt es auch nicht dazu, uns Gerechtigkeit zu verschaffen. Weil der „Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet“ wird (Röm. 4,5), darum ist die Gerechtigkeit keine Belohnung für unsere Werke, sondern sie wird uns unverdientermaßen geschenkt! Weil wir die Gerechtigkeit aus dem Glauben erlangen, darum ist der Ruhm „ausgeschlossen“ (Röm. 3,27). „Wenn ein Gesetz gegeben wäre, das da könnte lebendigmachen, so käme die Gerechtigkeit wahrhaftig aus dem Gesetz. Aber Gott hat alles beschlossen unter die Sünde, auf daß die Verheißung ... werde gegeben denen, die da glauben!“ (Gal. 3,21f.; nicht ganz Luthertext). Nun sollen jene Klüglinge, wenn sie es wagen, ruhig schwatzen, diese Worte bezögen sich auf die Zeremonien und nicht auf die Sitten - es werden doch selbst Kinder eine solche Schamlosigkeit zuschanden machen! Wir wollen also daran festhalten: wenn dem Gesetze das vermögen abgesprochen wird, uns zu rechtfertigen, dann beziehen sich solche Aussagen auf das ganze Gesetz!

 

 

 

III,11,20

 

Vielleicht könnte sich aber jemand verwundern, warum denn Paulus das Gesetz in diese Erörterung hineinzieht und sich nicht einfach damit begnügt, von den Werken schlechthin zu sprechen. Da ist nun der Grund schnell festzustellen. Denn wenn die Werke so hoch geschätzt werden, so haben sie diesen Wert vielmehr aus Gottes Anerkennung, als aus ihrer eigenen Würdigkeit. Wer würde überhaupt wagen, Gott die Gerechtigkeit der Werke anzubieten, wenn Gott solche Gerechtigkeit nicht anerkennte? Wer würde für seine Werke gewissermaßen den verdienten Lohn zu verlangen sich erkühnen, wenn Gott ihn nicht verheißen hätte? Wenn also die Werke für würdig erachtet werden, als Gerechtigkeit zu gelten und demgemäß Lohn zu erlangen, so haben sie dies - aus Gottes Wohltun! Ja, sie haben überhaupt nur in einem Sinne Bedeutung, nämlich wenn der Mensch sie aus der Absicht heraus vollbringt, Gott durch sie seinen Gehorsam zu erzeigen. An einer anderen Stelle will der Apostel beweisen, daß Abraham gar nicht aus den Werken gerechtfertigt werden konnte, und er bringt dazu die Tatsache vor, daß ja das Gesetz erst ungefähr vierhundertunddreißig Jahre nach der Bundschließung (mit Abraham) gegeben worden ist (Gal. 3,17). Unkundige Leute mochten vielleicht über solch einen Beweis lachen, weil doch auch vor der Verkündigung des Gesetzes gerechte Werke möglich gewesen wären. Aber Paulus wußte, daß den Werken ausschließlich aus Gottes Zeugnis und Hochschätzung solche Bedeutung zukommen konnte, und deshalb nahm er es als zugestanden an, daß die Werke vor dem Gesetz keine rechtfertigende Kraft gehabt hätten. Jetzt sehen wir, warum er die Werke, wenn er ihnen die Rechtfertigung absprechen will, ausdrücklich des Gesetzes Werke nennt; denn einzig und allein an ihnen konnte ein Streit entstehen!

 

Zuweilen schließt er freilich auch alle Werke ohne jeglichen Zusatz aus. So zum Beispiel, wenn er erklärt, durch Davids Zeugnis werde die Seligkeit einem solchen Menschen zugesprochen, „welchem Gott zurechnet die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke“ (Röm. 4,6). Die Klüglinge können also mit keinerlei Sticheleien erreichen, daß wir von dem allgemeinen Ausschluß (jenlicher Werke) abgehen!

Vergebens ist es weiter, wenn sie in leichtsinniger Spitzfindigkeit vorwenden, wir würden „allein“ durch den Glauben gerechtfertigt, „der in der Liebe tätig ist“ (Gal. 5,6). In diesem Falle stützte sich also unsere Gerechtigkeit auf die Liebe. Wir geben zwar mit Paulus zu, daß uns kein anderer Glaube rechtfertigt als der, „der in der Liebe tätig ist“ (Gal. 5,6). Aber Paulus nimmt die rechtfertigende Kraft des Glaubens nicht aus diesem Tätigsein in der Liebe! Ja, der Glaube rechtfertigt uns nur aus einem einzigen Grunde, nämlich weil er uns an der Gerechtigkeit Christi Anteil gibt. Im anderen Falle würde alles, was Paulus mit solcher Schärfe behauptet, auseinanderbrechen. Er sagt: „Dem aber, der mit

 

Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnade zugerechnet, sondern aus Pflicht. Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubet aber an den, der den Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit“ (Röm. 4,4f.). Hätte er deutlicher sprechen können als so? Gerechtigkeit des Glaubens - das zeigt er uns - gibt es also nur da, wo keine Werke sind, die auf Lohn Anspruch haben, und der Glaube wird nur da zur Gerechtigkeit gerechnet, wo uns diese Gerechtigkeit aus unverdienter Gnade zuteil wird!

 

 

 

III,11,21

 

Wir haben nun oben in unserer Begriffsbestimmung gesagt, die Gerechtigkeit aus dem Glauben sei die Versöhnung mit Gott, die einzig und allein in der Vergebung der Sünden besteht. Jetzt wollen wir genauer zusehen, wie wahr das ist. Wir müssen dabei stets auf den Grundsatz zurückgehen, daß Gottes Zorn auf allen Menschen ruht, solange sie darin beharren, Sünder zu sein. Sehr fein hat das Jesaja deutlich gemacht: „Siehe, des Herrn Hand ist nicht zu kurz geworden, daß er nicht helfen könne, und seine Ohren sind nicht hart geworden, daß er nicht höre; sondern eure Untugenden scheiden euch und euren Gott voneinander, und eure Sünden verhüllen sein Angesicht vor euch, daß er euch nicht höre!“ (Jes. 59,1f.; Schluß nicht ganz Luthertext). Da hören wir es: die Sünde ist die Scheidung zwischen Mensch und Gott, sie wendet Gottes Blick von dem Sünder ab. Es kann auch nicht anders sein; denn es ist Gottes Gerechtigkeit fremd, mit der Sünde irgendwelche Gemeinschaft zu haben. Deshalb lehrt uns auch der Apostel, daß der Mensch Gottes Feind ist, bis er durch Christus wieder zu Gnaden kommt. Wenn also der Herr einen Menschen in seine Gemeinschaft aufnimmt, dann heißt es: er rechtfertigt ihn; denn er kann ihn nicht in Gnaden annehmen, kann auch keine Verbindung mit ihm eingehen, wenn er ihn nicht aus einem Sünder zu einem Gerechten macht. Ich setze nun hinzu: Dies geschieht durch die Vergebung der Sünden. Wollte man nämlich die Menschen, die Gott mit sich versöhnt hat, nach ihren Werken beurteilen, so würde man finden, daß sie tatsächlich noch Sünder sind, und dabei müssen sie doch von der Sünde frei und rein sein! Es steht also fest: die Menschen, welche Gott annimmt, können nur dadurch gerecht werden, daß er durch die Vergebung der Sünden alle ihre Makel tilgt und sie reinigt. Solche Gerechtigkeit kann man also mit einem Wort als Vergebung der Sünden bezeichnen!

 

 

 

III,11,22

Diese beiden Tatsachen (Rechtfertigung als Versöhnung und Rechtfertigung als Vergebung der Sünden) ergeben sich nun sehr klar aus den bereits angeführten Worten des Apostels: „Denn Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Kor. 5, 19). Als wesentlichen Inhalt seiner Botschaft fügt er dann zu: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt!“ (2. Kor. 5,21). „Gerechtigkeit“ und „Versöhnung“ verwendet er hier unterschiedslos: wir merken also, daß eines das andere wechselseitig einschließt. Zugleich zeigt er uns auch, auf welche Weise wir diese Gerechtigkeit erlangen, nämlich dadurch, daß er uns unsere Sünden nicht zurechnet. Deshalb sollst du nicht weiter zweifeln, wieso uns denn Gott rechtfertige; du hörst doch: er versöhnt uns mit sich, indem er uns unsere Sünden nicht zurechnet! So lesen wir es auch im Römerbrief (4,6-8): an dem Zeugnis des David beweist Paulus, daß dem Menschen die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke zugerechnet wird; denn David nennt den Menschen selig, „dem seine Ungerechtigkeiten vergeben sind und dem seine Sünden bedeckt sind, ... welchem Gott die Sünde nicht zurechnet.“ „Seligkeit“ setzt er da zweifellos für „Gerechtigkeit“; da diese nun aber nach seiner Versicherung in der Vergebung der Sünden besteht, so ist für uns kein Grund vorhanden, sie anders zu beschreiben. Deshalb sagt auch Zacharias, der Vater Johannes des Täufers, in seinem Liede, die „Erkenntnis des Heils“ bestehe „in Vergebung ihrer

 

Sünden“ (Luk. 1,77). Dieser Regel ist auch Paulus gefolgt, wenn er die Predigt von der Hauptsumme des Heils, die er bei den Antiochenern hielt, nach dem Bericht des Lukas mit den Worten beschließt: „... daß euch verkündigt wird Vergebung der Sünden durch diesen und von dem allem, wovon ihr nicht konntet im Gesetz Mose\'s gerecht werden. Wer aber an diesen glaubt, der ist gerecht“ (Apg. 13,38f.). Da verbindet der Apostel die Vergebung der Sünden in der Weise mit der Gerechtigkeit, daß er zeigt: sie sind gänzlich ein und dasselbe! Daraus folgert er dann mit vollem Recht, daß die Gerechtigkeit, die wir aus Gottes Güte empfangen, unverdient ist.

 

Wenn wir sagen, daß die Gläubigen vor Gott nicht durch ihre Werke, sondern durch Gottes gnädige Annahme gerecht sind, so darf solche Rede nicht ungebräuchlich erscheinen; denn in der Schrift kommt sie gar oft vor, und auch die alten Kirchenväter haben mitunter so geredet. So lesen wir irgendwo bei Augustin: „Die Gerechtigkeit der Heiligen besteht in dieser Welt eher in der Vergebung der Sünden als in der Vollkommenheit der Tugenden“ (Vom Gottesstaat, XIX,27). Dem entsprechen die herrlichen Worte des Bernhard: „Nicht zu sündigen, das ist Gottes Gerechtigkeit; des Menschen Gerechtigkeit aber ist Gottes Güte“ (Predigten zum Hohen Liede,23). Zuvor hatte er noch erklärt, Christus sei für uns die Gerechtigkeit dadurch, daß er uns den Freispruch erwirke, und deshalb sei nur der gerecht, der aus Barmherzigkeit Vergebung der Sünden erlangt habe (22).

 

 

 

III,11,23

 

Daraus ergibt sich auch, daß wir allein durch das Eintreten der Gerechtigkeit Christi für uns dahin gelangen, vor Gott gerechtfertigt zu werden. Das bedeutet soviel, als wenn wir sagten: der Mensch ist nicht in sich selbst gerecht, sondern nur deshalb, weil ihm Christi Gerechtigkeit durch Zurechnung mitgeteilt wird. Das ist wert, von uns sehr genau beachtet zu werden. Denn damit zerfällt der Wahn, als ob der Glaube den Menschen deshalb rechtfertige, weil dieser durch den Glauben am Geiste Gottes teilhabe, durch den er (tatsächlich) gerecht gemacht würde; diese Ansicht steht zu der oben entwickelten Lehre in einem schlechthin unversöhnlichen Gegensatz. Denn der Mensch muß doch wohl zweifellos ohne jede eigene Gerechtigkeit dastehen, wenn er gelehrt wird, seine Gerechtigkeit außerhalb seiner selbst zu suchen! Eben dies aber behauptet der Apostel mit größter Deutlichkeit, wenn er schreibt: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zum Sühnopfer für die Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ (2. Kor. 5,21; Mittelstück nicht Luthertext).

Da sieht man: unsere Gerechtigkeit liegt nicht in uns, sondern in Christus; uns kommt sie nur aus dem Rechtsgrunde zu, daß wir an Christus Anteil haben, wie wir ja mit ihm alle seine Reichtümer besitzen! Dem steht nicht entgegen, daß Paulus an anderer Stelle erklärt, die Sünde sei „der Sünde halben“ in Christi Fleisch verdammt worden, „auf daß die Gerechtigkeit, vom Gesetz erfordert, in uns erfüllt würde ...“ (Röm. 8,3). Denn die „Erfüllung“, die Paulus hier meint, ist keine andere als die, welche wir durch Zurechnung erlangen! Denn der Herr Christus gibt uns an seiner Gerechtigkeit mit dem Recht Anteil, daß er dabei auf wundersame Weise - soweit es Gottes Urteil betrifft! - seine Kraft in uns übergehen läßt! Nichts anderes hat Paulus gemeint; das ergibt sich aus einer anderen, kurz vorher befindlichen Stelle mehr als deutlich: „Denn gleichwie durch eines Menschen Ungehorsam viele Sünder wurden, so auch durch eines Gehorsam werden viele Gerechte!“ (Röm. 5,19). Hier gründet also Paulus unsere Gerechtigkeit auf den Gehorsam Christi - aber was heißt das anders, als daß er behauptet: allein deshalb gelten wir als gerecht, weil Christi Gehorsam uns so zugute kommt, als ob er unser eigen wäre? Es scheint mir deshalb sehr richtig zu sein, wenn Ambrosius ein Beispiel dieser Gerechtigkeit in dem Segen findet, den Jakob erlangte. Jakob hatte ja das Erstgeburtsrecht nicht aus sich selber verdient, und doch verbarg er sich in dem Gewand seines Bruders, zog seinen Rock an,

 

der so sehr guten Geruch von sich gab, und schlich sich solchermaßen bei seinem Vater ein, um unter einer fremden Person zu seinem Nutzen den Segen zu empfangen. So verbergen auch wir uns - führt Ambrosius aus - unter der kostbaren Reinheit Christi als unseres erstgeborenen Bruders, um vor Gottes Angesicht das Zeugnis der Gerechtigkeit zu erwirken. Wörtlich sagt Ambrosius: „Daß Isaak \'den Geruch der Kleider roch\' (Gen. 27,27), hat vielleicht die Bedeutung, daß wir nicht durch unsere Werke gerechtfertigt werden, sondern durch den Glauben; denn die Schwachheit des Fleisches ist ein Hemmnis für unsere Werke, die Klarheit des Glaubens aber setzt den Irrtum unserer Werke in den Schatten, und solcher Glaube verdient Vergebung der Sünden“ (Von Jakob und dem seligen Leben, II,2,9). Es verhält sich wirklich so; denn wenn wir vor Gottes Angesicht zu unserem Heil erscheinen sollen, so müssen wir notwendig nach seinem Wohlgeruch duften, und unter seiner Vollkommenheit müssen unsere Laster verdeckt und begraben werden!

 

 

Zwölftes Kapitel

 

 

 

Soll uns die Rechtfertigung aus Gnaden zur ernsten Gewißheit werden, so müssen wir unser Herz zu Gottes Richterstuhl erheben

 

 

 

III,12,1

 

Gewiß, es ist aus sonnenklaren Zeugnissen offenbar, daß dies alles wahr ist; aber wie notwendig es ist, wird uns erst dann klar, wenn wir uns das vor Augen stellen, was die Grundlage der ganzen Auseinandersetzung sein muß. Zunächst muß uns also gegenwärtig sein: hier ist nicht von der Gerechtigkeit nach dem Maßstab menschlicher Gerichte die Rede, sondern von der, die vor Gottes Richterstuhl gilt. Wir dürfen also nicht nach unserem Maß beurteilen, welche Reinheit der Werke dazu gehört, damit Gottes Urteil Genüge geleistet werde. Es ist aber seltsam, mit welchem Vorwitz, welcher Anmaßung man das durchweg bestimmt. Ja, man kann auch wahrnehmen, daß keiner vermessener und - wie man so sagt - mit volleren Backen von der Gerechtigkeit der Werke schwatzt, als solche Leute, die ungeheuerlich unter handgreiflichen Gebrechen leiden oder vor verborgenen Lastern schier bersten! Das kommt daher, daß sie Gottes Gerechtigkeit nicht bedenken; denn wenn sie von ihr auch nur die geringste Erfahrung hätten, dann würden sie nicht dermaßen mit ihr Spott treiben! Man achtet sie aber gewiß nicht einen Pfifferling wert, wenn man nicht anerkennt, daß sie von solcher Art und Vollkommenheit ist, daß ihr nur das wohlgefällt, was in jeder Hinsicht rein und vollkommen und von keinem Schmutz befleckt ist! Das aber hat man noch nie bei einem Menschen finden können und wird es auch nicht finden. Es ist allerdings leicht und jedermann geläufig, in den Lehrräumen der (päpstlichen) Schulen von dem Wert der Werke für die Rechtfertigung des Menschen zu fabeln. Aber wenn man vor Gottes Angesicht tritt, dann muß solches Vergnügen zergehen; denn da wird mit Ernst vorgegangen, da wird kein kurzweiliges Wortgezänk geübt! Hierauf, hierauf müssen wir also unseren Sinn richten, wenn wir mit Nutzen nach der wahren Gerechtigkeit forschen wollen: wir müssen fragen, wie wir dem himmlischen Richter antworten wollen, wenn er uns zur Verantwortung ruft! Wir wollen uns diesen Richter vor Augen stellen - nicht, wie sich ihn unser Verstand von sich aus erträumt, sondern wie er uns in der Schrift beschrieben wird! Vor seinem Glanz erbleichen die Sterne, vor seiner Kraft zerfließen die Berge, sein Zorn erschüttert die Erde, seine Weisheit erhascht die Klugen in ihrer Schlauheit, gegen seine Reinheit ist alles unrein, seine Gerechtigkeit können auch Engel nicht ertragen; vor ihm wird kein Schuldiger unschuldig, und wenn seine Rache entbrennt, so dringt sie bis in die Tiefen der Hölle! So findet man es besonders im Buche Hiob ausgesprochen (vgl. Hiob 9,5; 25,5; 26, 6). Ich sage: Laß ihn zu Gericht sitzen, um die Taten der Menschen zu prüfen - wer kann sich da zuversichtlich vor seinen Thron stellen? „Wer ist unter uns“, sagt der Prophet, „der bei einem verzehrenden Feuer wohnen möge? Wer ist unter uns, der bei der ewigen Glut wohne? Wer in Gerechtigkeit wandelt und redet, was recht ist ...“ (Jes. 33,14f.). Aber der soll doch hervortreten, wer er auch sein mag! Aber nein, gerade diese Antwort hat zur Folge, daß keiner vortritt! Denn auf der anderen Seite ertönt das furchtbare Wort: „So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen?“ (Ps. 130,3). Es müssen also alle sogleich vergehen, wie es auch an anderer Stelle geschrieben steht: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott, oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat? Siehe, unter seinen Knechten ist ihm keiner treu, und seine Boten zeiht er der Verkehrtheit: wie viel mehr, die in Lehmhäusern wohnen und auf Erde gegründet sind und werden von den Würmern gefressen! Es währt vom Morgen bis an den Abend, so werden sie zerschlagen ...“ (Hiob 4,17-20; nicht durchweg Luthertext). Oder auch: „Siehe, unter seinen Heiligen ist keiner getreu, und die Himmel sind nicht rein vor ihm. Wie viel weniger ein Mensch, der ein Greuel und schnöde ist, der Unrecht säuft wie Wasser?“ (Hiob 15,15f.; nicht ganz Luthertext).

 

Ich gebe allerdings zu, daß im Buche Hiob von einer Gerechtigkeit die Rede ist, die erhabener ist als die Beobachtung des Gesetzes. Es ist wichtig, diese Unterscheidung festzuhalten; denn selbst wenn einer dem Gesetz Genüge täte, so hätte er dann doch keinen Bestand vor der Prüfung der Gerechtigkeit, die all unsere Sinne übersteigt! Daher kommt es, daß Hiob sich zwar keiner Schuld bewußt ist, und daß er trotzdem erschrickt und verstummt! Er sieht eben, daß Gott nicht einmal durch die Heiligkeit der Engel versöhnt werden könnte, wenn er ihre Werke auf die höchste Waagschale legte! Ich will also die damit angedeutete Gerechtigkeit fahren lassen, weil sie unbegreiflich ist. Allein dies sage ich: Wenn unser Leben nach der Richtschnur des geschriebenen Gesetzes geprüft wird, so wären wir doch stumpfer als stumpf, wenn uns nicht so viele Fluchworte mit furchtbarer Angst folterten, mit denen uns Gott aus unserer Schläfrigkeit aufwecken will! Dazu gehört vor allem das ganz allgemeine Fluchwort: „Verflucht sei, wer nicht bleibet in alledem, das geschrieben steht in diesem Buche!“ (Deut. 27,26; nicht Luthertext; tatsächlich nach Gal. 3,10 zitiert). Kurz, diese ganze Erörterung ist abgeschmackt und unklar, wenn sich nicht jeder einzelne als Angeklagter vor den himmlischen Richter stellt und sich vor ihm in der Sorge um seinen Freispruch von selbst niederwirft und demütigt!

 

 

 

III,12,2

 

Hierher, hierher müssen wir unsere Augen erheben, damit wir erzittern lernen, statt töricht zu jubilieren! Solange wir mit Menschen in Vergleich treten, ist es freilich leicht zu machen, daß jeder etwas zu besitzen meint, was andere nicht geringschätzen dürfen. Aber wenn wir uns zu Gott erheben, dann zerfällt und zergeht solche Zuversicht schneller, als man es ausdrücken kann. Und dabei macht unsere Seele Gott gegenüber die gleiche Erfahrung, wie unser Leib gegenüber dem sichtbaren Himmel. Denn solange unseres Auges Sehkraft damit beschäftigt ist, die uns zunächstliegenden Dinge zu betrachten, empfängt sie einen Beweis ihrer Schärfe. Richten wir unser Auge dagegen auf die Sonne, so wird es von ihrem gewaltigen Glanz überwältigt und geblendet - und so erfährt es beim Anblick der Sonne ebenso sehr seine Gebrechlichkeit, wie es beim Betrachten der Dinge auf dieser Erde seine Kraft gewahrte. Wir wollen uns also nicht von eitler Zuversicht täuschen lassen: selbst wenn wir den übrigen Menschen gleich oder gar überlegen zu sein glauben, so gilt das Gott gegenüber nichts, und das Urteil über diese Frage steht doch seinem Ermessen zu! Läßt sich unser Übermut aber durch Ermahnungen nicht dämpfen, so wird er uns antworten, was er einst zu den Pharisäern sagte: „Ihr seid\'s, die ihr euch selbst rechtfertigt vor den Menschen. Aber ... was hoch ist vor den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott!“ (Luk. 16,15). Nun magst du hergehen und dich unter den Menschen aufgeblasen deiner Gerechtigkeit rühmen - wo doch Gott sie vom Himmel herab verabscheut! Was sagt aber der Knecht Gottes, der durch seinen Geist in Wahrheit unterwiesen ist? „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht; denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht!“ (Ps. 143,2). Und ein anderer sagt uns, freilich in etwas anderem Sinne: „Ja, ich weiß gar wohl, ... daß ein Mensch nicht mag recht behalten gegen Gott. Hat er Lust, mit ihm zu hadern, so kann er ihm auf tausend nicht eins antworten!“ (Hiob 9,2f.). Hier hören wir deutlich, was es mit Gottes Gerechtigkeit auf sich hat; sie ist eben so, daß wir ihr durch keinerlei menschliche Werke Genüge tun können: wenn sie uns um tausend Übeltaten verhört, so können wir nicht für eine einzige eine Entschuldigung vorbringen! Diese Gerechtigkeit hatte ohne Zweifel auch Paulus, dieses auserwählte Werkzeug Gottes, in seinem Herzen wohl begriffen, als er sagte: „Ich bin mir nichts bewußt; aber darin bin ich nicht gerechtfertigt“ (1. Kor. 4,4).

 

 

 

III,12,3

Solcherlei Beispiele finden sich nicht bloß in der Heiligen Schrift, sondern alle frommen Schriftsteller zeigen, daß sie so gesinnt waren. So sagt Augustin: „Alle Frommen, die unter dieser Last des vergänglichen Fleisches und in dieser Gebrechlichkeit des Lebens seufzen, haben eine Hoffnung, nämlich daß wir als einigen Mittler Jesus Christus haben, der da gerecht ist und der selber die Versöhnung

 

ist für unsere Sünden“ (An Bonifacius, III,5,15; vgl. 1. Tim. 2,5f.). Was hören wir da? Ist er die einzige Hoffnung der Gläubigen, wo bleibt dann das Vertrauen auf die Werke? Denn wenn Augustin von ihm als unserer „einzigen“ Hoffnung redet, so läßt er daneben keine andere stehen. Bernhard aber sagt: „Und wahrhaftig, wo sollen die Schwachen beständige, feste Ruhe und Sicherheit haben, als allein in den Wunden des Erlösers? Da wohne ich um soviel sicherer, soviel mächtiger er ist, mich zu erlösen! Die Welt tobt, das Fleisch drückt, der Teufel stelle mir nach. Aber ich werde nicht fallen; denn ich bin auf einen starken Fels gegründet! Ich habe schwere Sünde getan. Mein Gewissen ist betrübt, aber es wird nicht in der Betrübnis versinken; denn ich gedenke der Wunden des Herrn!“ (Predigten zum Hohen Liede, 61,3). Später zieht er daraus die Folgerung: „Mein Verdienst ist also das Erbarmen des Herrn. Ich bin nicht ganz ohne Verdienst, solange er nicht ohne Erbarmen ist. Ist das Erbarmen des Herrn so groß, so bin ich auch groß in meinen Verdiensten! Was soll ich von meiner Gerechtigkeit singen? Herr, ich will deiner Gerechtigkeit allein gedenken! Denn deine Gerechtigkeit ist mein! Er (Christus) ist mir ja von Gott zur Gerechtigkeit gemacht!“ (Predigten zum Hohen Liede, 61,5). Ebenso an anderer Stelle: „Das ist das ganze Verdienst des Menschen, daß er seine ganze Hoffnung auf den setzt, der den ganzen Menschen selig macht!“ (zu Psalm 91, Predigt 15,5). Ähnlich auch an einer anderen Stelle, wo er den Frieden für sich behält und Gott die Ehre läßt: „Dir bleibe die Ehre unverkürzt; um mich steht es wohl, wenn ich Frieden habe. Darum schwöre ich dem Ruhm gänzlich ab, damit ich mir nicht anmaße, was mir nicht zukommt, und darüber verliere, was mir dargeboten ist!“ (Predigten zum Hohen Liede, 13,4). Noch offener spricht er sich an anderer Stelle aus: „Was soll sich die Kirche um Verdienste sorgen? Ihr bietet sich doch viel stärkerer, gewisserer Grund, sich des Vorsatzes Gottes zu rühmen! Es ist also kein Grund vorhanden zu fragen, aus welchen Verdiensten wir Gutes erhoffen wollten. Vor allem nicht, wo wir doch bei dem Propheten hören: ‘Ich tue es nicht um euretwillen, sondern um meinetwillen, spricht der Herr’ (Ez. 36,22.32; Schluß ungenau). Zum Verdienst ist es genug, wenn man weiß, daß die Verdienste nicht genügen! Wie es aber zum Verdienst genug ist, sich keiner Verdienste zu vermessen, so ist es zur Verurteilung genug, der Verdienste zu ermangeln“ (Predigten zum Hohen Liede, 68,1). Daß sich Bernhard dabei der Freiheit bedient, statt „gute Werke“ „Verdienste“ zu sagen, ist der Sitte der Zeit zugute zu halten. Am Schluß (des letzten Zitats) hatte er die Absicht, die Heuchler zu schrecken, die in mutwilligem Sündigen gegen Gottes Gnade dreist werden; in diesem Sinne erläutert er bald darauf seine Aussage: „Selig die Kirche, der es weder an Verdiensten mangelt, deren sie sich nicht vermißt, noch an ‘Vermessenheit’ ohne Verdienst (nämlich an der rechten Vermessenheit des verdienstlosen Glaubens). Sie hat Grund, sich zu ‘vermessen\' - aber der besteht nicht in ihren Verdiensten! Sie hat auch Verdienste, aber nicht um sich ihrer zu vermessen, sondern um sie zu verdienen! Denn bedeutet nicht gerade dies, daß wir uns nicht vermessen, tatsächlich ein Verdienen? Sie ‘vermißt\' sich also um so sicherer, wenn sie sich (im falschen Sinne) nicht vermißt! Denn sie hat ja wirklich eine gewichtige Ursache, sich zu rühmen (im Sinne der rechten ‘Vermessenheit’!), nämlich das große Erbarmen des Herrn!“ (Predigten zum Hohen Liede, 68,6).

 

 

 

III,12,4

Es ist wirklich so. Die geplagten Gewissen erfahren es, daß dies der einzige Zufluchtsort des Heils ist, an dem sie sicher aufatmen können, wenn sie es mit Gottes Gericht zu tun haben! Denn wenn die Sterne, die bei Nacht so leuchtend erschienen, bei dem Anblick der Sonne ihren Glanz verlieren - was soll dann wohl aus der erlesensten Unschuld des Menschen werden, wenn sie mit Gottes Reinheit verglichen wird? Denn das wird eine sehr ernste Prüfung sein, die auch in die ver-

 

borgensten Gedanken des Herzens hineindringt; sie wird, wie Paulus sagt, „ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und das Verborgene der Herzen offenbaren“ (1. Kor. 4,5; nicht ganz Luthertext). Sie wird unser Gewissen, das sich verborgen hält und widersetzt, zwingen, alles ans Licht zu bringen, was jetzt auch unserer Erinnerung entfallen ist. Da wird der Ankläger uns bedrängen, der Teufel, der all die Freveltaten wohl weiß, zu denen er uns angestiftet hat. Da wird uns alles äußerliche Prunken mit guten Werken, das man jetzt allein hochachtet, nichts helfen. Da wird man allein die Reinheit des Willens von uns fordern. Darum wird alle Heuchelei zuschanden werden und zu Boden fallen - nicht nur die, mit der der Mensch vor Menschen so gern groß tut, obwohl er weiß, was er vor Gott Böses getan hat, sondern auch die, mit der sich jeder vor Gott betrügt - wir sind ja so geneigt, uns selbst zu streicheln und zu schmeicheln! Diese Heuchelei wird uns vergehen - wie hoffärtig sie sich auch jetzt in mehr als trunkener Vermessenheit gebärden mag! Wer seinen Sinn nicht auf dieses Schauspiel richtet, der mag sich wohl für den Augenblick in aller Bequemlichkeit und Selbstgenügsamkeit eine Gerechtigkeit aufbauen: vor Gottes Gericht wird sie ihm doch bald ausgetrieben werden! Es wird ihm gehen wie einem, der im Traum große Reichtümer aufgehäuft hat: beim Erwachen verwehen sie ihm! Wer aber im Ernste, gleichsam vor Gottes Angesicht, nach der wahren Richtschnur der Gerechtigkeit forscht, der wird sicherlich erfahren, daß alle Menschenwerke, wenn man sie an und für sich betrachtet, nichts als Unflat und Schmutz sind; was man gewöhnlich für Gerechtigkeit hält, das ist bei Gott lauter Ungerechtigkeit, was man für Reinheit hält, lauter Befleckung, was man als Ruhm ausgibt, lauter Schande!

 

 

 

III,12,5

Wir wollen es uns nun nicht verdrießen lassen, von dieser Betrachtung der göttlichen Vollkommenheit herunterzusteigen und uns ohne Heuchelei und ohne blindes Hingenommensein von der (Selbst-)Liebe selber anzuschauen. Es ist nämlich nicht zu verwundern, daß wir in diesem Stück so blind sind; denn keiner von uns nimmt sich ja vor der verderbenbringenden Nachsicht gegen sich selber in acht, die uns nach dem lauten Zeugnis der Schrift allen von Natur anhaftet. „Einen jeglichen dünkt sein Weg recht“, sagt Salomo (Spr. 21,2), oder auch: „Einen jeglichen dünken seine Wege rein“ (Spr. 16,2). Wie aber? Empfängt der Mensch nun etwa wegen dieser seiner Wahnvorstellungen den Freispruch? O nein! Salomo fügt an derselben Stelle gleich hinzu: „Aber der Herr wägt die Herzen“ (Spr. 21,2). Das bedeutet: Während sich der Mensch um der von ihm zur Schau getragenen äußeren Larve der Gerechtigkeit willen streichelt, prüft der Herr auf seiner Waage die verborgene Unreinigkeit des Herzens. Da wir also mit solchen Selbstbeschmeichelungen so gar nichts ausrichten, so wollen wir uns auch nicht aus freien Stücken selber zu unserem Verderben betrügen. Um uns aber nach Gebühr zu erforschen, müssen wir unser Gewissen vor Gottes Richtstuhl zurückrufen. Denn sein Licht ist hoch vonnöten, um alle die Schlupfwinkel unserer Bosheit aufzudecken, die sonst allzu tief verborgen bleiben! Dann werden wir erst recht durchschauen, was es eigentlich bedeutet, wenn wir hören: es ist weit davon entfernt, daß der Mensch gerechtfertigt werde, der Mensch, „der Staub ist und ein Wurm“ (Hiob 25,6), „der Mensch, der ein Greuel und schnöde ist, der Unrecht säuft wie Wasser!“ (Hiob 15,16). „Kann wohl ein Reiner kommen von den Unreinen? Auch nicht einer!“ (Hiob 14,4). Dann werden wir eben das gleiche erfahren, wie es Hiob von sich sagt: „Sage ich, daß ich gerecht bin, so verdammt sein Mund mich doch; bin ich unschuldig, so macht er mich doch zu Unrecht!“ (Hiob 9,20; nicht ganz Luthertext). Denn es gilt nicht nur für eine bestimmte Zeit, sondern für alle Zeiten, was der Prophet einst an Israel beklagte: „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe; ein jeglicher sah auf seinen Weg ...“ (Jes. 53,6). Denn der Prophet faßt hier alle Menschen zusammen, zu denen die Gnade der Erlösung kommen sollte. Dabei muß die Schärfe dieses Gerichtes so weit gehen, bis sie uns in eine gründliche Bestürzung hineinge-

 

zwungen und uns solchermaßen zum Empfang der Gnade Christi zubereitet hat. Denn es ist Täuschung, wenn einer meint, er vermöge diese Gnade zu genießen, ohne zuvor alle Hoheit seines Herzens von sich geworfen zu haben! Es ist doch ein bekanntes Wort: „Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade“ (1. Petr. 5,5).

 

 

 

III,12,6

 

Wie sollen wir uns denn selber demütigen? Doch so, daß wir ganz arm und leer Gottes Barmherzigkeit Raum geben! Denn ich nenne es nicht Demut, wenn wir meinen, uns bliebe noch etwas übrig. Bisher hat man uns verderbliche Heuchelei gelehrt, indem man zwei Forderungen miteinander verband: wir sollten vor Gott demütig über uns denken, zugleich aber doch auch unsere Gerechtigkeit noch einigermaßen wert achten. Denn wenn wir vor Gott das Gegenteil von dem bekennen, was wir wirklich meinen, so lügen wir ihn schändlich an! Wir können aber nicht die rechte Meinung von uns haben, ohne daß alles zerschmettert wird, was an uns rühmenswert erscheint. Bei dem Propheten hören wir, daß dem elenden Volk Heil bereitet ist, den Augen der Hoffärtigen aber Erniedrigung (Ps. 18,28; nicht Luthertext). Da bedenke man zunächst, daß wir zum Heil keinen Zugang haben, ohne alle Hoffart von uns zu tun und gründliche Demut anzunehmen. Dann aber beachte man auch, daß diese Demut nicht irgendeine Bescheidenheit ist, kraft deren wir dem Herrn ein Haar breit von unserem Recht überlassen. Bei den Menschen gilt ja der als demütig, der sich nicht übermütig aufbläst und andere Leute nicht verachtet, wenn er sich auch trotzdem noch einigermaßen auf das Bewußtsein seiner Vortrefflichkeit stützt. Nein, die hier geforderte Demut ist die ungeheuchelte Niedrigkeit unseres Herzens, das vor dem ernsten Empfinden seines Elendes und seiner Armut erschrocken ist; so wird sie überall in Gottes Wort beschrieben. Bei Zephanja spricht der Herr: „Ich will die übermütigen von dir tun ... Ich will in dir lassen übrigbleiben ein armes, geringes Volk; die werden auf den Herrn hoffen“ (Zeph. 3,11f.; nicht ganz Luthertext). Zeigt er da nicht deutlich, wer die Demütigen sind? Es sind doch die, die unter der Erkenntnis ihrer Armut zerschlagen darniederliegen! Die Hochmütigen dagegen nennt er „übermütig“, wie ja die Menschen in der Freude an ihrem Glück stolz zu werden pflegen. Den Demütigen aber, die er selig zu machen sich vorgenommen hat, läßt er nichts übrig, als daß sie „auf den Herrn hoffen“. So steht es auch bei Jesaja: „Ich sehe aber den Elenden an und der zerbrochenen Geistes ist und der sich fürchtet vor meinem Wort“ (Jes. 66,2). Oder ähnlich: „Also spricht der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnt, des Name heilig ist; der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf daß ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen!“ (Jes. 57,15). Wenn man hier so oft von „Zerschlagenheit“ sprechen hört, so muß man darunter eine Verwundung des Herzens verstehen, die den zur Erde niedergeworfenen Menschen nicht mehr aufstehen läßt. Von solcher Zerschlagenheit muß dein Herz verwundet sein, wenn du nach Gottes Worten mit den Niedrigen erhöht werden willst! Geschieht das nicht, dann wird Gottes mächtige Hand dich zu deiner Schmach und Schande demütigen!

 

 

 

III,12,7

Unser großer Meister aber hat sich nicht mit Worten begnügt, sondern uns auch in einem Gleichnis wie auf einem Gemälde das Bild rechter Demut vor Augen gestellt. Er läßt da einen Zöllner vor uns hintreten, der „von ferne steht“, auch nicht wagt, seine Augen gen Himmel zu erheben, und in tiefer Klage betet: „Herr, sei mir Sünder gnädig!“ (Luk. 18,13). Wenn dieser Mann nicht zum Himmel zu blicken und nicht näherzutreten wagt, wenn er an seine Brust schlägt und sich als Sünder bekennt, so sollen wir nicht meinen, das wären Zeichen einer erheuchelten Bescheidenheit, sondern wissen, daß das Zeugnisse innerer Ergriffenheit sind. Auf der anderen Seite stellt er diesem Zöllner den Pharisäer gegenüber, der Gott dankt, daß er „nicht ist wie die anderen Menschen“, daß er kein Räuber, kein Unge-

 

rechter, kein Ehebrecher ist, weil er doch „zweimal in der Woche fastet“ und „den Zehnten gibt von allem, was er hat“ (Luk. 18,11). Er erkennt in offenem Bekenntnis an, daß die Gerechtigkeit, die er besitzt, Gottes Gabe ist; aber weil er sich vermißt, gerecht zu sein, darum geht er von Gottes Angesicht fort, unbegnadet und verhaßt! Der Zöllner dagegen wird durch die Erkenntnis seiner Ungerechtigkeit „gerechtfertigt“! (Luk. 18,14). Da kann man sehen, wie hoch unsere Demut bei dem Herrn in Gnaden steht: unser Herz ist gar nicht geöffnet, Gottes Barmherzigkeit anzunehmen, wenn es nicht von jedem Wahn eigener Würdigkeit gänzlich leer ist. Wo dieser Wahn das Herz einnimmt, da verschließt er dem Erbarmen Gottes den Zugang. Damit keiner daran zweifelt, ist Christus vom Vater mit dem Auftrag auf die Erde gesandt worden, „den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß sie erlöst werden ... zu trösten alle Traurigen, ... ihnen zu schaffen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit und schöne Kleider für einen betrübten Geist ...“ (Jes. 61,1-3). Auf Grund dieses Auftrages lädt er bloß „die Mühseligen und Beladenen“ (Matth. 11,28) zum Teilhaben an seiner Freundlichkeit ein. Und an anderer Stelle sagt er: „Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten!“ (Matth. 9,13).

 

 

 

III,12,8

 

Wollen wir also dem Ruf Christi Raum geben, so muß alle Anmaßung, alle Selbstsicherheit weit von uns weichen. Die Anmaßung entsteht aus der törichten Einbildung eigener Gerechtigkeit, wo also der Mensch etwas zu besitzen glaubt, durch dessen Verdienst er bei Gott angenehm sei. Die Selbstsicherheit kann auch ohne jede Überzeugung (von dem Wert) der Werke bestehen. Denn viele Sünder werden von der Süßigkeit der Laster trunken, denken nicht an Gottes Gericht, liegen da wie von Schlafsucht erstarrt, so daß sie sich über dem allen gar nicht nach der ihnen angebotenen Barmherzigkeit sehnen. Aber diese Schläfrigkeit müssen wir ebenso von uns werfen, wie wir alles Selbstvertrauen von uns tun müssen, damit wir in rechter Bereitschaft zu Christus eilen, um leer und hungrig mit seinen Gütern erfüllt werden zu können! Wir haben nämlich nie und nimmer genug Vertrauen zu ihm, wenn wir uns selber nicht gänzlich mißtrauen; nie werden wir das Herz genugsam zu ihm erheben, wenn wir nicht zuvor in uns selber niedergeworfen sind, nie werden wir in ihm genug Trost finden, wenn wir nicht in uns selber trostlos sind! Wenn wir nun alles Vertrauen auf uns selber weggeworfen haben und uns allein auf die Gewißheit um seine Güte verlassen, dann sind wir tüchtig, Gottes Gnade zu erfassen und festzuhalten: da vergessen wir - wie Augustin sagt - unserer eigenen Verdienste und ergreifen Christi Gaben (Predigt 174,2); denn wenn er bei uns Verdienste suchte, dann kämen wir nicht zu seinen Geschenken. Dem stimmt Bernhard treffend zu: er vergleicht die hochmütigen Menschen, die sich für ihre Verdienste auch nur das geringste anmaßen, mit ungetreuen Knechten, weil sie das Lob für die Gnade, die durch sie bloß hindurchgeht, in Bosheit zurückhalten - wie wenn eine Wand sich rühmen wollte, sie brächte den Strahl hervor, den sie doch durch das Fenster empfängt! (Predigten zum Hohen Liede, 13,5). Um uns aber hier nicht länger aufzuhalten, wollen wir als kurze, aber allgemeingültige und sichere Regel festhalten: der ist geschickt, an den Früchten der göttlichen Barmherzigkeit Anteil zu haben, der sich aller - ich sage nicht: Gerechtigkeit; denn die ist eben nicht vorhanden; sondern - aller eitlen, aufgeblasenen Einbildung, er besäße Gerechtigkeit, gänzlich entledigt hat. Denn jeder setzt der göttlichen Wohltätigkeit in dem Maße ein Hindernis entgegen, in dem er auf sich selbst sein Vertrauen gründet.

Dreizehntes Kapitel

 

 

 

Zwei Hauptpunkte die bei der Rechtfertigung aus Gnaden Beachtung erfordern

 

 

 

III,13,1

 

Hier muß man nun allgemein besonders auf zweierlei achten: (1) dem Herrn muß sein Ruhm unverkürzt und unversehrt erhalten bleiben (Sektion 1-2), (2) unser Gewissen aber muß vor seinem Gericht friedliche Ruhe und frohe Gelassenheit haben (Sektion 3-5).

 

Wir sehen doch, wie oft und wie ernstlich uns die Schrift ermahnt, Gott allein unser Lob zu bezeugen, wenn es sich um die Gerechtigkeit handelt. Ja, nach dem Zeugnis des Apostels hat der Herr, als er uns in Christus die Gerechtigkeit zuteil werden ließ, dabei den Zweck im Auge gehabt, selbst seine Gerechtigkeit zu offenbaren (Röm. 3,25). Gleich darauf fügt er aber hinzu, wie diese Offenbarung seiner Gerechtigkeit vor sich gehen soll: „Auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum“ (Röm. 3,26). Man sieht: Gottes Gerechtigkeit wird nur dann genugsam verherrlicht, wenn er allein als gerecht angesehen wird und wenn er die Gnade der Gerechtigkeit solchen zuteil werden läßt, die sie nicht verdienen! Darum will er, „daß aller Mund verstopfet würde und alle Welt ihm schuldig sei“ (Röm. 3,19). Denn solange der Mensch etwas hat, was er zu seiner Entschuldigung sagen könnte, geht Gottes Ehre etwas ab! So lehrt er uns bei Ezechiel, wie sehr wir durch Anerkennung unserer Ungerechtigkeit seinen Namen verherrlichen. Er spricht: „Daselbst werdet ihr gedenken an euer Wesen und an all euer Tun, damit ihr verunreinigt seid, und werdet Mißfallen haben über alle eure Bosheit, die ihr getan habt. Und werdet erfahren, daß ich der Herr bin, wenn ich mit euch tue um meines Namens willen und nicht nach eurem bösen Wesen ...“ (Ez. 20,43f.). Wenn das zur rechten Erkenntnis Gottes gehört, daß wir, vom Bewußtsein unserer eigenen Ungerechtigkeit zerschlagen, erkennen, daß er uns als Unwürdigen wohltut - was unterstehen wir uns dann zu unserem großen Schaden, dem Herrn auch nur ein kleines Stücklein von dem Lobpreis für seine Güte zu stehlen, die er uns aus Gnaden zuwendet? Jeremia ruft aus: „Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, sondern wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn ...“ (Jer. 9,24; nicht Luthertext, Schluß nach 1. Kor. 1,30). Gibt er uns damit nicht auch zu verstehen, daß von der Ehre Gottes etwas verloren geht, wenn der Mensch sich in sich selber rühmt? Jedenfalls paßt Paulus diese Worte einem derartigen Verständnis an, wenn er uns lehrt, daß unser ganzes Heil bei Christus liegt, damit wir uns allein „in dem Herrn rühmen“ sollen! (1. Kor. 1,30). Er zeigt uns damit nämlich, daß ein Mensch, der auch nur das geringste von sich aus zu haben meint, sich gegen Gott empört und seine Ehre verfinstert!

 

 

 

III,13,2

Es ist tatsächlich so: wir kommen nie und nimmer dazu, uns wahrhaft des Herrn zu rühmen, wenn wir nicht auf unseren eigenen Ruhm gänzlich verzichtet haben. Auf der anderen Seite sollen wir es als allgemeingültigen Grundsatz festhalten: wer sich in sich selber rühmt, der rühmt sich wider Gott. Nach der Überzeugung des Paulus wird erst dann „alle Welt Gott schuldig“ (Röm. 3,19), wenn den Menschen jeder Anlaß zum Rühmen genommen ist. Deshalb läßt auch Jesaja seiner Botschaft, daß Israel seine Rechtfertigung in Gott finden werde, gleich das wort folgen: „und wird sich sein rühmen“ (Jes. 45,25). Es ist, als ob er sagen wollte, daß der Herr seine Auserwählten zu dem Zweck rechtfertige, daß sie sich nun in ihm rühmen sollen und nicht in irgend etwas anderem! In welcher Weise wir uns aber „im Herrn“ rühmen sollen, das hat Jesaja in dem voraufgehenden Verse gesagt: „Daß ... alle Zungen schwören und sagen: Im Herrn

 

habe ich Gerechtigkeit und Stärke“ (Jes. 45,23f.). Man muß beachten, daß hier nicht ein einfaches Bekenntnis gefordert wird, sondern seine Bekräftigung durch einen Eidschwur; man soll also nicht meinen, mit irgendwelcher erheuchelten Demut seine Schuldigkeit zu tun! Hier soll auch niemand vorwenden, das sei doch gar kein „Rühmen“, wenn er sich ohne jede Anmaßung seine eigene Gerechtigkeit zum Bewußtsein bringe. Nein, solche Betrachtung (der eigenen Gerechtigkeit) muß notwendig (Selbst-)Vertrauen erzeugen, und das wieder muß unvermeidlich das Rühmen gebären! wir wollen also daran denken, daß in aller Auseinandersetzung über die Gerechtigkeit dies als Zweck gelten muß, daß dem Herrn der Lobpreis dafür vollkommen und unangetastet verbleibe! Hat er doch auch nach dem Zeugnis des Apostels seine Gnade zur Anzeigung seiner Gerechtigkeit auf uns ausgegossen, „auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum“ (Röm. 3,26). Deshalb lehrt Paulus an einer anderen Stelle zunächst, daß der Herr uns das Heil hat zuteil werden lassen, um den Ruhm seines Namens zu verherrlichen (Eph. 1,6), und dann fügt er später, gewissermaßen als Wiederholung des gleichen Gedankens, noch hinzu: „Denn aus Gnade seid ihr selig geworden ... Gottes Gabe ist es -, nicht aus den Werken, damit sich nicht jemand rühme!“ (Eph. 2,8f.). Und Petrus erinnert uns daran, daß wir zur Hoffnung auf die Seligkeit berufen sind - „daß ihr verkündigen sollt die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht!“ (1. Petr. 2,9). Da will er doch ohne Zweifel, daß in dem Ohr der Gläubigen allein Gottes Lobpreis wiederklingen soll, so daß er alle Vermessenheit des Fleisches laut übertönt und zum Schweigen bringt. Ich fasse zusammen: der Mensch kann sich kein Fünklein Gerechtigkeit zumessen, ohne Gott das Seine zu rauben - denn von der Ehre der Gerechtigkeit Gottes wird damit ebensoviel weggerissen und verkürzt!

 

 

 

III,13,3

Fragen wir, auf welche Weise unser Gewissen vor Gott gestillt werden kann, so werden wir nur einen Weg finden: nämlich wenn uns die Gerechtigkeit durch Gottes Geschenk aus lauter Gnade zuteil wird! Stets soll uns das Wort des Salomo im Sinn sein: „Wer kann sagen: Ich bin rein in meinem Herzen und lauter von meiner Sünde?“ (Spr. 20,9). Es ist gewiß keiner, der nicht von einer unendlichen Sturzflut (der Sünde) überströmt würde! Mag nun jeder, auch der vollkommenste, mit seinem Gewissen Zwiesprache halten und seine Taten zur Rechenschaft fordern - zu welchem Schluß wird er am Ende kommen? Wird er etwa sanft ruhen, als ob zwischen ihm und Gott alles wohl bestellt wäre? Werden ihn nicht vielmehr bittere Qualen zerreißen, wenn er merkt, daß in ihm aller Grund zur Verdammnis liegt, sofern er nach seinen Werken beurteilt wird? Wenn das Gewissen auf Gott schaut, so muß es entweder mit seinem Urteil sicheren Frieden haben - oder aber von den Schrecken der Hölle bedrängt werden! Unser ganzes Nachdenken über die Gerechtigkeit hilft uns nichts, wenn wir nicht eine solche Gerechtigkeit aufrichten, auf deren Festigkeit sich unsere Seele in Gottes Urteil stützen kann! Nur da, wo unsere Seele Grund hat, unerschrocken vor Gottes Angesicht zu erscheinen und unerschüttert sein Gericht zu erwarten - nur da sollen wir wissen, daß wir eine untrügliche Gerechtigkeit gefunden haben! Es ist also nicht grundlos, wenn der Apostel hierauf so großes Gewicht legt - ich will auch lieber mit seinen Worten vorgehen, als mit meinen. Er sagt: „Denn wo die vom Gesetz Erben sind, so ist der Glaube nichts, und die Verheißung ist abgetan“ (Röm. 4,14). Er erklärt zunächst, der Glaube sei zunichte gemacht und entleert, wenn die Verheißung der Gerechtigkeit auf die Verdienste unserer Werke achtete oder von der Beobachtung des Gesetzes abhängig wäre. Denn dann könnte nie ein Mensch sicher auf ihr Ruhe finden: es wird ja nie und nimmer ein Mensch mit Gewißheit bei sich feststellen können, er habe dem Gesetz Genüge getan, wie ihm doch ganz sicher nie jemand durch Werke gänzlich genuggetan hat. Damit wir nun hierfür nicht von

 

weither ein Zeugnis holen, kann sich jeder selbst Zeuge sein, wenn er sich nur mit dem rechten Blick selber anschauen will!

 

In was für tiefe, finstere Schlupfwinkel die Heuchelei den Sinn der Menschen vergräbt, das wird nun deutlich, indem sie sich dermaßen in Sicherheit wiegen, daß sie sich nicht scheuen, Gottes Gericht ihre Schmeicheleien entgegenzusetzen - als ob sie ihn zur Einstellung des Verfahrens zwingen wollten! Die Gläubigen dagegen, die sich selber recht erforschen, ängstigt und quält eine ganz andere Sorge. So müßte also in jedes Menschen Herz Zagen und schließlich Verzweiflung eindringen, wenn jeder bei sich überschlüge, was für eine schwere Last der Schuld ihn noch drückt und wie weit er noch von der (Erfüllung der) ihm auferlegten Bedingung entfernt ist! Man muß aber erkennen, daß damit der Glaube zu Boden gedrückt und ausgelöscht wäre; denn wenn wir zweifeln und schwanken, auf und nieder pendeln, wenn wir zagen und im Ungewissen verharren, wenn wir wanken, ja schließlich verzweifeln - so heißt das nicht glauben! Glauben heißt doch vielmehr, daß wir unser Herz in fester Gewißheit und untrüglicher Sicherheit stärken und daß wir einen Ort haben, auf dem wir uns gründen und festen Fuß fassen können!

 

 

 

III,13,4

 

Paulus fügt (Röm. 4,14; vgl. Sektion 3) noch ein Zweites hinzu: Die Verheißung werde ungültig und eitel sein, (wenn das Erbe aus dem Gesetz käme). Wenn nämlich die Erfüllung der Verheißung von unserem Verdienst abhängt - wann wird es denn wohl einmal dahin kommen, daß wir Gottes Wohltätigkeit verdienen? Auch folgt ja dieses zweite Glied (der Aussage des Apostels) aus dem ersten: denn die Verheißung wird nur an denen erfüllt, die ihr Glauben schenken! Fällt also der Glaube dahin, so bleibt der Verheißung keine Kraft mehr. Das „Erbe“ kommt also (Anspielung an Röm. 4,14) aus dem Glauben, damit es aus Gnade gegeben werde - zur Bestätigung der Verheißung! Sie ist ja überreich bekräftigt, wenn sie sich allein auf Gottes Barmherzigkeit stützt; denn (Gottes) Barmherzigkeit und Wahrheit sind ja durch ein stetiges Band miteinander verknüpft; das heißt: was Gott in seiner Barmherzigkeit verheißt, das führt er auch getreulich aus! So begehrt David sein Heil aus Gottes Zusage, aber zuvor stellt er zunächst die Ursache (dieses Heils) fest, nämlich Gottes Barmherzigkeit: „Es komme zu mir deine Barmherzigkeit, dein Heil, wie du es mir zugesagt hast!“ (Ps. 119,76; nicht Luthertext). Und das ist richtig so; denn Gott läßt sich durch nichts zu seiner Verheißung bestimmen als durch seine bloße Barmherzigkeit. Deshalb muß hier unsere ganze Hoffnung liegen, hier muß sie sich gleichsam tief festsetzen, und wir sollen nicht auf unsere Werke schauen, um bei ihnen irgendwelche Hilfe zu suchen!

Auch Augustin gibt uns die Weisung, es so zu machen - es soll also keiner meinen, ich sagte hier etwas Neues! Er sagt: „In Ewigkeit wird Christus in seinen Knechten regieren. Das hat Gott verheißen, das hat Gott gesprochen - ja, wenn das zu wenig sein sollte: das hat Gott geschworen! Weil also die Verheißung ihre Kraft nicht auf Grund unserer Verdienste, sondern auf Grund seines Erbarmens hat, darum darf keiner das, an dem er doch gar nicht zweifeln kann, mit Zittern und Zagen verkündigen!“ (zu Psalm 88, I,5). So auch Bernhard: „‘Wer kann denn selig werden?’, so fragen Christi Jünger (Matth. 19,25). Er aber antwortet: ‘Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott!’ (Matth. 19,26, ungenau). Das ist unsere ganze Zuversicht, unser einziger Trost, der ganze Grund unserer Hoffnung! So haben wir also die Gewißheit, daß es möglich ist (Matth. 19,26, ganzer Text) - aber wie steht es um Gottes Willen? ‘Wer weiß, ob er Liebe oder Haß verdient?’ (Pred. 9,1; nicht Luthertext). ‘Wer hat des Herrn Sinn erkannt oder wer ist sein Ratgeber gewesen?’ (1. Kor. 2,16; in dieser Form tatsächlich Röm. 11,34). Hier muß uns nun aber ausdrücklich der Glaube zu Hilfe kommen, hier muß uns die Wahrheit Beistand leisten! Was im Herzen des Vaters über uns verborgen liegt, das muß uns der Geist offenbaren, und sein Geist

 

muß Zeugnis ablegen und uns überzeugen, ‘daß wir Gottes Kinder sind’ (Röm. 8,16). Das muß er aber tun, indem er uns beruft und uns aus Gnaden durch den Glauben rechtfertigt! Denn darin geschieht wie durch ein Mittel gleichsam ein Übergang von der ewigen Vorherbestimmung zur zukünftigen Herrlichkeit!“ (Bernhard von Clairvaux, Predigt zur Kirchweihe, 5ff.). Wir wollen es kurz zusammenfassen: Die Schrift zeigt, daß Gottes Verheißungen nicht fest sind, wenn sie nicht mit sicherer Zuversicht des Gewissens ergriffen werden; wo immer Zweifel und Ungewißheit ist, da werden nach ihrem Zeugnis die Verheißungen unwirksam - auf der anderen Seite aber sagt sie uns, daß unser Gewissen wanken und schwanken muß, wenn es auf unseren Werken ruht! Entweder muß uns also die Gerechtigkeit verloren gehen, oder aber die Werke dürfen nicht in Betracht kommen, sondern es muß allein der Glaube hier Raum haben. Das Wesen des Glaubens aber ist es, die Ohren aufzumachen und die Augen zu schließen, d.h. allein auf die Verheißung ausgerichtet zu sein und sein Augenmerk von aller Würdigkeit und allem Verdienst des Menschen abzuwenden! So erfüllt sich die herrliche Verheißung des Sacharja: „Ich ... will die Sünde des Landes wegnehmen ... Und zu der Zeit wird einer den anderen laden unter den Weinstock und unter den Feigenbaum“ (Sach. 3,9f.). Da gibt der Prophet zu verstehen, daß die Gläubigen erst dann wahren Frieden genießen, wenn sie Vergebung ihrer Sünden erlangt haben. Wir müssen nämlich beachten, daß die Propheten, wenn sie vom Reich Christi reden, einen Vergleich brauchen: sie stellen uns Gottes äußere Segnungen gewissermaßen als Abbild der geistlichen Güter vor Augen. Daher wird auch Christus als „Friedefürst“ (Jes. 9,6) und als „unser Friede“ (Eph. 2,14) bezeichnet, weil er nämlich allen Aufruhr des Gewissens stillt. Fragen wir, wie das geschieht, so müssen wir auf das Opfer kommen, durch das er Gott versöhnt hat; denn wer nicht daran festhält, daß Gott allein durch jenes Opfer versöhnt ist, in welchem Christus seinen Zorn getragen hat - der wird nie aufhören zu zittern. Kurz, wir sollen allein in den Schrecken Christi, unseres Erlösers, unseren Frieden suchen.

 

 

 

III,13,5

Wozu gebrauche ich aber hier ein Zeugnis, das noch einigermaßen dunkel ist? Bestreitet doch Paulus überall, daß die Gewissen Frieden und ruhige Freude genießen können, sofern nicht unsere Rechtfertigung durch den Glauben feststeht! (Röm. 5,1). Zugleich erklärt er auch, woher uns diese Gewißheit kommt: „Denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz durch den Heiligen Geist ...!“ (Röm. 5,5). Er will also gleichsam sagen: unsere Seele kann nicht eher zur Ruhe kommen, als bis wir die feste Gewißheit haben, daß wir Gott wohlgefällig sind. Deshalb ruft er auch anderwärts im Namen aller Frommen aus: „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo ... ist ...?“ (Röm. 8,34f.; nicht genau). Wir müssen ja bei dem geringsten Windhauch erzittern, bis wir in diesem Hafen angelegt haben; dagegen werden wir auch in der Finsternis des Todes sicher sein, solange sich Gott als unser Hirte erzeigt! (Ps. 23,4). Die Leute, die da faseln, wir würden durch den Glauben gerechtfertigt, weil wir als Wiedergeborene durch geistliches Leben gerecht wären - haben also niemals die Süßigkeit der Gnade geschmeckt, d.h. nie bedacht, daß Gott ihnen gnädig sein werde. Daraus folgt auch, daß sie nicht besser wissen, wie man recht beten soll, als die Türken und andere unheilige Heiden! Denn nach dem Zeugnis des Paulus ist das kein wahrer Glaube, der uns nicht den wunderlieblichen Namen „Vater“ eingibt und auf die Lippen drängt, ja, der uns nicht den Mund öffnet und uns freimütig rufen läßt: „Abba, lieber Vater!“ (Gal. 4,6; Röm. 8,15). An anderer Stelle drückt er das noch deutlicher aus: „Durch welchen wir haben Freudigkeit und Zugang in aller Zuversicht durch den Glauben an ihn“ (Eph. 3,12). Das widerfährt uns durch die Gabe der Wiedergeburt ganz sicher nicht; denn die ist in diesem Fleisch stets unvollkommen und trägt daher mannigfachen Anlaß zum Zweifeln in sich. Es ist also

 

erforderlich, zu jener Arznei (dem Glauben) die Zuflucht zu nehmen, damit die Gläubigen daran festhalten: es gibt nur Eins, das uns das Recht verschafft, auf das Erbe des Himmelreichs zu hoffen, nämlich die Tatsache, daß wir in Christi Leib eingefügt sind und deshalb aus Gnaden für gerecht gelten. Denn der Glaube ist was die Rechtfertigung betrifft, gänzlich passiv, er bringt nichts von dem Unseren, um Gottes Gnade zu erwerben, sondern empfängt von Christus, was uns gebricht!

Vierzehntes Kapitel

 

 

 

Vom Anfang und vom beständigen Fortschreiten der Rechtfertigung

 

 

 

III,14,1

 

Um die Sache deutlicher zu machen, wollen wir jetzt untersuchen, wie die Gerechtigkeit des Menschen im ganzen Ablauf seines Lebens beschaffen sein kann. Es ergibt sich dabei aber für uns ein vierfacher Stufenbau. Erstens können die Menschen ohne jede Erkenntnis (agnitio) Gottes leben und deshalb in den Götzendienst versunken sein. Zweitens kann es sein, daß sie zwar in die Sakramente eingeweiht sind, aber durch die Unreinheit ihres Lebens Gott, den sie mit dem Munde bekennen, mit der Tat verleugnen und also bloß dem Namen nach zu Christus gehören. Drittens können sie auch Heuchler sein, welche die Bosheit ihres Herzens hinter leerem Schein verbergen. Viertens sind die zu nennen, die durch den Geist Gottes wiedergeboren sind und nach wahrer Heiligkeit trachten.

 

Was die erste Gruppe anbetrifft, so wird man bei diesen Menschen, wenn man sie nach ihren natürlichen Gaben beurteilen will, von der Fußsohle bis zum Scheitel nicht ein Fünklein Gutes finden. Wir müßten sonst die Schrift des Betrugs bezichtigen; denn diese gibt über alle Kinder Adams das Urteil ab, daß ihr Herz ein „böses und hoffärtiges Ding“ sei (Jer. 17,9), daß alles „Dichten ihres Herzens böse ist von Jugend auf“ (Gen. 8,21), daß ihre Gedanken „eitel“ sind (Ps. 94,11), daß sie „die Furcht Gottes nicht vor Augen haben“ (vgl. Ex. 20,20) und daß keiner von ihnen „klug“ ist oder „nach Gott fragt“ (Ps. 14,2). Sie bezeichnet sie kurzum als Fleisch (Gen. 6,3), und darunter werden alle die Werke begriffen, die Paulus aufzählt: „Ehebruch, Hurerei, Unreinigkeit, Unzucht, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zwietracht, Rotten, Haß, Mord“ und was sonst dergleichen schändliche und abscheuliche Dinge mehr sind! (Gal. 5,19ff.). Das ist also die Würdigkeit, auf die sie ihr Vertrauen setzen und um derentwillen sie hoffärtig sein mögen!

 

Wenn nun aber einige unter ihnen eine so große Anständigkeit ihrer Sitten an den Tag legen, daß diese unter den Menschen einen gewissen Schein von Heiligkeit besitzt, so wissen wir doch, daß Gott nicht beim äußeren Glanz stehen bleibt, und deshalb müssen wir zur eigentlichen Quelle dieser Werke durchdringen, wenn wir ihnen einen Wert zum Erwerb der Gerechtigkeit beimessen wollen. Wir müssen also, das meine ich, in der Tiefe nachforschen, aus was für einer Gesinnung des Herzens solche Werke kommen. - An dieser Stelle bietet sich für die Erörterung ein sehr weites Feld; trotzdem kann man die Frage auch mit sehr wenigen Worten behandeln, und deshalb will ich, soweit es angeht, in meiner Darstellung eine kurze Zusammenfassung erstreben.

 

 

 

III,14,2

Zunächst leugne ich nicht, daß alle hervorragenden Gaben, die man an den Ungläubigen sehen kann, Gottes Geschenke sind. Ich bin auch von dem Urteil des gesunden Menschenverstandes nicht so weit entfernt, daß ich etwa behaupten wollte, zwischen der Gerechtigkeit, Mäßigung und Billigkeit eines Titus und Trajan und der Wüterei, Maßlosigkeit und Grausamkeit eines Caligula, eines Nero oder Domitian, zwischen den widerwärtigen Gelüsten eines Tiberius und der Enthaltsamkeit des Vespasian in diesem Punkt und - ich will mich nicht bei den einzelnen Tugenden und Lastern aufhalten - zwischen der Beobachtung von Recht und Gesetzen und deren Verachtung sei kein Unterschied. Denn zwischen Gerecht und Ungerecht besteht ein so großer Unterschied, daß er noch an ihrem leblosen Bilde zum Vorschein kommt. Was soll denn in der Welt in Ordnung bleiben, wenn wir diese beiden miteinander vermengen? Deshalb hat auch der Herr solche Unterscheidung zwischen ehrbaren und schnöden Taten jedem einzelnen ins Herz eingemeißelt, und er bekräftigt sie auch noch oft durch die Art, wie seine Vorsehung sich auswirkt

 

(nämlich Gut und Böse verteilt). Wir sehen doch, wie er Leute, die unter den Menschen nach Tugend trachten, mit vielen Segnungen des gegenwärtigen Lebens verfolgt. Nicht etwa, daß dieses äußerliche Bild der Tugend seine Wohltat im mindesten verdiente. Nein, es gefällt ihm, auf die Art zu beweisen, wie herzlich er die wahre Gerechtigkeit liebt, daß er auch die äußerliche und erheuchelte nicht ohne zeitliche Belohnung bleiben läßt. Daraus aber folgt, was wir eben anerkannt haben, nämlich, daß all solche Tugenden oder besser Abbilder von Tugenden Gottes Gaben sind - denn es verdient ja kein Ding irgendwelches Lob, das nicht von ihm herkommt.

 

 

 

III,14,3

 

Nichtsdestoweniger ist es aber wahr, wenn Augustin schreibt: „Alle, die der Verehrung des einen Gottes entfremdet sind, mögen um ihrer Tugend willen einen noch so guten Ruf haben und noch so sehr bewundert werden, so verdienen sie doch keine Belohnung, sondern vielmehr Strafe, weil sie Gottes reine Gaben durch die Befleckung ihres Herzens verunreinigen. Sie sind gewiß Gottes Werkzeuge zur Erhaltung der menschlichen Gemeinschaft durch Gerechtigkeit, Enthaltsamkeit, Freundschaft, Mäßigkeit, Tapferkeit und Weisheit. Aber sie führen doch diese guten Werke Gottes sehr schlecht aus, weil sie sich nicht durch lauteres Trachten nach dem Guten, sondern allein durch Ehrgeiz oder Selbstliebe oder durch sonst eine verkehrte Gesinnung vom Übeltun abhalten lassen. Ihre Werke sind also durch die Unreinigkeit ihres Herzens gewissermaßen von ihrem Ursprung her verdorben und können deshalb ebensowenig zu den Tugenden gerechnet werden, wie die Laster, die um ihrer Verwandtschaft oder Ähnlichkeit mit der Tugend willen die Menschen zu täuschen pflegen. Kurz, wenn wir bedenken, daß alles rechte Tun seinen steten Zweck in dem Dienst hat, der Gott zu leisten ist, so verliert damit alles, was in anderer Richtung geht, billigerweise die Bezeichnung als „rechtes Tun“. Weil also diese Menschen den Richtpunkt nicht beachten, den Gottes Weisheit uns vorgeschrieben hat, deshalb mag das, was sie tun, zwar der Pflichtleistung (officium) nach gut erscheinen - um des verkehrten Zieles willen aber ist es doch Sünde!“ (Augustin, Gegen Julian, IV,3,16ff.21). Augustin kommt also zu der Feststellung, daß all solche Männer wie Fabricius, Scipio und Cato bei ihren herrlichen Taten darin gesündigt haben, daß ihnen das Licht des Glaubens abging und sie deshalb ihre Taten nicht dem Ziel dienstbar machten, auf das sie sie hätten ausrichten müssen; sie besaßen also - so führt er aus - nicht die wahre Gerechtigkeit, weil eben unsere Leistungen nicht nach der Tat, sondern nach dem dabei verfolgten Ziel gewogen werden! (Gegen Julian, IV,3,25f.).

 

 

 

III,14,4

Und dann: wenn es wahr ist, was Johannes sagt, nämlich, daß es kein Leben gibt außer dem Sohne Gottes (1. Joh. 5,12), so sind doch alle, die an Christus keinen Anteil haben, im ganzen Lauf ihres Lebens auf dem Wege zum Verderben und zum Urteil des ewigen Todes - sie mögen sein, wer sie wollen, mögen auch tun und ins Werk setzen, was sie wollen! In diesem Sinne hat Augustin gesagt: „Unsere Religion unterscheidet die Gerechten von den Ungerechten nicht nach dem Gesetz der Werke, sondern nach dem des Glaubens; denn ohne den Glauben verkehrt sich das, was als gutes Werk erscheint, in Sünde!“ (An Bonifacius, III,5). Deshalb ist es auch sehr gut, wenn er anderwärts den Eifer solcher Leute mit einem Lauf in die Irre vergleicht. Je schneller nämlich ein Mensch abseits vom (rechten) Wege läuft, desto weiter kommt er vom Zielpunkt ab und desto jämmerlicher ist er daran. Er behauptet deshalb: „Es ist besser, auf dem rechten Wege zu hinken, als abseits von ihm zu laufen!“ (Erklärung zu Psalm 31, II,4). Schließlich steht es doch fest, daß diese Menschen üble Bäume sind, weil es ja ohne die Gemeinschaft mit Christus keine Heiligung gibt: sie können also schöne und dem Augenschein nach prächtige Früchte hervorbringen, auch solche, die von süßem Geschmack sind - aber gute nie und nimmer! Daraus merken wir ohne weiteres, daß alles, was der Mensch, bevor er durch den Glauben mit Gott versöhnt ist, bedenkt,

 

erwägt und vollbringt, verflucht ist und nicht nur keinen Wert für die Gerechtigkeit hat, sondern ganz gewiß die Verdammung verdient! Aber wozu tun wir bei dieser Auseinandersetzung, als ob es sich hier um etwas Zweifelhaftes handelte? Der Beweis liegt doch schon in dem Zeugnis des Apostels vor: „Ohne Glauben ist’s unmöglich, Gott zu gefallen:“ (Hebr. 11,6).

 

 

 

III,14,5

Ein noch viel klarerer, leuchtenderer Beweis ergibt sich aber, wenn wir Gottes Gnade auf der einen und demgegenüber den natürlichen Zustand des Menschen auf der anderen Seite betrachten. Die Schrift spricht es nämlich allenthalben laut aus, daß Gott im Menschen nichts vorfindet, das ihn anreizen könnte, ihm wohlzutun, sondern daß er ihm aus lauter Gnaden mit seiner Güte zuvorkommt. Was soll ein Toter vermögen, um das Leben zu gewinnen? Tatsächlich sind wir aber tot; denn wenn er uns mit seiner Erkenntnis erleuchtet, dann erweckt er uns, so heißt es, aus dem Tode und macht uns zu neuen Geschöpfen! (Joh. 5,25 u.a.). Mit diesem Ehrentitel wird uns nämlich - besonders bei dem Apostel - öfters Gottes Güte gegen uns gepriesen. So spricht er: „Aber Gott, der da reich ist an Barmherzigst, - durch seine große Güte, damit er uns geliebt hat, da wir tot waren in den Sünden, hat er uns samt Christo lebendig gemacht...“ (Eph. 2,4f.). Und an anderer Stelle behandelt er an dem Vorbilde des Abraham die allgemeine Berufung der Gläubigen und sagt dabei: „Gott, der da lebendig macht die Toten und ruft dem, das nicht ist, als ob es sei!“ (Röm. 4,17; nicht ganz Luthertext). Wenn wir „nichts sind“ - was sollen wir dann wohl ausrichten können? Deshalb schlägt der Herr in der Geschichte des Hiob alle solche Anmaßung gewaltig zu Boden und spricht „wer hat mir etwas zuvor getan, daß ich’s ihm vergelte? Es ist doch alles mein ...!“ (Hiob 41,3). Diese Aussage erläutert Paulus (Röm. 11,35) und deutet sie dahin, daß wir nicht meinen sollen, wir brächten dem Herrn etwas zu - außer der reinen Schande unserer Armut und Leere. Deshalb fügt er auch an der oben bereits herangezogenen Stelle (Eph. 2,8) noch den Beweis hinzu, daß wir allein aus seiner Gnade und nicht durch unsere Werke zur Hoffnung auf das Heil gelangt sind, und sagt deshalb „Denn wir sind sein Werk, wiedergeboren in Christo Jesu zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen!“ (Eph. 2,10; nicht Luthertext). Es ist, als ob er sagen wollte: Wer von uns will es denn für sich in Anspruch nehmen, er habe Gott mit seiner Gerechtigkeit angereizt - wo doch unser erstes Vermögen zum rechten Tun erst aus der Wiedergeburt fließt! Denn wie wir von Natur beschaffen sind - so ist es leichter, aus einem Stein Öl herauszupressen, als aus uns ein gutes Werk! Es ist deshalb wirklich verwunderlich, wenn der Mensch, der doch unter der Verdammnis solcher Schande steht, sich erkühnt, sich selbst noch etwas vorzubehalten! Wir wollen also mit diesem herrlichen Werkzeug Gottes (Paulus) bekennen: Wir sind von dem Herrn „berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Vorsatz und der Gnade ...“ (2. Tim. 1,9). Oder ähnlich: „Da aber erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unseres Heilandes, - nicht um der Werke willen, die wir getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit machte er uns selig ... auf daß wir durch desselben Gnade gerecht und Erben seien des ewigen Lebens ...“ (Tit. 3,4.5.7). Durch dieses Bekenntnis nehmen wir dem Menschen jede Gerechtigkeit, auch das allergeringste Stücklein, bis er allein aus Barmherzigkeit zur Hoffnung auf das ewige Leben wiedergeboren ist - denn wenn irgendwelche Werkgerechtigkeit zu unserer Rechtfertigung beiträgt, so ist es falsch, wenn wir sagen: Aus Gnaden werden wir gerechtfertigt! Paulus behauptete die Rechtfertigung aus lauter Gnaden - und er hatte seine eigenen Worte nicht vergessen, wenn er anderwärts erklärte, die Gnade wäre nicht mehr Gnade, wenn die Werke etwas gelten sollten! (Röm. 11,6). Und was meint der Herr anderes, wenn er sagt, er sei nicht gekommen, die Gerechten zu rufen, sondern die Sünder? (Matth.

 

9,13). Werden allein die Sünder zugelassen - wozu sollen wir uns dann den Zugang durch selbsterdichtete Gerechtigkeit suchen?

 

 

 

III,14,6

 

Immer wieder beschleicht mich der gleiche Gedanke, es bestünde Gefahr, daß ich der Barmherzigkeit Gottes Unrecht zufügte, indem ich sie mit solcher Ängstlichkeit und Mühsal zu verteidigen suche - als ob sie etwas Zweifelhaftes und Dunkles wäre! Aber unsere Bosheit ist doch so groß, daß sie Gott nur dann das Seinige zuerkennt, wenn man sie mit äußerster Gewalt zurückdrängt - und deshalb muß ich hier gezwungenermaßen etwas länger verweilen. Weil aber in diesem Stück die Schrift klar genug ist, so will ich den Streit lieber mit ihren, als mit meinen Worten führen. So beschreibt Jesaja an einer Stelle zunächst das allgemeine Verderben des Menschengeschlechts und fügt dann sehr treffend die Ordnung an, nach der es wiederhergestellt werden soll: „Solches sieht der Herr, und ist übel in seinen Augen. Und er sieht, daß niemand da ist, und verwundert sich, daß niemand ins Mittel tritt. Darum läßt er das Heil auf seinem Arm beruhen, und seine Gerechtigkeit steht ihm bei“ (Jes. 59,15f.; nicht ganz Luthertext). Wo ist denn all unsere Gerechtigkeit, wenn es wahr ist, was der Prophet hier ausspricht, nämlich daß keiner dem Herrn Beistand tut, um sein Heil wiederzuerlangen? Ebenso redet ein anderer Prophet (Hosea): er zeigt uns den Herrn, wie er davon spricht, daß er die Sünder mit sich versöhnen will: „Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit..., in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit. Ich will zu der, die keine Barmherzigkeit erlangt hat, sprechen: Du, die du Barmherzigkeit erlangt hast!“ (Hos. 2,21. 25; Schluß nicht Luthertext). Unbestreitbar ist doch dieser Bund unsere erste Verbindung mit Gott; wenn der sich aber auf Gottes Barmherzigkeit stützt, so bleibt für unsere Gerechtigkeit kein Fundament mehr übrig! Ich möchte doch auch von denen, die so tun, als ob der Mensch Gott mit irgendwelcher Werkgerechtigkeit entgegenkäme, gern wissen, ob sie denn meinen, daß es überhaupt irgendwelche Gerechtigkeit geben könne außer der, die Gott wohlgefällig ist. Wenn es aber unsinnig ist, an so etwas nur zu denken - wie soll dann von Gottes Feinden etwas ausgehen können, das ihm wohlgefiele, wo er doch gegen sie ganz und gar und gegen alle ihre Taten einen Widerwillen hat? Die Wahrheit bezeugt doch, meine ich, daß wir alle tödliche und geschworene Feinde unseres Gottes sind (Röm. 5,6; Kol. 1,21), bis wir gerechtfertigt sind und in seine Freundschaft aufgenommen werden. Wenn der Ursprung der Liebe die Rechtfertigung ist, was soll es dann für Gerechtigkeit aus den Werken geben, die ihr voraufgehen könnte? So gemahnt uns Johannes, um diese verderbenbringende Anmaßung abzuwenden, mit Nachdruck daran, daß wir ihn nicht zuerst geliebt haben! (1. Joh. 4,10). Das gleiche hatte der Herr schon vorzeiten durch seinen Propheten erklärt: „Ich will sie lieben mit freiwilliger Liebe; denn mein Zorn hat sich gewendet“ (Hos. 14,5; nicht Luthertext). Wenn sich also seine Liebe unverursacht zu uns neigte, so ist sie sicherlich nicht durch unsere Werke angeregt worden.

Der gewöhnliche Mensch aber meint in seiner Unkundigkeit, mit all dem Vorstehenden sei nur dies gemeint: Daß Christus unsere Erlösung vollbrachte, das hat freilich keiner verdient, daß wir aber in den Besitz dieser Erlösung gelangen - dazu helfen uns unsere Werke! O nein! Selbst wenn wir von Christus erlöst sind, so bleiben wir doch, bis wir durch die Berufung des Vaters in Christi Gemeinschaft eingefügt werden, Finsternis und Erben des Todes und Gottes Feinde! Denn nach der Lehre des Paulus werden wir erst dann durch Christi Blut von unseren Unreinigkeiten befreit und gewaschen, wenn der Heilige Geist diese Reinigung in uns bewirkt! (1. Kor. 6,11). Das gleiche will auch Petrus sagen, wenn er erklärt, die „Heiligung des Geistes“ wirke „zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut ... Christi“ (1. Petr. 1,2). Wenn wir so durch den Heiligen Geist mit dem Blut Christi zu unserer Reinigung besprengt werden, so sollen wir nicht meinen, wir seien vor dieser Besprengung etwas anderes, als was der Sünder

 

ohne Christus ist! Es soll also stehen bleiben: Der Beginn unseres Heils ist gewissermaßen eine Erweckung vom Tode zum Leben; denn erst dann, wenn es uns um Christi willen geschenkt wird, an ihn zu glauben, fangen wir an, aus dem Tode ins Leben überzugehen.

 

 

 

III,14,7

 

Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich die Gruppe von Menschen zusammenfassen, die ich bei der oben erwähnten Stufenfolge an zweiter und dritter Stelle nannte. Denn die Unreinheit des Gewissens bezeugt, daß sie beide noch nicht durch Gottes Geist wiedergeboren sind. Auf der anderen Seite macht die Tatsache, daß sie nicht wiedergeboren sind, offenbar, daß es ihnen am Glauben gebricht. Daraus aber ergibt sich deutlich, daß sie noch nicht mit Gott versöhnt und vor seinem Angesicht noch nicht gerechtfertigt sind; denn zu diesen Gütern gelangt man nur durch den Glauben. Was sollen Sünder, die von Gott entfremdet sind, anders hervorbringen, als was vor seinem Urteil widerwärtig ist? Die Gottlosen und vor allem die Heuchler blähen sich zwar in solch törichtem Selbstvertrauen: mögen sie auch wissen, daß ihr ganzes Herz ein Brunnquell von Abscheulichkeit ist, so meinen sie doch, wenn sie einmal einige blendende Werke hervorbringen, die wären nun wert, daß sie Gott nicht verschmähe! Daher kommt denn dieser verderbliche Irrtum, daß sie sich, von ihrer lasterhaften, nichtswürdigen Gesinnung überführt, doch nicht zu dem Geständnis bringen lassen, daß sie aller Gerechtigkeit bar sind. Nein, sie erkennen zwar, daß sie ungerecht sind, weil sie es nicht leugnen können, aber trotzdem maßen sie sich einige Gerechtigkeit an! Dieser Eitelkeit setzt der Herr bei dem Propheten eine herrliche Widerlegung entgegen: „Frage den Priester um das Gesetz und sprich: Wenn jemand heiliges Fleisch trüge in seines Kleides Zipfel und rührte danach an mit seinem Zipfel Brot ... oder was es für Speise wäre, würde es auch heilig? Und die Priester antworteten und sprachen: Nein. Haggai sprach: wenn nun einer, der an seiner Seele befleckt wäre, etwas von diesen Dingen berührte, würde es damit unrein? Die Priester antworteten und sprachen: Es würde unrein. Da antwortete Haggai und sprach: Ebenso sind dies Volk und diese Leute vor mir auch, spricht der Herr; und all ihrer Hände Werk und was sie opfern, ist unrein“ (Hagg. 2,11-14; V. 13 nicht Luthertext). Wenn doch dieser Spruch bei uns vollen Glauben finden und sich in unserem Gedächtnis recht festsetzen könnte! Denn es ist keiner, der sich von dem überzeugen ließe, was der Herr hier so deutlich kundtut - mag er sonst in seinem ganzen Leben auch noch so lasterhaft sein! Auch der Nichtswürdigste hat, sobald er die eine oder andere der vom Gesetz erforderten Leistungen vollbracht hat, gar keinen Zweifel, daß ihm das nun an Stelle der Gerechtigkeit das Wohlgefallen Gottes eintrüge. Der Herr aber erklärt, daß wir auf solche Weise keinerlei Heiligung erwerben, ohne daß unser Herz zuvor recht gereinigt wäre! Und damit begnügt er sich noch nicht, sondern er versichert mit Schärfe, daß alle Werke, die vom Sünder ausgehen, durch die Unreinigkeit des Herzens mit verunreinigt werden! (Hagg. 2,13). Deshalb fort mit dem Namen „Gerechtigkeit“ von solchen Werken, die Gottes Mund um ihrer Beflecktheit willen verdammt! Wie fein ist auch das Gleichnis, an dem er das zeigt! Man hätte ja einwerfen können, was der Herr geboten habe, das bleibe doch unverletzlich rein. Dem setzt er aber das Gegenteil entgegen: es ist nicht verwunderlich, wenn etwas, das im Gesetz des Herrn geheiligt ist, von der Unreinigkeit der Gottlosen besudelt wird; denn wenn eine unreine Hand das Heilige berührt, so macht sie es gemein.

 

 

 

III,14,8

Den gleichen Sachverhalt behandelt er ganz herrlich bei Jesaja: „Bringt mir nicht mehr Schlachtopfer so vergeblich! Das Räuchwerk ist mir ein Greuel! ... Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahrfesten; ich bin ihrer überdrüssig, ich bin’s müde zu leiden! Und wenn ihr schon eure Hände ausstreckt, verberge ich doch meine Augen vor euch; und ob ihr schon viel betet, so höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Waschet, reiniget euch, tut euer böses Wesen von

 

meinen Augen ...“ (Jes. 1,13-16; vergleiche Jes. 58,1-5). Was soll das hier bedeuten, daß der Herr solchen Ekel am Gehorsam gegen sein Gesetz hat? Nein, er verwirft hier nichts, was aus der lauteren Befolgung seines Gesetzes kommt; - deren Anfang ist aber, wie er allenthalben lehrt, die aufrichtige Furcht seines Namens! Ist die weggenommen, so ist alles, was man ihm darbringt, nicht allein Possenzeug, sondern stinkender, abscheulicher Schmutz! Nun sollen die Heuchler hergehen und sich bemühen, Gott durch ihre Werke für sich zu gewinnen, während doch unterdessen ihr Herz weiter in Bosheit verwickelt bleibt! Sie werden ihn auf diese Weise doch nur um so mehr erzürnen! Denn „der Gott, losen Opfer ist dem Herrn ein Greuel“, allein „das Gebet der Frommen ist ihm angenehm!“ (Spr. 15,8). Es ergibt sich also als zweifellose Tatsache und es muß dem, der in der Schrift einigermaßen geübt ist, völlig geläufig sein, daß bei den Menschen, die noch nickt wahrhaft geheiligt sind, auch die dem Augenschein nach am herrlichsten gleißenden Werke so weit von der Gerechtigkeit vor dem Herrn entfernt sind, daß sie gar als Sünden gelten! Es ist deshalb sehr richtig, wenn man gesagt hat: Die Person kann bei Gott nicht durch die Werke Gnade erlangen, sondern die Werke sind umgekehrt erst dann Gott wohlgefällig, wenn zuvor die Person vor Gottes Angesicht Gnade gefunden hat! (Pseudo-Augustin, Von der wahren und der falschen Buße 15,30; Gregor I., Briefe, IX,122; wiedergegeben im Decretum Gratiani, II,3,7). Man soll auf diese Ordnung, zu der uns die Schrift mit der Hand leitet, ehrfürchtig achten. So heißt es: „Und der Herr sah gnädig an Abel und seine Werke“ (Gen. 4,4). Da sieht man doch, wie der Herr den Menschen seine Gunst erteilt und dann erst ihren Werken! Deshalb muß die Reinigung des Herzens voraufgehen, damit die Werke, die von uns ausgehen, von Gott gnädig angenommen werden. Denn das Wort des Jeremia bleibt stets in Kraft: „Herr, deine Augen sehen nach der Aufrichtigkeit!“ (Jer. 5,3; Luther: nach dem Glauben). Auch hat der Geist Gottes durch den Mund des Petrus erklärt, daß allein „durch den Glauben“ der Menschen Herzen gereinigt werden (Apg. 15,9). Daraus ergibt sich, daß das erste Fundament im wahren und lebendigen Glauben liegt.

 

 

 

III,14,9

 

Wir wollen nun zusehen, was denn die Menschen für eine Gerechtigkeit haben, die wir oben an vierter Stelle nannten. Wir bekennen: Wenn uns Gott durch das Eintreten der Gerechtigkeit Christi für uns mit sich versöhnt, uns aus lauter Gnaden die Vergebung der Sünden schenkt und uns so als gerecht ansieht, dann ist mit solcher Barmherzigkeit zugleich die Wohltat verbunden, daß er durch seinen Heiligen Geist in uns wohnt. Durch die Kraft dieses Geistes wird alle Begehrlichkeit unseres Fleisches von Tag zu Tag mehr ertötet, wir aber werden geheiligt, das heißt: wir werden dem Herrn zu wahrhaftiger Reinheit des Lebens geweiht, und zwar dadurch, daß unser Herz so gestaltet wird, daß es dem Gesetz Gehorsam leistet. Unser Wille soll also darin sein vornehmstes Ziel haben, seinem Willen zu dienen und seinen Ruhm auf alle Weise zu fördern.

Allein, selbst wenn wir unter der Leitung des Heiligen Geistes auf den Wegen des Herrn wandeln, bleiben noch immer Reste von Unvollkommenheit an uns, die uns allen Grund zur Demut geben, damit wir uns nicht selbst vergessen und unser Herz aufblähen! „Es gibt keinen Gerechten“, sagt die Schrift, „der Gutes täte und nicht sündigte:“ (1. Kön. 8,46; nicht genau). Was für eine Gerechtigkeit wollen die Gläubigen also noch aus ihren Werken erlangen? Zunächst behaupte ich: auch das Beste, das sie vorbringen können, ist noch immer von der Unreinigkeit des Fleisches benetzt und verderbt und es ist gewissermaßen stets mit irgendwelchem Bodensatz untermischt. Ein heiliger Knecht Gottes, sage ich, soll einmal aus seinem ganzen Leben das auswählen, was nach seiner Meinung die hervorragendste Tat seines Lebenslaufs gewesen ist, er soll alle Einzelheiten genau überdenken. Er wird dann ohne allen Zweifel an irgendeiner Stelle etwas vorfinden, das die Fäulnis des

 

Fleisches empfinden läßt. Denn unsere Freudigkeit, Gutes zu tun, ist nie, wie sie sein sollte, sondern unser Lauf ist gehemmt, und daran offenbart sich viel Gebrechlichkeit! So sehen wir, daß die Makel, mit denen die Werke der Heiligen befleckt sind, nicht verborgen sind. Aber nehmen wir trotzdem an, diese Flecken seien ganz, ganz klein - werden sie darum auch Gottes Augen keinen Anstoß geben, vor denen doch nicht einmal die Sterne rein sind? (Hiob 25,5). Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß von den Heiligen nicht ein einziges Werk ausgeht, das nicht, an sich selbst betrachtet, als gerechten Lohn die Schmach verdiente!

 

 

 

III,14,10

 

Und weiter: selbst wenn es eintreten könnte, daß wir doch einige durchaus reine und vollkommene Werke hätten, so ist doch, wie der Prophet sagt, eine einzige Sünde genug, um jede Erinnerung an die vorige Gerechtigkeit zu zerstören und auszulöschen! (Ez. 18,24). Dem stimmt auch Jakobus zu: „So jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig!“ (Jak. 2,10; bei Calvin verkürzt). Nun ist aber dieses sterbliche Leben niemals von Sünden rein und frei, und deshalb wird alles, was wir uns vielleicht an Gerechtigkeit errungen haben, durch die immer wieder folgenden Sünden verderbt, erdrückt und vernichtet, so daß es nicht vor Gottes Angesicht kommt und uns nicht zur Gerechtigkeit gerechnet werden kann.

 

Schließlich muß man auch, wenn es um die Gerechtigkeit aus den Werken geht, nicht auf das Werk des Gesetzes sehen, sondern auf das Gebot. Wenn wir also beim Gesetz Gerechtigkeit suchen, so ist es vergebens, wenn wir das eine oder das andere Werk vorbringen; nein, es ist fortdauernder Gehorsam gegen das Gesetz erforderlich! Deshalb rechnet uns Gott die Vergebung der Sünden, von der wir sprachen, nicht bloß einmal zur Gerechtigkeit an - wie viele Leute töricht meinen! -, so daß wir also zunächst Vergebung für unser vergangenes Leben empfingen, dann aber im Gesetz unsere Gerechtigkeit suchen sollten. Das wäre ja nichts anderes, als daß uns Gott eine falsche Hoffnung einflößte und uns darüber verlachte und mit uns sein Spiel triebe. Es kann uns doch keine Vollkommenheit zuteil werden, solange wir mit diesem Fleische angetan sind. Auf der anderen Seite aber droht das Gesetz allen denen Tod und Gericht an, die nicht mit der Tat vollkommene Gerechtigkeit an den Tag gelegt haben. Es müßte also stets Grund haben, uns anzuklagen und für schuldig zu erklären - wenn uns nicht Gottes Barmherzigkeit dagegen zu Hilfe käme, um uns in beständiger Vergebung unserer Sünden sogleich loszusprechen! Es bleibt also immer bestehen, was ich im Anfang gesagt habe: Wenn wir nach unserer eigenen Würdigkeit beurteilt werden, so sind wir, was wir auch bedenken und ins Werk setzen mögen, doch mit allen unseren Bemühungen, mit all unserem Streben des Todes und des Verderbens würdig.

 

 

 

III,14,11

 

Wir müssen hier zweierlei mit Nachdruck vertreten: erstens hat es nie ein Werk eines frommen Menschen gegeben, das, wenn es nach Gottes strengem Urteil geprüft wurde, nicht verdammenswert gewesen wäre. Zweitens: selbst wenn es so etwas gäbe - was aber dem Menschen nicht möglich ist! -, so würde es doch durch die Sünde, mit der der Täter dieses Werks sicherlich zu schaffen hat, verdorben und befleckt werden und so seine Wohlgefälligkeit verlieren.

Hier liegt der wichtigste Punkt unserer Auseinandersetzung (mit den Papisten). Denn über den Ursprung der Rechtfertigung besteht zwischen uns und den verständigeren Schultheologen kein Streit; (wir behaupten) nämlich (beiderseits), daß der Sünder aus lauter Gnade von der Verdammnis befreit wird und die Gerechtigkeit erlangt, und zwar durch die Vergebung der Sünden. Dabei verstehen die Schultheologen aber unter dem Wort „Rechtfertigung“ die Erneuerung, in der uns der Geist Gottes zum Gehorsam gegenüber dem Gesetz umgestaltet. Die Gerechtigkeit des wiedergeborenen Menschen beschreiben die Schultheologen

 

dann folgendermaßen: Der Mensch, der durch den Glauben an Christus einmal mit Gott versöhnt ist, wird nun durch seine guten Werke vor Gott für gerecht geachtet und er ist also durch das Verdienst dieser Werke Gott wohlgefällig. Der Herr aber sagt das Gegenteil: er erklärt, daß er dem Abraham seinen Glauben zur Gerechtigkeit gerechnet habe (Röm. 4,3) - und zwar nicht zu der Zeit, als er noch den Götzen diente, sondern als er bereits viele Jahre ein durch hervorragende Heiligkeit ausgezeichnetes Leben geführt hatte! Abraham hat also Gott schon lange aus reinem Herzen verehrt, hat schon lange den Gehorsam gegen das Gesetz bewiesen, den ein sterblicher Mensch leisten kann - und trotzdem ruht seine Gerechtigkeit auch jetzt noch allein auf dem Glauben! Daraus folgern wir, genau wie es Paulus in seiner Beweisführung auch tut: also hatte er sie nicht aus den Werken! (Röm. 4,4f.). Auch wenn es bei dem Propheten heißt: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben“ (Hab. 2,4), so ist da nicht von gottlosen und unheiligen Menschen die Rede, die der Herr zum Glauben bekehrte und dadurch rechtfertigte, sondern dies Wort richtet sich an die Gläubigen und verheißt ihnen das Leben aus dem Glauben! Auch Paulus behebt jeden Zweifel, wenn er den obigen Satz (Röm. 4,4f.) durch die Heranziehung des Davidswortes bekräftigt: „Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind..“ (Röm. 4,7; Ps. 32,1). Es ist aber sicher, daß David hier nicht von den Gottlosen, sondern von den Gläubigen redet, deren er selber einer war: er redet doch aus dem Empfinden seines eigenen Gewissens heraus. Wir müssen also diese „Seligkeit“ (im Sinne von Psalm 32,1) nicht nur einmal haben, sondern unser Leben lang festhalten! Und schließlich: Paulus bezeugt, daß die Botschaft von der aus Gnade geschehenden Versöhnung mit Gott nicht nur für den einen oder anderen Tag kundgemacht wird, sondern daß sie in der Kirche ihren bleibenden Platz hat (2. Kor. 5,18ff.). Deshalb haben die Gläubigen bis ans Ende ihres Lebens keine andere Gerechtigkeit, als sie hier beschrieben wird. Denn Christus bleibt unablässig unser Mittler, der den Vater mit uns versöhnt, und unaufhörlich ist auch die Wirkung seines Todes, nämlich Abwaschung und Genugtuung, die Sühne und schließlich der vollkommene Gehorsam, der alle unsere Ungerechtigkeiten bedeckt! Auch sagt Paulus im Epheserbrief nicht, wir hätten den Anfang unserer Seligkeit aus der Gnade, sondern (allgemein): „Aus Gnaden seid ihr selig geworden... nicht aus den Werken, auf daß sich nicht jemand rühme!“ (Eph. 2,8f.).

 

 

 

III,14,12

 

Die Schultheologen mochten nun entkommen und suchen allerlei Ausflüchte; die helfen ihnen aber nicht heraus! Zunächst erklären sie, die guten Werfe hätten ihr Vermögen, zum Erwerb der Gerechtigkeit ausreichend zu sein, nicht aus der ihnen innewohnenden Würdigkeit (intrinseca dignitas), sondern es sei der „annehmenden Gnade“ (gratia acceptans) zu verdanken, daß sie solchen Wert besäßen! Alsdann müssen sie zwar gezwungenermaßen anerkennen, daß die Gerechtigkeit aus den Werken hier stets unvollkommen ist, und deshalb geben sie zu, daß wir, solange wir leben, der Vergebung der Sünden bedürfen, die den Mangel unserer Werke auffülle, zugleich aber behaupten sie, daß die Missetaten, die wir begehen, durch „überschüssige Werke“ (opera supererogationis) ausgeglichen würden!

Was sie nun die „annehmende Gnade“ nennen, das ist, so entgegne ich, gar nichts anderes als die gnädige Güte, mit der uns der Vater in Christus annimmt, wenn er uns nämlich mit Christi Unschuld bekleidet und sie uns zurechnet, so daß er uns durch deren Wohltat vor ihm als heilig, rein und unschuldig gelten läßt! Denn Christi Gerechtigkeit allein ist vollkommen, sie allein vermag Gottes Anblick zu ertragen, und sie muß deshalb für uns eintreten und sich gewissermaßen als Bürge dem Gericht stellen! Sind wir mit ihr gerüstet, so erlangen wir im Glauben immerfort die Vergebung der Sünden. Ihre Reinheit verhüllt

 

unseren Schmutz und die Unreinigkeit unseres unvollkommenen Wesens, und darum werden uns diese nicht zugerechnet, sondern gewissermaßen vergraben und bedeckt, so daß sie nicht vor Gottes Urteil kommen. Bis einst die Stunde kommt, da in uns der alte Mensch getötet und gänzlich ausgelöscht ist, und Gottes Güte uns mit dem „neuen Adam“ in den seligen Frieden aufnimmt: da sollen wir auf den Tag des Herrn warten, an dem wir einen unverweslichen Leib empfangen und in die Herrlichkeit des Himmelreichs übergehen werden.

 

 

 

III,14,13

 

Ist das aber wahr, so können uns gewiß keinerlei Werke, die wir getan haben, aus sich heraus Gott wohlgefällig und angenehm machen, ja sie können auch selbst Gottes Wohlgefallen nur insofern finden, als der Mensch, mit Christi Gerechtigkeit umhüllt, Gott wohlgefällt und Vergebung für seine Übeltaten erlangt. Denn Gott hat den Lohn des Lebens nicht bestimmten Werken verheißen, sondern er spricht allein: „Welcher Mensch das tut, der wird dadurch leben!“ (Lev. 18,5; nicht ganz Luthertext). Auf der anderen Seite aber spricht er einen feierlichen Fluch über alle die, welche nicht in allen Geboten bleiben! (Deut. 27,26). Es wird also im Himmel keine andere Gerechtigkeit angenommen, als die vollkommene Beobachtung des Gesetzes. Damit wird das Hirngespinst einer „teilweisen Gerechtigkeit“ (partialis iustitia) reichlich widerlegt.

 

Ebensowenig begründet ist das übliche Geschwätz der Schultheologen von der Ersatzleistung durch „überschüssige Werke“. Wieso, kommen diese Leute nun nicht immer wieder an einen Punkt zurück, wo man sie bereits ausgeschlossen hat? Behaupten sie nicht wiederum, daß der, welcher das Gesetz zum Teil erfüllt hat, insofern durch seine Werke gerecht sei? Kein Mensch mit gesundem Urteil wird ihnen das zugeben - und doch nehmen sie es in toller Unverschämtheit als ausgemachte Sache an! So oft bezeugt der Herr, daß er keine Gerechtigkeit der Werke anerkennt außer der, die in der vollkommenen Beobachtung seines Gesetzes besteht. Was ist es da für eine Bosheit, wenn wir dieser vollkommenen Beobachtung des Gesetzes zwar ermangeln, aber trotzdem nicht den Eindruck machen wollen, als wären wir alles Ruhms beraubt, das heißt: als hätten wir Gott gänzlich das Feld geräumt - und darüber wer weiß welche geringfügigen Bruchstücke von Werken für uns in Anspruch nehmen und uns bemühen, das, was daran fehlt, mit irgendwelchen anderen genugtuenden Taten auszugleichen!

 

Diese „genugtuenden Werke“ sind schon oben mächtig niedergerissen worden, so daß sie uns nicht einmal mehr im Traum in den Sinn kommen sollten. Ich sage nur dies: die Leute, die solch ungereimtes Zeug schwatzen, bedenken gar nicht, was für eine abscheuliche Sache vor Gott die Sünde ist. Sonst würden sie wahrhaftig einsehen, daß die ganze Gerechtigkeit der Menschen, wenn man sie auf einen Haufen zusammenbrächte, doch nicht ausreichen könnte, um für eine Sünde den Ausgleich zu bieten! Wir sehen doch, daß der Mensch durch eine einzige Missetat dermaßen von Gott verworfen und verstoßen worden ist, daß er zugleich jedes Mittel verloren hat, sich das Heil wiederzuerlangen! (Gen. 3,17). Das Vermögen zur Genugtuung ist also nicht mehr da, und die Menschen, die sich dessen brüsten, werden Gott ganz gewiß nie Genugtuung leisten, weil ihm doch nichts angenehm und wohlgefällig ist, was von seinen Feinden ausgeht. Feinde sind aber alle, denen er die Sünde anzurechnen entschlossen ist! Es muß also zunächst unsere Sünde bedeckt und vergeben sein, ehe der Herr irgendeines von unseren Werken ansieht. Daraus folgt, daß die Vergebung der Sünden aus lauter Gnaden geschieht - und diese Vergebung wird von denen, die irgendwelche „genugtuenden Werke“ vorbringen, schmählich gelästert! Wir wollen also nach dem Vorbild des Apostels „vergessen, was dahinten ist und uns strecken zu dem, das da vorne ist“, wollen auf unserer Bahn „laufen“ und nach dem „Kleinod“ der „himmlischen Berufung“ „jagen“! (Phil. 3,13f.).

 

III,14,14

 

Wenn man nun „überschüssige Werke“ für sich in Anspruch nimmt - wie stimmt das denn mit der Weisung des Herrn überein? Der hat uns doch gesagt: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte, wir haben nicht mehr getan, als was wir zu tun schuldig waren!“ (Luk. 17,10; nicht ganz Luthertext). Wenn einer das nun vor Gott sagt, so heißt das nicht heucheln und lügen, sondern bei sich selbst feststellen, was man für gewiß hält. Der Herr gibt uns also die Weisung, aufrichtig zu empfinden und bei uns selber zu bedenken, daß wir ihm keinerlei unerforderte Dienste leisten können, sondern stets nur die schuldige Arbeit tun. Und das mit Recht: denn wir sind als Knechte zu so vielen Dienstleistungen verpflichtet, daß wir sie nicht zu verrichten vermögen, selbst wenn wir alle unsere Gedanken und alle unsere Glieder in den Dienst der Erfüllung des Gesetzes stellten. Wenn er also sagt: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist ...“ - so bedeutet das: wenn etwa einer die Gerechtigkeit aller Menschen besäße und noch mehr als das ...! Wir sind aber doch alle ohne Ausnahme von diesem Ziel sehr weit entfernt - und wie sollten wir es da wagen, uns zu rühmen, als hätten wir gar noch einen Haufen zu dem rechten Maß hinzugebracht?

 

Hier soll auch keiner einwenden, es könnte doch durchaus vorkommen, daß ein Mensch, der die notwendigen Leistungen zum Teil nicht vollbringt, doch in seinem Eifer über das Erforderte hinausginge. Wir müssen nämlich scharf daran festhalten, daß uns nichts, was zur Verehrung Gottes oder zur Liebe in Beziehung steht, in den Sinn kommen kann, das nicht unter dem Gesetz Gottes begriffen würde! Ist aber alles ein Stück des Gesetzes, so sollen wir keine freiwillige Guttat für uns in Anspruch nehmen, wo wir doch tatsächlich durch die Notwendigkeit gebunden sind.

 

 

 

III,14,15

 

In dieser Sache beruft man sich nun zu Unrecht auf die Tatsache, daß sich Paulus rühmt, er habe bei den Korinthern freiwillig auf sein Recht verzichtet, das er doch sonst, wenn er gewollt hätte, auch hätte anwenden können, er habe an ihnen nicht nur das getan, was er nach seiner Verpflichtung tun mußte, sondern ihnen über die Grenze seines Dienstes hinaus auch noch umsonst seine Arbeit gewidmet (1. Kor. 9,1ff.). Aber man hätte doch darauf achten müssen, womit er da sein Verhalten begründet: er wollte (1. Kor. 9,12) eben den Schwachen keinen Anstoß bereiten! Es gab da böse, betrügerische Arbeiter, die sich mit solcher Gütigkeit heuchlerisch schmückten, um ihren schädlichen Lehren Gunst zu verschaffen und gegen das Evangelium Haß zu erregen. Da mußte also Paulus entweder das Evangelium solcher Gefahr aussetzen - oder aber diesen Ränken entgegentreten. Nun, wenn es für einen Christenmenschen eine freigelassene (außerhalb seiner Christenpflicht stehende) Sache ist, einem Ärgernis entgegenzutreten, wenn er es vermeiden kann - dann gebe ich zu, daß der Apostel dem Herrn etwas „überschüssiges“ geleistet hat. Wenn es aber von einem verständigen Verwalter des Evangeliums mit Recht verlangt werden kann, so zu handeln, dann hat, so behaupte ich, Paulus getan, was er schuldig war! Aber selbst wenn eine solche Begründung nicht sichtbar wird, so ist schließlich trotzdem stets das Wort des Chrysostomus richtig, nach welchem alles, was wir haben, der gleichen Bedingung unterliegt wie der Eigenbesitz der Leibeigenen, der nach dem dafür geltenden Recht dem Herrn selber unzweifelhaft zusteht. Das hat Christus in dem genannten Gleichnis auch nicht außer Ansatz gelassen; er fragt nämlich, welchen Dank wir denn wohl einem Knecht schuldig wären, der sich den ganzen Tag mit mancherlei Arbeit abgegeben hat und dann des Abends zu uns zurückkehrt (Luk. 17,7-9). Man könnte fragen: Aber es kann doch vorkommen, daß er mehr Eifer daran gewendet hat, als wir zu fordern gewagt hatten! Das mag sein; aber er hat doch nichts getan, was er nicht in seiner Stellung als Knecht zu tun schuldig war, denn er gehört ja uns mit allem, was er vermag.

 

Ich will davon schweigen, was das für Werke sind, die die Schultheologen Gott als „überschüssige Werke“ anbieten wollen. Es sind nämlich Possen, die er selber nie verlangt hat, noch billigt, noch auch annehmen wird, wenn wir ihm werden Rechenschaft geben müssen! Nur in einem Sinne wollen wir zugeben, daß diese Werke wirklich „überschüssig“ sind, nämlich im Sinne des Prophetenwortes: „Wer fordert solches von euren Händen?“! (Jes. 1,12). Sie sollen aber dann auch bedenken, was anderwärts von solchen Werken gesagt ist: „Warum zählet ihr Geld dar, da kein Brot ist, und tut Arbeit, davon ihr nicht satt werden könnt?“ (Jes. 55,2). Allerdings ist es für diese müßigen Rabbinen nicht sehr mühselig, in der Schule auf ihren weichgepolsterten Lehrstühlen solcherlei Reden zu führen. Aber wenn einst der höchste Richter seinen Richtstuhl besteigt, dann müssen alle solche haltlosen Meinungen verwehen! Unsere Frage sollte aber wahrhaftig die sein, mit welcher Zuversicht auf unsere Verteidigung wir vor seinen Richtstuhl treten können - nicht aber, was wir in Schulen und Winkeln zu fabeln vermögen!

 

 

 

III,14,16

 

In diesem Stück müssen wir vor allem zweierlei Pestilenz aus unserem Herzen vertreiben: einmal soll es keinerlei Zuversicht auf die Gerechtigkeit der Werke setzen, und zum anderen soll es ihnen keinen Ruhm zuerkennen.

 

(1) Alle solche Zuversicht nimmt uns die Schrift an vielen Stellen weg, indem sie uns lehrt, daß all unsere Gerechtigkeit vor Gottes Angesicht stinkend ist, wenn sie nicht durch Christi Unschuld einen Wohlgeruch empfängt, daß sie nur Gottes Rache auf uns ziehen kann, wenn sie nicht von Gottes barmherziger Nachsicht getragen wird. Sie läßt uns also nichts übrig, als daß wir unseren Richter um Gnade bitten und mit David bekennen, daß vor Gott keiner gerechtfertigt werden kann, wenn er von seinen Knechten Rechenschaft fordert (Ps. 143,2). Hiob sagt: „Bin ich gottlos, so wehe mir! Bin ich gerecht, so darf ich doch mein Haupt nicht aufheben!“ (Hiob 10,15). Dabei hat er freilich jene höchste Gerechtigkeit Gottes im Auge, der auch die Engel nicht entsprechen; aber er zeigt doch zugleich, daß allen Sterblichen, wenn es zu Gottes Gericht kommt, nichts übrigbleibt, als zu verstummen. Denn er will nicht nur sagen, daß er lieber weichen will, als sich mit Gottes Strenge in einen gefahrvollen Streit einzulassen, nein, er deutet zugleich an, daß er bei sich nur eine solche Gerechtigkeit wahrgenommen hat, die gleich im ersten Augenblick vor Gottes Angesicht zusammenbrechen muß.

 

(2) Ist aber so die Zuversicht (auf die Gerechtigkeit der Werke) abgetan, so muß auch alles Rühmen weichen. Wenn einer auf seine Werke vertraut, so muß er vor Gottes Angesicht erzittern - wie sollte er ihnen dann aber das Lob der Gerechtigkeit zollen? Wir müssen also dahin kommen, wozu uns Jesaja ruft: nämlich daß sich aller Same Israels in Gott rühme und preise (Jes. 45,25)! Denn es ist volle Wahrheit, wenn er an anderer Stelle sagt, wir seien „pflanzen“ der Ehre des Herrn! (Jes. 61,3; nicht Luthertext). Unser Herz ist also dann recht gereinigt, wenn es sich in keiner Weise auf das vertrauen auf die Werke stützt und im Rühmen (dieser Werke) jubiliert. Wo sich aber törichte Menschen von solcher falschen, lügnerischen Zuversicht aufblähen lassen, da hat sie der Irrtum angereizt, die Ursache ihres Heils stets auf die Werke zu gründen!

 

 

 

III,14,17

Die Philosophen geben uns bekanntlich die Anweisung, bei allem Zustandekommen der Dinge auf vielerlei Ursachen zu achten. Tun wir das hier, so werden wir finden, daß keine einzige von ihnen die Begründung unseres Heils auf die Werke ermöglicht. Als (1) wirkende Ursache (causa efficiens), die uns das ewige Leben verschafft, bezeichnet die Schrift allenthalben die Barmherzigkeit unseres himmlischen Vaters und seine aus lauter Gnaden uns zukommende Liebe. Als (2) „inhaltliche Ursache“ (causa materialis) nennt sie Christus und seinen Gehorsam, mit dem er uns die Gerechtigkeit erworben hat. (3) Und die „formale“ oder das Werkzeug bezeichnende Ursache (causa formalis seu instru-

 

mentalis) ist doch unzweifelhaft nichts anderes als der Glaube! Diese drei Ursachen faßt Johannes in einen einzigen Salz zusammen, wenn er sagt: „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben!“ (Joh. 3,16). (4) Die Zweckursache (causa finalis) ist nach dem Zeugnis des Apostels die Offenbarung der Gerechtigkeit und der Lobpreis der Güte Gottes. An der Stelle, wo wir das letztere bezeugt finden, erwähnt Paulus mit ausführlichen Worten auch die anderen drei Ursachen. Er sagt nämlich im Römerbrief: „Sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten, und werden ... gerecht aus seiner Gnade ...“ (Röm. 3,23f.): da haben wir die Hauptsache (caput) und die erste Quelle vor uns, nämlich daß uns Gott in gnädigem Erbarmen angenommen hat! Dann geht es weiter: „... durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist“ (Vers 24). Da steht also die inhaltliche Tatsache (materia), durch die uns Gerechtigkeit zuteil wird. Dann weiter: „... durch den Glauben in seinem Blut ...“ (Vers 25): da tritt uns die das Werkzeug bezeichnende Ursache (causa instrumentalis) vor Augen, durch die uns Christi Gerechtigkeit zugeeignet wird. Zum Schluß fügt er dann auch den Zweck an: „... auf daß er ... darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, auf daß er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum!“ (Vers 26). Außerdem bemerkt er ja im Vorbeigehen auch, daß diese Gerechtigkeit in der Versöhnung besteht, und erklärt dementsprechend ausdrücklich, daß uns Christus zur Versöhnung gesetzt ist (Vers 25). So lehrt er uns auch im ersten Kapitel des Epheserbriefs: (1) Gott nimmt uns aus lauter Erbarmen in Gnaden an, (2) das geschieht durch Christi Eintreten für uns, (3) es wird im Glauben erfaßt, und (4) das alles zu dem Zweck, daß der Ruhm der Güte Gottes in vollem Glanz erstrahle! (Eph. 1,3-14). Wir sehen also, daß unser Heil in allen seinen einzelnen Stücken außer uns besteht - was haben wir nun noch für einen Grund, uns auf die Werke zu verlassen oder uns ihrer zu rühmen? (vgl. Sektion 16). Selbst die geschworensten Feinde der göttlichen Gnade können hinsichtlich der „wirkenden Ursache“ und der „Zweckursache“ keinerlei Streit mehr mit uns anfangen, wenn sie nicht die ganze Schrift leugnen wollen. Was die „inhaltliche“ und die „formale“ Ursache betrifft, so tun sie so, als ob sich da unsere Werke mit dem Glauben und der Gerechtigkeit Christi den Platz teilen müßten. Aber auch dagegen erhebt die Schrift Einspruch: sie erklärt einfach, daß Christus unsere Gerechtigkeit und unser Leben ist, und daß wir dieses Gut der Gerechtigkeit allein durch den Glauben innehaben.

 

 

 

III,14,18

 

Nun stärken und trösten sich aber die Heiligen öfters durch das Bewußtsein ihrer Unschuld und Lauterkeit, rühmen sich ihrer auch zuweilen ohne Scheu. Das geschieht in einem doppelten Sinne. Entweder vergleichen sie ihre gute Sache mit der bösen Sache der Gottlosen und gewinnen dadurch Siegeszuversicht, freilich nicht so sehr durch die hohe Würde ihrer eigenen Gerechtigkeit, als durch die gerechte und wohlverdiente Verdammnis ihrer Feinde. Oder aber sie vergleichen sich sonst mit niemand, prüfen sich aber vor Gott - und da bringt ihnen die Reinheit ihres Gewissens einigen Trost und einige Zuversicht.

Mit der ersten Ursache solchen Rühmens müssen wir uns noch später befassen. Jetzt wollen wir die zweite betrachten und kurz erwägen, wie denn damit unser obiger Satz übereinstimmt, daß wir uns nämlich vor Gottes Gericht auf keinerlei Zuversicht auf unsere Werke stützen und uns keines Wahns dieser Werke rühmen können. Die Übereinstimmung ist folgendermaßen zu denken: Wenn es sich um die Begründung und Aufrichtung des Heils handelt, dann sehen die Heiligen von allen ihren Werken ab und richten ihren Blick allein auf Gottes Güte. Sie wenden sich zu Gottes Güte nicht nur vor allem anderen, gewissermaßen als zum Ursprung ihrer Seligkeit, sondern ruhen auf ihr auch als auf der völligen

 

Erfüllung. Ist das Gewissen auf solche Weise gegründet, aufgerichtet und gestärkt, so dient ihm auch die Betrachtung der Werke zur Stärkung, weil sie nämlich Zeugnisse dafür sind, daß Gott in uns wohnt und regiert. Diese Zuversicht auf die Werke hat also nur da Raum, wo man zuvor alle Zuversicht des Herzens auf Gottes Barmherzigkeit geworfen hat; sie kann also nicht im Widerspruch zu der Zuversicht erscheinen, von der sie doch tatsächlich abhängt! Wenn wir also die Zuversicht auf Werke ausschließen, so wollen wir damit nur, daß das Christenherz nicht auf ein Verdienst der Werke als Hilfe zur Seligkeit seine Betrachtung richte, sondern sich ausschließlich auf die Gnadenverheißung der Gerechtigkeit verlasse. Wir verbieten aber nicht, daß es diesen Glauben durch die Zeichen des ihm zugewandten göttlichen Wohlwollens unterstütze und stärke. Wenn wir daran gedenken, was für Gaben uns Gott alle hat zuteil werden lassen, so gleichen sie uns gewissermaßen Strahlen des göttlichen Angesichtes, die uns erleuchten, um dieses herrlichste Licht seiner Güte anzuschauen. Wieviel mehr kann uns dann aber die Gnadengabe der guten Werke dazu dienen, die uns beweist, daß er uns den Geist der Kindschaft gegeben hat!

 

 

 

III,14,19

 

Wenn also die Heiligen ihren Glauben im Blick auf die Unschuld ihres Gewissens stärken und an ihr den Anlaß zu jubelnder Freude nehmen, so ist das nichts anderes, als daß sie an den Früchten ihrer Berufung merken, daß sie von dem Herrn an Kindes Statt angenommen sind. Wenn also Salomo sagt: „Wer den Herrn fürchtet, der hat eine sichere Festung“ (Spr. 14,26), oder wenn die Gläubigen, um vom Herrn erhört zu werden, zu der Beteuerung greifen, sie hätten doch in Lauterkeit und Einfalt vor seinem Angesicht gewandelt (Gen. 24,40; 2. Kön. 20,3) - so hat das keinerlei Bedeutung, wenn es sich darum handelt, das Fundament zu legen, um unser Gewissen zu stärken. Alles das hat nur Wert, wenn es als Rückschluß (a posteriori) behandelt wird. Denn tatsächlich ist die „Furcht Gottes“ (Spr. 14,26!) nirgendwo so beschaffen, daß sie eine völlige Sicherheit begründen könnte. Und die Lauterkeit (Gen. 24,40; 2. Kön. 20,3!), deren sich die Gläubigen bewußt sind, ist doch noch immer mit mancherlei Überbleibseln des Fleisches untermischt! Aber da sie aus den Früchten der Wiedergeburt einen Beweis entnehmen, daß der Heilige Geist in ihnen wohnt, so dient ihnen das zu keiner geringen Stärkung, um in allen Nöten Gottes Hilfe zu erwarten, wo sie ihn doch in einer so wichtigen Sache als ihren Vater erfahren! Aber auch das vermögen sie nicht, wenn sie nicht zuvor Gottes Güte ergriffen haben, die durch keine andere Gewißheit besiegelt ist, als durch die der Verheißung! Wollten sie diese Güte Gottes nach den guten Werken zu beurteilen anfangen, so gäbe es nichts Ungewisseres und Unbeständigeres; denn wenn man die Werke an und für sich beurteilt, so beweisen sie durch ihre Unvollkommenheit nicht weniger den Zorn Gottes, als sie allenfalls durch ihre anfangsweise Reinheit sein Wohlwollen bezeugen!

 

Kurzum, die Heiligen rühmen zwar Gottes Wohltaten, aber sie lassen darin Gottes Gunst nicht beiseite, die uns aus Gnade zukommt. In ihr liegt nach dem Zeugnis des Paulus die „Länge und die Breite und die Tiefe und die Höhe“ (Eph. 3,18; Reihenfolge etwas anders). Er will also gewissermaßen sagen: Wohin die Frommen auch ihre Sinne richten, wie hoch sie sie steigen, wie weit und breit sie sie schweifen lassen - so sollen sie doch nicht von der „Liebe Christi“ (Eph. 3,19) abgehen, sondern vielmehr ihre geschlossene Kraft daran wenden, sie zu betrachten, weil sie alle Maße in sich begreift. Deshalb sagt er auch, daß sie „alle Erkenntnis übertrifft“ und überragt, und daß wir, wenn wir erkennen, wie sehr uns Christus geliebt hat, „erfüllt werden mit allerlei Gottesfülle“ (Eph. 3,19). So rühmt er es auch an anderer Stelle, daß die Gläubigen in jedem Streite Sieger sind, und fügt dann gleich als Grund hinzu: „Um des willen, der uns geliebet hat!“ (Röm. 8,37).

 

III,14,20

 

Die Heiligen sehen also in den Werken nichts anderes als Gottes Gaben, an denen sie seine Güte erkennen, nichts anderes als Zeichen ihrer Berufung, an denen sie ihre Erwählung merken sollen. Daraus ersehen wir nun, daß in ihnen nicht ein Vertrauen auf die Werke lebendig ist, welches ihrem Verdienst etwas beimäße oder der aus Gnaden geschehenden Gerechtigkeit, die wir in Christus erlangen, etwas abzöge: es hängt ja vielmehr von ihr ab und besteht nicht ohne sie! Das zeigt auch Augustin mit kurzen Worten, aber sehr treffend, wenn er schreibt: „Ich sage nicht zu dem Herrn: Die Werke meiner Hände wollest du nicht verachten. Ich habe den Herrn gesucht mit meinen Händen, und ich bin nicht zuschanden geworden! (vgl. Ps. 77,3). Aber die Werke meiner Hände preise ich nicht; denn ich fürchte, wenn du sie anschautest, so würdest du mehr Sünden als Verdienste finden! Ich sage und bitte und begehre nur dies: ‘Die Werke deiner Hände wollest du nicht verachten’!“ (Zu Psalm 137; vgl. Ps. 138, 8). Er gibt hier zwei Ursachen an, weshalb er nicht wagte, Gott seine Werke anzubieten: (1) hat er tatsächlich irgendwelche guten Werke, so sieht er daran nichts, was sein wäre; (2) dann aber wird auch dies von der Menge der Sünden überrannt. So kommt es, daß das Gewissen dabei mehr Furcht und Schrecken empfindet, als Sicherheit! Er begehrt also, daß Gott das, was er recht gemacht hat, nur dazu anschaue, um die Gnade seiner Berufung darin wiederzuerkennen und das Werk zu vollenden, das er angefangen hat!

 

 

 

III,14,21

 

Außerdem aber zeigt doch die Schrift, daß die guten Werke der Gläubigen Ursache sind, weshalb der Herr ihnen Wohltaten erweist! Das müssen wir nun so verstehen, daß dabei unser obiger Satz unerschüttert bestehen bleibt, nämlich, daß die wirkende Ursache (effectus) unseres Heils in der Liebe Gottes, unseres Vaters liegt, der Inhalt (materia) im Gehorsam des Sohnes, das Werkzeug (instrumentum) in der Erleuchtung des Heiligen Geistes, also im Glauben, und daß dabei das Ziel (finis) der Ruhm dieser großen Freundlichkeit Gottes ist (vgl. Sektion 17). Dem widerspricht es nicht, wenn der Herr unsere Werke, gleichsam als untergeordnete Ursachen, annimmt. Aber warum tut er das? Er führt eben die Menschen, die er in seiner Barmherzigkeit für das Erbe des ewigen Lebens bestimmt hat, nach seinem geordneten Walten durch die guten Werke in den Besitz dieses Erbes ein! Was nun in der Reihenfolge dieser Austeilung (seiner Gaben) vorausgeht, das bezeichnet er als die Ursache des Folgenden! Aus diesem Grunde leitet er zuweilen auch das ewige Leben von den Werken her, nicht weil ihnen der Ruhm zugeschrieben werden dürfte; nein: weil er die, welche er „erwählt“ hat, auch „rechtfertigt“ und schließlich „herrlich macht“ (Röm. 8,30), darum macht er die früher geschenkte Gnade, die eine Stufe zur folgenden ist, gewissermaßen zu deren Ursache. Aber wenn die wahre Ursache betont werden muß, dann weist er uns nicht an, zu den Werken unsere Zuflucht zu nehmen, sondern hält uns allein bei der Betrachtung seiner Barmherzigkeit!

 

Was bedeutet es denn, wenn er uns durch den Apostel lehrt: „Der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben ...“? (Röm. 6,23). Er stellt da Leben und Tod einander gegenüber - warum dann nicht ebenso Gerechtigkeit und Sünde? So hätte die Gegenüberstellung richtig lauten müssen, die durch die hier vorliegende Veränderung etwas abgebrochen wird. Aber der Apostel wollte der Wirklichkeit entsprechend in dieser Gegenüberstellung zum Ausdruck bringen, daß die Verdienste des Menschen den Tod verdienen, daß das Leben aber allein in Gottes Barmherzigkeit liegt!

Kurz, durch solche Redeweisen (Ewiges Leben auf Grund der Werke!) wird mehr die Reihenfolge bezeichnet, als eine Ursache: Gott häuft Gnade auf Gnade und nimmt die früheren Gnadengaben zur Ursache, weitere hinzuzutun, damit er nichts außer acht lasse, um seine Knechte reich zu machen. So fährt er fort, freigebig

gegen uns zu sein; aber er will dabei, daß wir stets auf die aus lauter Gnade uns zuteil werdende Erwählung blicken, die die Quelle und der Ursprung ist! Obgleich er nämlich die Gaben, die er uns tagtäglich schenkt, liebhat, sofern sie aus dieser Quelle hervorsprudeln, ist es doch unsere Sache, an jener gnädigen Annahme festzuhalten, die allem unsere Seelen fest machen kann. Die Gaben seines Geistes aber die er uns dann weiter zuteil werden läßt, sollen wir der ersten (eigentlichen) Ursache so unterordnen, daß sie ihr keinen Eintrag tun!

Fünfzehntes Kapitel

 

 

 

Was man vom Verdienst der Werke rühmt, macht Gottes Lobpreis für das Zustandebringen der Gerechtigkeit, zugleich aber auch die Heilsgewißheit zunichte

 

 

 

III,15,1

 

Was in dieser Sache das wichtigste ist, das haben wir bereits behandelt: wenn unsere Gerechtigkeit auf die Werke gegründet wäre, so müßte sie vor Gottes Angesicht gänzlich zuschanden werden; deshalb aber besteht sie tatsächlich allein in Gottes Erbarmen, allein in dem Teilhaben an Christus und darum allein im Glauben. Wir wollen aber nachdrücklich darauf achten, daß dies der Angelpunkt der ganzen Angelegenheit ist, damit wir uns nicht in jenen allgemeinen Irrtum verstricken, dem nicht nur einfältige, sondern auch gelehrte Leute verfallen sind! Sobald sich nämlich die Frage nach der Rechtfertigung aus dem Glauben oder aus den Werken erhebt, nehmen sie schnell ihre Zuflucht zu solchen Schriftstellen, die dem Anschein nach unseren Werken irgendein Verdienst vor Gott zuschreiben Als ob die Rechtfertigung aus den Werken schon erwiesen wäre, wenn sich zeigen ließe, daß die Werke immerhin einen Wert vor Gott besitzen!

 

Ich habe doch oben klar nachgewiesen, daß die Gerechtigkeit aus den Werken ausschließlich in der vollendeten und vollkommenen Beobachtung des Gesetzes liegt. Daraus ergibt sich, daß ein Mensch nur dann nach seinen Werken gerechtfertigt wird, wenn er sich zu dem höchsten Grad von Vollkommenheit emporgeschwungen hat und keiner einzigen, auch nicht der allergeringsten Übertretung beschuldigt werden kann! Eine andere und hiervon getrennte Frage ist aber die, ob die Werke, selbst wenn sie in keiner Weise dazu ausreichen, den Menschen zu rechtfertigen, nicht doch Gnade bei Gott verdienen.

 

 

 

III,15,2

Zunächst muß ich einleitungsweise von dem Wort „Verdienst“ sprechen. Wer diesen Ausdruck zum erstenmal auf die menschlichen Werke in ihrem Verhältnis zu Gottes Urteil angewandt hat, der hat - er mag sein, wer er will - der Lauterkeit des Glaubens einen sehr schlechten Dienst getan! Ich habe wahrhaftig nicht gern mit Wortgezänk etwas zu tun - aber ich möchte wohl, unter den christlichen Schriftstellern wäre stets dies Maßhalten geübt worden, daß sie nicht ohne Notwendigkeit darauf gekommen wären, Ausdrücke in ihr Denken aufzunehmen, die der Schrift fremd sind, und die sehr viel Ärgernis, aber gar wenig Frucht bringen! Ich möchte doch zu gerne wissen: war es denn nötig, das Wort „Verdienst“ einzuführen, wo man den Wert der guten Werke doch auch mit anderen Ausdrücken deutlich und ohne Ärgernis bezeichnen konnte? Wieviel Ärgernis dieses Wort aber in sich trägt, das ist unter großem Schaden für die ganze Welt offenbar! Es ist doch sicherlich ein unsagbar aufgeblasenes Wort, und deshalb vermag es nichts anderes, als Gottes Gnade zu verdunkeln und die Menschen mit verkehrter Hoffart zu erfüllen! Allerdings haben - das gebe ich zu - auch die alten Schriftsteller der Kirche dieses Wort durchgängig gebraucht - und wollte Gott, sie hätten durch den Mißbrauch dieses einen Wörtleins den Späteren nicht solchen Anlaß zum Irrtum gegeben! Freilich bezeugen sie auch selbst an einigen Stellen, daß sie der Wahrheit mit ihrem Gebrauch jenes Wörtleins in keiner Weise etwas nehmen wollten. Augustin sagt nämlich an einer Stelle so: „Hier sollen die menschlichen Verdienste verstummen, die doch durch Adam verlorengegangen sind - hier soll Gottes Gnade durch Jesus Christus regieren!“ (Von der Prädestination der Heiligen,15,31). Oder auch: „Ihren Verdiensten schreiben die Heiligen nichts zu, nein, sie werden alles allem deiner Barmherzigkeit beimessen, o Gott!” (Zu Psalm 139). Oder an anderer Stelle: „Und wenn der Mensch sieht, daß er alles, was er Gutes besitzt, nicht aus sich heraus hat, sondern von seinem Gott, dann merkt er auch, daß alles, was man an ihm lobt,

 

nicht aus seinen Verdiensten, sondern aus Gottes Barmherzigkeit stammt!“ (Zu Psalm 84). Da sieht man, wie er dem Menschen alles Vermögen abspricht, recht zu handeln, und wie er auch die Würdigkeit des Verdienstes umstößt. Chrysostomus aber sagt: „Wenn auf Gottes gnädige Berufung irgendwelche Werke folgen, die wir getan haben, so sind sie eine Rückgabe, eine Schuld; Gottes Wohltaten aber sind Gnade, Wohltätigkeit und reiche Freigebigkeit!“ (Predigten zur Genesis,34,6).

 

Jetzt wollen wir aber das Wort (Verdienst) auf sich beruhen lassen und lieber auf die Sache selber unser Augenmerk richten. Ich habe nun zwar oben einen Satz aus Bernhard herangezogen, der folgendermaßen lautete: „Wie es zum Verdienste genug ist, sich der Verdienste nicht zu vermessen, so ist es zum Gericht genug, überhaupt keine Verdienste zu haben!“ (Predigten zum Hohen Liede, 68,6). Aber gleich darauf fügt er eine Erläuterung hinzu und mildert damit völlig die Härte des Ausdrucks: „Deshalb sorge dich darum, Verdienste zu haben! Hast du aber welche, so wisse, daß sie dir gegeben sind! Dann erhoffe als Frucht die Barmherzigkeit Gottes - dann bist du aller Gefahr der Armut, der Undankbarkeit und der Vermessenheit entgangen! Glücklich die Kirche, der es weder an Verdiensten fehlt, deren sie sich nicht vermißt - noch an Vermessenheit, die ohne Verdienste ist!“ (Predigten zum Hohen Liede, 68,6). Kurz vorher hatte er mehr als deutlich gezeigt, in welch frommem Sinne er jenes Wort („Verdienst“) gebrauchte: „Denn was soll sich die Kirche um Verdienste sorgen, weil sie doch einen viel festeren und gewisseren Grund hat, sich des Vorsatzes Gottes zu rühmen! Gott kann sich ja nicht selbst verleugnen: er wird tun, was er verheißen hat! (Anklang an 2. Tim. 2,13). Es ist also kein Grund zu fragen: aus was für Verdiensten dürfen wir Gutes erwarten? Besonders nicht, wenn man hört: Nicht um euretwillen, sondern um meinetwillen ...’ (Ez. 36,22. 32; nicht genau). Zum Verdienst ist es genug, wenn man weiß, daß die Verdienste nicht genug sind!“ (Predigten zum Hohen Liede, 68,6).

 

 

 

III,15,3

 

Was alle unsere Werke für ein Verdienst begründen, das zeigt uns die Schrift, wenn sie erklärt, daß sie Gottes Anblick nicht ertragen können, weil sie voll Unreinigkeit sind! Und was weiterhin die vollkommene Beobachtung des Gesetzes - sofern sich eine solche finden ließe! - für ein Verdienst begründen könnte, das zeigt uns die Schrift auch: wenn wir „alles getan haben, was wir schuldig waren“, so weist sie uns an, uns für „unnütze Knechte“ zu halten! (Luk. 17,10). Denn wir haben dem Herrn ja nichts geleistet, wozu wir nicht verpflichtet waren, sondern nur unsere schuldige Pflicht erfüllt, für die uns kein Dank gebührt!

Der Herr aber bezeichnet trotzdem die guten Werke, die er uns zuteil werden läßt, als unsere Werke, und er bezeugt nicht nur, daß sie ihm Wohlgefallen, sondern daß sie auch Belohnung finden sollen! Wiederum ist es unsere Sache, uns von einer so großen Verheißung aufmuntern zu lassen, unseren Mut zusammenzunehmen, damit wir nicht müde werden, Gutes zu tun - und uns für solch herrliche Freundlichkeit Gottes wahrhaft dankbar zu erzeigen! Unzweifelhaft ist alles, was an unseren Werken Lob verdient, eine Gnade Gottes, und es ist kein einziges Tröpflein daran, das wir uns eigentlich selber zuschreiben dürften! Wenn wir das wirklich und mit Ernst erkennen, dann vergeht uns nicht nur alle Zuversicht auf unsere Verdienste, sondern jeder Wahn, wir besäßen welche! Den Lobpreis für die guten Werke, meine ich, teilen wir also nicht zwischen Gott und dem Menschen auf, wie es die Klüglinge machen, - sondern wir lassen ihn ganz, unversehrt und unverkürzt dem Herrn zukommen. Dem Menschen schreiben wir dabei nur soviel zu, daß er gerade das, was gut war, mit seiner Unreinigkeit befleckt und verderbt! Denn vom Menschen - er mag so vollkommen sein, wie er will! - geht nichts aus, was

 

nicht mit irgendeinem Makel beschmutzt wäre. Mag der Herr nun das, was an den menschlichen Werken noch das Beste ist, vor sein Gericht fordern: er wird darin zwar seine Gerechtigkeit erkennen, aber des Menschen Schmach und Schande!

 

Die guten Werke sind also Gott wohlgefällig, sie sind auch nicht ohne Frucht für den, der sie tut, nein, sie bringen ihm vielmehr als Vergeltung die herrlichsten Wohltaten Gottes ein. Aber nicht, weil sie das so verdienten, sondern weil Gottes Güte ihnen von sich aus diesen Wert beigelegt hat! Was ist es aber für eine Bosheit, wenn der Mensch sich mit Gottes Freigebigkeit nicht zufrieden gibt, die ihm die Werke, die dergleichen nicht verdienten, mit unverdienten Belohnungen vergilt - und wenn er dann in gotteslästerlichem Ehrgeiz weiter darauf dringt, daß die Gaben, die allein aus Gottes Milde kommen, nun als Vergeltung für das Verdienst der Werke erscheinen!

 

Hier berufe ich mich auf den natürlichen Menschenverstand jedes einzelnen. Nehmen wir an, es hat jemand durch die Freigebigkeit eines anderen Menschen die Nutznießung von einem Acker. Wenn er nun aber hergeht und auch auf das Eigentumsrecht Anspruch erhebt - verdient er dann nicht mit solcher Undankbarkeit, daß er gerade das Anrecht verliert, das er besaß? Oder ähnlich: wenn ein Herr seinen Sklaven freigelassen hätte und der nun seinen schlichten Stand als Freigelassener verschwiege und sich als Freigeborenen ausgäbe - wäre der nicht wert, wieder Sklave zu werden wie zuvor? Denn wenn wir etwas zum Geschenk erhalten haben, so genießen wir es nur dann recht, wenn wir uns nicht mehr herausnehmen, als uns gegeben ist, und wenn wir den Geber des Guten nicht um den ihm zukommenden Lobpreis bringen, sondern uns vielmehr so verhalten, daß das, was er uns geschenkt hat, gewissermaßen bei ihm zu verbleiben scheint! Müssen wir schon den Menschen gegenüber in dieser Weise Maß halten, so möge jeder sehen und bedenken, wie sehr wir es Gott schuldig sind!

 

 

 

III,15,4

 

Ich weiß nun, daß die Klüglinge einige Stellen mißbrauchen, um zu beweisen, daß sich auch in der Schrift der Ausdruck „Verdienst“ im Verhältnis zu Gott finde. Zunächst führen sie aus dem Buche Sirach den Satz an: „Alle Wohltat wird ihre Stätte finden, und einem jeglichen wird widerfahren, wie er’s verdient hat“ (Jes. Sir. 16,14). Dann ziehen sie aus dem Hebräerbrief die Stelle heran: „Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht; denn mit solchen Opfern erwirbt man sich ein Verdienst bei Gott“ (Hebr. 13,16; der Schluß nach der Vulgata und nicht nach dem Luthertext und Urtext, siehe unten).

 

Ich hätte nun durchaus das Recht, die Autorität des Buches Sirach abzulehnen; aber darauf will ich jetzt verzichten. Ich bestreite trotzdem, daß die Klüglinge das, was dieser Sirach - mag dieser Schriftsteller sein, wer er will - geschrieben hat, textgetreu anführen. Denn der griechische Text lautet: „Alle Wohltat wird ihre Stätte finden, es wird nämlich jeder einzelne es nach seinen Werken finden!“ Dies ist aber die reine Lesart, die man in der lateinischen Fassung verdorben hat! Das ergibt sich einerseits schon allein aus dem Textbestand dieser Worte selbst, andererseits aber auch aus dem weiteren Zusammenhang der vorangehenden Rede.

 

Was die Stelle aus dem Hebräerbrief betrifft, so finden sie in ihr keinerlei Grund, uns auch nur mit einem einzigen Wort einen Fallstrick zu legen. Denn in den griechischen Worten des Apostels steht gar nicht anderes als: „solche Opfer gefallen Gott wohl“ oder sind ihm angenehm (vgl. Luthertext).

Um die Frechheit unseres hoffärtigen Wesens zu dämpfen und niederzuhalten, sollte schon allein dies reichlich genügen, daß wir unseren Werken keine Würdigkeit über die Aussage der Schrift hinaus andichteten! Die Lehre der Schrift aber sieht so aus: Unsere guten Werke sind stets und ständig mit mancherlei Schmutz befleckt, und dadurch wird Gott mit Recht beleidigt und zum Zorn gegen uns gereizt - so wenig können sie ihn mit uns versöhnen oder seine Wohltätigkeit gegen uns hervorrufen! Dennoch prüft er sie in seiner Nachsicht nicht nach schärfstem Recht

 

und nimmt sie deswegen an, als ob sie ganz rein wären. Und darum vergilt er sie uns mit unzähligen Wohltaten des gegenwärtigen und auch des zukünftigen Lebens - obwohl sie das alles nicht verdienen! Denn ich kann mir die von sonst gelehrten und frommen Männern aufgestellte Unterscheidung nicht zu eigen machen, nach welcher uns unsere guten Werke die Gnadengaben verdienen, die uns in diesem Leben zuteil werden, die ewige Seligkeit aber allein ein Lohn des Glaubens sein soll. Der Herr nämlich verheißt uns fast immer, daß uns sowohl der Lohn für unsere Mühe, als auch der Siegeskranz für unser Kämpfen im Himmel zuteil werden wird! Auf der anderen Seite ist es gegen die Lehre der Schrift, wenn man die Tatsache, daß wir von dem Herrn mit Gnadengaben über Gnadengaben überschüttet werden, dem Verdienst der Werke zuschreibt und sie damit der Gnade abspricht. Denn Christus sagt zwar: „Wer da hat, dem wird gegeben werden“ (Matth. 25,29) und „Du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen!“ (Matth. 25,21). Aber er zeigt doch anderwärts zugleich, daß das Zunehmen der Gläubigen eine Gabe seiner unverdienten Güte ist. Er spricht: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommet her zum Wasser, und die ihr nicht Geld habt, kommet her ... und kauft ohne Geld und umsonst beides, Wein und Milch!“ (Jes. 55,1). Alles, was also jetzt den Frommen zur Förderung ihres Heils zuteil wird, das ist, wie die Seligkeit selber, lauter Freundlichkeit Gottes. Trotzdem bezeugt er, daß er bei dieser Seligkeit und bei jenen Gaben auch auf die Werke Rücksicht nimmt, weil er zum Erweis seiner großen Liebe gegen uns nicht nur uns selber solcher Ehre würdigt, sondern auch die Gaben, die er uns geschenkt hat!

 

 

 

III,15,5

Hätte man das in den vergangenen Jahrhunderten in der erforderlichen Ordnung behandelt und auseinandergesetzt, so wäre nie eine solche Fülle von Verwirrung und Uneinigkeit entstanden. Paulus sagt uns, bei dem Aufbau der christlichen Lehre müsse stets das Fundament beibehalten werden, das er selbst bei den Korinthern gelegt hatte und außer dem man kein anderes legen kann: dies aber sei Jesus Christus! (1. Kor. 3,11). Was ist das nun für ein Fundament, das wir in Christus haben? Besteht es etwa darin, daß er für uns der Anfang des Heils war, die Vollendung aber von uns aus folgen müßte? Hat er uns bloß einen Weg eröffnet, auf dem wir nun selber in eigener Kraft wandern müßten? In keiner Weise! Vielmehr wird uns dies Fundament, wie es Paulus selber zuvor erklärt hat, dann zuteil, wenn wir erkennen, daß er uns zur Gerechtigkeit gegeben ist! (1. Kor. 1,30). Es ist also niemand recht in Christus gegründet, der nicht in ihm vollkommene Gerechtigkeit besitzt. Denn der Apostel sagt nicht, Christus sei gesandt, um uns zur Erlangung der Gerechtigkeit zu helfen, sondern um selbst unsere Gerechtigkeit zu sein! (1. Kor. 1,30). Wir sind eben in ihm von Ewigkeit her, vor Grundlegung der Welt erwählt, ohne eigenes Verdienst, sondern nach dem Vorsatz des göttlichen Wohlgefallens (Eph. 1,4f.). Wir sind durch seinen Tod von dem Fluch des Todes erlöst und von der Verlorenheit befreit! (Kol. 1,14. 20). In ihm sind wir von unserem himmlischen Vater zu Kindern und Erben angenommen! (Röm. 8,17; Gal. 4,5-7). Durch sein Blut sind wir mit dem Vater versöhnt! In seine Hut sind wir gegeben und werden dadurch der Gefahr entrissen, verlorenzugehen und zunichte zu werden! In ihn sind wir eingefügt, und dadurch haben wir schon jetzt gewissermaßen Anteil am ewigen Leben (Joh. 10,28) und sind durch die Hoffnung in Gottes Reich eingegangen. Aber ich bin noch nicht am Ende. Haben wir solchermaßen Anteil an ihm gewonnen, so ist er vor Gott unsere Weisheit, wie große Narren wir auch in uns selber noch sein mögen! Mögen wir unrein sein - er ist Reinheit für uns! Mögen wir auch schwach sein, so daß wir waffenlos dem Satan ausgesetzt sind - „ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ - und diese Gewalt gehört auch uns! (Matth. 28,18). Mit ihr zertritt er für uns den Satan und zerbricht die Pforten der Hölle! Mögen wir

 

auch den Leib des Todes noch an uns tragen - so ist er doch Leben für uns: Kurz, alles, was er besitzt, gehört uns, und in ihm haben wir alles, in uns nichts! Auf dieses Fundament, meine ich, müssen wir erbaut werden, wenn wir zu einem Tempel erwachsen wollen, der dem Herrn geheiligt ist!

 

 

 

III,15,6

 

Aber schon seit langer Zeit hat man die Welt anders unterwiesen: man hat wer weiß was für moralische „gute Werke“ erfunden, mit denen die Menschen Gott angenehm werden sollen, ehe sie in Christus eingeleibt sind. Als ob die Schrift löge, wenn sie uns sagt, daß alle, die den Sohn nicht haben, im Tode sind! (1. Joh. 5,12). Wenn sie aber im Tode liegen - wie sollen sie dann die Ursache zum Leben aus sich hervorbringen? Als ob es ohne Belang wäre wenn es heißt: „Was ... nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde!“ (Röm. 14,23). Als ob aus einem faulen Baum doch gute Früchte hervorgehen könnten! (Matth. 7,18; Luk. 6,43). Was haben denn diese furchtbar verderbenbringenden Klüglinge eigentlich Christus noch übriggelassen, an dem er seine Kraft ausüben könnte? Sie sagen, er habe uns die „erste Gnade“ durch sein Verdienst erworben, das heißt: die Möglichkeit, überhaupt Verdienste zu erlangen, und dann wäre es unsere Sache, die dargebotene Gelegenheit nicht zu verfehlen! O, was ist das für eine verworfene, gottlose Unverschämtheit! Wer sollte es für möglich halten, daß Menschen, die Christi Namen bekannt haben, ihn dann so seiner Kraft entkleiden könnten, ja ihn beinahe gar mit Füßen zu treten wagten! Immer wieder wird ihm doch das Zeugnis gegeben, daß alle gerechtfertigt sind, die an ihn glauben - diese Leute aber lehren, es käme von ihm nur die eine Wohltat, daß nun dem einzelnen Menschen der Weg gebahnt sei, um sich selbst zu rechtfertigen! Hätten sie doch etwas von dem Sinn der Schriftstellen begriffen, die wir jetzt folgen lassen! „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben“ (1. Joh. 5,12). Oder: „Wer ... glaubt, der ist ... vom Tode zum Leben hindurchgedrungen!“ (Joh. 5,24). Hätten sie es verstanden, wenn die Schrift uns lehrt, daß wir durch seine Gnade gerechtfertigt und damit zu Erben des ewigen Lebens geworden sind (Tit. 3,5; 2.Tim. 1,9; Röm. 3,24; Röm. 5,1f.), daß die Gläubigen Christus besitzen und er in ihnen bleibt (1. Joh. 3,24), daß sie durch ihn Gott anhängen und als Mitteilhaber an seinem Leben „samt ihm in das himmlische Wesen gesetzt sind“ (Eph. 2,6), daß sie durch ihn in Gottes Reich versetzt sind (Kol. 1,13) und die Seligkeit erlangt haben! Solche Stellen gibt es noch unzählige! Alle diese Aussagen der Schrift zeigen uns, daß wir durch den Glauben an Christus nicht etwa bloß die Fähigkeit erlangen, um die Gerechtigkeit zu gewinnen und das Heil zu erwerben, sondern daß uns dadurch beides (tatsächlich) geschenkt wird! Sobald du also durch den Glauben in Christus eingefügt bist, bist du bereits zum Kinde Gottes, zum Erben des Himmels, zum Mitgenossen an der Gerechtigkeit und zum Besitzer des Lebens geworden! Du hast - um die Lügen der Klüglinge noch besser zurückzuweisen! - damit nicht die Möglichkeit erhalten, dir Verdienste zu erwerben, sondern du hast alle Verdienste Christi erlangt, weil du an ihnen Teil gewonnen hast!

 

 

 

III,15,7

 

So haben uns die Schulen der Sorbonne, diese Mütter aller Irrtümer, die Rechtfertigung aus dem Glauben genommen, die doch das Hauptstück aller Frömmigkeit ist! Sie geben zwar mit Worten zu, daß der Mensch durch den „gestalteten“ Glauben gerechtfertigt werde; aber nachher erklären sie das so: vom Glauben her hätten eben die guten Werke die Kraft, zur Gerechtigkeit zu verhelfen! Es scheint fast gar, als ob sie den Ausdruck „Glaube“ nur zum Spott gebrauchen, weil sie ihn eben nicht ohne sehr große Schande verschweigen konnten: er wird ja in der Schrift so oft wiederholt!

Aber damit geben sie sich noch nicht zufrieden, sondern sie stehlen Gott auch ein Stück von dem Lobpreis für die guten Werke und übertragen es auf den Menschen. Sie sehen, daß die guten Werke, wenn sie als Früchte der göttlichen Gnade gelten, zur Erhebung des Menschen gar wenig ausrichten und daß sie auch im eigentlichen

 

Sinne nicht einmal Verdienste genannt werden können. Deshalb lassen sie sie aus der Kraft des freien Willens hervorgehen - wie Öl aus einem Stein! Sie bestreiten dabei nicht, daß die Hauptursache in der Gnade liege; es kommt ihnen aber trotzdem darauf an, daß der freie Wille nicht ausgeschlossen werde, durch den alles „Verdienst“ zustande kommt! Das ist nun aber nicht bloß eine Lehrmeinung der späteren Klüglinge; sondern ihr Pythagoras, nämlich Petrus Lombardus lehrt ebenso (Sentenzen II,27) - und dabei wird man doch, wenn man ihn mit den späteren vergleicht, immerhin noch sagen, er sei vernünftig und maßvoll! Gar oft führt er den Augustin im Munde, und da ist es doch eine seltsame Blindheit, daß er nicht merkt, mit welcher Sorgfalt sich dieser Mann gehütet hat, nur ja kein Stücklein Ruhm für die guten Werke dem Menschen zuzueignen! Ich habe schon oben, bei der Erörterung über den freien Willen, eine Anzahl diesbezüglicher Aussagen Augustins herangezogen. Immer wieder begegnen uns in seinen Schriften ähnliche Äußerungen. So verbietet er uns zum Beispiel, unsere Werke je für uns in Anspruch zu nehmen, weil ja auch sie Gottes Gaben sind (Zu Psalm 144). Oder er schreibt, all unser Verdienst komme allein aus der Gnade und es werde nicht durch unsere eigene Vollkommenheit zuwege gebracht, sondern allein und ganz durch die Gnade ... (Brief 194).

 

Daß Petrus Lombardus für das Licht der Schrift blind war, ist weniger verwunderlich; denn in der Schrift ist er offenkundig nicht so wohl bewandert gewesen! Trotzdem könnte man zur Abwehr gegen ihn und gegen seine Schüler gar nichts Klareres wünschen, als das Wort des Apostels in Eph. 2,10: Paulus hat da den Christen jedes Rühmen untersagt und fügt nun als Ursache, warum wir uns nicht rühmen dürfen, hinzu: „Denn wir sind Gottes Werk, geschaffen ... zu guten Werken, welche er zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen“ (Eph. 2,10). Es kann also von uns nur insofern etwas Gutes kommen, als wir wiedergeboren sind; unsere Wiedergeburt ist aber ganz, ohne jede Ausnahme, Gottes Sache - also können wir uns von den guten Werken nicht eine Unze selber zueignen!

 

Und zum Schluß: Immerzu dringen die Klüglinge auf die guten Werke, aber unterdessen unterweisen sie die Gewissen derart, daß sie nie die Zuversicht zu haben wagen, sie hätten nun einen gnädigen Gott, der an ihren Werken Wohlgefallen hätte. Wir dagegen reden nicht von Verdienst, richten aber dennoch mit unserer Lehre die Herzen der Gläubigen in herrlichem Troste auf, wenn wir ihnen nämlich sagen, daß sie in ihren Werken Gott wohlgefällig und unzweifelhaft von ihm angenommen sind! Ja, wir fordern hier, daß keiner ein Werk versuche oder angreife ohne den Glauben, d.h. wenn er nicht in gewisser Zuversicht zuvor zu dem Urteil gelangt, sein Werk werde Gott gefallen!

 

 

 

III,15,8

 

Deshalb wollen wir uns von diesem einzigen Fundament unter keinen Umständen, auch nicht einen Finger breit abbringen lassen; ist es einmal gelegt, so bauen verständige Baumeister recht und ordentlich darauf auf!

Denn wenn es jetzt der Lehre oder der Ermahnung bedarf, so verweisen sie darauf, daß der Sohn Gottes dazu erschienen ist, „daß er die Werke des Teufels zerstöre“, damit die, welche „aus Gott geboren sind“, nicht sündigen (1. Joh. 3,8f.; Schluß nicht Luthertext). Oder sie erinnern an die Stelle: „Es ist genug, daß wir die vergangene Zeit ... zugebracht haben nach heidnischem Willen ...“ (1. Petr. 4,3). Oder sie bemerken, daß die Auserwählten Gottes zur Ehre bestimmte Gefäße der Barmherzigkeit sind, die von allen Flecken gereinigt werden müssen! (2. Tim. 2,20f.). Aber es wird alles zusammen zum Ausdruck gebracht, wenn man darlegt, daß Christus solche Jünger haben will, die „sich selbst verleugnen“, ihr „Kreuz auf sich nehmen“ und „ihm nachfolgen“! (Luk. 9,23; Matth. 16,24). Wer sich selbst verleugnet hat, der hat allem Bösen die Wurzel durchgeschnitten, so daß er weiterhin nicht mehr sucht, was sein ist. Wer sein Kreuz auf sich genommen hat, der hat sich zu jeglicher Geduld und Sanftmut zubereitet. Aber

 

Christi Vorbild umfaßt dies und dazu auch alle anderen Pflichten der Frömmigkeit und Heiligkeit! Er hat sich dem Vater gehorsam erwiesen bis zum Tode (Phil. 2,8), er ging ganz darin auf, die Werke Gottes zu vollführen (Luk. 2,49), er hat die Ehre seines Vaters von ganzem Herzen gesucht (Joh. 4,34; 7,16ff.; 8,49f.), er setzte sein Leben für seine Brüder ein (Joh. 10,15; 15,13), er tat seinen Feinden wohl und betete für sie! (Luk. 23,34).

 

Ist Trost vonnöten, so können sie (jene „Baumeister“!) eine herrliche Ermunterung bringen: „Wir haben ... Trübsal, aber wir ängsten uns nicht; uns ist bange, aber wir verzagen nicht; wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen; wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um, und tragen allezeit das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe, auf daß auch das Lieben ... Jesu ... an uns offenbar werde“ (2. Kor. 4,8ff.; ganz am Schluß nicht ganz Luthertext). Oder: „Sterben wir mit, so werden wir mit leben, dulden wir, so werden wir mit herrschen ...“ (2. Tim. 2,11f.). So werden wir seinen Leiden ähnlich gestaltet, bis wir gelangen zur Gleichartigkeit mit seiner Auferstehung! (Phil. 3,10f.; nicht Luthertext). Denn der Vater hat die, welche er in seinem Sohne erwählt hatte, „auch verordnet, daß sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes, auf daß derselbe der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern!“ (Röm. 8,29). Deshalb gilt es: „Weder Tod ..., noch Gegenwärtiges, noch Zukünftiges ... mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo ... ist ...“ (Röm. 8,38f., ungenau und stark verkürzt). Ja, es muß uns nun vielmehr alles zum Guten und zum Heil dienen! (Röm. 8,28).

 

Siehe, wir rechtfertigen den Menschen vor Gott nicht aus seinen Werken, sondern wir behaupten, daß alle, die aus Gott sind, wiedergeboren werden und eine „neue Kreatur“ (2. Kor. 5,17) werden, um aus dem Reich der Sünde in das Reich der Gerechtigkeit überzugehen, an diesem Zeugnis ihren „Beruf“ „festzumachen“ (2. Petr. 1,10) und wie Bäume an ihren Früchten erkannt zu werden! (Matth. 7,20; 12,33; Luk. 6,44).

 

 

 

 

Sechzehntes Kapitel

 

 

 

Widerlegung der Schmähungen, mit denen die Papisten unsere Lehre in schlechten Ruf zu bringen versuchen

 

 

 

III,16,1

 

Mit diesem einen Wort läßt sich auch das widerlegen, was einige gottlose Menschen in ihrer Unverschämtheit an Schmähungen gegen uns vorbringen. So verleumden sie uns, wir schafften die guten Werke ab und führten die Leute vom Eifer um sie weg, wenn wir sagen, daß der Mensch nicht durch Werke gerechtfertigt wird und sich das Heil nicht verdient! Und dann zweitens: Wenn wir behaupten, der Weg zur Gerechtigkeit liege in der aus lauter Gnade geschehenden Vergebung der Sünden, so lästern unsere Gegner, wir bahnten eben einen allzu leichten Weg zur Gerechtigkeit, und durch solche Lockungen reizten wir die Menschen zu sündigen an, zu dem sie ohnehin mehr als zuviel geneigt wären. Diese Schmähungen, sage ich, lassen sich mit jenem einzigen Wort hinreichend widerlegen: ich will aber trotzdem auf beide kurz erwidern.

 

Zunächst behauptet man, durch die Rechtfertigung aus dem Glauben würden die guten Werke abgetan.

 

Ich will hier davon absehen zu sagen, was das eigentlich für Eiferer um die guten Werke sind, die uns solche Nachrede bereiten! Sie mögen ebenso ungestraft lästern, wie sie auch ungezügelt mit der Unsittlichkeit ihres Lebens die ganze Welt anstecken!

Sie geben also vor, es bereite ihnen Schmerz, daß bei solch gewaltiger Lobeserhebung des Glaubens die Werke aus ihrer Stellung verdrängt würden. Was wollen sie aber sagen, wenn sie aber nun tatsächlich nur besser aufgerichtet und bekräftigt werden? Denn wir träumen nicht von einem Glauben, der leer wäre von allen guten Werken, auch nicht von einer Rechtfertigung, die ohne gute Werke bestünde. Der Unterschied besteht nur darin: wir geben zwar zu, daß Glaube und gute Werke notwendig miteinander zusammen hängen, aber wir begründen die Rechtfertigung auf den Glauben und nicht auf die Werke! Warum das geschieht, das läßt sich sofort leicht erklären, wenn wir uns nur zu Christus wenden, auf den sich der Glaube richtet und von dem er alle Kraft empfängt. Weshalb werden wir nun imGlauben gerechtfertigt? Weil wir im Glauben die Gerechtigkeit Christi ergreifen, durch die allein wir mit Gott versöhnt werden! Diese aber kann man gar nicht ergreifen, ohne zugleich auch die Heiligung zu erfassen! Denn Christus ist uns gegeben „zur Gerechtigkeit und zur Weisheit, zur Heiligung und zur Erlösung!“ (1. Kor. 1,30; Reihenfolge am Anfang umgekehrt). Christus rechtfertigt also keinen, den er nicht zugleich heiligt! Diese Wohltaten Christi sind durch ein bleibendes und unlösbares Band miteinander verknüpft: die Menschen, welche er mit seiner Weisheit erleuchtet, die erlöst er auch, die er erlöst, die rechtfertigt er auch, die er rechtfertigt, die heiligt er auch! Aber weil die Frage sich hier allein auf die Gerechtigkeit und Heiligung bezieht, deshalb wollen wir bei diesen beiden auch bleiben. Wir unterscheiden sie allerdings voneinander, aber Christus trägt sie beide untrennbar in sich! Willst du also in Christus Gerechtigkeit erlangen? Dann mußt du zuvor Christus besitzen! Du kannst ihn aber gar nicht besitzen, ohne zugleich auch an seiner Heiligung teilzuhaben! Denn man kann ihn nicht in Stücke zerreißen. Wenn uns also der Herr diese Wohltaten genießen läßt - und zwar einzig und allein dadurch, daß er sich selber uns gibt! -, so spendet er uns beides zugleich, das eine nie ohne das andere! Daraus geht deutlich hervor, wie richtig der Satz ist, daß wir nicht ohne die Werke, aber dennoch auch nicht durch die Werke gerechtfertigt werden! Denn wir werden ja nur dadurch gerecht, daß wir an Christus

 

Anteil haben - und darin ist die Heiligung nicht weniger beschlossen als die Gerechtigkeit!

 

 

 

III,16,2

 

Völlig falsch ist auch der Vorwurf, wir brächten das Herz der Menschen von dem Eifer ab, Gutes zu tun, wenn wir ihnen den Wahn nehmen, sie könnten sich damit etwas verdienen.

 

Im Vorbeigehen muß ich den Leser darauf aufmerksam machen, daß unsere Gegner hier, wie ich später noch deutlicher auseinandersetzen will, unsinnigerweise vom Lohn auf das Verdienst schließen. Das tun sie, weil sie einen wichtigen Grundsatz nicht kennen: Wenn Gott unseren Werken Lohn zuerteilt, so ist er dabei ebenso freigebig, wie wenn er uns das Vermögen zum rechten Tun verleiht! (Also Lohn ist nicht Verdienst!) Aber ich will das doch lieber an die dazu vorgesehene Stelle verschieben!

 

Jetzt wird es genug sein, wenn ich bloß andeutend zeige, auf wie schwachen Füßen der Einwand der Gegner steht. Das soll auf zweierlei Weise geschehen. Zunächst sagen sie, es könne keinen Eifer um rechte Lebensführung geben, wenn man den Menschen nicht die Hoffnung auf Lohn vor Augen stellte. Das ist auf der ganzen Linie irrig! Denn wenn es nur darauf ankommt, daß die Menschen bei ihrem Dienst, den sie Gott leisten, Lohn erwarten, wenn sie ihm also ihre Arbeit vermieten oder verkaufen - so wird gar wenig ausgerichtet! Denn Gott will umsonst verehrt, umsonst geliebt werden! Er läßt, meine ich, nur den Diener als recht gelten, der auch dann nicht aufhört ihm zu dienen, wenn ihn alle Hoffnung, Lohn zu empfangen, abgeschnitten ist.

Und dann: wenn die Menschen zum Guten angereizt werden sollen, so vermag kein Mensch einen schärferen Ansporn zu finden als den Hinweis auf den Zweck unserer Erlösung und Berufung. Diesen Sporn wendet das wort des Herrn an. Es lehrt, daß es eine furchtbar gottlose Undankbarkeit wäre, wenn wir den, „der uns zuerst geliebt hat“ nicht unsererseits auch wieder liebten! (1. Joh. 4,10.19). Es sagt, daß „unser Gewissen“ durch das „Blut Christi“ „von den toten Werken gereinigt“ wird, , zu dienen dem lebendigen Gott“! (Hebr. 9,14). Nach seinem Zeugnis ist es eine unwürdige Gotteslästerung, wenn wir uns, einmal gereinigt, mit neuem Schmutz beflecken und so das heilige Blut gemein machen (Hebr. 10,29). Es sagt, daß wir „aus der Hand unserer Feinde“ erlöst sind, um ihm zu dienen „ohne Furcht unser Leben lang, in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor ihm!“ (Luk. 1,74f.; Schluß nicht Luthertert). Wir sind „frei geworden von der Sünde“, um nun mit freiem Geiste der Gerechtigkeit zu dienen! (Röm. 6,18). „Unser alter Mensch ist.. gekreuzigt“, damit wir zu einem neuen Leben auferstehen! (Röm. 6,6). Ebenso sagt uns die Schrift: sind wir nun mit Christus gestorben - wie es seinen Gliedern geziemt! -, so sollen wir auch „suchen, was droben ist“, und in der Welt als Fremdlinge wandern, um uns nach dem Himmel zu sehnen, wo unser Schatz ist! (Kol. 3,1ff.; Matth. 6,21). „Dazu ist erschienen die ... Gnade Gottes ..., daß wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und unseres Heilandes ...“ (Tit. 2,11ff.). „Denn Gott hat uns nicht gesetzt zum Zorn, sondern die Seligkeit zu besitzen durch unseren Herrn Jesus Christus“ (1. Thess. 5,9). Darum nennt uns die Schrift auch „Tempel des Heiligen Geistes“, die zu entweihen ein Frevel wäre! (1. Kor. 3,16f.; 2. Kor. 6,16; Eph. 2,21). Wir sind nach ihrem Urteil nicht Finsternis, sondern Licht in dem Herrn, und deshalb sollen wir auch als „Kinder des Lichts“ wandeln! (1. Thess. 5,4ff.; Eph. 5,8f.). „Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinigkeit, sondern zur Heiligung“ (1. Thess. 4,7); „denn das ist der Wille Gottes“, unsere „Heiligung“, daß wir uns enthalten von allen unerlaubten Begierden! (1. Thess. 4,3). Unsere Berufung ist „heilig“ (2. Tim. 1,9), und wir können ihr deshalb nur durch Reinheit unseres Lebens gerecht werden; sind

 

wir doch dazu „frei geworden von der Sünde“, daß wir nun der Gerechtigkeit in Gehorsam dienen sollen! (Röm. 6,18). Könnten wir denn überhaupt mit einer kräftigeren Begründung zur Liebe angetrieben werden, als mit der des Johannes: wir sollen uns untereinander lieben, wie uns der Herr geliebt hat, und der Unterschied zwischen den „Kindern Gottes“ und den „Kindern des Teufels“, den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis liegt eben darin, daß jene in der Liebe bleiben? (1. Joh. 2,11; 3,10). Oder auch mit dem Hinweis des Paulus, daß wir, die wir Christus anhangen, eines Leibes Glieder sind, die sich untereinander mit gegenseitigem Dienste beistehen sollen? (1. Kor. 6,17; 1. Kor. 12,12ff.). Können wir stärker zur Heiligkeit gereizt werden, als wenn wir wiederum bei Johannes hören: „Und ein jeglicher, der solche Hoffnung hat ..., der reinigt sich, gleichwie er auch rein ist“ (1. Joh. 3,3)? Oder wenn wir ebenso aus dem Munde des Paulus vernehmen, wir sollten uns im Vertrauen auf die Verheißung unserer Aufnahme in die Kindschaft „von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes reinigen ...“ (2. Kor. 7,1)? Gibt es eine bessere Mahnung zur Heiligkeit, als wenn wir hören, daß sich Christus selber als unser Vorbild hinstellt, dessen Fußtapfen wir nachwandeln sollen? (Joh. 15,10; vgl. 1. Petr. 2,21).

 

 

 

III,16,3

 

Diese wenigen Hinweise habe ich nun bloß als Kostprobe gegeben. Denn wenn ich im Sinne hätte, sie alle einzeln durchzugehen, so müßte ich darüber einen dicken Band füllen! Alle Apostelschriften sind ja voll von Zusprachen, Ermahnungen und Züchtigungen, mit denen sie den Menschen Gottes zu allem guten Werk unterweisen wollen (vgl. 2. Tim. 3,17) - und zwar ohne jede Erwähnung eines Verdienstes! Nein, sie gründen im Gegenteil gerade darauf die stärksten Ermahnungen, daß unser Heil durch kein Verdienst von unserer Seite, sondern allein durch Gottes Erbarmen Bestand hat! So macht es Paulus in Römer 12. In dem ganzen Briefe hat er davon gesprochen, daß wir einzig und allein in Christi Gerechtigkeit eine Hoffnung auf das Leben haben. Als er dann aber zu den Ermahnungen übergeht, da „ermahnt“ er seine Leser „durch die Barmherzigkeit Gottes“, deren er uns gewürdigt hat: (Röm. 12,1). Und dabei sollte uns doch zweifellos die eine Ursache genug sein, daß Gott durch uns verherrlicht werden soll (Matth. 5,16). Wenn aber einer von der Ehre Gottes innerlich nicht kräftig genug ergriffen ist, dann wird die Erinnerung an Gottes Barmherzigkeit doch sicher vollauf genügen, um solch einem Menschen zum rechten Handeln anzutreiben! (Vgl. Chrysostomus, Predigten zur Genesis, 26,5f.). Die Römischen dagegen erreichen mit ihrem Hinweis auf die Verdienste allenfalls einen knechtischen, erzwungenen Gehorsam gegen das Gesetz, und deshalb lügen sie, wir hätten, da wir ihren Weg nicht gehen wollen, nichts, um die Menschen zu guten Werken anzuspornen! Als ob sich Gott an derartigen Gehorsam sehr erfreute! Er tut uns doch kund, daß er „einen fröhlichen Geber lieb hat“, und er verbietet uns, etwas gleichsam „mit Unwillen oder aus Zwang“ zu geben (2. Kor. 9,7).

Das sage ich aber nicht, weil ich die Art der Ermahnung verwerfen oder vernachlässigen wollte, die die Schrift oftmals zur Anwendung bringt, um nur ja kein Mittel außer acht zu lassen, um uns von allen Seiten zum Handeln zu ermuntern. Sie macht uns nämlich auf den Lohn aufmerksam, den Gott jedem einzelnen nach seinen Werken geben werde (Matth. 16,27; Röm. 2,6f.; 1. Kor. 3,14f.; 2. Kor. 5,10). Ich bestreite aber, daß diese Art der Ermahnung die einzige oder auch nur unter den vielen anderen die wichtigste wäre. Auch gebe ich nicht zu, daß man von ihr den Ausgangspunkt nehmen kann. Ferner behaupte ich, daß diese Tatsache, wie wir nachher noch sehen werden, in keiner Weise dazu dient, die Verdienste aufzurichten, wie die Römischen sie predigen. Und endlich kann, so meine ich, diese Art der Ermahnung nur dann Nutzen stiften, wenn zuvor die Lehre zur Geltung gekommen ist, daß wir allein durch Christi Verdienst, das wir durch den Glauben ergreifen, gerechtfertigt werden, aber durch keinerlei Verdienst aus unseren Werken!

 

Denn zu solchem Streben nach Heiligkeit kann nur der geschickt sein, der diese Lehre zuvor in sich aufgenommen hat. Das gibt uns auch der Prophet trefflich zu verstehen, wenn er Gott anredet: „Denn bei dir, Herr, ist die Vergebung, daß man dich fürchte“ (Ps. 130,4). Er zeigt doch damit, daß es keine Verehrung Gottes gibt, wenn man nicht zuvor seine Barmherzigkeit erkannt hat, auf die jene sich gründet und von der sie ihre Kraft hat. Das ist wert, sehr nachdrücklich beachtet zu werden. Denn wir müssen nicht nur wissen, daß der Ursprung aller rechten Verehrung Gottes die Zuversicht auf seine Barmherzigkeit ist, sondern auch, daß die Furcht Gottes - die nach dem Willen der Papisten etwas Verdienstliches sein soll! - eben nicht mit dem Namen „Verdienst“ bezeichnet werden darf, weil sie ja auf die Vergebung und den Erlaß der Sünden gegründet ist!

 

 

 

III,16,4

 

Jetzt kommt aber die bei weitem unbegründetste Schmähung: wenn wir die unverdiente Vergebung der Sünden bezeugen, in der nach unserer Lehre die Gerechtigkeit ruht, so wirft man uns vor, damit reizten wir die Menschen zum Sündigen! Denn wir sagen ja, daß die Vergebung der Sünden zu köstlich ist, als daß sie mit irgendeinem Gut von unserer Seite aufgewogen werden könnte: wir vermöchten sie also nie und nimmer zu erlangen, wenn sie nicht umsonst geschähe! Nun ist sie - sagen wir weiter - für uns zwar umsonst, für Christus dagegen nicht eben so; denn er hat sie ja teuer bezahlt, nämlich mit seinem hochheiligen Blute, außer dem es kein Lösegeld gab, das wertvoll genug gewesen wäre, um dem Urteil Gottes Genüge zu leisten! Wenn man den Menschen diese Lehre Predigt, so werden sie damit daran erinnert, daß es nicht an ihnen liegt, wenn nicht jedesmal, wenn sie sündigen, aufs neue dieses hochheilige Blut vergossen wird! Außerdem sagen wir auch noch dies: unsere Schnödigkeit ist so groß, daß sie nur in dem Quell dieses unendlich reinen Blutes abgewaschen werden kann. Muß nun nicht der Mensch, welcher das hört, einen tieferen Abscheu vor der Sünde bekommen, als wenn man ihm sagt, er könne sie durch Abwaschung mit seinen guten Werken wieder loswerden? Und wenn solch ein Mensch irgendwie mit Gott zu tun hat, wie soll er dann nicht davor zurückschrecken, sich, nachdem er einmal gereinigt ist, aufs neue im Schlamm zu wälzen, um, soweit es bei ihm steht, die Reinheit dieser Quelle zu trüben und zu beschmutzen? „Ich habe meine Füße gewaschen“, spricht die gottesfürchtige Seele bei Salomo, „wie soll ich sie wieder besudeln?“ (Hoheslied 5,3). Jetzt ist es offenkundig, wer von uns beiden die Vergebung der Sünden mehr gemein macht und die Würde der Gerechtigkeit am schlimmsten schändet! Die Papisten schwatzen, sie könnten Gott mit ihren genugtuenden Werken, das heißt: mit ihrem Dreck, versöhnen. Wir dagegen behaupten, daß der Sündenschaden viel zu schlimm ist, als daß man ihn mit solch inhaltlosen Possen tilgen könnte, daß die Beleidigung, die wir Gott angetan haben, viel zu schwer ist, um auf Grund solcher nichtigen „genugtuenden Werke“ verziehen zu werden. Deshalb sagen wir: solche Tilgung der Schuld ist das alleinige Vorrecht des Blutes Christi! Die Papisten erklären, wir könnten die Gerechtigkeit, wo sie uns mangle, durch genugtuende Werke wieder aufrichten und erneuern. Wir dagegen halten sie für viel zu kostbar, als daß sie mit irgendeiner Ersatzleistung durch Werke aufgewogen werden könnte, und deshalb lehren wir, daß wir zur Wiederherstellung unserer Gerechtigkeit allein zu Gottes Barmherzigkeit unsere Zuflucht nehmen sollen. Das übrige, das mit der Vergebung der Sünden im Zusammenhang steht, muß man aus dem folgenden Kapitel entnehmen.

Siebzehntes Kapitel

 

 

 

Wie lassen sich die Verheißungen des Gesetzes mit denen des Evangeliums vereinigen?

 

 

 

III,17,1

 

Jetzt wollen wir auch noch den anderen Beweisen nachgehen, mit denen der Satan durch seine Trabanten die Rechtfertigung aus dem Glauben umzustoßen oder zu schmälern sich bemüht. Einen Vorwand glaube ich den Lästermäulern bereits aus der Hand geschlagen zu haben: sie können nicht mehr mit uns umgehen, als seien wir Feinde der guten Werke. Denn wenn die Rechtfertigung den Werken nicht zugeschrieben wird, so geschieht das nicht, weil wir meinten, es sollten keine guten Werke getan werden oder die guten Werke, die tatsächlich geschehen, wären gar nicht gut, sondern dazu, daß wir ihnen nicht unser Vertrauen schenken, uns ihrer nicht rühmen und ihnen nicht unser Heil beimessen! Denn unsere Zuversicht, unser Ruhm, der einzige Anker unseres Heils ist dies Eine, daß Christus, der Sohn Gottes, uns gehört und daß wir wiederum in ihm Gottes Kinder und Erben des himmlischen Reiches sind, die durch Gottes Güte und nicht um ihrer eigenen Würdigkeit willen zur Hoffnung auf die ewige Seligkeit berufen sind.

 

Aber die Gegner berennen uns außerdem, wie gesagt, auch noch mit anderen Kampfwerkzeugen - wohlan, so wollen wir uns denn aufmachen, auch diese zurückzutreiben! Zunächst kommen sie auf die Verheißungen des Gesetzes zurück, die der Herr denen, die sein Gesetz halten, gegeben hat. Sie fragen, ob wir denn meinten, diese Verheißungen seien gänzlich kraftlos - oder ob wir sie für wirksam hielten. Da es nun aber widersinnig und lächerlich wäre, sie für kraftlos zu erklären, so nehmen sie es als zugestanden an, sie hätten irgendeine Wirkung. Daraus ziehen sie dann die Folgerung: also würden wir eben nicht „allein durch den Glauben“ gerechtfertigt! Denn der Herr spricht: „Und wenn ihr diese Rechte hört und haltet sie und danach tut, so wird der Herr, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, die er deinen Vätern geschworen hat, und wird dich lieben und segnen und mehren ...“ (Deut. 7,12f.). Oder ebenso: „Wenn ihr eure Wege und euer Trachten recht richtet und nicht anderen Göttern nachfolget, und wenn ihr recht tut einer gegen den anderen und nicht in Bosheit verfallt, so will ich in euerer Mitte wandeln ...“ (Jer. 7,5-7.23; nicht durchweg Luthertext, abgekürzt und in geänderter Reihenfolge). Es gibt noch tausend Sprüche der gleichen Art; ich will sie aber nicht aufzählen, weil sie dem Sinne nach den angegebenen gänzlich gleich sind und deshalb durch deren Lösung ebenfalls ihre Erläuterung finden. Eine Zusammenfassung bietet das Zeugnis des Mose: „Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch, das Leben und den Tod!“ (Deut. 11,26 und 30,15, Schluß ungenau). Unsere Gegner schließen nun so: entweder muß man diesen Segen unnütz und fruchtlos machen - oder aber die Rechtfertigung geschieht nacht „allein durch den Glauben“!

Wir haben nun schon oben gezeigt, wie wir, wenn wir am Gesetz hängenbleiben, alles Segens verlustig gehen, und wie uns dann allein Gottes Fluch droht, der über alle Übertreter ausgesprochen ist. Denn der Herr gibt einzig und allein denen eine Verheißung, die sein Gesetz vollkommen halten - ein solcher Mensch aber findet sich nicht! Es bleibt also bestehen, daß das ganze Menschengeschlecht vom Gesetz beschuldigt wird, des Fluchs und Zorns Gottes schuldig zu sein. Sollen wir daraus erlöst werden, so müssen wir aus der Gewalt des Gesetzes herauskommen und gewissermaßen aus seiner Knechtschaft in die Freiheit versetzt werden. Das ist dann freilich nicht eine fleischliche Freiheit, die uns von der Beobachtung des Gesetzes abzieht, die uns zur Ausgelassenheit in allen Dingen anreizt und unserer Begierde die Erlaubnis gibt, sich gehen zu lassen, als ob alle Schranken zerbrochen und alle Zügel weggenommen wären! Nein, es ist die geistliche Freiheit, die

 

unser schwer getroffenes und zu Boden geworfenes Gewissen tröstet und aufrichtet, und die ihm zeigt, daß es von dem Fluch und der Verdammnis frei ist, mit denen das Gesetz es gebunden und gefesselt hielt und auf solche Weise bedrückte! Diese Befreiung oder sozusagen diese Freilassung aus der Unterwerfung unter das Gesetz erlangen wir, wenn wir durch den Glauben Gottes Barmherzigkeit in Christus ergreifen. Dadurch werden wir der Vergebung der Sünden sicher und gewiß - der Sünden, durch deren Empfinden uns das Gesetz zuvor stach und quälte!

 

Aus diesem Grunde wären auch die Verheißungen, die uns im Gesetz dargeboten werden, unwirksam und kraftlos, wenn uns nicht Gottes Güte durch das Evangelium zu Hilfe käme! Denn diese Verheißungen hängen von der Bedingung ab, daß wir das Gesetz erfüllen; auf Grund dieser Bedingung allein treten sie in Kraft - und diese Bedingung wird nie erfüllt werden! Der Herr aber hilft uns so, daß er nicht etwa einen Teil der Gerechtigkeit bei unseren Werken beläßt und den anderen Teil aus seiner Nachsicht heraus hinzutut, sondern vielmehr, indem er uns Christus allein als Erfüllung der Gerechtigkeit verordnet. So spricht der Apostel (Gal. 2,16) zunächst davon, wie er und andere Juden in der Erkenntnis, „daß der Mensch durch des Gesetzes Werke nicht gerecht wird“, an Christus glaubten. Dann fügt er auch den Grund hinzu, und da heißt es nicht, wir erhielten durch den Glauben an Christus eine Hilfeleistung zur vollkommenen Gerechtigkeit, sondern: „auf daß wir gerecht werden durch den Glauben an Christum und nicht durch des Gesetzes Werke“! (Gal. 2,16). Wenn die Gläubigen vom Gesetz zum Glauben übergehen, um in ihm die Gerechtigkeit zu finden, von der sie sehen, daß sie im Gesetz nicht ist, so leisten sie damit wahrhaftig auf die Gerechtigkeit nach dem Gesetz Verzicht! Deshalb rühme nun, wer da will, die Belohnungen, von denen es heißt, sie warteten dessen, der das Gesetz hält! Er soll nur zugleich bemerken, daß wir infolge unserer Bosheit daraus gar keine Frucht empfangen, bis wir aus dem Glauben eine andere Gerechtigkeit erlangt haben! So erinnert sich auch David zwar der Belohnungen, die der Herr seinen Knechten bereitet hat, aber er kommt dann sogleich zur Erkenntnis seiner Sünden, durch die jene Belohnungen zunichte gemacht werden. So preist er auch im 19. Psalm zunächst herrlich die Wohltaten des Gesetzes - aber gleich danach ruft er aus: „Wer kann merken, wie oft er fehlet? Herr, verzeihe mir die verborgenen Fehle!“ (Ps. 19,12 - Ps. 19,13!). Diese Stelle stimmt voll und ganz mit einer anderen überein; da heißt es zunächst: „Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit bei denen, die ihn fürchten“ (Ps. 25,10; Schluß ungenau), dann aber gleich danach: „Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat, die da groß ist!“ (Ps. 25,11). So sollen auch wir erkennen: im Gesetz ist uns zwar Gottes Wohlwollen dargeboten, sofern wir es mit Werken verdienen können - aber tatsächlich kommt es durch das Verdienst unserer Werke nie und nimmer zu uns!

 

 

 

III,17,3

Wieso, sind uns denn diese Verheißungen dazu gegeben, daß sie ohne Frucht vergehen? Ich habe bereits oben ausgesprochen, daß dies nicht meine Meinung ist. Ich behaupte allerdings, daß sie ihre Wirkung nicht bis zu uns dringen lassen, solange sie sich auf die Verdienste unserer Werke beziehen. Wenn man sie also an und für sich betrachtet, so sind sie gewissermaßen abgetan. So haben wir die herrliche Verheißung: „Ich gab euch gute Gebote, und wer sie hält, der wird dadurch leben!“ (Lev. 18,5; Ez. 20,11; ungenau). Aber der Apostel lehrt (Röm. 10,5ff.), daß diese Verheißung ohne Bedeutung ist, wenn wir bei ihr stehen bleiben, und daß sie uns dann um kein Haar mehr nützen wird, als wenn sie gar nicht gegeben wäre. Denn sie trifft ja nicht einmal auf die heiligsten Knechte Gottes zu: sie sind ja alle weit davon entfernt, das Gesetz zu erfüllen, sondern gar mit vielen Übertretungen umgeben! Wenn aber die Verheißungen des Evangeliums an ihre Stelle treten, die uns die Vergebung der Sünden aus lauter Gnade zusprechen, dann bewirken sie nicht allein, daß wir selber Gott angenehm sind, sondern daß

 

auch unsere Werke seine Gunst empfangen! Und nun ist es nicht bloß so, daß der Herr sie gnädig annimmt, nein, er läßt ihnen auch die Belohnungen folgen, die auf Grund des Bundes denen zustehen, die das Gesetz halten! Ich gebe also zu, daß den Werken der Gläubigen das zuteil wird, was der Herr in seinem Gesetz denen verheißen hat, die sich der Gerechtigkeit und Heiligkeit befleißigen; aber bei dieser Belohnung ist stets auf die Ursache zu achten, welche diese Werke angenehm macht.

 

Wir sehen nun, daß diese Ursache dreifältig ist. Erstens wendet Gott den Blick von den Werken seiner Knechte ab, die ja stets mehr Tadel als Lob verdienen, nimmt sie in Christus an und versöhnt sie mit sich - und zwar allein vermittelst des Glaubens, ohne jede Hilfeleistung der Werke. Zweitens erhebt er die Werke, ohne auf ihre Würdigkeit zu achten, kraft seiner väterlichen Güte und Nachsicht zu solcher Ehre, daß er ihnen einigen Wert beimißt. Drittens nimmt er eben diese Werke mit Nachsicht an und rechnet ihnen ihre Unvollkommenheit nicht zu, mit der sie alle befleckt sind und um derentwillen sie sonst mehr den Sünden als den Tugenden zuzurechnen wären.

 

Hieraus kann man nun ersehen, wie sehr sich die Klüglinge getäuscht haben. Sie meinten, allen Widersinnigkeiten sein aus dem Wege gegangen zu sein, wenn sie erklärten, die Werke hätten nicht etwa vermöge der ihnen innewohnenden Güte die Kraft, das Heil zu verdienen, sondern kraft des Bundes, weil sie nämlich der Herr in seiner Freigebigkeit so hoch einschätzte. Aber unterdessen achteten sie nicht darauf, wie weit die Werke, die sie für „verdienstlich“ hielten, von der an die Verheißungen geknüpften Bedingung noch entfernt sind, sofern nicht die Rechtfertigung, die sich allein auf den Glauben stützt, und die Vergebung der Sünden, durch die auch die guten Werke noch von ihren Makeln befreit werden müssen, vorausgeht. Sie haben also von den drei (angegebenen) Ursachen der göttlichen Freigebigkeit, um derentwillen die Werke der Gläubigen Gott angenehm werden, bloß eine beachtet, die beiden anderen, und zwar die wichtigsten, haben sie unterschlagen!

 

 

 

III,17,4

 

Unsere Gegner ziehen aber ein Wort des Petrus heran, das Lukas in der Apostelgeschichte überliefert: „Nun erfahre ich mit der Wahrheit, daß Gott die Person nicht ansieht; sondern in allerlei Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, der ist ihm angenehm!“ (Apg. 10,34f.). Aus diesen Worten ziehen sie nun die scheinbar keinem Zweifel unterworfene Folgerung: wenn sich der Mensch durch rechten Eifer bei Gott Wohlgefallen erwerben kann, so ist es nicht allein Gottes Wohltat, daß er das Heil erlangt! Ja - so behaupten sie weiter! - Gott kommt in seiner Barmherzigkeit dem Sünder in der Weise zu Hilfe, daß er sich von dessen Werken zur Barmherzigkeit bewegen läßt!

 

Man kann aber die Aussagen der Schrift auf keinerlei Weise miteinander in Einklang bringen, wenn man nicht eine zwiefache Annahme des Menschen vor Gott unterscheidet.

(1) Wie der Mensch von Natur beschaffen ist, findet Gott in ihm rein gar nichts, das ihn zur Barmherzigkeit bewegen könnte, außer seinem Elend! Denn zuerst, wenn Gott den Menschen annimmt, so ist dieser doch unzweifelhaft alles Guten ledig und arm, dagegen mit Bösem aller Art erfüllt und belastet! Um welches Guten willen, frage ich, sollen wir ihn da der himmlischen Berufung für würdig erklären? Fort also mit jener leeren Einbildung von Verdiensten, wo doch Gott so offenkundig seine aus reiner Gnade gewährte Freundlichkeit preist! Denn wenn dem Kornelius an jener Stelle durch die Stimme des Engels gesagt wird, seine Gebete und Almosen seien vor Gottes Angesicht gekommen (Apg. 10,31), so bedeutet es eine üble Verdrehung, wenn unsere Gegner meinen, der Mensch bereite sich eben durch den Eifer in guten Werken auf den Empfang der Gnade Gottes vor. Kornelius mußte schon vom Geiste der Weisheit erleuchtet sein, wenn er durch wahre Weisheit, nämlich durch die Furcht Gottes, ausgezeichnet war! Der gleiche

 

Geist mußte ihn bereits geheiligt haben, wenn er doch ein Diener der Gerechtigkeit war! Denn der Apostel bezeugt, daß die Gerechtigkeit ganz gewiß eine Frucht dieses Geistes ist (Gal. 5,5). Kornelius besaß alles, was nach unserem Bericht Gott wohlgefällig war, durch seine Gnade. Es kann also keine Rede davon sein, daß er sich durch jene Werke aus eigener Kraft auf deren Empfang vorbereitet hätte! Wahrlich, man wird nicht eine einzige Silbe aus der Schrift vorbringen können, die dieser Lehre nicht entspräche: Es gibt für Gott keine andere Ursache, den Menschen bei sich aufzunehmen, als daß er sieht, wie dieser in jeder Hinsicht verloren ist, wenn er sich selbst überlassen bleibt; weil aber Gott nicht will, daß er verloren sei, darum übt er seine Barmherzigkeit an ihm und macht ihn frei! Nun merken wir, daß diese Annahme keine Rücksicht auf die Gerechtigkeit des Menschen nimmt, sondern ein reines Zeugnis der göttlichen Liebe zu elenden und solcher Wohltat gänzlich unwürdigen Sündern ist.

 

 

 

III,17,5

 

(2) Nachdem aber der Herr den Menschen aus dem Abgrund der Verlorenheit herausgegriffen und ihn durch die Gnade der Aufnahme in die Kindschaft für sich abgesondert hat, da nimmt er ihn als eine neue Kreatur samt den Gaben seines Heiligen Geistes auf - weil er ihn ja wiedergeboren und zu neuem Leben geschaffen hat! Das ist die Annahme, die Petrus hier meint (Apg. 10,34f.): die Gläubigen gefallen Gott nach ihrer Berufung wohl, und zwar auch hinsichtlich der Werke; denn der Herr kann ja nicht anders, als das Gute zu lieben und gern zu haben, das er durch seinen Geist in ihnen gewirkt hat! Dabei müssen wir aber stets aufs neue darauf Bedacht nehmen, daß sie Gott nur deshalb hinsichtlich ihrer Werke wohlgefällig sind, weil er um ihretwillen und ihnen zugut auch die guten Werke, die er ihnen hat zuteil werden lassen, zur Mehrung seiner Freigebigkeit seiner Annahme würdigt! Denn woher haben sie überhaupt anders gute Werke als daher, daß der Herr sie zu Gefäßen der Ehre auserwählt hat und sie dementsprechend auch mit wahrer Reinheit zieren will! Woher kommt es, daß diese Werke als gut angerechnet werden, als ob ihnen nichts fehlte? Doch nur daher, daß der Vater in seiner Güte an den Flecken und Makeln, die ihnen noch anhaften, vergebende Nachsicht übt! Kurzum, Petrus bezeugt an dieser Stelle (Apg. 10) nichts anderes, als daß Gott seine Kinder, an denen er die Merkmale und Umrisse seines eigenen Angesichtes wahrnimmt, wohlgefällig und mit Liebe ansieht. Wir haben ja schon an anderer Stelle die Lehre vorgetragen, daß die Wiedergeburt die Erneuerung des göttlichen Ebenbildes in uns ist. Wo also der Herr sein eigenes Angesicht sieht, da liebt er es mit Recht und hält es in Ehren - und deshalb heißt es nicht ohne Ursache, daß ihm das Leben der Gläubigen, das ja auf Heiligkeit und Gerechtigkeit gerichtet ist, wohlgefällt!

Aber die Frommen tragen ja noch ihr sterbliches Fleisch an sich, sie sind noch Sünder, und ihre guten Werke stehen erst in den Anfängen und lassen die Verderbtheit des Fleisches noch erkennen. Gott kann also weder sie selbst noch ihre Werke günstig aufnehmen, wenn er sie nicht mehr in Christus, als in ihnen selber annimmt! In diesem Sinne müssen wir die Stellen verstehen, an denen bezeugt wird, daß Gott denen, die Gerechtigkeit üben, freundlich und gnädig ist. So sprach Mose zu den Kindern Israel: „Der Herr, dein Gott, hält den Bund und die Barmherzigkeit denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, auf tausend Glieder!“ (Deut. 7,9). Dieser Spruch ist dann später im Volke als gewohnte Formel verwendet worden. So heißt es in dem feierlichen Gebet des Salomo: „Herr, Gott Israels, ... der du hältst den Bund und die Barmherzigkeit deinen Knechten, die vor dir wandeln von ganzem Herzen!“ (1. Kön. 8,23). Die gleichen Worte werden auch von Nehemia wiederholt (Neh. 1,5). Denn Gott fordert in allen Bundschlüssen seiner Barmherzigkeit wiederum auch von seinen Knechten Reinheit und Heiligkeit ihres Lebens, damit seine Güte nicht zum Spott wird und sich keiner um ihretwillen in eitler Hoffart aufbläht, „sich segnet in seinem Herzen“ - und

 

dabei doch in der Bosheit seines Herzens wandelt! (Deut. 29,18). Wenn er also Menschen in die Gemeinschaft seines Bundes aufgenommen hat, dann will er sie auch auf diesem Wege bei ihrer Pflicht halten! Trotzdem wird der Bund selber im Anfang aus lauter Gnade geschlossen - und er bleibt stets von dieser Art! In diesem Sinne rühmt David zwar: „Der Herr ... vergilt mir nach der Reinigkeit meiner Hände“ (2. Sam. 22,21); aber er geht doch an der Quelle, von der ich sprach, nicht vorüber, sondern erinnert sich, daß er ja aus dem Schoße seiner Mutter gezogen worden ist, weil Gott ihn liebte! Er rühmt also, daß er eine gute Sache vertritt; aber dabei tut er Gottes gnädigem Erbarmen, das ja allen Gaben, deren Ursprung es ist, voraufgeht, doch keinen Abbruch!

 

 

 

III,17,6

 

Hier wird es nun zweckmäßig sein, beiläufig zu erwähnen, inwiefern sich solche Redeformen von den Gesetzesverheißungen unterscheiden. Unter Gesetzesverheißungen verstehe ich nicht einfach alle, die sich in den Büchern Moses verstreut finden; denn unter ihnen sind in Wirklichkeit auch viele Verheißungen des Evangeliums anzutreffen. Ich verstehe darunter vielmehr solche, die im eigentlichen Sinne das Amt des Gesetzes betreffen. Diese Verheißungen - man mag sie nun nennen, wie man will! - machen kund, daß dem Menschen unter der Bedingung: „Wenn du tust, was dir befohlen ist ...“, eine Belohnung bereit steht.

 

Wenn es dagegen heißt, der Herr halte den Bund seiner Barmherzigkeit gegenüber denen, die ihn lieben (vgl. Deut. 7,9; 1. Kön. 8,23; Neh. 1,5) - dann wird da weniger die Ursache angegeben, weshalb der Herr ihnen wohltut, sondern vielmehr beschrieben, wie denn die Knechte Gottes beschaffen sind, die seinen Bund in rechter Treue angenommen haben! Der Sinn dieser Beschreibung ist da folgender: Wenn Gott uns der Gnade des ewigen Lebens würdigt, so hat er dabei das Ziel im Auge, von uns geliebt, gefürchtet und verehrt zu werden; dementsprechend sind alle Verheißungen der Barmherzigkeit, die sich in der Schrift finden, auch mit gutem Grunde auf dies Ziel ausgerichtet, daß wir den Geber der guten Gaben fürchten und verehren! Wenn wir also hören, daß Gott denen wohltut, die sein Gesetz halten, so sollen wir jedesmal bedenken, daß da Gottes Kinder beschrieben werden, und zwar nach der Amtsverpflichtung, der sie allezeit unterliegen sollen; es wird also gleichsam gesagt: wir sind zu dem Zweck zu Kindern angenommen worden, ihn als unseren Vater zu ehren! Wollen wir also auf das Recht unserer Annahme in die Kindschaft nicht verzichten, so müssen wir stets auf das dringen, was unserer Berufung als Ziel gesetzt ist.

Trotzdem müssen wir auf der anderen Seite festhalten, daß die Erfüllung der Barmherzigkeit des Herrn nicht von den Werken der Gläubigen abhängig ist; nein, er erfüllt an denen, die in Rechtschaffenheit des Lebens ihrer Berufung entsprechen, die Verheißung des Heils, weil er die reinen Kennzeichen seiner Kinder erst an denen wahrnimmt, die durch seinen Geist zum Guten geleitet werden. Darauf muß die Beschreibung bezogen werden, die in Psalm 15 von den Bürgern der Kirche gegeben wird: „Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte, wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge? Wer unschuldige Hände hat und ein reines Herz ...“ (Ps. 15,1f.; Vers 2 nicht Luthertext, tatsächlich aus Ps. 24,4 herübergenommen). Auch das Wort des Jesaja gehört hierher: „Wer wird bei einem verzehrenden Feuer wohnen? ... Wer in Gerechtigkeit wandelt und redet, was recht ist ...“ (Jes. 33,14f.; Anfang nicht Luthertext). Denn da wird nicht der Grund beschrieben, auf dem die Gläubigen vor dem Herrn bestehen könnten, sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie der Vater in seiner großen Güte in seine Gemeinschaft einführt und in ihr bewahrt und stärkt. Denn er verabscheut die Sünde und liebt die Gerechtigkeit - und deshalb macht er die, welche er mit sich verbindet, durch seinen Geist rein, um sie so sich selber und seinem Reiche gleichförmig zu machen! Fragt man also nach der ersten Ursache, weshalb den Heiligen der Zugang zu Gottes Reich offensteht und weshalb sie darin bestehen

 

und beharren können - dann ist gleich zu antworten: Weil der Herr sie in seiner Barmherzigkeit einmal zu Kindern angenommen hat und sie in diesem Stande auch allezeit erhält. Geht die Frage aber um die Art und Weise, dann muß man auf die Wiedergeburt und auf ihre Früchte zu sprechen kommen, wie sie in jenem (15.) Psalm beschrieben werden!

 

 

 

III,17,7

 

Eine wesentlich größere Schwierigkeit scheint sich nun aber angesichts solcher Stellen zu erheben, welche die guten Werke mit dem Titel „Gerechtigkeit“ auszeichnen und gar behaupten, der Mensch werde durch sie gerechtfertigt! Die meisten Stellen sind von der erstgenannten Art: da wird also das Halten der Gebote mit der Bezeichnung „Rechtfertigungen“ oder „Gerechtigkeiten“ versehen. Ein Beispiel für die zweite Art findet sich bei Mose: „Und es wird unsere Gerecht tigkeit sein ... so wir ... halten alle diese Gebote“ (Deut. 8,25). Wenn man nun aber einwenden wollte, hier handle es sich doch um eine Gesetzesverheißung, die an eine unerfüllbare Bedingung geknüpft sei und deshalb nichts beweise, so gibt es andere, bei denen man diese Entgegnung nicht vorbringen könnte. So z.B.: „Das wird dir vor dem Herrn ... eine Gerechtigkeit sein, wenn du dem Armen sein Pfand wiedergibst ...“ (Deut. 24,13; Schluß ist Inhaltsangabe von V. 13a). Dahin gehört auch das Wort des Propheten, der von dem Eifer des Pinehas, Israels Schande zu rächen, sagt: „Das ward ihm gerechnet zur Gerechtigkeit ...“ (Ps. 106,31).

 

Unter solchen Umständen meinen nun unsere heutigen Pharisäer einen wichtigen Anlaß zu haben, gegen uns anzugehen. Denn wenn wir sagen, mit der Aufrichtung der Gerechtigkeit aus dem Glauben falle die Gerechtigkeit aus den Werken dahin - dann folgern sie mit dem gleichen Recht, wenn man aus den Werken Gerechtigkeit erlangen könne (was jene Stellen zu beweisen scheinen!), so sei es eben nicht wahr, daß wir allein durch den Glauben gerechtfertigt würden!

 

Ich gebe zwar zu, daß die Gebote des Gesetzes „Gerechtigkeiten“ genannt werden - das ist auch kein Wunder; denn sie sind es wirklich! Allerdings muß ich die Leser darauf aufmerksam machen, daß die griechischen Übersetzer das hebräische Wort „Chuqqim“, das eigentlich „Gebote“ bedeutet, wenig angemessen mit „dikaiomata“ wiedergegeben haben. Aber ich will den Streit um Worte gern fahren lassen.

 

Wir wollen es auch dem Gesetz Gottes nicht bestreiten, daß es vollkommene Gerechtigkeit in sich begreift. Freilich sind wir ja alles das schuldig zu halten, was es uns befiehlt, und deshalb sind wir auch dann, wenn wir ihm völligen Gehorsam geleistet haben, noch „unnütze Knechte“ (Luk. 17,10). Aber der Herr hat es doch der Ehre gewürdigt, als Gerechtigkeit zu gelten, und deshalb entziehen wir ihm nicht, was er ihm gegeben hat. Wir gestehen also gern zu, daß der vollkommene Gehorsam gegen das Gesetz Gerechtigkeit ist; das Halten eines beliebigen einzelnen Gebotes ist dann ein Teil der Gerechtigkeit, sofern einer auch hinsichtlich der anderen Teile vollkommene Gerechtigkeit erlangt hat. Wir bestreiten dagegen, daß es eine derartige Gerechtigkeit je geben wird! Wir heben also die Gerechtigkeit aus dem Gesetz auf, und zwar nicht, weil sie an und für sich unvollkommen und schwach wäre, sondern weil sie um der Gebrechlichkeit unseres Fleisches willen niemals in die Erscheinung tritt!

Aber - so könnte man einwenden! - die Schrift nennt nicht bloß die Gebote des Herrn „Gerechtigkeiten“, sondern gibt diese Bezeichnung auch den Werken der Heiligen! So berichtet sie von Zacharias und seinem Weibe, sie seien in den „Gerechtigkeiten“ des Herrn gewandelt! (Luk. 1,6). Ja, wenn sie aber so redet, so beurteilt sie sicherlich diese Werke mehr nach der Natur des Ge-

 

setzes als nach ihrer eigenen Beschaffenheit. Auch könnte hier wiederum darauf aufmerksam gemacht werden, daß man - wie ich oben bereits sagte - auf Grund der Ungenauigkeit des griechischen Übersetzers kein Gesetz aufstellen darf. Weil aber Lukas an der überlieferten Fassung nichts hat ändern wollen, so will ich auch hier nicht streiten. Denn Gott hat das, was im Gesetz enthalten ist, den Menschen zu ihrer „Gerechtigkeit“ befohlen; aber wir erreichen diese Gerechtigkeit nicht, wenn wir nicht das ganze Gesetz halten: durch jede einzelne Übertretung wird sie verdorben! Da also das Gesetz ausschließlich Gerechtigkeit vorschreibt, so sind seine einzelnen Gebote, wenn man das Gesetz selbst ansieht, tatsächlich „Gerechtigkeiten“. Schauen wir aber auf die Menschen, welche die Gebote ausführen, so verdienen sie in keiner Weise um eines einzigen Werkes willen das Lob der Gerechtigkeit, da sie ja in vielen anderen Geboten Übertreter sind; auch ist selbst dieses eine Werk um seiner Unvollkommenheit willen stets in irgendeiner Hinsicht verderbt!

 

 

 

III,17,8

 

Ich komme aber nun zu der zweiten Art (vgl. den Anfang der vorigen Sektion) von Schriftaussagen, an der die größte Schwierigkeit entsteht. Paulus hat keine festere Begründung für die Gerechtigkeit aus dem Glauben, als das Wort über Abraham, sein Glaube sei ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden (Röm. 4,3; Gal. 3,6; Gen. 15,6). Wenn es nun aber (Ps. 106,31) von der Tat des Pinehas heißt, sie sei ihm „zur Gerechtigkeit gerechnet“ worden - so können wir, meint man, das, was Paulus vom Glauben behauptet, auch von den Werken annehmen! Deshalb meinen nun unsere Widersacher gleich, sie hätten gewonnenes Spiel, und sie stellen fest, wir würden zwar nicht ohne den Glauben gerechtfertigt, aber auch nicht allein durch ihn, vielmehr wären es die Werke, die unsere Gerechtigkeit erfüllten. Deshalb bitte ich hier die Frommen, sie möchten doch, wenn sie wissen, daß die wahre Regel der Gerechtigkeit allein aus der Schrift zu entnehmen ist, gottesfürchtig und ernstlich mit mir erwägen, wie man ohne Spitzfindigkeiten die Schrift mit sich selber in Einklang bringen kann!

 

Paulus wußte, daß die Rechtfertigung aus dem Glauben die Zuflucht für die sei, die der eigenen Gerechtigkeit ermangelten. Daraus schließt er kühnlich, daß alle, die aus dem Glauben gerechtfertigt werden, von der Gerechtigkeit aus den Werken ausgeschlossen sind. Nun ist aber offenkundig diese Gerechtigkeit allen Gläubigen gemeinsam; daraus leitet Paulus mit gleicher Zuversicht den Satz ab, durch die Werke werde kein Mensch gerechtfertigt. Ja, er stellt sogar im Gegenteil fest, daß die Rechtfertigung auch ohne jede Hilfeleistung der Werke geschehe! Nun ist es aber zweierlei, ob man darüber streitet, was die Werke an und für sich für einen Wert haben, oder ob es darum geht, welche Stellung sie nach Aufrichtung der Gerechtigkeit aus dem Glauben einnehmen sollen.

(a) Soll unseren Werken nach ihrer eigenen Würdigkeit ein Wert beigelegt werden, so erklären wir, daß sie nicht würdig sind, vor Gottes Angesicht zu erscheinen. Der Mensch besitzt also keinerlei Werke, mit denen er sich vor Gott rühmen könnte. Darum ist ihm jede Unterstützung durch die Werke entzogen, und er wird allein durch den Glauben gerechtfertigt. Diese Gerechtigkeit umschreiben wir dann so: der Sünder wird in die Gemeinschaft mit Christus aufgenommen und

durch seine Gnade mit Gott versöhnt; denn er wird durch sein Blut gereinigt und erlangt dadurch Vergebung seiner Sünden, wird mit Christi Gerechtigkeit als mit seiner eigenen umkleidet und erscheint so unbekümmert vor dem himmlischen Richtstuhl!

 

(b) Ist nun die Vergebung der Sünden voraufgegangen, so werden die dann folgenden guten Werke anders beurteilt, als nach ihrem Verdienst. Denn alles, was an ihnen unvollkommen ist, das wird durch Christi Vollkommenheit bedeckt, alle Makel und Schmutzflecken, die sie an sich tragen, werden durch seine Reinheit abgetan, so daß sie vor Gottes Gericht nicht mehr in Untersuchung gezogen werden! So ist also alle Schuld der Übertretungen getilgt, die den Menschen hindern, irgend etwas vorzubringen, das Gott wohlgefällig wäre; auch das Gebrechen der Unvollkommenheit ist begraben, das selbst seine guten Werke zu beschmutzen pflegt - und deshalb, werden die guten Werke, welche von den Gläubigen ausgehen, für gerecht angesehen oder - was das gleiche ist - „zur Gerechtigkeit gerechnet“!

 

 

 

III,17,9

 

Wenn mir nun einer diese Dinge vorhält, um die Gerechtigkeit aus dem Glauben zu bestreiten, so werde ich ihm zunächst die Frage vorlegen, ob denn der Mensch um des einen oder anderen heiligen Werkes willen für gerecht erachtet werde, selbst wenn er in den übrigen Werken ein Übertreter des Gesetzes ist. Das wäre nun mehr als widersinnig. Dann werde ich weiter fragen, ob er denn auch um vieler guter Werke willen gerecht gesprochen werde - selbst wenn er noch in irgendeiner Hinsicht der Übertretung schuldig sei. Auch das wird mein Gegner nicht zu behaupten wagen; denn das Urteil des Gesetzes steht dagegen: es erklärt ja alle für verflucht, die nicht alle Gebote des Gesetzes vom ersten bis zum letzten erfüllen! (Deut. 27,26). Dann werde ich noch weiter fragen: nämlich, ob es denn irgendein Werk gäbe, das gar keiner Unreinheit oder Unvollkommenheit beschuldigt zu werden verdiente! Wie sollte das aber möglich sein - vor jenen Augen, vor denen auch die Sterne nicht rein genug und die Engel nicht gerecht genug sind! (Hiob 4,18). Er muß mir also gezwungenermaßen zugeben, daß jedes Werk nicht nur um der neben ihm stehenden Übertretungen, sondern auch um seiner eigenen Verderbnis willen befleckt ist, so daß es also die Ehre, als Gerechtigkeit zu gelten, nicht in Anspruch nehmen kann! Nun hat aber die Rechtfertigung aus dem Glauben unzweifelhaft die Folge, daß jetzt Werke, die sonst befleckt, unrein und verstümmelt sind und Gottes Anblick, geschweige denn seine Liebe, nicht verdienen - daß solche Werke als Gerechtigkeit gerechnet werden! Weshalb nimmt man denn diese Gerechtigkeit für sich in Anspruch, um damit nach Möglichkeit jene (die Gerechtigkeit aus dem Glauben!) zu zerstören, ohne deren Bestehen man sich der Gerechtigkeit aus den Werken vergebens rühmen würde? Will man denn eine Schlangengeburt machen? Darauf laufen nämlich die Redensarten der Gottlosen hinaus! Sie können nicht leugnen, daß die Rechtfertigung aus dem Glauben der Ursprung, das Fundament, die Ursache, die Begründung und die Substanz der Gerechtigkeit der Werke ist. Aber sie kommen doch zu dem Schluß: weil auch gute Werke zur Gerechtigkeit gerechnet würden, so werde der Mensch nicht durch den Glauben gerechtfertigt!

Wir wollen also solche Ungereimtheiten fahren lassen und bekennen, wie es sich tatsächlich verhält, nämlich: wenn die Gerechtigkeit der Werke - man mag sie nun beurteilen, wie man will - von der Rechtfertigung aus dem Glauben abhängt, so wird diese dadurch nicht verkleinert, sondern vielmehr bekräftigt, weil eben ihre Kraft dadurch klarer zutage tritt. Auch sollen wir nicht meinen, nach der Rechtfertigung aus reiner Gnade ständen die Werke in solchem Wert, daß sie nun hernach selbst die Fähigkeit erlangten, den Menschen zu rechtfertigen, oder sich mit

 

dem Glauben in dieses Amt teilten! Denn wenn die Rechtfertigung aus dem Glauben nicht ständig unerschütterlich erhalten bleibt, dann muß die Unreinheit der Werke offenbar werden! Es ist aber nichts Widersinniges darin, wenn der Mensch durch den Glauben solchermaßen gerechtfertigt wird, daß er nun nicht nur selbst gerecht ist, sondern auch seine Werke über ihre Würdigkeit hinaus als gerecht angesehen werden.

 

 

 

III,17,10

 

Aus diesem Grunde geben wir zu, daß unseren Werken nicht bloß eine teilweise Gerechtigkeit eigen ist - das wollen eben unsere Widersacher! -, sondern daß diese Gerechtigkeit von Gott so anerkannt wird, als ob sie vollkommen und gänzlich vollendet wäre! Wenn wir aber daran denken, auf was für ein Fundament sie gegründet ist, so ist jede Schwierigkeit gelöst. Denn ein Werk fängt erst dann an, (Gott) angenehm zu sein, wenn es mit Vergebung angenommen wird! Woher kommt nun aber diese Vergebung anders als daher, daß Gott uns und alles, was wir sind und haben, in Christus anschaut? Denn wie wir selber, sobald wir in Christus eingefügt sind, deshalb vor Gott gerecht erscheinen, weil unsere Missetaten von seiner Unschuld bedeckt werden, so sind auch unsere Werke deshalb gerecht und gelten auch als solche, weil alles, was sonst an Gebrechen an ihnen ist, durch Christi Reinheit begraben und deshalb nicht zugerechnet wird! So können wir mit gutem Grunde sagen, daß nicht nur wir, sondern auch unsere Werke allein durch den Glauben gerechtfertigt werden! Wenn nun solche Gerechtigkeit der Werke - sie mag aussehen, wie sie will! - vom Glauben und von der aus reiner Gnade geschehenden Rechtfertigung abhängt und erst dadurch bewirkt wird, dann muß sie darin eingeschlossen und sozusagen als Wirkung ihrer Ursache untergeordnet werden! Es kann also durchaus keine Rede davon sein, daß sie aufgerichtet werden dürfte, um ihre eigene Ursache zu zerschlagen oder zu verdunkeln!

 

So legt Paulus, um zwingend zu beweisen, daß unsere Seligkeit auf Gottes Barmherzigkeit und nicht auf unseren Werken beruht, größtes Gewicht auf das Wort des David: „Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind und welchen ihre Sünden bedeckt sind! Selig ist der Mann, welchem Gott die Sünde nicht zurechnet!“ (Röm. 4,7f.; Ps. 32,1f.). Es könnte nun freilich vielleicht jemand dagegen die unzähligen Aussagen ins Feld führen, in welchen die Seligkeit den Werken gegeben zu werden scheint. So zum Beispiel: „Selig ist der Mann, der den Herrn fürchtet“ (Ps. 112,1; nicht Luthertext). Oder: „Wohl dem, der sich der Elenden erbarmt“ (Spr. 14,21), „der nicht wandelt im Rate der Gottlosen“ (Ps. 1,1), der „die Anfechtung erduldet!“ (Jak. 1,12). Oder: „Wohl denen, die das Gebot halten und tun immerdar recht“ (Ps. 106,3), „die ohne Tadel leben“ (Ps. 119,1). Ebenso: „Selig sind, die da geistlich arm sind ... die Sanftmütigen ... die Barmherzigen ...!“ (Matth. 5,3.5.7). Aber all diese Stellen werden die Wahrheit der Aussage des Paulus nicht umstoßen können! Denn all das, was da gepriesen wird, findet sich ja nie derartig in einem Menschen, daß er vor Gott deshalb Anerkennung finden könnte; und daraus folgt, daß der Mensch allezeit elend ist, wenn er nicht durch Vergebung der Sünden aus seinem Elend befreit wird! All jene Arten von „Seligkeit“, die in der Schrift gerühmt werden, sind also ohne Geltung und müssen zerfallen, so daß der Mensch aus ihnen keinerlei Frucht empfängt - bis er durch die Vergebung der Sünden die Seligkeit erlangt hat, die dann jenen anderen „Seligkeiten“ Raum schafft. Daraus ergibt sich aber, daß diese Seligkeit (die aus der Vergebung der Sünden kommt), nicht bloß die vollkommenste und wichtigste, sondern die einzige ist! Man müßte sonst schon meinen, daß sie von jenen anderen entkräftet würde, die doch tatsächlich allein in ihr Bestand haben!

Noch weniger soll uns die Tatsache irremachen, daß die Gläubigen häufig als „Gerechte“ bezeichnet werden. Ich gebe zwar zu, daß sie diese Bezeichnung auf Grund der Heiligkeit ihres Lebens tragen; aber tatsächlich liegt bei ihnen ja mehr eif-

 

riges Bemühen um die Gerechtigkeit vor, als deren eigentliche Erfüllung: diese Gerechtigkeit (der Gläubigen) muß also billigerweise vor der Rechtfertigung aus dem Glauben weichen, von der sie alles hat, was sie ist.

 

 

 

III,17,11

 

Nun sagen unsere Widersacher, mehr Mühe würden wir aber mit Jakobus haben, der uns mit ausdrücklichen Worten widerspreche! Er lehrt nämlich, Abraham sei „durch die Werke gerecht geworden“ (Jak. 2,21), und auch wir alle würden durch die Werke gerechtfertigt, „nicht durch den Glauben allein!“ (Jak. 2,24).

 

Was soll da geschehen? Will man Paulus und Jakobus miteinander in Streit ziehen? Wenn man den Jakobus als Diener Christi gelten lassen will, so muß man doch seinen Spruch so verstehen, daß er nicht mit Christus im Widerspruch steht, der durch den Mund des Paulus spricht. Der Heilige Geist erklärt nun aber durch den Mund des Paulus, Abraham habe die Gerechtigkeit durch den Glauben und nicht durch die Werke erlangt! (Röm. 4,3; Gal. 3,6). So lehren denn auch wir, daß alle durch den Glauben, ohne die Werke des Gesetzes gerechtfertigt werden. Nun lehrt uns der gleiche Geist durch Jakobus, Abrahams und auch unsere Gerechtigkeit beruhe auf den Werken und nicht allein auf dem Glauben! Es ist sicher, daß der Heilige Geist nicht mit sich selber im Widerspruch steht. Wie soll man dann aber diese beiden Aussagen in Einklang miteinander sehen?

 

Unseren Widersachern wäre es vollauf genug, wenn sie die Gerechtigkeit aus dem Glauben umstoßen könnten, von der wir möchten, daß sie zutiefst eingewurzelt sei und feststehe! Den Gewissen ihre Ruhe zu geben, das macht ihnen nicht viel Sorge! Daraus kann man sehen, daß sie zwar die Gerechtigkeit aus dem Glauben annagen, aber unterdessen keinerlei klares Richtmaß für die Gerechtigkeit festlegen, an das die Gewissen sich halten könnten. Sie mögen also triumphieren, wie sie wollen - nur können sie keinen anderen Sieg für sich in Anspruch nehmen, als daß sie alle Gewißheit um die Gerechtigkeit aufgehoben haben! Diesen jämmerlichen Sieg mögen sie wohl erlangen, wo das Licht der Wahrheit verlöscht und der Herr ihnen verstatten wird, die Finsternis der Lüge auszubreiten! überall aber, wo Gottes Wahrheit Bestand hat, da werden sie nichts ausrichten!

 

Ich bestreite also, daß unseren Gegnern jener Spruch des Jakobus, den sie uns so eifrig gleich dem Schild des Achilles entgegenhalten, auch nur im mindesten Beistand leistet. Damit das deutlich wird, müssen wir zuerst auf den Gesichtspunkt achten, der dem Apostel vorschwebte, und dann müssen wir unser Augenmerk auf den Punkt richten, an dem unsere Gegner in Hirngespinste verfallen.

 

Es gab damals viele Leute, die - und das ist ein Übel, das allezeit in der Kirche zu bestehen pflegt! - ihren Unglauben offen zutage treten ließen, indem sie all die Werke, die den Gläubigen eigentümlich sind, vernachlässigten und beiseiteließen, aber trotzdem nicht aufhörten, sich ihres fälschlich so genannten „Glaubens“ zu rühmen. Die närrische Zuversicht solcher Leute verspottet hier Jakobus. Er hat also nicht die Absicht, die Kraft des wahren Glaubens in irgendeiner Weise abzuschwächen; nein, er will nur zeigen, wie töricht es ist, wenn jene Schwätzer über einem leeren Scheinbild solchen Glaubens in derartige Anmaßung verfallen, daß sie sich damit zufriedengeben und sich unbekümmert in allerlei sündhaften Ausschweifungen gehen lassen!

 

Hat man diesen Tatbestand begriffen, so kann man auch leicht bemerken, an welcher Stelle unsere Widersacher fehlgehen. Sie erliegen nämlich einem zwiefachen Mißverständnis, indem sie sowohl das Wort „Glauben“, als auch den Begriff „Rechtfertigen“ verkehrt deuten.

Wenn der Apostel einen leeren Wahn, der von dem wahren Wesen des Glaubens gar weit entfernt ist, doch als „Glauben“ bezeichnet, so ist das ein Eingehen auf die Ansicht seiner Gegner, das der von ihm vertretenen Sache nichts benimmt. Das zeigt er zu Anfang (unserer Stelle) selber: „Was hilft’s, liebe Brüder, so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht?“

 

(Jak. 2,14). Er sagt also nicht: ‘Wenn jemand den Glauben hat und hat doch die Werke nicht’, sondern: Wenn jemand den Anspruch erhebt, Glauben zu haben ...’! Noch deutlicher wird das etwas nachher, wo er diesen „Glauben“ verspottet, er sei noch wirkungsloser als die Erkenntnis der „Teufel“ (Jak. 2,19), und erst recht am Schluß, wo er ihn „tot“ nennt! Was er im Auge hat, das kann man auch hinreichend aus der Beschreibung dieses „Glaubens“ entnehmen: „Du glaubst, daß ein einiger Gott ist?“ In diesem „Glauben“ ist also nur dies enthalten, daß ein Gott sei. Wenn es sich aber so verhält, dann ist es kein Wunder, daß dieser Glaube nicht rechtfertigt! Wenn Jakobus aber diesem Glauben die rechtfertigende Kraft abspricht, so sollen wir nicht meinen, es wäre damit dem christlichen Glauben etwas genommen; denn mit dem verhält es sich ganz anders! Denn der wahre Glaube rechtfertigt uns doch einzig auf die Weise, daß er uns mit Christus zusammenfügt, und wir dann, mit ihm eins gemacht, des Teilhabens an seiner Gerechtigkeit genießen. Er rechtfertigt uns also nicht deshalb, weil er das Wissen um ein göttliches Wesen erfaßt, sondern weil er auf der Gewißheit des göttlichen Erbarmens beruht!

 

 

 

III,17,12

 

Wir haben aber den Gesichtspunkt, der dem Apostel vorschwebt, noch nicht erfaßt, wenn wir nicht auch das zweite Mißverständnis (unserer Gegner) erwägen; dies entsteht daran, daß Jakobus (nach ihrer Meinung) einen Teil der Rechtfertigung auf die Werke begründet. Wenn man nun Jakobus mit der übrigen Schrift und auch mit sich selbst in Einklang bringen will, so ist es erforderlich, das Wort „rechtfertigen“ hier in anderer Bedeutung zu verstehen, als bei Paulus. Nach der Ausdrucksweise des Paulus werden wir gerechtfertigt, wenn die Erinnerung an unsere Ungerechtigkeit ausgetilgt wird und wir als gerecht angesehen werden. Hätte nun Jakobus dies im Auge gehabt, so wäre es verkehrt, wenn er aus Mose anführt: „Abraham hat Gott geglaubt ...“ (Jak. 2,23; Gen. 15,6). Der Zusammenhang in seiner Darlegung ist doch der: Abraham hat durch die Werke Gerechtigkeit erlangt, weil er auf Gottes Geheiß ohne Zögern seinen Sohn opferte (Jak. 2,22); und so ist die Schrift erfüllt, die da sagte, er habe Gott geglaubt, und das sei ihm zur Gerechtigkeit gerechnet! (Jak. 2,23). Nun wäre es aber doch widersinnig, wenn die Wirkung ihrer eigenen Ursache voranginge! Es ist also entweder verkehrt, wenn Mose an jener Stelle bezeugt, dem Abraham sei sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet worden - oder Abraham hat die Gerechtigkeit tatsächlich nicht durch den Gehorsam verdient, den er durch die Opferung des Isaak bewies. Abraham wurde doch bereits aus dem Glauben gerechtfertigt, als Ismael noch nicht empfangen war - und der war schon herangewachsen, als Isaak geboren wurde! Wie soll er sich dann durch den Gehorsam, der lange Zeit später folgte, die Gerechtigkeit erworben haben? Jakobus hat also entweder verkehrterweise die Reihenfolge umgekehrt - aber es wäre doch ein Unrecht, so etwas zu denken! - oder er will mit dem Wort „Rechtfertigen“ nicht sagen, daß Abraham es sich verdient hätte, für gerecht geachtet zu werden! Was soll man aber dann sagen? Es ist klar, daß Jakobus hier sicherlich von dem Erweis der Gerechtigkeit, nicht aber von ihrer Zurechnung spricht. Er will also etwa sagen: Wer aus wahrem Glauben gerecht ist, der beweist seine Gerechtigkeit durch Gehorsam und gute Werke und nicht durch eine nackte, eingebildete Larve des Glaubens! Kurz, er redet nicht davon, aus welchem Grunde wir gerechtfertigt werden, sondern er fordert von den Gläubigen eine tätige Gerechtigkeit. Und wie Paulus behauptet, daß wir ohne jede Unterstützung durch die Werke gerechtfertigt werden, so will Jakobus solche Menschen nicht als gerecht gelten lassen, die der guten Werke ermangeln!

Wenn wir diesen Gesichtspunkt ins Auge fassen, dann wird er uns aus aller Unsicherheit heraushelfen. Die entscheidende Täuschung unserer Widersacher liegt eben darin, daß sie meinen, Jakobus beschriebe hier die Art und Weise der Recht-

 

fertigung, während er doch tatsachlich nur die üble Selbstsicherheit solcher Leute umstoßen will, die sich töricht auf den Glauben beriefen, um ihre Verachtung der guten Werke zu entschuldigen. Sie mögen nun die Worte des Jakobus verdrehen, wie sie wollen, so werden sie doch nur zwei Sätze aus ihnen herauspressen können: (1) Ein leeres Gespenst von Glauben rechtfertigt uns nicht, und (2) der Gläubige gibt sich mit solcher Einbildung nicht zufrieden, sondern bekundet seine Gerechtigkeit durch gute Werke!

 

 

 

III,17,13

 

Man führt auch eine Paulusstelle in dem gleichen Sinne an: „Sintemal vor Gott nicht, die das Gesetz hören, gerecht sind, sondern die das Gesetz tun ...“ (Röm. 2,13). Aber auch das wird unseren Widersachern in seiner Weise helfen.

 

Ich will mich nun hier nicht mit der Lösung des Ambrosius aus der Sache ziehen, der erklärt, dies sei eben deshalb gesagt, weil der Glaube an Christus die Erfüllung des Gesetzes sei. Ich sehe nämlich, daß dies eine bloße Ausflucht ist - und eine solche ist wirklich nicht nötig, wo doch der Weg offen daliegt! Der Apostel entreißt hier den Juden ihr närrisches Selbstvertrauen: sie rühmten sich nämlich der bloßen Kenntnis des Gesetzes, obwohl sie unterdessen seine schlimmsten Verächter waren! Damit sie sich nun in der einfachen Bekanntschaft mit dem Gesetz nicht so sehr gefallen, macht er sie darauf aufmerksam: wenn man schon auf Grund des Gesetzes Gerechtigkeit suche, so werde nicht seine Kenntnis, sondern seine Innehaltung gefordert! Nun ziehen wir es ja durchaus nicht in Zweifel, daß die Gerechtigkeit des Gesetzes in den Werken besteht; wir leugnen auch nicht, daß in der Würdigkeit und den Verdiensten der Werke Gerechtigkeit liegt. Aber damit ist noch nicht bewiesen, daß wir durch Werke gerechtfertigt werden, sofern man uns nicht einen Menschen zeigen kann, der das Gesetz wirklich erfüllt hat! Das gleiche hat auch Paulus gemeint, wie der Zusammenhang seiner Darlegung deutlichst beweist. Zunächst erklärt er Juden und Heiden gleichermaßen der Ungerechtigkeit für schuldig. Dann kommt er auf beide einzeln zu sprechen und sagt: „Welche ohne Gesetz gesündigt haben, die werden auch ohne Gesetz verloren werden“ - das bezieht sich auf die Heiden! -, „und welche unter dem Gesetz gesündigt haben, die werden durchs Gesetz verurteilt werden“ - das geht die Juden an! (Röm. 2,12). Nun übten aber die Juden ihren Übertretungen gegenüber Nachsicht und waren allein um des Gesetzes willen hoffärtig; deshalb fügt Paulus durchaus sachgemäß hinzu, das Gesetz sei nicht dazu gegeben, daß man durch das Hören seiner Stimme gerecht gemacht würde, sondern es tue diese Wirkung nur, wenn man ihm wirklich gehorche! Er will also etwa sagen: Du suchst im Gesetz die Gerechtigkeit? Dann berufe dich nicht darauf, es gehört zu haben - denn das ist an sich von geringer Wichtigkeit -, sondern bringe deine Werke vor, mit denen du bekundest, daß dir das Gesetz nicht vergebens vorgelegt ist! Weil aber hierin alle versagen, darum ergibt sich: sie sind alle des Ruhms aus dem Gesetz beraubt. Deshalb muß man aus der Ansicht des Paulus vielmehr die umgekehrte Beweisführung ableiten: Die Gerechtigkeit des Gesetzes beruht auf der Vollkommenheit der Werke; es kann aber niemand den Anspruch erheben, er habe durch seine Werke dem Gesetz Genüge getan: also gibt es keine Gerechtigkeit aus dem Gesetz!

 

 

 

III,17,14

Nun führt man auch solche Stellen gegen uns ins Treffen, in denen die Gläubigen vor dem Gericht Gottes kühnlich auf ihre Gerechtigkeit verweisen und deren Prüfung erbitten, auch begehren, nach ihr beurteilt zu werden. So etwa: „Richte mich, Herr, nach meiner Gerechtigkeit und Frömmigkeit!“ (Ps. 7,9). Oder ähnlich: „Gott, erhöre meine Gerechtigkeit!“ (Ps. 17,1; nicht Luthertext). Oder: „Du prüfst mein Herz und siehst nach ihm des Nachts ..., und keine Ungerechtigkeit wird in mir gefunden!“ (Ps. 17,3; Schluß nicht Luthertext). Ebenso: „Der Herr wird mir wohltun nach meiner Gerechtigkeit; er wird mir vergelten nach der Reinigkeit meiner Hände. Denn ich halte die Wege des Herrn und bin nicht gottlos wider meinen

 

Gott. Ich werde auch ohne Tadel sein und mich vor meiner Missetat hüten ...“ (Ps. 18,21.22.24; nicht durchweg Luthertext). Oder auch: „Herr, schaffe mir Recht; denn ich bin in Unschuld gewandelt ... Ich sitze nicht bei den eitlen Leuten und habe nicht Gemeinschaft mit den Falschen ... Raffe meine Seele nicht hin mit den Sündern, noch mein Leben mit den Blutdürstigen, welche mit böser Lücke umgehen und nehmen gern Geschenke. Ich aber wandle unschuldig ...“ (Ps. 26,1.4.9-11; nicht immer Luthertext).

 

Ich habe oben (Kap. 14,18ff.) bereits von der Zuversicht gesprochen, die die Heiligen einfach aus ihren Werken zu schöpfen scheinen. Die hier angeführten Schriftzeugnisse werden uns nun nicht viel Hindernisse in den Weg legen, wenn wir sie nach ihrem Zusammenhang oder, wie man gewöhnlich sagt, nach ihren Umständen begreifen. Da ist zweierlei festzustellen: (1) die Gläubigen begehren an solchen Stellen nicht eine alles umfassende Untersuchung ihres Lebens, so daß sie also auf Grund ihres gesamten Lebenslaufs verdammt oder freigesprochen würden, sondern sie bringen eine bestimmte Sache zur Entscheidung vor Gericht. (2) Auch sprechen sie sich die Gerechtigkeit nicht im Blick auf die göttliche Vollkommenheit zu, sondern im Vergleich mit verworfenen und ruchlosen Menschen!

 

(1) Zunächst: wenn es sich um die Rechtfertigung des Menschen handelt, so wird nicht bloß verlangt, daß er in irgendeiner besonderen Angelegenheit eine gute Sache vertrete, sondern daß er in seinem ganzen Leben gewissermaßen einen ständigen Gleichklang mit der Gerechtigkeit aufweisen kann. Wenn dagegen die Heiligen zum Beweis ihrer Unschuld Gottes Urteil anrufen, so stellen sie sich nicht hin, als ob sie von jeder Schuld frei und in jeder Hinsicht unsträflich wären. Nein, sie heften ihre Heilszuversicht allein an Gottes Güte; aber sie vertrauen dennoch zugleich darauf, er werde der Rächer der Elenden sein, die gegen Recht und Billigkeit angefochten werden, und so befehlen sie ihm in der Tat die Sache, in der sie unschuldig bedrückt werden!

(2) Wenn sie sich aber dann mit ihren Widersachern vor Gottes Richtstuhl hinstellen, so berufen sie sich nicht auf eine Unschuld, die bei scharfer Prüfung Gottes Reinheit genugtun würde. Aber sie wissen, daß ihre Lauterkeit, Gerechtigkeit, Einfalt und Reinheit im Vergleich zu der Bosheit, Gottlosigkeit, List und Schalkheit ihrer Widersacher Gott bekannt und wohlgefällig ist, und deshalb haben sie keine Angst, ihn als Richter zwischen sich und ihnen anzurufen. So sagte David zu Saul: „Der Herr... wird einem jeglichen vergelten nach seiner Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit“ (1. Sam. 26,23; letztes Wort bei Luther: seinem Glauben!) Damit meinte er nicht, der Herr solle jeden einzelnen an sich prüfen und nach seinen Verdiensten belohnen, sondern er bezeugt vor Gott, wie groß seine Unschuld im Vergleich zu der Ungerechtigkeit des Saul ist. Auch Paulus rühmt sich und beruft sich darauf, daß ihm sein Gewissen ein gutes Zeugnis gibt, nämlich daß er mit Einfalt und Lauterkeit in der Gemeinde Gottes gewandelt sei (2. Kor. 1,12). Aber vor Gott will selbst er sich nicht auf solchen Ruhm stützen; nein, die Schmähungen gottloser Menschen zwingen ihn dazu, seine Treue und Redlichkeit, von der er gewiß ist, daß sie vor Gottes Nachsicht Wohlgefallen findet, gegen jede Lästerung von Menschen zu verteidigen! Wir merken doch, was er anderwärts ausspricht: „Ich bin mir nichts bewußt; aber darin bin ich nicht gerechtfertigt!“ (1. Kor. 4,4). Er wußte eben, daß Gottes Gericht weit tiefer dringt, als menschliche Augenschwäche! So mögen also die Frommen ihre Unschuld gegen die Heuchelei der Gottlosen verteidigen und dabei Gott zum Zeugen und Richter anrufen - sobald sie es mit Gott allein zu tun haben, da rufen sie alle aus einem Munde: „So du willst, Herr, Sünden zurechnen, Herr, wer wird bestehen?“ (Ps. 130,3). Oder auch: „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte; denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht!“ (Ps. 143,2). Wenn sie es mit Gott allein zu tun haben, dann haben sie keinerlei Vertrauen auf ihre Werke, sondern bekennen frei: „Deine Güte ist besser denn Leben!“ (Ps. 63,4).

 

III,17,15

 

Vielleicht könnte sich jemand auch noch auf andere Stellen berufen, die den erwähnten nicht unähnlich sind. So bezeichnet Salomo einen Menschen, „der in seiner Frömmigkeit wandelt“, als „Gerechten“ (Spr. 20,7). Oder er erklärt: „Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben, und auf ihrem gebahnten Pfad ist kein Tod“ (Spr. 12,28). In diesem Sinne verheißt auch Ezechiel dem, der Recht und Gerechtigkeit getan hat, er werde gewißlich leben (Ez. 18,9. 21; 33,15).

 

Keine von diesen Stellen leugnen oder verdunkeln wir. Aber es soll doch einmal ein einziger von den Söhnen Adams hervortreten, der so untadelig wäre! Ist keiner da, so müssen sie entweder vor Gottes Anblick vergehen - oder aber den Zufluchtsort seiner Barmherzigkeit aufsuchen!

 

Freilich leugnen wir damit nicht, daß den Gläubigen ihre Aufrichtigkeit, obwohl sie bloß halb und unvollkommen ist, als Stufe zur Unsterblichkeit dient. Aber woher kommt das? Doch nur daher, daß der Herr sie in den Bund seiner Gnade aufgenommen hat und nun ihre Werke nicht nach ihrem Verdienst wägt, sondern in seiner väterlichen Freundlichkeit liebreich annimmt! Darunter verstehen wir nicht nur das, was die Schultheologen lehren, die da meinen, die Werke hätten ihren Wert auf Grund der sie annehmenden Gnade (gratia acceptans). Sie sind nämlich der Ansicht, die Werke, die sonst auf Grund des Gesetzesbundes nicht ausreichten, uns das Heil zu erwerben, würden durch Gottes Annahme doch zu einem ausreichenden Preis (für die Seligkeit) erhoben. Ich behaupte dagegen: die Werke sind durch sonstige Übertretungen wie auch durch ihre eigenen Makel befleckt, und sie gelten deshalb nur dann etwas, wenn Gott für beides Verzeihung gewährt; das bedeutet aber: Gott schenkt dem Menschen die Gerechtigkeit aus lauter Gnade.

 

Es ist nicht sachgemäß, wenn man hier mit Nachdruck die Gebete des Apostels anführt, in denen er den Gläubigen solche Vollkommenheit wünscht, daß sie unsträflich und untadelig seien auf den Tag des Herrn (Eph. 1,4; 1. Thess. 3,13 u.a.). Mit diesen Worten haben nun früher die Coelestiner gewaltigen Lärm gemacht, um zu beweisen, wir erlangten bereits in diesem Leben die Vollkommenheit. Ich will aber meine Antwort auf jene Lehre nach Augustin geben, und ich glaube damit Zureichendes zu sagen: Gewiß sollen alle Frommen nach dem Ziel streben, einst makellos und unsträflich vor Gottes Angesicht zu erscheinen; aber die beste und herrlichste Weise, dieses Leben zu führen, ist nichts anderes als ein Fortschreiten, und deshalb werden wir zu jenem Ziel erst dann gelangen, wenn wir dieses sündige Fleisch abgelegt haben und dem Herrn voll und ganz anhängen! Trotzdem will ich keinen hartnäckigen Streit erheben, wenn jemand den Heiligen den Titel der Vollkommenheit zuerteilen will, nur soll er dann diese Vollkommenheit mit den Worten des gleichen Augustin beschreiben: „Wenn wir die Tugend der Frommen vollkommen nennen, so gehört zu dieser Vollkommenheit auch die aufrichtige und demütige Erkenntnis unserer Unvollkommenheit!“ (An Bonifacius, III,7,19).

Achtzehntes Kapitel

 

 

 

Es geht nicht an, vom Lohn auf die Gerechtigkeit aus den Werken zu schließen

 

 

 

III,18,1

 

Wir wollen nun zu den Schriftaussagen übergehen, in denen behauptet wird, Gott werde „einem jeglichen vergelten nach seinen Werken“ (Matth. 16,27). Dazu gehören folgende Stellen: „... auf daß ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse“ (2. Kor. 5,10). Ferner: „Preis und Ehre ... dem, der das Gute tut, ... jeder Seele aber, die da Böses tut, ... Trübsal und Angst!“ (Röm. 2,7ff.; zusammenfassend). Oder: „Und es werden hervorgehen, die Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (Joh. 5,29). Oder auch: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters ... Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt ... (Matth. 25,34f.).

 

Mit diesen Stellen müssen wir auch solche in Verbindung bringen, die das ewige Leben als Lohn für unsere Werke bezeichnen. So z.B.: „Dem Menschen wird vergolten, nach dem seine Hände verdient haben“ (Spr. 12,14). Oder: „Wer ... das Gebot fürchtet, dem wird’s vergolten“ (Spr. 13,13). Oder auch: „Freut euch alsdann und hüpfet; euer Lohn ist groß im Himmel!“ (Matth. 5,12; Luk. 6,23; nach Lukas zitiert). Oder endlich: „Ein jeglicher wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit“ (1. Kor. 3, 8).

Wenn es heißt, daß Gott „geben wird einem jeglichen nach seinen Werken“ (Röm. 2,6), so läßt sich dies mit leichter Mühe klarstellen. Diese Redeweise gibt nämlich eher eine geordnete Aufeinanderfolge an, als eine Ursache. Denn ohne Zweifel vollendet der Herr unser Heil in verschiedenen Stufen seiner Barmherzigkeit: „welche er verordnet hat, die hat er auch berufen, welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht, welche er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch herrlich gemacht!“ (Röm. 8,30). Er nimmt also die Seinen zwar allein aus Erbarmen zum Leben an; aber in den Besitz dieses Lebens führt er sie auf der Bahn der guten Werke ein, um in ihnen sein Werk nach der von ihm festgesetzten Ordnung zu vollenden. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn es heißt, sie würden nach ihren Werken gekrönt; denn durch diese Werke werden sie ohne Zweifel zum Empfang des Kranzes der Unsterblichkeit vorbereitet! Ja, es wird in diesem Sinne durchaus sachgemäß von ihnen gesagt: sie „schaffen“ ihre „Seligkeit“ (Phil. 2,12), wenn sie nämlich in eifriger Mühe um gute Werke nach dem ewigen Leben trachten. Das geschieht im gleichen Sinne, wie ihnen an anderer Stelle aufgetragen wird: „Wirket Speise, ... die da bleibt!“ (Joh. 6,27). Das tun sie, wenn sie sich durch den Glauben an Christus das Leben erwerben. Aber trotzdem wird dann gleich darauf zugefügt: „... welche euch des Menschen Sohn geben wird! (Joh. 6,27). Daraus wird ganz deutlich, daß „Wirken“ hier nicht im Gegensatz zur „Gnade“ steht, sondern auf den Eifer (des Menschen) bezogen ist. Es ergibt sich also aus solchen Aussagen nicht, daß die Gläubigen selbst die Urheber ihres Heils sind oder daß die Seligkeit aus ihren Werken hervorgeht. Wie ist es nun? Sobald sie durch die Erkenntnis des Evangeliums und die Erleuchtung durch den Heiligen Geist in Christi Gemeinschaft aufgenommen sind, hat in ihnen das ewige Leben seinen Anfang genommen. Nun muß das gute Werk, das Gott in ihnen angefangen hat, auch vollendet werden bis auf den Tag des Herrn Jesu (Phil. 1,6). Das geschieht nun aber, wenn sie in Gerechtigkeit und Heiligkeit ihrem himmlischen Vater ähnlich zu werden trachten und sich so als seine Kinder beweisen, die nicht aus der Art geschlagen sind!

 

III,18,2

 

Den Ausdruck „Lohn“ kann man in keiner Weise benutzen, um zu beweisen, daß unsere Werke Ursache unseres Heils seien. Zunächst muß es in unserem Herzen unverbrüchlich feststehen, daß das Himmelreich nicht ein Lohn für Knechte, sondern ein Erbe für Kinder ist! (Eph. 1,18). Dieses Reich erlangen nur die, die der Herr sich zu Kindern angenommen hat, und zwar aus keiner anderen Ursache, als eben auf Grund dieser Annahme in die Kindschaft! Es soll nämlich nicht der Sohn der Magd erben, sondern der Sohn der Freien! (Gal. 4,30). Ja, gerade an solchen Stellen, an denen der Heilige Geist verheißt, die ewige Herrlichkeit werde der Lohn für unsere Werke sein, bezeichnet er sie ausdrücklich als „Erbe“ - und zeigt damit, daß sie uns tatsächlich von anderswoher zukommt! So zählt Christus die Werke auf, die er mit der „Belohnung“ des Himmels vergelten will, wenn er seine Auserwählten aufruft, diesen in Besitz zu nehmen (Matth. 25,35); aber zugleich fügt er hinzu, daß ihnen dieser Besitz als Erbe zukommt! (Matth. 25,34). So befiehlt Paulus den Knechten, getreulich ihre Pflicht zu tun und dabei von dem Herrn eine „Vergeltung“ zu erhoffen (Kol. 3,23f.) - aber er setzt hinzu: „... des Erbes“ (Kol. 3,24)! Wir sehen, wie sie also gewissermaßen mit ausdrücklichen Worten darauf dringen, daß wir die ewige Seligkeit nicht unseren Werken danken, sondern der Annahme in die Kindschaft, die uns Gott gewährt hat!

 

Warum kommen sie denn zugleich auch auf die Werke zu sprechen? Diese Frage läßt sich durch ein einziges Beispiel aus der Schrift klären. Vor der Geburt des Isaak war dem Abraham ein „Same“ verheißen worden, in dem alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden sollten, ein Same, der in seiner Ausbreitung den Sternen am Himmel, dem Sand am Meere gleichkommen sollte usw. (Gen. 12,3; 15,5; 17,1ff.). Viele Jahre danach machte sich Abraham auf, seinen Sohn zum Opfer darzubringen, wie es ihm in einem Offenbarungswort aufgetragen war (Gen. 22,3). Als er nun diese Gehorsamstat vollbracht hatte, da empfing er die Verheißung: „Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht der Herr, weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, daß ich deinen Samen segnen und mehren will wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres; und dein Same soll besitzen die Tore seiner Feinde, und durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, darum daß du meiner Stimme gehorcht hast!“ (Gen. 22,16ff.). Was hören wir hier? Hat Abraham mit seinem Gehorsam den Segen verdient, der ihm doch schon lange verheißen war, bevor er das Gebot empfing? Hier vernehmen wir wahrhaftig ohne alle Umschweife: Der Herr belohnt die Werke der Gläubigen mit Gütern, die er ihnen bereits gegeben hat, ehe sie überhaupt an Werke gedacht haben! Und zu dieser Zeit hat er doch keinen anderen Grund gehabt, ihnen wohlzutun, als seine Barmherzigkeit!

 

 

 

III,18,3

Aber trotzdem ist es kein Betrug und kein Hohn, wenn uns der Herr sagt, er vergelte unseren Werken mit dem, was er doch vor diesen Werken aus Gnaden geschenkt hat. Denn es ist sein Wille, daß wir uns durch gute Werke darin üben, nach dem Empfang und sozusagen nach dem vollen Genuß der Güter zu trachten, die er uns verheißen hat -, daß wir durch diese Werke unseren Lauf nehmen, um der seligen Hoffnung zuzueilen, die uns im Himmel vor Augen gestellt ist. Deshalb wird den Werken aber auch mit Recht die Frucht der Verheißungen zugesprochen, die uns unter ihrer Leitung heranreifen soll. Beides bringt Paulus trefflich zum Ausdruck. Er spricht davon, wie die Kolosser die Pflichten der Liebe mit Eifer erfüllen, „um der Hoffnung willen, die euch beigelegt ist im Himmel, von welcher ihr zuvor gehört habt durch das Wort der Wahrheit im Evangelium“ (Kol. 1,4f.). Wenn er da erklärt, daß sie aus dem Evangelium die Hoffnung kennengelernt haben, die ihnen im Himmel beigelegt ist, so spricht er damit deutlich aus, daß diese einzig auf Christus gegründet ist, aber auf keinerlei Werke. Damit steht auch das Wort des Petrus im Einklang: „Die ihr aus Gottes Macht durch den Glauben be-

 

wahrt werdet zur Seligkeit, welche bereitet ist, daß sie offenbar werde zu der letzten Zeit“ (1. Petr. 1,5). Wenn Paulus (oben) von den Kolossern sagt, daß sie „um dieser Hoffnung willen“ sich mühen, so deutet er damit an, daß die Gläubigen im ganzen Lauf ihres Lebens eilen müssen, um sie zu ergreifen.

 

Wir sollen aber nun nicht denken, der Lohn, den uns der Herr verheißt, solle nach dem Maße des Verdienstes bemessen werden. Darum hat uns der Herr ein Gleichnis gegeben: er stellt sich da als einen Hausvater dar, der alle, die ihm begegnen, in die Arbeit an seinem Weinberg schickt; die einen bereits in der ersten Tagesstunde, andere in der zweiten, wieder andere in der dritten - einige sogar erst in der elften! Am Abend aber bezahlt er allen den gleichen Lohn! (Matth. 20,1ff.). Die Erklärung dieses Gleichnisses finden wir kurz und richtig zusammengefaßt bei jenem Schriftsteller der Alten Kirche, dessen Buch „Von der Berufung der Heiden“ unter dem Namen des Ambrosius überliefert ist - wie er geheißen hat, ist schließlich gleichgültig! Ich will jedenfalls seine und nicht meine eigenen Worte brauchen: „Durch die in diesem Gleichnis uns gegebene Regel hat der Herr dargelegt, wie die Verschiedenheit der vielfältigen Berufung doch zu der einen Gnade in Beziehung steht. Wenn hier die Männer, die erst in der elften Stunde in den Weinberg geschickt werden, den Arbeitern gleichgestellt sind, die den ganzen Tag geschafft haben, so ist damit ein Bild derer gegeben, die Gott zum Ruhm seiner herrlichen Gnade am Ende des Tages, am Schluß ihres Lebens nach seiner Güte belohnt hat; dabei bezahlt er keinen Preis für ihre Arbeit, sondern er ergießt in Menschen, die er ohne Werke erwählt hat, die Reichtümer seiner Güte. So sollen auch die, welche unter viel Arbeit ihren Schweiß vergossen haben und doch keinen reicheren Lohn empfangen als die zu allerletzt Gekommenen, erkennen, daß sie ein Geschenk der Gnade und nicht einen Lohn für ihre Werke empfangen haben“ (Pseudo-Ambrosius, Von der Berufung der Heiden, I,5).

 

Zum Schluß ist auch noch folgendes beachtenswert: An den Stellen, wo das ewige Leben als Lohn für unsere Werke bezeichnet wird, da bezieht sich das nicht einfach auf die Gemeinschaft, die wir mit Gott haben und die uns die selige Unsterblichkeit gewährt, also auf jene Gemeinschaft, in der er uns in väterlichem Wohlwollen in Christus annimmt, sondern vielmehr auf den Besitz und den Genuß der Seligkeit, wie man sagt. So klingt es uns auch aus den Worten Christi selbst entgegen: „ ... und in der zukünftigen Welt das ewige Leben“ (Mark. 10,30), oder: „Kommet her ... ererbet das Reich ...!“ (Matth. 25,34). In diesem Sinne nennt auch Paulus die Offenbarung unserer Kindschaft, die in der Auferstehung geschieht, unsere Kindschaft (Röm. 8,18f.), und er erläutert es nachher noch dahin, das sei „unseres Leibes Erlösung“ (Röm. 8,23). Wie übrigens die Entfremdung von Gott der ewige Tod ist, so wird der Mensch, wenn ihn Gott in seine Gnade aufnimmt, damit er seiner Gemeinschaft genieße und mit ihm eins werde, vom Tode zum Leben gebracht, und das geschieht allein durch die Wohltat unserer Annahme in die Kindschaft. Wollen sich unsere Widersacher nach ihrer Art halsstarrig auf den Lohn für die Werke versteifen, so mag man ihnen auch das Wort des Petrus entgegenhalten, wonach das ewige Leben der Lohn des Glaubens ist! (1. Petr. 1,9).

 

 

 

III,18,4

Wir sollen also nicht meinen, durch solcherlei Verheißungen priese der Heilige Geist die Würdigkeit unserer Werke, als ob sie also einen solchen Lohn verdienten. Denn die Schrift läßt uns nichts übrig bleiben, wodurch wir vor Gottes Angesicht erhöht werden könnten. Im Gegenteil: sie legt alles darauf an, unsere Anmaßung zu dämpfen, uns zu demütigen, niederzuwerfen und gar zu Boden zu schlagen! Nein, mit solchen Verheißungen hilft sie unserer Schwachheit auf: die würde ja sonst gar bald zusammenbrechen und zerfallen, wenn sie sich nicht mit dieser Hoffnung aufrechterhielte und sich in ihrem Kummer mit diesem Trost Linderung verschaffte! Es mag doch zunächst jeder einzelne bei sich bedenken, wie hart es ist, nicht nur alles, was man hat, sondern auch sich selber im Stiche zu lassen und zu

 

verleugnen. Und doch ist das der Anfangsunterricht, in dem Christus seine Jünger, das heißt alle Frommen, gleich zu Beginn unterweist. Dann aber erzieht er sie auch weiterhin ihr Leben lang unter der Zucht des Kreuzes, daß sie ihr Herz nicht an die Begierde nach zeitlichen Gütern oder das Vertrauen auf diese hängen. Kurz, er behandelt sie schier so, daß sie sich allenthalben allein der Verzweiflung gegenübergestellt sehen, wohin sie auch ihre Augen wenden und so weit auch die Welt sich breitet! So sagt Paulus: „Hoffen wir allein in diesem Leben ..., so sind wir die elendesten unter allen Menschen!“ (1. Kor. 15,19). Damit die Gläubigen nun in solcher Bedrängnis nicht ermatten, steht ihnen der Herr zur Seite und ermuntert sie, ihr Haupt höher zu heben und ihre Augen weiter dringen zu lassen: sie sollen die Seligkeit, die sie in der Welt nicht schauen können, bei ihm finden! Diese Seligkeit nennt er Kampfpreis, Lohn oder Vergeltung; aber dabei würdigt er nicht das Verdienst der Werke, sondern er zeigt, daß es sich um einen Ausgleich für ihre Bedrängnisse, ihre Leiden, ihre Schmach und dergleichen handelt! Deshalb spricht nichts dagegen, wenn auch wir nach dem Beispiel der Schrift das ewige Leben als Belohnung bezeichnen; denn in ihm nimmt der Herr die Seinen aus ihrer Mühsal in die Ruhe, aus ihrer Anfechtung in einen glücklichen und ersehnten Stand, aus ihrer Trauer in die Freude, aus ihrer Armut in überströmenden Reichtum, aus ihrer Schmach in die Herrlichkeit auf! Kurz, er vertauscht ihnen alles Üble, das sie erduldet haben, in um so größeres Gut! Deshalb ist auch nichts Ungereimtes darin, wenn wir der Meinung sind, die Heiligkeit des Lebens sei ein Weg dazu - nicht etwa einer, der uns den Zugang zu der Herrlichkeit des Himmelreichs öffnete, sondern ein solcher, auf dem Gott seine Auserwählten zur Offenbarung dieser Herrlichkeit führt! Denn es ist doch sein guter Wille, die, welche er heilig gemacht hat, auch herrlich zu machen! (Röm. 8,30, ungenau).

 

Nur sollen wir uns nicht einbilden, Lohn und Verdienst seien aufeinander abgestimmt: das ist der törichte Irrtum, in den sich die Klüglinge verfangen haben, weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf dieses Ziel richten, das wir auseinandergesetzt haben. Der Herr ruft uns zu einem Ziel hin - und wie töricht ist es dann, anderswohin zu blicken! Es ist doch vollkommen deutlich, daß er unseren guten Werken Lohn verheißt, um der Schwachheit unseres Fleisches mit einigem Trost aufzuhelfen, nicht aber, um unser Herz mit Ruhmredigkeit aufzublähen! Wer also hieraus ein Verdienst der Werke ableitet und Werk und Lohn auf einer Waage gegeneinander abwägt, der irrt von Gottes wahrer Absicht ganz weit ab!

 

 

 

III,18,5

Wenn also die Schrift sagt, Gott werde einst als „der gerechte Richter“ den Seinen „die Krone der Gerechtigkeit geben“ (2. Tim. 4,8), so antworte ich zwar zunächst mit Augustin: „Wem sollte der ‘gerechte Richter’ eine Krone geben, dem nicht zuvor bereits der barmherzige Vater Gnade geschenkt hätte? Wie sollte hier ‘Gerechtigkeit’ geschehen, wenn nicht die Gnade vorausgegangen wäre, die den Gottlosen rechtfertigt? Wie sollte hier ein Verdienst gelohnt werden, wenn nicht zuvor alles andere ohne Verdienst gegeben worden wäre?“ (Von der Gnade und dem freien Willen, 6,14). Ich gehe aber über Augustin noch hinaus und frage: Wie sollte Gott unseren Werken Gerechtigkeit zurechnen, wenn er nicht das, was an ihnen Ungerechtigkeit ist, in seiner Nachsicht zudeckte? Wie sollte er sie eines Lohnes für würdig halten, wenn er nicht das, was an ihnen der Strafe würdig ist, in unendlicher Güte beiseite schöbe? Augustin pflegt nämlich das ewige Leben „Gnade“ zu nennen, weil es ja, wenn unsere Werke damit gelohnt werden, tatsächlich Gottes gnädigen Geschenken vergolten wird. Die Schrift aber demütigt uns tiefer - und richtet uns zugleich kräftiger auf! Sie verbietet uns allerdings, uns unserer Werke zu rühmen, weil sie ja Gottes unverdiente Gaben sind. Aber sie lehrt uns außerdem zugleich, daß die Werke immer noch mit allerlei Makeln besudelt sind, so daß sie Gott nicht Genugtuung leisten können, wenn sie nach der Richtschnur seines Urteils geprüft werden. Demgegenüber erklärt sie, damit

 

uns nicht alle Freudigkeit entfalle, daß jene Werke durch Gottes reine Vergebung sein Wohlgefallen finden. Obgleich aber Augustin ein wenig anders redet als wir, so besteht in der Sache selbst doch kein so großer Gegensatz; das ergibt sich aus seinen Worten im dritten Buche seiner Schrift an Bonifacius. Er vergleicht da zunächst zweierlei Menschen miteinander, einen, dessen Leben geradezu ein Wunder von Heiligkeit und Vollkommenheit ist, und einen anderen, der zwar auch rechtschaffen und von lauteren Sitten ist, aber doch noch nicht so vollkommen, daß man an ihm nicht doch manches besser wünschen möchte. Dann zieht er den Schluß: „Dieser (letztere) scheint nun nach seinem Verhalten niedriger zu stehen als der andere, aber er steht doch im wahren Glauben: aus ihm lebt er, aus ihm heraus klagt er sich in allen seinen Missetaten selber an, gibt bei allen guten Werken Gott den Lobpreis, schreibt sich die Schande zu, ihm aber den Ruhm, aus diesem Glauben empfängt er von ihm Verzeihung für seine Sünden und Liebe für das, was er recht gemacht hat - und um dieses Glaubens willen wandert er auch, wenn er einst von diesem Leben befreit sein wird, in die Gemeinschaft mit Christus! Warum? Allein um des Glaubens willen! Dieser macht gewiß niemanden ohne Werke selig - denn er ist ja rechter Glaube, der durch die Liebe tätig ist: (Gal. 5,6) -; aber um seinetwillen werden auch die Sünden vergeben; denn „der Gerechte wird seines Glaubens leben“ (Hab. 2,4). Ohne ihn aber wird selbst das, was als gutes Werk erscheint, in Sünde verkehrt.“ (An Bonifacius III,5). Hier gibt er doch offenkundig zu, was wir mit solchem Nachdruck behaupten, nämlich daß die Gerechtigkeit unserer guten Werke davon abhängt, daß Gott sie verzeihend gelten läßt.

 

 

 

III,18,6

 

Dem Sinne nach stehen den oben erwähnten Stellen die folgenden sehr nahe. Zunächst: „Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten!“ (Luk. 16,9). Und dann: „Den Reichen von dieser Welt gebiete, daß sie nicht stolz seien, auch nicht hoffen auf den ungewissen Reichtum, sondern auf den lebendigen Gott ..., daß sie Gutes tun, reich werden an guten Werken ..., Schätze sammeln, sich selbst einen guten Grund aufs Zukünftige, daß sie ergreifen das ewige Leben“ (1. Tim. 6,17ff.; nicht ganz Luthertext). Da werden nun (so meint man) die guten Werke mit Reichtümern verglichen, die wir in der Seligkeit des ewigen Lebens genießen sollen. Ich antworte demgegenüber, daß wir zum rechten Verständnis dieser Stellen niemals kommen werden, wenn wir unser Augenmerk nicht auf den Gesichtspunkt richten, dem der Heilige Geist seine Worte dienstbar macht. Es ist doch wahr, wenn Christus sagt: „Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein!“ (Matth. 6,21). Wie nämlich die Kinder der Welt darauf aus zu sein pflegen, das zu erlangen, was im gegenwärtigen Leben zum Vergnügen dient, so sollen also die Gläubigen, nachdem sie doch gelernt haben, daß dies Leben gar bald wie ein Traum verweht, darauf sehen, daß sie das, was sie wahrhaft genießen wollen, dahin schaffen, wo sie ein vollkommenes Leben haben sollen! Wir müssen es machen wie die, welche beabsichtigen, an irgendeinen Ort zu verziehen, den sie sich zum dauernden Wohnsitz erkoren haben: sie schicken ihr vermögen voraus und entbehren es gern eine zeitlang; denn sie fühlen sich je glücklicher, desto mehr Güter sie da haben, wo sie lange bleiben werden! Wenn wir glauben, daß der Himmel unsere Heimat ist, dann sollen wir auch unsere Reichtümer dahin schaffen, statt sie hier zurückzuhalten, wo sie uns bei plötzlichem Aufbruch verlorengehen könnten! Wie sollen wir das aber machen? So, daß wir diese Güter den Armen in ihrer Not zuteil werden lassen; denn was wir ihnen gewähren, das betrachtet der Herr als ihm gegeben! (Matth. 25,40). Daher die herrliche Verheißung: „Wer sich des Armen erbarmt, der leihet dem Herrn“ (Spr. 19,17). Oder entsprechend: „Wer da säet im Segen, der wird auch ernten im Segen!“ (2. Kor. 9,6). Was wir den Brüdern aus der Verpflichtung der Liebe heraus darreichen, das vertrauen wir dem Herrn zu treuen Händen an! Er aber ist ein getreuer Bewahrer, und er wird uns das Unsrige einst mit großem Gewinn zurückerstatten!

 

Sind denn unsere Leistungen bei Gott so hoch geachtet, daß sie in seinen Händen gleich Reichtümern sind, die er uns bewahrt? Ja, wer sollte sich fürchten, so zu reden, wo es doch die Schrift so oft und so deutlich bezeugt!

 

Allein, wenn jemand von Gottes reiner Güte in einem Sprung gleich auf die Würdigkeit unserer Werke kommen will, so werden ihm diese Schriftzeugnisse nichts helfen, um seinen Irrtum zu bekräftigen. Denn aus ihnen kann man nichts anderes entnehmen als die reine Zuneigung der Gnade Gottes gegen uns: um uns zum Wohltun zu ermuntern, läßt er keine unserer Gehorsamsleistungen verlorengehen, obwohl alles, was wir ihm hierin erzeigen, nicht eines einzigen Blicks seiner Augen würdig ist!

 

 

 

III,18,7

 

Größeres Gewicht legen unsere Widersacher auf eine Aussage des Paulus: er tröstet die Thessalonicher in ihren Trübsalen und erklärt dann, diese seien ihnen dazu geschickt, damit sie würdig geachtet würden zum Reiche Gottes, für das sie litten (2. Thess. 1,5). Er fährt wörtlich fort: „Wie es denn recht ist bei Gott, zu vergelten Trübsal denen, die euch Trübsal antun, euch aber, die ihr Trübsal leidet, Ruhe mit uns, wenn nun der Herr Jesus wird offenbart werden vom Himmel ...“ (2. Thess. 1,6f.). Und der Verfasser des Hebräerbriefs erklärt: „Denn Gott ist nicht ungerecht, daß er vergesse eures Werks und der ... Liebe, die ihr erzeigt habt an seinem Namen, da ihr den Heiligen dientet ...“ (Hebr. 6,10).

 

Angesichts der ersten Stelle entgegne ich: hier wird keinerlei Würdigkeit eines Verdienstes angedeutet. Paulus will hier nur sagen: Gott, unser Vater, hat ja den Willen, daß wir, die er sich zu Kindern erwählt hat, Christus, seinem eingeborenen Sohne gleichgestaltet werden (Röm. 8,29): wie er also zunächst leiden mußte, um dann erst in die Herrlichkeit einzugehen, die für ihn bestimmt war (Luk. 24,26), so müssen auch wir „durch viel Trübsale in das Reich Gottes gehen“! (Apg. 14,22). Wenn wir also um des Namens Christi willen Trübsal leiden, so werden uns damit gleichsam die Kennzeichen aufgedrückt, mit denen Gott die Schafe seiner Herde zu bezeichnen pflegt. Wir werden also des Reiches Gottes aus dem Grunde für würdig geachtet, daß wir die „Malzeichen“ unseres Herrn und Meisters an unserem Leibe tragen (Gal. 6,17), die die Kennzeichen der Kinder Gottes sind. Hierher gehören auch zwei weitere Aussagen: „Wir tragen ... das Sterben des Herrn Jesu an unserem Leibe, auf daß auch das Leben des Herrn Jesu offenbar werde an uns“ (2. Kor. 4,10; Schluß verkürzt), und: „Wir werden den Leiden Jesu gleichgestaltet, um zur Gleichartigkeit mit der Auferstehung der Toten zu gelangen“ (Phil. 3,10f.; zusammenfassend).

 

Die Ursache, die Paulus (an der obigen Stelle, 2. Thess. 1,6f.) noch angibt, dient nicht dazu, irgendeine Würdigkeit anzuerkennen, sondern die Hoffnung auf Gottes Reich zu bekräftigen; er will also etwa sagen: Wie es Gottes gerechtem Gericht wohl ansteht, an euren Feinden Rache zu nehmen für die Qualen, die sie euch bereitet haben - so ziemt es ihm auch, euch Erleichterung und Ruhe von euren Bedrängnissen zu gewähren.

Die zweite Stelle (nämlich Hebr. 6,10) spricht aus, daß es der Gerechtigkeit Gottes geziemt, die Gehorsamsleistungen der Seinen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ja sie gibt sogar zu verstehen: Gott wäre geradezu ungerecht, wenn er sie vergessen wollte. Das ist so aufzufassen: Gott hat uns, um uns aus unserer Trägheit aufzuwecken, die Zuversicht gegeben, daß die Arbeit, die wir zur Ehre seines Namens ausgeführt haben, nicht wirkungslos sein soll. Wir müssen dabei stets im Gedächtnis halten, daß diese Verheißung wie auch alle anderen uns gar keine Frucht bringen würde, wenn nicht der aus reiner Gnade geschlossene Bund seiner Barmherzigkeit voraufginge, auf dem alle Gewißheit unseres Heils ruhen soll. Darauf vertrauend, sollen wir dann die sichere Zuversicht haben, daß es auch unseren Gehorsamsleistungen, so unwürdig sie sein mögen, von Gottes Freigebigkeit her nicht an einer Belohnung fehlen wird. In dieser Erwartung will uns der Apostel stärken,

 

und deshalb versichert er, Gott sei nicht ungerecht, sondern werde uns die Zusage halten, die er uns einmal gegeben hat. „Gerechtigkeit“ bezieht sich also hier mehr auf die Unverbrüchlichkeit der göttlichen Verheißung, als etwa auf die Billigkeit, mit der er uns etwas vergelten würde, was wir verdient hätten. In diesem Sinne gibt es ein ausgezeichnetes Wort Augustins, das dieser heilige Mann ohne Scheu immer wieder als eine denkwürdige Äußerung in Erinnerung bringt und das deshalb nach meiner Ansicht auch nicht unwert ist, von uns stets bedacht zu werden: „Der Herr ist treu; er hat sich zu unserem Schuldner gemacht, und zwar nicht, indem er von uns etwas empfing, sondern indem er uns alles verhieß!“ (Zu Psalm 32, II,1; zu Psalm 109,1 und öfters sonst).

 

 

 

III,18,8

 

Man führt auch noch weitere Äußerungen des Paulus an. So etwa: „Und hätte ich allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts“ (1. Kor. 13,2). Oder: „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen!“ (1. Kor. 13,13). Und dann noch: „Über alles aber ziehet an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit!“ (Kol. 3,14). Auf Grund der beiden ersten Stellen behaupten unsere Pharisäer, wir würden eher durch die Liebe gerechtfertigt, als durch den Glauben; denn die Liebe sei doch - wie sie sagen - die erhabenere Tugend! Aber diese Spitzfindigkeit läßt sich ohne Mühe widerlegen. Ich habe bereits anderwärts auseinandergesetzt, daß sich das, was in der erstgenannten Stelle (1. Kor. 13,2) steht, nicht auf den wahren Glauben bezieht. Die andere Stelle (1. Kor. 13,13) verstehen auch wir so, daß sie vom wahren Glauben redet und erklärt, die Liebe sei größer als er; das heißt aber nicht, die Liebe sei verdienstlicher, sondern es kommt daher, daß die Liebe mehr Frucht bringt, daß sie weiter reicht, daß sie mehr Menschen dient, daß sie allezeit in Kraft bleibt, während die Übung des Glaubens nur eine Zeitlang währt. Richten wir den Blick auf die Hoheit (der Liebe), so hat Gottes Liebe verdientermaßen den Vorrang; von ihr redet aber Paulus hier nicht. Er dringt ja nur darauf, daß wir uns in gegenseitiger Liebe in dem Herrn auferbauen. Aber nehmen wir an, die Liebe habe in jeder Hinsicht den Vorrang vor dem Glauben - wie soll denn daraus ein Mensch mit gesundem Urteil, ja, überhaupt mit gesundem Hirn folgern: Also rechtfertige sie auch mehr? Die Kraft, zu rechtfertigen, die dem Glauben eigen ist, beruht ja nicht auf der Würdigkeit des Werkes (das der Glaube darstellte). Unsere Rechtfertigung beruht allein auf Gottes Erbarmen und Christi Verdienst, und wenn der Glaube die ergreift, dann heißt es: er rechtfertigt uns. Wenn man nun unsere Widersacher fragt, in welchem Sinne sie denn der Liebe die Rechtfertigung zuschrieben, so geben sie zur Antwort: Weil sie eine Leistung ist, die Gott wohlgefällig ist, so wird uns durch ihr Verdienst die Gerechtigkeit zugerechnet, und zwar auf Grund der Annahme durch Gottes Güte. Hier sieht man, wie herrlich ihr Beweis vonstatten geht. Wir erklären den Glauben für rechtfertigend, nicht weil er uns durch seine eigene Würdigkeit die Gerechtigkeit verdiente, sondern weil er das Werkzeug ist, durch das wir Christi Gerechtigkeit aus Gnaden erlangen! Unsere Widersacher dagegen lassen Gottes Barmherzigkeit aus dem Spiel, gehen an Christus vorüber, in dem doch die höchste Fülle der Gerechtigkeit liegt, - und behaupten, wir würden durch die Guttat der Liebe gerechtfertigt, weil diese eine höhere Stellung habe als der Glaube! Genau, als wenn jemand darum stritte, daß doch ein König zum Schuhmachen befähigter sei als ein Schuster, weil er doch eine weit höhere Stellung besitze! Diese eine Schlußfolgerung beweist schon vollgültig, daß alle Schulen an der Sorbonne noch nicht einmal ein ganz klein wenig mit den Lippen gekostet haben, was eigentlich Rechtfertigung aus dem Glauben ist!

Wenn nun aber irgendein Wortfechter die Frage erhebt, weshalb wir denn bei Paulus an zwei so dicht beieinanderstehenden Stellen einen so weitgehend verschiedenartigen Gebrauch des Begriffs „Glaube“ annehmen, so habe ich für diese Aus-

 

legung gewichtige Gründe anzuführen. Die Gaben, die Paulus (1. Kor. 13,1f.) aufzählt, schließen sich gewissermaßen an Glauben und Hoffnung an, weil sie sich ja auf die Erkenntnis Gottes beziehen; darum faßt Paulus diese alle in abschließender überschau unter „Glaube“ und „Hoffnung“ zusammen. Er will also etwa sagen. Weissagen und Zungenreden und die Gabe der Auslegung und die Weisheit - das alles dient dem Ziel, uns zur Erkenntnis Gottes hinzuleiten; Gott erkennen wir aber in diesem Leben nur durch Hoffnung und Glauben; nenne ich also Glauben und Hoffnung mit Namen, so fasse ich dies alles zugleich zusammen. „Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei“ - das heißt: die Mannigfaltigkeit der Gaben mag noch so groß sein, so werden sie doch alle auf diese drei zurückgeführt! „Die Liebe aber ist die größte unter ihnen!“

 

Aus der dritten Stelle (Kol. 3,14) ziehen unsere Widersacher den Schluß: Wenn die Liebe „das Band der Vollkommenheit“ ist, dann ist sie auch das Band der Gerechtigkeit, die doch nichts anderes ist als Vollkommenheit. Wir wollen nun zunächst übergehen, daß Paulus hier unter „Vollkommenheit“ dies versteht, daß alle Glieder einer wohlgeordneten Kirche in rechter Zusammengehörigkeit leben. Wir wollen also zugeben, wir würden durch die Liebe vor Gott vollkommen gemacht - aber was wollen unsere Gegner nun daraus Neues entnehmen? Ich werde doch immer dagegen einwenden, daß wir zu solcher Vollkommenheit niemals durchdringen, wenn wir nicht alles erfüllt haben, was die Liebe fordert - und daraus werde ich dann die Folgerung ziehen: da alle Menschen von der Erfüllung der Liebe sehr, sehr weit entfernt sind, so ist ihnen also auch jede Hoffnung auf Vollkommenheit abgeschnitten!

 

 

 

III,18,9

 

Ich will nicht den einzelnen Zeugnissen nachgehen, die heutzutage die törichten Theologen von der Sorbonne wahllos - gerade, wie ihnen eines in den Weg kommt! - aus der Schrift herausreißen und gegen uns losschleudern. Einige darunter sind dermaßen lächerlich, daß ich sie selbst noch nicht einmal in Erinnerung bringen kann, wenn ich nicht verdientermaßen für albern gelten will. Ich will also damit schließen, daß ich noch ein Wort Christi erläutere, an dem jene Leute sich ganz besonders erfreuen. Christus gibt da nämlich einem Gesetzeskundigen, der ihn fragt, was denn zum Heil notwendig sei, zur Antwort: „Willst du .. zum Leben eingehen, so halte die Gebote!“ (Matth. 19,17). Was wollen wir denn noch mehr - so fragen sie -, wenn uns der Geber der Gnade selber den Befehl gibt, durch das Halten der Gebote das Reich Gottes zu gewinnen? - Als ob sich Christus nicht unbestreitbar mit seinen Antworten denen angepaßt hätte, mit denen er es je zu tun hatte! Er wird doch hier von einem Lehrer des Gesetzes befragt, auf welche Weise man die Seligkeit erlangen könne; ja, noch nicht einmal bloß dies, sondern: was der Mensch tun müsse, um zu ihr zu gelangen! So brachte es die Person des Fragestellers wie auch die Art der Frage selber mit sich, daß der Herr eine solche Antwort gab! Dieser Mann steckte tief in der Meinung, es gebe eine Gerechtigkeit aus dem Gesetz, und er war deshalb blind im Vertrauen auf die Werke. Ferner fragte er auch ausschließlich danach, was denn die Werke der Gerechtigkeit wären, mit denen man sich das Heil erwerben könne. Es ist also durchaus richtig, wenn er auch auf das Gesetz zurückverwiesen wird, in dem sich ja ein vollkommener Spiegel der Gerechtigkeit findet!

Auch wir predigen mit lauter Stimme: wenn man das Leben in den Werken sucht, so muß man die Gebote halten! Diese Lehre muß auch den Christen wohlbekannt sein. Wie sollen sie denn zu Christus ihre Zuflucht nehmen, wenn sie nicht zuvor erkannt haben, daß sie von dem Weg des Lebens in den Abgrund des Todes verfallen sind? Wie sollen sie aber merken, wie weit sie von dem Wege des Lebens abgeirrt sind, wenn sie nicht vorher wissen, was das für ein Weg ist? Sie werden also enst dann darauf aufmerksam gemacht, daß Christus der einzige Zufluchtsort ist, bei dem wir das Heil wiedererlangen können, wenn sie erkennen, wie groß der Gegensatz zwischen ihrem Leben und Gottes Gerechtigkeit ist, die im Halten des Gesetzes verfaßt ist.

 

Zusammenfassend wollen wir also sagen: wenn man das Heil in den Werken sucht, dann muß man die Gebote halten, die uns zur vollkommenen Gerechtigkeit den Weg weisen. Aber wenn wir nicht mitten auf dem Wege ermatten wollen, so dürfen wir dabei nicht stehen bleiben. Denn es ist ja keiner von uns tüchtig, die Gebote zu halten! Wir sind also von der Gerechtigkeit des Gesetzes ausgeschlossen und müssen uns zu einer anderen Hilfe wenden, nämlich zum Glauben an Christus. An unserer Stelle ruft der Herr den Gesetzeslehrer, von dem er weiß, daß er vor eitlem Vertrauen auf seine Werke strotzt, zum Gesetz zurück, damit er daraus lernt, daß er ein Sünder und des furchtbaren Gerichts des ewigen Todes schuldig ist! Ebenso aber läßt er bei anderen, die durch eine solche Selbsterkenntnis bereits gedemütigt sind, alle Erwähnung des Gesetzes beiseite und tröstet sie mit der Verheißung der Gnade: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken ... , so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen!“ (Matth. 11,28f.).

 

 

 

III,18,10

 

Wenn sich dann schließlich unsere Gegner an der Verdrehung der Schrift müde gearbeitet haben, dann verfallen sie auf Spitzfindigkeiten und Sophistereien. So nehmen sie die Tatsache, daß der Glaube an einer Stelle als „Werk“ bezeichnet wird (Joh. 6,29), zum Anlaß für eine Ausflucht; sie schließen daraus, es sei doch verkehrt, wenn wir Glauben und Werke gegeneinanderstellten! - Als ob uns der Glaube, sofern er ja Gehorsam gegen Gottes Willen ist, durch sein eigenes Verdienst die Gerechtigkeit eintrüge! Als ob er nicht vielmehr dadurch, daß er Gottes Barmherzigkeit ergreift, die Gerechtigkeit Christi, die uns von Gottes Erbarmen in der Predigt des Evangeliums dargeboten wird, in unserem Herzen versiegelte! Wenn ich mich mit der Widerlegung solcher Albernheiten nicht aufhalte, so werden das die Leser entschuldigen; dieses Gerede wird ja selbst, ohne einen Angriff von anderer Seite, durch seine eigene Haltlosigkeit hinlänglich zerbrochen!

Indessen mag es verstattet sein, hier noch einen Einwurf, der immerhin dem Anschein nach vernünftig sein könnte, im Vorbeigehen zu untersuchen, damit er nicht einigen weniger Geübten Schwierigkeiten bereitet. Man erklärt: Der gesunde Menschenverstand lehrt uns doch, daß entgegengesetzte Dinge unter der gleichen Regel stehen; wenn uns also unsere einzelnen Sünden zur Ungerechtigkeit gerechnet werden, so muß doch sinngemäß auch unseren einzelnen guten Werken das Lob der Gerechtigkeit zugesprochen werden! Darauf entgegnen nun manche, die Verdammnis der Menschen komme eigentlich einzig und allein vom Unglauben, nicht aber von den einzelnen Sünden. Diese Antwort genügt mir aber nicht. Ich stimme mit ihren Urhebern zwar darin überein, daß der Quell und die Wurzel alles Bösen der Unglaube ist. Er ist eben der erste Abfall von Gott, dem dann die einzelnen Übertretungen des Gesetzes nachfolgen. Aber diese Leute scheinen bei der Beurteilung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit unsere guten und bösen Werke nach dem gleichen Maß zu beurteilen (d.h. gegeneinander abzuwägen), und darin kann ich nicht mit ihnen übereinstimmen. Die Gerechtigkeit aus den Werken ist nämlich der vollkommene Gehorsam gegen das Gesetz. Man kann also durch seine Werke nur dann gerecht sein, wenn man diesem Gehorsam wie einer geraden Linie den ganzen Lauf seines Lebens hindurch nachgeht. Sobald man auch nur einmal davon abweicht, ist man in Ungerechtigkeit verfallen. Daraus wird deutlich: die Gerechtigkeit besteht nicht in einem oder in wenigen Werken, sondern im unbeugsamen und unablässigen Gehorsam gegen Gottes Willen! Für die Beurteilung der Ungerechtigkeit gilt dagegen eine völlig andere Regel. Wer nämlich Ehebruch getrieben oder gestohlen hat, der ist mit dieser einen Missetat des Todes schuldig, weil er sich nämlich an Gottes Majestät vergriffen hat! Jene unsere Klüglinge stoßen hier an, weil sie ihr Gemerk nicht auf das Wort des Jakobus richten: „So jemand das ganze Gesetz hält und sündigt an einem, der ist’s ganz schuldig. Denn der das Töten verboten hat, der hat auch das Stehlen

 

verboten ...“ (Jak. 2,10f.; Vers 11 sehr ungenau). Es darf also nicht widersinnig erscheinen, wenn wir erklären: Der Tod ist der gerechte Sold für jede einzelne Sünde; denn jede einzelne Sünde ist der gerechten Entrüstung und Rache Gottes würdig. Es wäre dagegen eine törichte Schlußfolgerung, wenn man daraus entnehmen wollte, der Mensch könne durch ein einziges gutes Werk mit Gott versöhnt werden; denn er verdient doch mit vielen Sünden seinen Zorn!

Neunzehntes Kapitel

 

 

 

Von der christlichen Freiheit

 

 

 

III,19,1

 

Wir haben jetzt von der christlichen Freiheit zu sprechen. Wer sich vorgenommen hat, den Hauptinhalt der Lehre des Evangeliums in abgekürzter Darstellung zusammenzufassen, der darf die Entfaltung dieses Lehrstücks unter keinen Umständen übergehen. Es ist nämlich eine äußerst notwendige Sache, und ohne seine Erkenntnis wagen die Gewissen schier nichts ohne Zweifel anzupacken, zweifeln und zögern sie in vielen Dingen und sind stets in Wanken und Zagen. Vor allem aber haben wir es hier mit einem Anhang zur (Lehre von der) Rechtfertigung zu tun, der nicht wenig dazu dient, deren Kraft zu erkennen. Ja, wer Gott ernstlich fürchtet, der wird daraus eine unvergleichliche Frucht jener Lehre empfangen, die gottlose und spöttische Menschen in ihren Redensarten witzig zwischennehmen, weil ihnen in der geistlichen Trunkenheit, die sie erfaßt hat, jeder Mutwille verstattet ist! Deshalb ist es hier der rechte Ort, die Lehre von der christlichen Freiheit in den Mittelpunkt zu stellen. Wir haben sie ja auch schon oben gelegentlich leicht berührt; aber es war zweckmäßig, ihre ausführlichere Darstellung bis an diese Stelle zu verschieben.

 

Sobald nämlich die christliche Freiheit irgendwie erwähnt wird, da erhitzen sich entweder die Begierden oder aber es erhebt sich ein wahnwitziger Aufruhr - wenn man nicht zur rechten Zeit solchen leichtfertigen Geistern entgegentritt, die sonst auch das Beste übel verderben! Zum Teil machen sie unter dem Deckmantel dieser Freiheit allen und jeden Gehorsam gegen Gott zunichte und stürzen sich in zügellose Ausgelassenheit, zum Teil aber entrüsten sie sich auch und meinen, es werde nun jedes Maßhalten, alle Ordnung und aller Unterschied unter den Dingen aufgehoben. Was sollen wir da tun, wo uns solche Bedrängnisse umringen? Sollen wir die christliche Freiheit fahren lassen, um dergleichen Gefahren jeden Anlaß zu nehmen? Nein, wir haben ja bereits gesagt: wenn wir an ihr nicht festhalten, dann ist es um alle rechte Erkenntnis Christi oder der Wahrheit des Evangeliums oder auch des inneren Friedens der Seele geschehen! Wir müssen uns also vielmehr Mühe geben, einen so wichtigen Teil der Lehre nicht zu verschweigen und doch zugleich jenen widersinnigen Einwürfen entgegenzutreten, die gewöhnlich daraus erwachsen!

 

 

 

III,19,2

 

Die christliche Freiheit besteht, wenigstens nach meiner Ansicht, in drei Stücken. Erstens: Wenn sich die Frage erhebt, woher das Gewissen der Gläubigen die Zuversicht auf seine Rechtfertigung vor Gott gewinnt, so richtet es sich über das Gesetz hinaus in die Höhe und vergißt die ganze Gerechtigkeit aus dem Gesetz. Das Gesetz läßt ja, wie wir bereits anderwärts erwiesen haben, keinen Menschen gerecht sein, und deshalb sind wir entweder von jeder Hoffnung auf Rechtfertigung ausgeschlossen, oder wir müssen von ihm gelöst werden, und zwar so, daß dabei keinerlei Rücksicht auf die Werke genommen wird. Denn wer da meint, er müßte auch nur das Geringste an Werken herzubringen, um die Gerechtigkeit zu erlangen, der kann kein Maß und kein Ziel festsetzen, sondern hat sich zum Schuldner des ganzen Gesetzes gemacht. Wenn es also um unsere Rechtfertigung geht, so sollen wir alle Erwähnung des Gesetzes fahren lassen, alles Achten auf die Werke beiseite stellen und allein Gottes Barmherzigkeit erfassen, wir sollen den Blick von uns selber abwenden und Christus allein anschauen. Denn es wird hier nicht gefragt, wieso wir denn gerecht sind, sondern wieso wir für gerecht geachtet werden, obwohl wir ungerecht und unwürdig sind! Will unser Gewissen aber hierin irgendwelche Gewißheit erhalten, so darf es dem Gesetz keinen Raum geben.

Es wäre aber durchaus nicht richtig, wenn jemand hieraus den Schluß ziehen wollte, für die Gläubigen sei das Gesetz überflüssig. Denn obwohl es vor Gottes Richtstuhl in ihrem Gewissen keinen Raum hat, so hört es deshalb doch nicht auf, sie zu lehren, zu ermahnen und zum Guten zu reizen. Diese beiden Dinge

 

sind völlig verschieden voneinander, und wir müssen sie deshalb auch recht und gründlich unterscheiden. Das ganze Leben der Christen soll gewissermaßen ein Trachten nach Frömmigkeit sein; denn der Christ ist ja zur Heiligung berufen! (Eph. 1,4; 1. Thess. 4,3). Das Amt des Gesetzes besteht nun darin, ihn an seine Verpflichtung zu mahnen und ihn so zu eifrigem Ringen um Heiligung und Unschuld anzuspornen. Aber wenn sich das Gewissen sorgt, wie es denn einen gnädigen Gott haben könne, was es antworten und auf was für eine Zuversicht es sich stützen soll, wenn es vor Gottes Gericht gefordert wird, dann darf es nicht mit dem rechnen, was das Gesetz fordert, sondern es muß sich Christus allein als seine Gerechtigkeit vor Augen halten, der alle Gerechtigkeit des Gesetzes übertrifft.

 

 

 

III,19,3

 

Um diesen Angelpunkt dreht sich fast die ganze Beweisführung des Briefs an die Galater. Daß nämlich die Leute, die da lehren, Paulus streite hier nur um die Freiheit gegenüber den Zeremonien, törichte Ausleger sind, das kann man aus den Stellen, in denen er seinen Beweis führt, begründen. Da sind folgende Stellen zu nennen. Zunächst: „Christus ward ein Fluch für uns, um uns von dem Fluch des Gesetzes zu erlösen“ (Gal. 3,13; summarisch). Dann entsprechend: „So besteht nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen. Siehe, ich, Paulus, schreibe euch: wenn ihr euch beschneiden lasset, so nützt euch Christus nichts ... Der sich beschneiden läßt, der ist das ganze Gesetz schuldig zu tun. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid von der Gnade gefallen!“ (Gal. 5,1-4). In diesen Sätzen steht doch wahrhaftig etwas Höheres als die Freiheit in den Zeremonien! Ich gebe allerdings zu, daß Paulus hier (zunächst) von den Zeremonien spricht: er hatte ja mit falschen Aposteln zu kämpfen, die sich bemühten, die alten Schattenbilder des Gesetzes, die durch Christi Kommen abgetan waren, wieder in die christliche Kirche einzuführen. Aber zur Lösung dieser Frage mußte die Auseinandersetzung auf tiefere Dinge zurückgreifen, auf denen der ganze Streit beruhte. Erstens: mit solchen jüdischen Schattenbildern wurde die Klarheit des Evangeliums verdunkelt; deshalb zeigt Paulus, daß wir in Christus die vollkommene Offenbarung alles dessen besitzen, was in jenen mosaischen Zeremonien schattenhaft abgebildet war. Zweitens versetzten jene Betrüger das Volk in den verderblichen Wahn, ein solcher Gehorsam (gegenüber dem Gesetz und seinen Zeremonien) habe die Kraft, die Gnade Gottes zu verdienen; demgegenüber besteht Paulus mit größter Schärfe darauf, daß die Gläubigen nicht meinen sollen, sie könnten sich durch irgendwelche Gesetzeswerke, geschweige denn durch diese winzigen Anfangsgründe (nämlich die Zeremonien) vor Gott Gerechtigkeit erwirken. Zugleich aber sollen sie in voller Sicherheit allein in Christus ruhen, und dazu lehrt er sie, daß sie durch das Kreuz Christi von der Verdammnis des Gesetzes frei sind, die sonst allen Menschen droht (Gal. 4,5). Schließlich sichert er dem Gewissen des Gläubigen seine Freiheit, damit es sich nicht in irgendwelcher heiligen Scheu an Dinge bindet, die nicht (heils-)notwendig sind.

 

 

 

III,19,4

Das zweite Stück unserer christlichen Freiheit ist von dem ersten abhängig: Das Gewissen gehorcht dem Gesetz nicht wie unter dem Zwang der Notwendigkeit des Gesetzes, sondern es ist von dem Joch des Gesetzes selbst befreit und leistet nun aus freien Stücken dem Willen Gottes Gehorsam. Solange unser Gewissen unter der Herrschaft des Gesetzes steht, lebt es in unablässiger Angst, und darum ist es ja nie und nimmer befähigt, Gott in freudiger Bereitwilligkeit zu gehorchen, wenn es nicht zuvor mit solcher Freiheit beschenkt ist! Was damit gemeint ist, läßt sich kürzer und deutlicher an einem Beispiel klarstellen. Das Gesetz gebietet uns, unseren Gott zu lieben „von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allem Vermögen“ (Deut. 6,5). Damit das geschieht, muß unsere Seele zuvor alles sonstigen Empfindens und Denkens entledigt, unser Herz von allen Begehrungen gereinigt, müssen unsere Kräfte auf dies Eine gesammelt und zusammengeschlossen werden! Aber auch die, welche auf dem Wege des Herrn besonders weit gekommen

 

sind, bleiben von diesem Ziel noch sehr weit entfernt. Denn obwohl sie Gott von Herzen und aus lauterer innerer Regung lieben, so halten doch die Lüste des Fleisches noch einen großen Teil des Herzens und der Seele in Beschlag, und die ziehen sie zurück und halten sie fest, so daß sie nicht in eilendem Lauf ihren Weg zu Gott nehmen können. Sie bemühen sich zwar in scharfer Anspannung, zu laufen, aber das Fleisch schwächt ihre Kräfte zum Teil, zum anderen Teil macht es sie sich selber dienstbar! Was sollen sie nun machen, wenn sie empfinden, daß sie alles weniger tun, als das Gesetz mit ihrer Leistung zu erfüllen? Sie wollen zwar, sie streben, sie bemühen sich - aber nichts mit der erforderlichen Vollkommenheit! Schauen sie das Gesetz an, so gewahren sie, daß alles Werk, das sie anfassen oder erwägen, verdammt ist. Da kann sich auch keiner selbst betrügen und meinen, das Werk sei doch um seiner Unvollkommenheit willen nicht gänzlich böse, und deshalb sei doch Gott trotzdem das wohlgefällig, was Gutes an ihm sei. Denn das Gesetz fordert vollkommene Liebe, es verdammt also alle Unvollkommenheit - sofern nicht seine Schärfe gelindert wird! So mag man denn sein Werk anschauen, das man so gerne teilweise für gut angesehen wissen möchte - und man wird finden, daß es eben deshalb Übertretung des Gesetzes ist, weil es unvollkommen ist!

 

 

 

III,19,5

 

Da sehen wir, wie alle unsere Werke dem Fluch des Gesetzes unterworfen sind, wenn man sie nach dem Maß des Gesetzes mißt. Wie sollte sich aber dann die unglückliche Seele freudig ans Werk machen, wenn sie doch genau weiß, daß sie dafür bloß Fluch empfangen wird? Auf der anderen Seite aber, wenn sie von dieser strengen Zucht, ja, vielmehr von der ganzen Schärfe des Gesetzes befreit ist und wenn sie dann hört, wie sie von Gott in väterlicher Milde gerufen wird - dann wird sie seinem Rufe fröhlich und in großer Freudigkeit antworten und seiner Führung folgen! Kurz, die Menschen, die unter dem Joch des Gesetzes festgehalten sind, die gleichen Knechten, denen ihre Herren für die einzelnen Tage bestimmte Arbeiten zuweisen. Solche Knechte können nämlich kein Werk für ausgerichtet halten, wagen auch nicht, vor ihren Herren zu erscheinen, wenn nicht das Maß ihrer Arbeit voll erfüllt ist. Die Kinder dagegen, die von ihren Vätern freier und edler gehalten werden, haben keine Scheu, ihnen auch angefangene oder halbfertige Werke, an denen noch manches auszusetzen ist, anzubieten, weil sie darauf vertrauen, daß ihr Gehorsam und die Bereitschaft ihres Herzens das Wohlgefallen der Väter finden wird, selbst wenn sie das, was sie wollten, weniger gründlich vollbracht haben. Wir müssen so stehen, daß wir die sichere Zuversicht haben, daß unsere Leistungen von unserem Vater in seiner großen Nachsicht wohlgefällig aufgenommen werden, wie gering und anfängerhaft und unvollkommen sie auch sein mögen! So versichert er es uns auch durch den Propheten: „Ich will ihrer schonen, wie ein Mann seines Sohnes schont, der ihm dient!“ (Mal. 3,17). „Schonen“ bedeutet hier offenkundig soviel wie „Nachsicht üben“ und „menschlich auf die vorhandenen Gebrechen Rücksicht nehmen“; es ist ja zugleich auch an den Dienst (des Sohnes) erinnert! Diese Zuversicht ist für uns nicht wenig vonnöten; denn ohne sie sind alle unsere Bemühungen vergebens. Gott erkennt ja nicht an, er habe mit irgendeinem unserer Werke einen Dienst empfangen, wenn dies Werk nicht wahrhaft zu seinem Dienst von uns getan wird! Wer sollte das aber unter jenen Ängsten fertigbringen können, wo er stets im Zweifel ist, ob Gott nun durch unser Werk beleidigt oder geehrt wird?

 

 

 

III,19,6

Das ist der Grund, weshalb der Verfasser des Hebräerbriefs alles, was uns von den heiligen Vätern an guten Werken berichtet wird, auf den Glauben zurückführt und ausschließlich nach dem Glauben beurteilt (Hebr. 11,2ff.). Von dieser Freiheit handelt auch die berühmte Stelle im Römerbrief, in der Paulus den Schluß zieht, die Sünde dürfe über uns nicht mehr herrschen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade stehen! (Röm. 6,12.14). Er ermahnt da zunächst die Gläubigen, sie sollten die Sünde nicht in ihrem sterblichen Leibe herrschen lassen,

 

auch ihre Glieder nicht „zu Waffen der Ungerechtigkeit“ „begeben“, sondern sich selbst Gott „begeben“, „als die da aus den Toten lebendig sind“, und ihre Glieder „Gott zu Waffen der Gerechtigkeit“ (Vers 12 und 13). Da könnten nun aber die Gläubigen einwenden, sie trügen doch noch ihr Fleisch an sich, das voll Begierden wäre, auch wohne die Sünde doch noch in ihnen (Vers 15). Demgegenüber schließt Paulus jenes Trostwort von der Freiheit vom Gesetz an. Er will also etwa sagen: obwohl die Gläubigen voll empfinden, daß die Sünde noch nicht ausgelöscht ist und die Gerechtigkeit noch nicht in ihnen lebt, besteht doch für sie kein Grund, zu erschrecken und den Mut zu verlieren, als würde nun Gott immerfort durch die Überbleibsel der Sünde in Zorn versetzt; denn sie sind durch die Gnade vom Gesetz freigemacht, so daß ihre Werke nicht mehr nach seiner Richtschnur geprüft werden! Diejenigen aber, die daraus folgern, wir könnten nun sündigen, da wir ja nicht mehr unter dem Gesetz seien - die sollen wissen, daß diese Freiheit sie nichts angeht, weil sie ja den Zweck hat, uns zum Guten zu ermuntern! (Vers 15ff.).

 

 

 

III,19,7

 

Nun das dritte Stück der christlichen Freiheit: Wir werden vor Gott in keinem der äußerlichen Dinge, die an sich „Mitteldinge“ sind, an irgendwelche heilige Scheu gebunden, sondern dürfen sie ohne Unterschied bald brauchen, bald auch beiseitelassen. Auch die Erkenntnis dieser (Art von) Freiheit ist für uns sehr nötig; denn wo sie fehlt, da werden unsere Gewissen nie zur Ruhe kommen, und der Aberglaube wird kein Ende finden. Wir kommen heutzutage sehr vielen Leuten albern vor, wenn wir darum streiten, daß uns der Fleischgenuß freisteht, daß wir gegenüber Feiertagen und Kleidern und anderen, wie unsere Gegner meinen, „bedeutungslosen Possen“ frei sind. Aber die Sache hat mehr Belang, als man gemeinhin glaubt. Denn sobald sich unser Gewissen einmal in diese Fesseln verstrickt hat, kommt es in ein langes und auswegloses Labyrinth hinein, aus dem sich nachher so leicht kein Ausgang mehr finden läßt. Wenn einer schon einmal zu zweifeln angefangen hat, ob er zu Tüchern, Hemden, Schnupftüchern und Tischtüchern Leinen brauchen darf, so wird er nachher schon nicht mehr sicher sein, ob ihm Hanf verstattet ist, und schließlich wird ihn selbst noch bei Werg der Zweifel überfallen! Er wird sich nämlich mit dem Gedanken herumschlagen, ob er nicht auch ohne Tischtuch speisen oder ohne Schnupftuch bestehen könnte! Wenn einer auf den Gedanken gekommen ist, feinere Speise sei nicht erlaubt, dann wird er am Ende nicht einmal mehr Brot und einfache Nahrungsmittel in Frieden vor Gott genießen; es kommt ihm eben in den Sinn, er könnte seinen Leib auch mit noch geringerer Speise erhalten. Wenn einer bei einigermaßen wohlschmeckendem Wein bereits Bedenken hat, so wird er bald nicht einmal gemeinen Krätzer mit gutem Frieden seines Gewissens trinken können, und am Ende wird er nicht einmal mehr wagen, Wasser anzurühren, das besser und reiner ist als anderes. Kurz, er wird schließlich dahin kommen, daß er es für Sünde hält, über einen quer im Wege liegenden Grashalm zu gehen - wie man so sagt. Der Streit, der hier anhebt, ist nicht leicht; aber es geht eben darum, ob es Gottes Wille ist, dies oder das zu brauchen - und Gottes Wille soll doch allen unseren Ratschlägen und Taten vorangehen! Da ist es denn unvermeidlich, daß die einen vor Verzweiflung in einen Abgrund der Verwirrung hinuntergerissen werden, die anderen aber Gott verachten, seine Furcht von sich werfen und sich in ihrem Irrtum einen eigenen Weg machen, da sie keinen gebahnten vor sich sehen. Wer sich in solche Zweifel verwickelt hat, der mag sich wenden, wohin er will: er sieht überall einen unmittelbaren Anstoß für sein Gewissen!

 

 

 

III,19,8

Ich weiß“, sagt Paulus, „daß nichts gemein ist an sich selbst“ - ‘gemein’ bedeutet bei ihm ‘unheilig’ - „nur dem, der es rechnet für gemein, dem ist’s gemein“ (Röm. 14,14). Mit diesen Worten unterwirft er alle äußeren Dinge unserer Freiheit; nur muß unser Herz vor Gott solcher Freiheit versichert sein! Wenn uns dagegen irgendein abergläubischer Wahn Bedenken in den Weg legt, dann wird das, was von Natur rein war, für uns befleckt! Deshalb fährt Paulus (später)

 

fort: „Selig ist, der sich selbst kein Gewissen macht über dem, was er annimmt. Wer aber darüber zweifelt und ißt doch, der ist verdammt; denn es geht nicht aus dem Glauben. Was aber nicht aus dem Glauben geht, das ist Sünde“ (Röm. 14,22f.). Wenn sich nun einer in solcher Enge trotzdem alles sicher zutraut und sich damit vor anderen als recht beherzt zeigt - wendet der sich nicht im gleichen Maße von Gott ab? Manche sind im Innersten von wahrer Gottesfurcht immerhin ergriffen, aber auch sie lassen sich zwingen, vieles gegen den Widerspruch ihres Gewissens zu tun - und dann werden sie vor Schrecken zu Boden geworfen und fallen dahin! Alle solche Menschen empfangen keine der Gaben Gottes mit der Danksagung, durch die allein nach dem Zeugnis des Paulus alle diese Dinge zu unserem Gebrauch geheiligt werden! (1. Tim. 4,4f.). Ich meine aber solche Danksagung, die aus einem Herzen kommt, das Gottes Wohltätigkeit und Güte in seinen Gaben erkennt. Denn es merken zwar viele, daß das, was sie gebrauchen, Gottes Gabe ist, sie loben auch Gott in seinen Werken; aber sie sind doch nicht überzeugt, daß diese Gaben ihnen gegeben sind, und wie sollen sie dann Gott als dem Geber danksagen? Jetzt sehen wir im wesentlichen, was diese (dritte Art der) Freiheit für einen Zweck hat: wir sollen Gottes Gaben ohne Gewissensbedenken, ohne Verwirrung unseres Herzens gebrauchen, und zwar zu dem Gebrauch, zu dem er sie uns geschenkt hat. In solcher Zuversicht hat unsere Seele Frieden mit ihm und erkennt sie zugleich seine Freigebigkeit gegen uns. In diesen Zusammenhang gehören auch alle Zeremonien, die man frei halten oder auch unterlassen kann: da darf unser Gewissen durch keinerlei Notwendigkeit verpflichtet werden, sie zu halten, sondern es muß daran denken, daß ihm der Gebrauch der Zeremonien durch Gottes Wohltat unterworfen ist, je wie es zur Erbauung dient.

 

 

 

III,19,9

 

Wir müssen aber gründlich beachten, daß die christliche Freiheit in allen ihren einzelnen Stücken eine geistliche Sache ist; ihre ganze Kraft beruht darin, die erschrockenen Gewissen vor Gott ruhig zu machen, ob sie nun über die Vergebung der Sünden unruhig und besorgt sind, ob sie sich ängstlich fragen, ob denn ihre unvollkommenen und mit den Fehlern unseres Fleisches befleckten Werke Gottes Wohlgefallen finden, oder ob sie sich damit quälen, wie man denn die gleichgültigen Dinge gebrauchen solle. Es ist also ein verkehrtes Verständnis der christlichen Freiheit, wenn einige sie zum Deckmantel für ihre Begierden machen, um Gottes Gaben zu ihrer Lust zu mißbrauchen, - oder wenn man meint, sie sei nichts, wenn man sie nicht vor den Menschen gebrauchte, und wenn man dementsprechend bei ihrer Anwendung keine Rücksicht auf die schwachen Brüder nimmt!

(a) In der ersten Weise wird zu unserer Zeit am meisten gesündigt. Denn es ist da fast keiner unter denen, denen ihr Vermögen größere Ausgaben gestattet, der nicht an üppigem Glanz sein Vergnügen hätte, wie er sich im Aufwand an Speisen oder im Schmuck des Leibes oder beim Bau von Häusern zeigt, der nicht durch allerlei Prunk unter den anderen Menschen hervorragen wollte und der sich nicht selber gewaltig in seinem Glänze gefiele! Und das alles verteidigt man unter dem Vorwand der christlichen Freiheit! Man sagt, das seien doch gleichgültige Dinge; gewiß, das gebe ich zu - nur muß man sie dann auch gleichgültig anwenden! Wo man diese Dinge, die sonst erlaubt sind, indessen allzu heftig begehrt, wo man hoffärtig auf sie pocht oder sie üppig verschwendet - da werden sie sicherlich, obwohl sie sonst an sich durchaus erlaubt sind, von solchen Lastern beschmutzt. Eine treffliche Unterscheidung unter den gleichgültigen Dingen finden wir in dem Wort des Paulus: „Den Reinen ist alles rein; den Unreinen aber und Ungläubigen ist nichts rein, sondern unrein ist ihr Sinn sowohl als ihr Gewissen!“ (Tit. 1,15). Warum werden denn die Reichen verdammt, als die „ihren Lohn dahin haben“ (Luk. 6,24), die da „voll sind“, die „hier lachen“ (Luk. 6,25), die da „schlafen auf elfenbeinern Lagern“ (Am. 6,1.4), die da. „einen Acker zum anderen bringen“ (Jes. 5,8) und „haben Harfen, Psalter, Pauken ... und Wein“ bei ihren Gastmählern (Jes. 5,

 

12)? Ganz gewiß sind doch Elfenbein, Gold und Reichtümer gute Geschöpfe Gottes, die dem Gebrauch der Menschen überlassen, ja, von Gottes Vorsehung dazu bestimmt sind. Auch ist es doch nirgendwo untersagt, zu lachen oder sich zu sättigen oder neue Besitztümer mit den alten, ererbten zu verbinden oder sich am Klang der Musik zu erfreuen oder Wein zu trinken! Das ist gewiß wahr; aber wenn der Mensch, wo ihm die Fülle seines Besitzes dazu verhilft, sich in Vergnügungen wälzt, sich übernimmt, Gemüt und Herz mit den Genüssen des gegenwärtigen Lebens trunken macht und immer nach neuen schnappt - dann ist solch ein Verhalten von der rechten Anwendung der Gaben Gottes sehr weit entfernt. Sie sollen also die unmäßige Gier, die maßlose Vergeudung, die Eitelkeit und Anmaßung fahren lassen und mit reinem Gewissen Gottes Gaben rein anwenden! Sobald das Her; zu solcher Bescheidenheit geschickt ist, hat man die Regel des rechten Gebrauchs der Dinge bereits erfaßt. Wo dieses Maßhalten dagegen fehlt, da gehen auch schlichte und gewöhnliche Vergnügungen bereits zu weit. Denn es ist schon recht, wenn man gesagt hat: Unter einem gewöhnlichen Rock und in grobem Lumpenzeug wohnt oft ein purpurstrotzendes Herz, und unter köstlicher Leinwand und Purpur verbirgt sich oft schlichte Demut! Deshalb soll jeder in seinem Stande karg oder mäßig oder glänzend leben - nur müssen alle daran denken, daß Gott sie dazu ernährt, zu lebe n und nicht zu schlemmen. So soll es jeder für das Gesetz der christlichen Freiheil halten, mit Paulus „gelernt“ zu haben, „worin er ist, sich genügen zu lassen“, „niedrig sein und hoch sein“ zu können, „in allen Dingen und bei allem geschickt zu sein beides, satt sein und hungern, beides, übrig haben und Mangel leiden!“ (Phil. 4,11f.).

 

 

 

III,19,10

 

(b) Ein sehr weit verbreiteter Irrtum ist es auch, wenn man meint, die christliche Freiheit nur dadurch heil und unversehrt erhalten zu können, daß sie auch Menschen zu ihren Zeugen hat, und wenn man dementsprechend von dieser Freiheit ohne Unterschied und ohne Einsicht Gebrauch macht. Durch solchen unzeitigen Gebrauch der Freiheit bereitet man den schwachen Brüdern oft Anstoß. So kann man heute Leute sehen, die da meinen, ihre Freiheit habe keinen Bestand, wenn sie diese nicht durch Fleischessen am Freitag in ihren Besitz gebracht hätten. Daß sie Freitags Fleisch essen, das tadle ich nicht; aber der damit gegebene falsche Wahn muß aus dem Herzen gerissen werden; man sollte doch bedenken, daß wir durch unsere Freiheit nicht vor Menschen, sondern vor Gott etwas Neues erlangen und daß sie ihr Wesen nicht bloß im Genießen, sondern auch im Entbehren hat! Wenn man weiß, daß vor Gott nichts daran liegt, ob wir Fleisch oder Eier essen, ob wir einen roten oder einen schwarzen Rock tragen, dann ist das mehr als genug! Damit ist das Gewissen bereits gelöst, und ihm kommt doch die Wohltat dieser Freiheit zu! Selbst wenn man sich also hernach das ganze Leben lang des Fleischgenusses enthält, selbst wenn man immerfort nur eine einzige Farbe (an seinem Rock) trägt - so ist man deshalb nicht weniger frei! Ja gerade weil man frei ist, so übt man auch mit freiem Gewissen solche Enthaltsamkeit! Es ist dagegen ein verderbenbringender Absturz, wenn man auf die Schwachheit der Brüder gar keine Rücksicht nimmt - und dabei sollen wir solche Schwachheit derart tragen, daß wir nichts unbedacht unternehmen, was ihr Anstoß bereiten könnte.

 

Aber, so wendet man ein, zu Zeiten ist es doch auch notwendig, unsere Freiheit vor den Menschen zu behaupten! Das gebe ich auch zu; nur müssen wir dabei mit größter Vorsicht Maß halten, damit wir nicht die Sorge um die Schwachen, die uns der Herr so sehr ans Herz gelegt hat, von uns werfen!

 

 

 

III,19,11

 

Ich will also hier auch einiges von den Ärgernissen sagen. Dabei müssen wir erwägen, was für eine Unterscheidung man hier beachten soll, vor welchen Ärgernissen man sich zu hüten hat und welche man hingehen lassen kann. Daraus läßt sich dann hernach feststellen, was unsere Freiheit unter den Menschen für eine Stelle hat. Ich erkenne die übliche Unterscheidung an, nach der es einerseits ein Ärgernis gibt, das man jemandem bereitet, und anderseits ein solches, das man nimmt.

 

Diese Unterscheidung hat nämlich das klare Zeugnis der Schrift für sich und bringt auch das, was die Schrift zu erkennen gibt, nicht uneben zum Ausdruck.

 

Wenn man aus verkehrtem Leichtsinn oder Mutwillen oder Frevelmut etwas tut, was nicht in rechter Ordnung und nicht am rechten Platz geschieht, so daß man dadurch Unerfahrenen und Leichtsinnigen einen Anstoß bereitet, so heißt es: man hat Ärgernis gegeben; denn man ist ja selbst daran schuld, daß solch ein Anstoß aufgekommen ist! Allgemein spricht man in irgendeiner Angelegenheit von einem „gegebenen“ Ärgernis, wenn die Schuld für den Anstoß bei dem Urheber der Tat selber liegt.

 

Vom Ärgernisnehmen redet man da, wo eine sonst nicht unrecht oder unzeitig geschehene Tat durch Übelwollen und eine Art widerwärtiger Bosheit zum Anlaß genommen wird, Anstoß zu nehmen. Da ist nämlich gar kein Ärgernis gegeben, sondern solche Leute legen die Sache übel aus und nehmen Ärgernis ohne Ursache.

 

Von dem Ärgernis der ersten Art werden nur die Schwachen gekränkt, von dem der zweiten Art dagegen griesgrämige Geister und Menschen mit pharisäischem Stolz! Deshalb wollen wir das erste als „Ärgernis der Schwachen“, das zweite als „Ärgernis der Pharisäer“ bezeichnen. Die Betätigung unserer Freiheit können wir danach in der Weise unter ein Maß stellen, daß wir auf die Unkundigkeit unserer schwachen Brüder Rücksicht nehmen sollen, dagegen auf die Härte der Pharisäer unter keinen Umständen!

 

Was wir nämlich der Schwachheit zugeben müssen, das hat Paulus mehr als genugsam an vielen Stellen gezeigt. So sagt er: „Die Schwachen im Glauben nehmet auf“ (Röm. 14,1). Ebenso: „Darum lasset uns nicht mehr einer den anderen richten; sondern das richtet vielmehr, daß niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis darstelle!“ (Röm. 14,13). Dem entsprechen noch viele weitere Aussagen, die man besser in diesem Kapitel nachlesen soll, als daß ich sie hier wiedergebe. Die Zusammenfassung bietet uns das Wort: „Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben. Es stelle sich ein jeglicher unter uns also, daß er seinem Nächsten gefalle zum Guten, zur Besserung“ (Röm. 15,1f.). An anderer Stelle heißt es dementsprechend: „Sehet aber zu, daß diese eure Freiheit nicht gerate zu einem Anstoß der Schwachen!“ (1. Kor. 8,9). Oder: „Alles, was feil ist auf dem Fleischmarkt, das esset, und forschet nicht, auf daß ihr das Gewissen verschonet ... Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst, sondern des anderen... Gebet kein Ärgernis, weder den Juden noch den Griechen noch der Gemeinde Gottes!“ (1. Kor. 10,25.29.32). Oder anderwärts: „Ihr .., liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein sehet zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gebet; sondern durch die Liebe diene einer dem anderen!“ (Gal. 5,13). Es ist doch wirklich so: Unsere Freiheit ist uns nicht (zum Gebrauch) gegen unseren Nächsten gegeben, der schwach ist, und dem uns die Liebe in allen Dingen zu Dienst gegeben hat, sondern vielmehr dazu, daß wir in unserem Herzen Frieden mit Gott haben und deshalb auch unter den Menschen friedsam leben!

 

Wie hoch wir aber das „Ärgernis der Pharisäer“ zu achten haben, das lernen wir aus den Worten des Herrn: „Lasset sie fahren! Sie sind blinde Blindenleiter!“ (Matth. 15,14). Die Jünger hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, daß die Pharisäer sich an seinem Wort geärgert hatten (Matth. 15,12). Er gibt zur Antwort, man solle keine Rücksicht auf sie nehmen und sich nicht darum kümmern, wenn sie Anstoß nähmen!

 

 

 

III,19,12

Aber die Sache bleibt doch im Ungewissen hängen, wenn wir nicht sicher wissen, wen wir denn für schwach und wen wir für einen Pharisäer halten sollen. Denn dieser Unterschied darf nicht aufgehoben werden, sonst weiß ich nicht, was wir unter lauter Anstößen überhaupt noch für einen Gebrauch von unserer Freiheit machen sollen; es könnte ja sonst dabei nie ohne höchste Gefahr abgehen! Mir scheint

 

aber Paulus in Unterweisung und eigenem Vorbild mit höchster Klarheit dargelegt zu haben, inwiefern wir in unserer Freiheit maßhalten müssen und inwiefern wir sie auch unter Anstößen handhaben sollen. Er hat den Timotheus, als er ihn zum Gefährten annahm, beschnitten (Apg. 16,3). Dagegen ließ er sich nicht dazu bringen, den Titus zu beschneiden! (Gal. 2,3). Das sind zwei völlig verschiedene Verhaltungsweisen - und dabei fand doch gar keine Änderung seiner Absicht oder seiner Gesinnung statt! Wenn er den Timotheus beschnitt, so verfuhr er nach seinem Wort: „Wiewohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knechte gemacht, auf daß ich ihrer viele gewinne. Den Juden bin ich geworden wie ein Jude, auf daß ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich geworden wie unter dem Gesetz, auf daß ich die, so unter dem Gesetz sind, gewinne!“ (1. Kor. 9,19f.). „Ich bin jedermann allerlei geworden, auf daß ich allenthalben ja etliche selig mache!“ (1. Kor. 9,22). Da haben wir das rechte Maßhalten in der Freiheit vor uns: es geschieht, wenn man sich ihrer in einer gleichgültigen Sache enthalten kann und wenn das irgendwelche Frucht trägt!

 

Was Paulus dagegen im Sinne hatte, als er sich so standhaft weigerte, den Titus zu beschneiden, das bezeugt er selbst: „Aber es ward auch Titus nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen, der mit mir war, obwohl er ein Grieche war. Denn da etliche falsche Brüder sich miteingedrängt hatten und neben eingeschlichen waren, auszukundschaften unsre Freiheit, die wir haben in Christo Jesu, daß sie uns gefangennähmen, wichen wir denselben nicht eine Stunde, ihnen Untertan zu sein, auf daß die Wahrheit des Evangeliums bei euch bestünde!“ (Gal. 2,3-5). Da haben wir einen Fall vor uns, in dem es notwendig war, die Freiheit zu behaupten: dieser liegt dann vor, wenn die Freiheit durch unbillige Forderungen falscher Apostel in den Gewissen gefährdet ist.

 

In jedem Fall sollen wir aber unser Trachten nach der Liebe richten und uns bemühen, den Nächsten zu erbauen. So sagt Paulus an anderer Stelle: „Ich habe es zwar alles Macht, aber es frommt nicht alles. Ich habe es zwar alles Macht, aber es bessert nicht alles. Niemand suche das Seine, sondern ein jeglicher, was des anderen ist!“ (1. Kor. 10,23f.). Die weitaus klarste Regel ist also die: wir sollen von unserer Freiheit Gebrauch machen, wo es zur Auferbauung unseres Nächsten dient; wenn es aber dem Nächsten nicht dazu dient, so sollen wir auf sie verzichten! Es gibt auch Leute, die die vorsichtige Klugheit des Paulus scheinbar nachahmen und sich auch der Freiheit enthalten - aber das tun sie in keiner Weise deshalb, weil sie ihre Freiheit der Liebe dienstbar machen wollten. Sie sind vielmehr auf ihre Ruhe bedacht und möchten deshalb, es sollte jede Erwähnung der Freiheit begraben sein. Und dabei nutzt es dem Nächsten doch ebensosehr, wenn wir unsere Freiheit ihm zugut und zu seiner Erbauung bisweilen gebrauchen, wie wenn wir sie am gegebenen Ort auch zu seinem Vorteil einmal in Maß halten! Ein frommer Mensch soll daran denken, daß ihm die freie Vollmacht in den äußeren Dingen dazu gegeben ist, daß er zu allem Dienst der Liebe besser bereit sei!

 

 

 

III,19,13

Alles, was ich eben von der Vermeidung des Anstoßes ausgeführt habe, soll sich aber allein auf die „Mitteldinge“ und auf gleichgültige (uns freigestellte) Dinge beziehen. Denn was wir notwendig tun müssen, das dürfen wir nicht aus Furcht vor irgendwelchem Anstoß unterlassen! Wie nämlich unsere Freiheit der Liebe untergeordnet werden muß, so muß wiederum die Liebe der Reinheit des Glaubens Untertan sein! Gewiß soll auch dabei auf die Liebe Rücksicht genommen werden - aber „nur bis zum Altar“; das heißt: wir sollen Gott nicht unserem Nächsten zu Liebe beleidigen! Gewiß ist das Ungestüm nicht zu loben, mit dem einige Leute bei allem, was sie treiben, stets Aufruhr verursachen und alles in Trümmer legen wollen, statt es allmählich abzuschaffen. Aber man darf auch nicht auf die hören, die sich als Führer in tausenderlei Gottlosigkeit erweisen und so tun, als ob sie das alles nur unternähmen, um ihrem Nächsten keinen Anstoß zu bereiten! Als ob sie nicht

 

dabei das Gewissen ihres Nächsten zum Bösen auferbauten, besonders wo sie allezeit im gleichen Schmutz stecken bleiben, ohne daß Hoffnung besteht, sie könnten je wieder daraus herauskommen! Es gibt auch „sanfte“ Leute, die, wenn es darum geht, den Nächsten mit Lehre oder mit eigenem Lebensbeispiel zu unterweisen, gleich sagen, man müsse ihm doch Milch zu trinken geben - während sie ihm tatsächlich die schlimmsten und verderblichsten Meinungen beibringen! Gewiß, Paulus erinnert daran, daß er den Korinthern Milch zu trinken gegeben habe (1. Kor. 3,2). Aber wenn unter ihnen dazumal die päpstliche Messe bestanden hätte - hätte er dann wohl die Messe bedient, um ihnen „Milch zu trinken zu geben“? Gewiß nicht: denn Milch ist kein Gift! Es ist also gelogen, wenn man die Menschen zu nähren behauptet und sie doch tatsächlich unter dem Schein von Schmeicheleien grausam hinmordet! Aber geben wir zu, solche Rücksicht wäre zeitweilig zu billigen - wie lange will man aber denn auch seinen Kindern immer noch solche „Milch“ reichen? Denn wenn sie nie groß werden, so daß sie auch die zarteste Speise nicht vertragen können, so sind sie auch ganz gewiß niemals mit (wirklicher) Milch aufgezogen worden! Ich will mich aber mit den Verfechtern solcher Meinungen nicht in ein schärferes Gefecht einlassen, und zwar hindern mich daran zwei Ursachen: Einmal sind ihre Albernheiten kaum einer Widerlegung wert; denn sie sind ohnehin bei allen vernünftigen Leuten mit Recht im Verruf; dann habe ich diese Dinge aber auch in besonderen Schriften zur Genüge dargestellt, und ich will nichts zweimal tun. Der Leser muß nur dies festhalten: Mag uns der Satan samt der Welt mit noch soviel Ärgernissen von Gottes Geboten abbringen oder uns hindern wollen, dem nachzufolgen, was uns Gott vorgeschrieben hat, so sollen wir doch unseren Weg rüstig fortsetzen; mag uns weiterhin noch soviel Gefahr drohen, so steht es uns doch nicht frei, auch nur einen Finger breit von dem Befehl dieses Gottes abzuweichen, und es ist uns unter keinerlei Vorwand erlaubt, etwas zu unternehmen, was er nicht zuläßt!

 

 

 

III,19,14

 

Ist das gläubige Gewissen mit jenem Vorrecht der Freiheit beschenkt, wie wir es oben beschrieben haben, so hat es damit durch Christi Wohltat dies erlangt, daß es in solchen Dingen, in denen es nach Gottes Willen frei sein muß, nicht in die Fesseln irgendwelcher Verpflichtungen verstrickt werden soll. Wir stellen also fest, daß es der Gewalt aller Menschen entnommen ist. Denn es wäre unwürdig, wenn Christus seiner aus solcher Freigebigkeit geschenkten Gnade oder das Gewissen selbst der daraus erwachsenden Frucht verlustig gehen sollte. Diese Freiheit ist auch nicht für eine geringfügige Sache zu halten; sehen wir doch, wieviel sie Christus gekostet hat: er hat sie ja nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem eigenen Blut erkauft! (1. Petr. 1,18f.). Paulus erklärt sogar ohne Scheu, wenn wir unsere Seele in die Knechtschaft von Menschen begäben, so sei damit Christi Tod unwirksam gemacht: (Gal. 5,1ff.). In mehreren Kapiteln des Galaterbriefs behandelt er ja nur dies Eine: Christus wird uns verdunkelt, ja vielmehr ausgelöscht, wenn unser Gewissen nicht in seiner Freiheit besteht; aus dieser Freiheit ist es aber mit Sicherheit herausgefallen, wenn es nach menschlichem Gutdünken in die Fesseln von Gesetzen und Satzungen verstrickt werden kann! (Gal. 5,1.4). Aber weil es sich hier um eine Sache handelt, die unbedingt wert ist, erkannt zu werden, so ist eine längere und deutlichere Entfaltung erforderlich. Denn sobald man von der Abschaffung der Menschensatzungen ein Wort gesagt hat, machen Aufrührer wie auch anderseits Lästerer einen gewaltigen Lärm, als ob nun zugleich aller Gehorsam unter den Menschen aufgehoben und umgestoßen würde.

 

 

 

III,19,15

Damit sich nun keiner an diesem Stein stößt, müssen wir zunächst bemerken, daß es unter den Menschen zweierlei Regiment gibt. Das eine ist geistlich (spirituale): es unterweist das Gewissen zur Frömmigkeit und zur Verehrung Gottes. Das andere ist bürgerlich (politicum): es erzieht uns zu den Pflichten der Menschlichkeit und des bürgerlichen Lebens, die unter den Menschen zu wahren sind. Gewöhnlich spricht man hier von „geistlicher“ und „zeitlicher“ Gerichtsgewalt. Diese

 

Namen sind nicht unangemessen; sie haben folgende Bedeutung: Das Regiment von der ersten Art betrifft das Leben der Seele; das von der zweiten dagegen hat es mit dem zu tun, was zu dem gegenwärtigen Leben gehört; freilich befaßt es sich nicht allein mit Nahrung und Kleidung, sondern es schreibt auch Gesetze vor, nach welchen der Mensch unter Menschen sein Leben heilig, ehrbar und ordentlich einrichten soll. Jenes Regiment hat seinen Sitz tief im Herzen, dieses dagegen regelt allein die äußeren Sitten. Das eine können wir das „geistliche Reich“, das andere das „bürgerliche“ Reich nennen. Diese beiden aber, wie wir sie nun abgeteilt haben, müssen wir stets einzeln für sich betrachten; wenn wir das eine ansehen, so müssen wir unser Herz von der Betrachtung des anderen wegrufen und abwenden! Es gibt eben im Menschen gewissermaßen zwei Welten, in denen auch verschiedene Könige und verschiedene Gesetze regieren können.

 

Diese Unterscheidung hat zur Folge, daß wir das, was das Evangelium von der geistlichen Freiheit lehrt, verkehrterweise auf die bürgerliche Ordnung beziehen, als ob etwa die Christen nach dem äußeren Regiment den menschlichen Ge setzen weniger unterworfen wären, weil ihr Gewissen vor Gott frei geworden ist, - als ob sie deshalb aller Dienstbarkeit nach dem Fleisch entnommen würden, weil sie nach dem Geist frei sind!

 

Nun kann aber auch bei solchen Satzungen, die zu dem geistlichen Reich zu gehören scheinen, immerhin Irrtum vorkommen, und deshalb muß man unter diesen Satzungen einen Unterschied machen zwischen solchen, die für rechtmäßig, d.h. dem Worte Gottes entsprechend gelten müssen, und solchen, die bei den Frommen keinen Raum haben dürfen. Über das bürgerliche Regiment zu sprechen, wird an anderer Stelle der Ort sein. Auch von den kirchlichen Gesetzen zu reden, will ich hier unterlassen, weil eine ausführlichere Behandlung zum vierten Buche (dieses Werkes) gehört, und zwar in die Darstellung der Kirchengewalt.

 

Die jetzige Erörterung will ich jedoch mit folgender Erwägung abschließen. Die an sich, wie gesagt, nicht eben dunkle und verworrene Frage bereitet vielen Leuten große Schwierigkeiten, weil sie zwischen der „ äußeren „ Rechtsgewalt - wie man sie nennt - und der des Gewissens nicht scharf genug unterscheiden. Zudem wird die Verlegenheit noch dadurch vergrößert, daß wir nach dem Gebot des Paulus der Obrigkeit nicht allein aus Furcht vor der Strafe gehorchen sollen, sondern auch „um des Gewissens willen“! (Röm. 13,1.5). Daraus folgt (so meint man), daß unser Gewissen auch an die bürgerlichen Gesetze gebunden ist. Wenn es sich so verhielte, so würde alles, was wir wenig oberhalb gesagt haben und was wir noch von dem geistlichen Regiment ausführen werden, in sich zusammenfallen!

Um diesen Knoten aufzulösen, ist es zunächst der Mühe wert, festzustellen, was eigentlich das Gewissen ist. Die Beschreibung dieses Begriffs entnehmen wir der (sprachlichen) Wurzel des Wortes. Die Menschen erlangen ja durch Gemüt und verstand eine Erkenntnis der Dinge; man sagt also: sie wissen das und das, und daraus wird dann auch das Wort Wissenschaft abgeleitet. Nun haben sie aber auch ein Empfinden des göttlichen Gerichts, das wie ein Zeuge stets bei ihnen steht, sie ihre Sünde nicht verhehlen läßt, sondern sie als Schuldige vor Gottes Richterstuhl zieht. Dieses Empfinden heißt Gewissen (conscientia = Mitwissen!). Es ist also gewissermaßen etwas, das mitten zwischen Gott und dem Menschen steht; denn es läßt nicht zu, daß der Mensch das, was er doch weiß, in sich selbst unter drückt, sondern es bedrängt ihn solange, bis er sich schuldig bekennt. - Das meint Paulus mit seiner Lehre, das Gewissen lege zugleich mit dem Menschen Zeugnis ab, und zwar wenn die Gedanken sich untereinander vor Gottes Gericht verklagen oder entschuldigen (Röm. 2,15f.). Die bloße Erkenntnis könnte im Menschen gewissermaßen verschlossen (und daher unwirksam, verborgen) bleiben. Da ist denn dies Empfinden, das den Menschen vor Gottes Gericht stellt, gleichsam ein ihm beigegebener Wächter, der alle seine Geheimnisse beobachtet und durchschaut, damit nichts

 

im Finsteren begraben bleibt! Daher auch das alte Sprichwort: Das Gewissen ist wie tausend Zeugen! Aus dem gleichen Grunde setzt auch Petrus das Zeugnis eines guten Gewissens vor Gott der Ruhe unseres Herzens gleich, wenn wir in der Gewißheit um die Gnade Christi unerschrocken vor G»tt hintreten (1. Petr. 3,21). Auch wenn der Verfasser des Hebräerbriefs davon spricht, daß Menschen „kein Gewissen mehr hätten von den Sünden“ (Hebr. 10,2), so meint er damit: sie sind befreit und losgesprochen, so daß die Sünde sie nicht mehr weiter bedrängt.

 

 

 

III,19,16

 

Wie sich also unsere Werke auf die Menschen beziehen, so bezieht sich das Gewissen auf Gott. Ein gutes Gewissen ist also nichts anderes als die innere Lauterkeit des Herzens. In diesem Sinne schreibt Paulus: „Die Hauptsumme des Gesetzes ist Liebe ... von gutem Gewissen und von ungeheucheltem Glauben“ (1. Tim. 1,5). In dem gleichen Kapitel zeigt er etwas nachher, wie sehr das Gewissen von dem bloßen Wissen unterschieden ist: er redet (1. Tim. 1,19) von einigen, die „am Glauben Schiffbruch erlitten haben“, und erklärt, die hätten das Gewissen „von sich gestoßen“. Mit diesen Worten macht er ja deutlich, daß das Gewissen ein lebendiger Trieb ist, Gott zu dienen, und ein lauteres Streben nach frommem und heiligem Leben.

 

Zuweilen wird das Gewissen auch auf die Menschen bezogen; so, wenn Paulus bei Lukas bezeugt, er habe sich Mühe gegeben, „zu haben ein unverletzt Gewissen allenthalben, gegen Gott und die Menschen“ (Apg. 24,16). Aber das ist deshalb so gesagt, weil die Früchte des guten Gewissens auch bis zu den Menschen hin strömen und dringen. Im eigentlichen Sinne aber sieht das Gewissen allein auf Gott, wie ich bereits sagte.

 

So sagen wir auch, ein Gesetz „binde“ das Gewissen, wenn es den Menschen stracks verpflichtet, ohne den Blick auf Menschen und ohne Rücksicht auf sie! Zum Beispiel: Gott hat uns nicht nur geboten, unser Herz keusch und von aller Lust rein zu erhalten, sondern er hat auch alle schandbaren Worte und alle äußere Üppigkeit verboten. Zum Halten dieses Gebotes ist mein Gewissen verpflichtet, auch wenn in der Welt kein einziger Mensch leben würde. Wer also in seinem Verhalten zuchtlos ist, der sündigt nicht nur insofern, als er den Brüdern ein schlechtes Vorbild gibt, sondern er hat auch ein schuldverhaftetes Gewissen vor Gott.

 

Anders ist es aber mit dem bestellt, was an sich ein „Mittelding“ ist. Wir müssen davon abstehen, wenn daraus ein Anstoß erwächst - aber mit freiem Gewissen! In diesem Sinne spricht Paulus von dem Fleisch, das den Götzen geweiht war; er sagt: „Wenn dir aber jemand Bedenken einflößt, so rühre das Fleisch nur ja nicht an, und zwar um des Gewissens willen. Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst, sondern des anderen“ (1. Kor. 10,28f.; Vers 26 summarisch). Der Gläubige würde also sündigen, wenn er trotz vorheriger Warnung solches Fleisch doch äße. Aber wenn er auch nach Gottes Gebot aus Rücksicht auf den Bruder solche Enthaltsamkeit üben muß, so hört er deshalb doch nicht auf, die Freiheit seines Gewissens zu wahren. Wir sehen also, wie ein solches Gesetz das äußere Werk bindet, aber das Gewissen doch frei läßt.

 

Zwanzigstes Kapitel

 

 

 

Vom Gebet, das die vornehmste Übung des Glaubens ist und durch das wir alle Tage Gottes Gaben ergreifen

 

 

 

III,20,1

 

Aus der bisherigen Erörterung ersehen wir völlig klar, wie arm und leer der Mensch an allen Gütern ist; es fehlt ihm ja geradezu alles, was ihm das Heil verschaffen könnte! Wenn er also nach einem Beistand fragt, um seinem Mangel abzuhelfen, dann muß er aus sich herausgehen und sich ihn von anderswoher verschaffen. Dann ist uns nachher deutlich geworden, daß sich uns der Herr aus freiem Antrieb und aus reiner Milde in seinem Christus offenbart, in dem er uns für unseren Jammer volle Glückseligkeit, für unseren Mangel Reichtum anbietet und in dem er uns alle himmlischen Schatzkammern öffnet. So soll denn unser Glaube ganz auf Gottes geliebten Sohn schauen, an ihm soll all unsere Erwartung hängen, in ihm all unsere Hoffnung beschlossen sein und ruhen. Das ist nun eine heimliche, verborgene Weisheit, die man nicht durch Schlußfolgerungen erfaßt, sondern die allein denen bekannt wird, denen Gott die Augen aufgetan hat, daß sie „in seinem Lichte das Licht sehen“! (Ps. 36,10).

 

Sind wir aber einmal vom Glauben zu der Erkenntnis unterwiesen, daß alles, was wir nötig haben und was uns bei uns selber mangelt, in Gott liegt und in unserem Herrn Jesus Christus - in dem nach des Vaters Willen alle Fülle seiner Freigebigkeit wohnt, so daß wir daraus wie aus einer reichsprudelnden Quelle allesamt schöpfen dürfen! -, so bleibt nur übrig, daß wir das, was nach unserer Einsicht in ihm beschlossen ist, auch bei ihm suchen und von ihm in Gebeten erbitten! Haben wir bloß das Wissen darum, daß Gott der Herr und Spender alles Guten ist, der uns selbst auffordert, ihn zu bitten, - und treten wir dann doch nicht an ihn heran und bitten ihn nicht, so nützt uns solche Erkenntnis gar nichts, ebenso wenig, wie wenn jemand einen Schatz gezeigt bekommt und ihn dann in die Erde vergräbt und verschüttet und unbeachtet läßt! Auch der Apostel will uns zeigen, daß der Glaube nicht ohne Gottes Anrufung sein kann; er stellt deshalb die Ordnung auf: Wie der Glaube aus dem Evangelium erwächst, so werden wiederum durch ihn unsere Herzen bereitet, Gottes Namen anzurufen (Röm. 10,14). Das gleiche hat er allerdings schon etwas vorher ausgeführt: er spricht da von dem „Geist der Kindschaft“, der das Zeugnis des Evangeliums in unserem Herzen versiegelt (Röm. 8,26), und sagt dann, dieser Geist richte auch unseren Geist auf, so daß er nun wagt, Gott seine Gebetswünsche vorzulegen, er erwecke in uns ein „unaussprechliches Seufzen“ (Röm. 8,26) und rufe mit Zuversicht: „Abba, lieber Vater!“ (Röm. 8,15).

 

Eben diesen letzteren Zusammenhang müssen wir jetzt ausführlicher behandeln, weil von ihm bisher nur im Vorbeigehen die Rede war und er gleichsam bloß leicht angerührt worden ist.

 

 

 

III,20,2

 

Die Wohltat des Gebets schenkt uns nun dies, daß wir zu den Reichtümern durchdringen, die bei dem himmlischen Vater für uns aufgehoben sind. Das Gebet ist also gewissermaßen ein Verkehr des Menschen mit Gott: er tritt in das Heiligtum des Himmels ein und erinnert Gott persönlich an seine Verheißungen! Und dabei darf er, wo die Not es nun fordert, die Erfahrung machen, daß das, was er dem Worte auf seine bloß hinweisende Zusage hin geglaubt hat, nicht wirkungslos ist! Deshalb sehen wir auch, wie uns nichts vor Augen gestellt wird, das wir von Gott erwarten sollen, ohne daß wir zugleich auch die Weisung erhielten, es im Gebet zu begehren. Es ist also wirklich wahr: Das Gebet gräbt die Schätze aus, die unser Glaube im Evangelium des Herrn angezeigt gefunden und dort erschaut hat!

Wie notwendig aber die Übung des Gebets ist und in wievielerlei Hinsicht sie uns nützt, das läßt sich mit Worten überhaupt nicht genugsam aussprechen. Es ist wahrlich nicht ohne Grund, wenn der himmlische Vater uns bezeugt, daß das ein-

 

zige Mittel zu unserem Heil in der Anrufung seines Namens besteht; denn damit rufen wir zugleich auch die Gegenwart seiner Vorsehung herbei, in der er ja immer auf der Wacht ist, für uns in allen Dingen zu sorgen, die Gegenwart seiner Kraft, durch die er uns Schwache und nahezu Ermattete aufrechterhält, und die Gegenwart seiner Güte, durch die er uns, die wir jämmerlich unter der Last unserer Sünden bedrückt werden, in seine Gnade aufnimmt. Kurz, wenn wir seinen Namen anrufen, so rufen wir Gott ganz herbei, daß er sich uns als gegenwärtig erweise! Daraus erwächst unserem Gewissen eine herrliche Stille und Ruhe; denn wenn wir die Not, die uns bedrückte, dem Herrn vorgelegt haben, dann finden wir darin völlige Sicherheit, daß nun der, welcher nach unserer festen Überzeugung das Beste für uns will und das Beste für uns schaffen kann, all unsere Nöte kennt!

 

 

 

III,20,3

Es könnte aber jemand einwenden: Weiß denn Gott nicht auch ohne Mahner, was uns bedrückt und was uns nützlich ist? Es könnte auf diese Weise geradezu überflüssig erscheinen, ihn mit unseren Bitten zu bemühen - gerade als ob er nichts merken wollte oder gar schliefe, bis ihn unsere Stimme aufweckte! Aber wer solche Schlußfolgerungen anstellt, der beachtet nicht, zu welchem Zweck der Herr die Seinen zum Beten angewiesen hat. Er hat das doch nicht so sehr um seinetwillen so geordnet, als vielmehr um unsertwillen! Er will zwar, wie es billig ist, daß ihm sein Recht werde, indem die Menschen alles, was sie von ihm erbitten und was nach ihrer Erfahrung zu ihrem Nutzen dient, wirklich als von ihm kommend anerkennen und das auch in ihren Gebeten bezeugen. Aber auch die Frucht dieses Opfers, mit dem er verehrt wird, kommt wiederum uns zugute! Je zuversichtlicher deswegen die heiligen Väter Gottes Wohltaten an sich und anderen rühmten, desto kräftiger wurden sie auch zum Bitten angetrieben! Es mag uns das eine Beispiel des Elia genügen: er hatte Gewißheit über Gottes Ratschluß, hatte auch dem Ahab bereits Regen verheißen, und zwar nicht, ohne zu wissen, was er tat; und doch erflehte er auf den Knien diesen Regen und schickte auch seinen Diener siebenmal hin, um Ausschau zu halten! (1. Kön. 18,41ff.). Das geschah nicht, weil er etwa dem ihm zuteil gewordenen Gotteswort den Glauben entzogen hätte, sondern weil er wußte, daß es sein Amt war, seine Wünsche vor Gott zu bringen, damit der Glaube nicht schläfrig oder untätig sei! Gewiß steht Gott für uns auf der Hut und Wacht, auch wenn wir für unser Elend empfindungslos und kurzsichtig sind; auch kommt er uns zuweilen zu Hilfe, ohne daß wir ihn darum gebeten haben; aber es liegt trotzdem für uns viel daran, daß er unablässig von uns angerufen wird! Wir gewöhnen uns so daran, in aller Not zu ihm als zu dem heiligen Anker unsere Zuflucht zu nehmen - und darüber soll unser Herz von dem ernstlichen, glühenden Verlangen erfüllt werden, ihn allezeit zu suchen, ihn zu lieben und ihm zu dienen! Weiter lernen wir auch, ihm alle unsere Wünsche vor Augen zu stellen, ja, vor ihm unser ganzes Herz auszuschütten - und darüber soll es dazu kommen, daß in unserem Herzen kein Begehren, ja überhaupt kein Wunsch sich regt, bei dem wir Scheu hätten, ihn zum Zeugen zu machen. Dann sollen wir auch dahin gelangen, seine Wohltaten mit rechter, herzlicher Dankbarkeit und auch mit Danksagung anzunehmen; gerade unser Bitten erinnert uns ja daran, daß all diese Gaben aus seiner Hand zu uns kommen! Wenn wir dann weiter auch erlangt haben, um was wir beteten, und in uns die Gewißheit lebt, daß er unseren Wünschen entsprochen hat, dann sollen wir dadurch desto brennender dazu getrieben werden, seine Güte zu betrachten und zugleich auch mit größerer Freude anzunehmen, was wir uns ja, wie wir nun wissen, durch unsere Gebete ausgewirkt haben! Und schließlich erkennen wir ja, daß er nicht allein verheißt, er werde stets bei uns sein, und daß er uns nicht allein aus freien Stücken den Zugang öffnet, ihn gerade in der Not anzurufen, sondern daß er tatsächlich seine Hand stets ausgereckt hat, um den Seinen zu helfen, daß er sie nicht mit Worten narrt, sondern sie mit wirksamer Hilfe in Schutz nimmt! Und unter solcher Erkenntnis soll

 

seine Vorsehung unserem Herzen nach dem Maß seiner Schwachheit eben durch Erfahrung und Erprobung bewiesen werden.

 

Aus diesen Ursachen stellt sich der Vater in seiner großen Barmherzigkeit, obwohl er tatsächlich nie schläft noch schlummert, doch zumeist schlafend und schlummernd, um uns, die wir sonst laß und faul sind, auf solche Weise zu unserem großen Nutzen darin zu üben, ihn zu suchen, ihn zu bitten, ihn anzuflehen!

 

Es ist daher gar zu töricht, wenn jene Leute, um des Menschen Herz vom Beten abzuhalten, faseln, es sei vergebens, Gottes Vorsehung, die stets zur Hut aller Dinge auf der Wacht stehe, mit unserem störenden Schreien zu ermüden! Es ist doch gewiß nicht umsonst, wenn der Herr demgegenüber selbst bezeugt, er sei „nahe allen, die seinen Namen mit Aufrichtigkeit anrufen“! (Ps. 145,18; nicht Luthertext). Ebensowenig sinnvoll ist auch das Geschwätz anderer, es sei überflüssig, um Dinge zu bitten, die der Herr doch aus freien Stücken zu gewähren bereit sei. Er will ja gerade, daß wir erkennen, wie uns eben das, was er uns aus seiner freien Güte zufließen läßt, auf unsere Bitten hin gewährt ist! Das bezeugt uns ein denkwürdiges Psalmwort, dem noch viele ähnliche zur Seite treten: „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Schreien“ (Ps. 34, 16). Hier wird Gottes Vorsehung gerühmt, wie sie aus freien Stücken darauf aus ist, für das Heil der Frommen zu sorgen, aber dabei wird doch zugleich die Übung des Glaubens nicht beiseitegelassen, die alle Lässigkeit aus dem Herzen des Menschen austreibt. So wachen also Gottes Augen, um der Not von uns Blinden abzuhelfen; aber auf der anderen Seite will er auch unsere Seufzer hören, um seine Liebe gegen uns desto besser zu beweisen! So ist beides wahr: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht“ (Ps. 121,4) - und doch verzieht er auch, als hätte er uns vergessen, wenn er uns lässig und stumm sieht!

 

 

 

III,20,4

 

Die erste Regel, um unser Gebet recht und wohl zu gestalten, soll nun die sein: Wir sollen nach Gemüt und Herz so beschaffen sein, wie es Leuten geziemt, die sich aufmachen, um mit Gott ein Gespräch zu haben! Was unser Gemüt betrifft, so werden wir diese Regel dann erfüllen, wenn es von allen fleischlichen Sorgen und Gedanken, die es von dem geraden und reinen Blick auf Gott abwenden oder wegführen könnten, frei ist und sich nicht nur mit ganzer Anspannung auf das Gebet richtet, sondern sich sogar nach Möglichkeit über sich selbst erhebt und hinausträgt. Ich fordere dabei freilich nicht, daß unser Sinn so befreit wäre, daß ihn keinerlei Besorgnis mehr plagte und angriffe; die heiße Inbrunst des Betens muß ja im Gegenteil durch viel Bedrängnis in uns entfacht werden! Wir gewahren doch, wie Gottes heilige Knechte unendliche Qualen, geschweige denn Besorgnisse bezeugen; sie sagen ja, daß sie ihre Stimme aus tiefem Abgrunde und mitten aus dem Rachen des Todes zu Gott erheben! Nein, ich meine dies: wir sollen all die fremden, von außen eindringenden Sorgen ablegen, die unseren ohnehin unsteten Sinn hin- und herzerren, uns vom Himmel herabziehen und auf die Erde drücken. Wenn ich sagte, unser Gemüt müsse sich über sich selbst erheben, so verstehe ich darunter dies: es soll nichts von alledem, was sich unsere blinde, törichte Vernunft zu erdenken pflegt, vor Gottes Angesicht tragen, soll sich auch nicht in die Grenzen der eigenen Eitelkeit einengen lassen, sondern zu der Reinheit emporschwingen, die Gottes würdig ist.

 

 

 

III,20,5

Wir haben es hier mit zwei Erfordernissen zu tun, die beide äußerst beachtenswert sind. (Zunächst:) Wer sich zum Beten anschickt, der soll auch all sein Sinnen und Trachten darauf richten und sich nicht - wie das gewöhnlich geschieht - von flatternden Gedanken hin- und herziehen lassen. Denn der Ehrfurcht vor Gott ist nichts so sehr zuwider wie solche Leichtfertigkeit, die ja nur einen Mutwillen bezeugt, der sich gar zu sehr gehen läßt und von aller Furcht gelöst ist. Hier müssen wir uns um so kräftiger anstrengen, je schwerer es nach unserer Erfahrung ist. Denn es ist keiner mit solcher Anspannung auf das Beten gerichtet, daß er nicht viele querlaufende Gedanken aufkommen merkte, die den Lauf des Gebets unterbrechen oder mit irgend-

 

welchem Abbiegen oder Ablenken aufhalten. Da muß uns dann der Gedanke helfen, wie unwürdig es ist, Gottes große Freundlichkeit, mit der er uns zu vertrautem Gespräch zuläßt, dadurch zu mißbrauchen, daß wir Heiliges und Unheiliges durcheinandermischen; das geschieht aber, wenn die Ehrfurcht vor ihm unsere Sinne nicht ganz an sich gefesselt hält, sondern wir so tun, als hätten wir mit einem gewöhnlichen Menschen zu reden, und dann bei unserem Beten ihn vergessen und da und dort herumflattern! Wir sollen also wissen, daß nur der sich recht und ordentlich zum Beten anschickt, der von Gottes Majestät ergriffen ist, um dann alle irdischen Sorgen und Regungen von sich abzutun und zu ihr zu nahen! Das ist der Sinn der frommen Sitte, beim Gebet die Hände aufzuheben: der Mensch soll daran denken, daß er von Gott weit entfernt ist, wenn er seine Sinne nicht in die Höhe emporhebt! So heißt es im 25. Psalm: „Zu dir habe ich meine Seele erhoben“ (Ps. 25,1; nicht Luthertext, aber fast wörtlich Grundtext). Oft braucht die Schrift auch die Wendung: „Gebet erheben“ (z.B. Jes. 37,4): Menschen, die von Gott erhört werden wollen, sollen eben nicht in ihrem Schmutz steckenbleiben! Zusammenfassend sei gesagt: Je freigebiger Gott an uns handelt, indem er uns freundlich einlädt, in seinem Schoß die Last aller unserer Sorgen abzulegen, - desto weniger sind wir entschuldbar, wenn seine herrliche, unvergleichliche Wohltat bei uns nicht gegen alles andere das Übergewicht hat und uns an sich zieht, so daß wir all unser Sinnen und Trachten mit Ernst auf das Beten richten! Das kann aber nicht geschehen, wenn unser Sinn nicht tapfer gegen alle Hemmnisse streitet und sich über sie emporhebt.

 

Zum Zweiten haben wir dann auch festgestellt, daß wir nur soviel erbitten sollen, wie Gott uns erlaubt. Er gebietet uns allerdings, unser Herz vor ihm auszuschütten (Ps. 62,9). Aber damit läßt er nicht etwa unseren törichten, bösen Regungen ohne Unterschied die Zügel schießen! Wenn er verheißt, er werde nach dem Willen der Frommen verfahren, dann geht seine Nachsicht nicht so weit, daß sie sich unserem Gutdünken unterwirft! In beiden Stücken aber wird immer wieder schwer gefehlt. Nicht nur wagen es sehr viele Menschen, Gott ohne Scheu und ohne Ehrerbietung mit ihren Albernheiten anzusprechen und unverfroren alles vor seinen Richtstuhl zu bringen, was ihnen irgendwie im Traum eingefallen ist - nein, sie sind gar von solcher Torheit und Empfindungslosigkeit besessen, daß sie Gott ohne Scheu ihre schmutzigsten Begierden aufdrängen, die sie sich sehr schämen würden, Menschen kundzugeben! Diese Vermessenheit haben sogar einige unfromme Menschen verlacht und verabscheut; trotzdem hat aber dieses Laster stets regiert. So ist es dazu gekommen, daß ehrgierige Menschen den Jupiter zu ihrem Patron herbeiholten, Geizhälse den Merkur, Wissensdurstige den Apollo und die Minerva, Kriegslustige den Mars und Buhlerische die Venus! Ebenso verstatten heutzutage die Menschen - wie ich bereits berührte - ihren unerlaubten Begierden im Gebet mehr ausgelassene Freiheit, als wenn sie sich als Gleiche unter Gleichen lustige Geschichten erzählten! Aber Gott duldet es nicht, daß man mit seiner Freundlichkeit solchen Spott treibt, sondern er wahrt sich sein Recht, und deshalb unterwirft er unsere Wünsche seinem Befehl und hält sie fest am Zügel. Darum sollen wir an das Wort des Johannes denken: „Und das ist die Freudigkeit, die wir haben zu ihm, daß, so wir etwas bitten nach seinem Willen, so hört er uns“ (1. Joh. 5,14).

Nun ist aber unser Vermögen bei weitem zu solcher Vollkommenheit nicht fähig, und deshalb müssen wir ein Heilmittel suchen, das uns zu Hilfe kommt. Wie wir (beim Beten) die ganze Schärfe unseres Sinnes auf Gott richten sollen, so muß auch die Regung des Herzens die gleiche Richtung nehmen. Beide bleiben aber weit zurück, ja, richtiger: sie werden müde und matt oder gar in die entgegengesetzte Richtung getrieben. Um nun dieser unserer Schwachheit zu Hilfe zu kommen, gibt uns Gott bei unseren Bitten den Heiligen Geist zum Lehrmeister: er sagt uns vor, was recht ist, und er bringt unsere Regungen ins richtige Maß. Weil wir nämlich „nicht wissen, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt“, so kommt er uns

 

zu Hilfe und tritt für uns ein „mit unaussprechlichem Seufzen“ (Röm. 8,26). Das heißt nicht, daß er wirklich betete oder seufzte, sondern er erweckt in uns Zuversicht, Wünsche und Seufzer, die unsere natürlichen Kräfte nie und nimmer hervorzubringen imstande wären. Es ist nicht ohne Grund, wenn Paulus die Seufzer, welche die Gläubigen unter Leitung des Geistes ausstoßen, „unaussprechlich“ nennt: wer wirklich im Beten geübt ist, der weiß sehr wohl, wie er dermaßen in heimliche Ängste verstrickt gehalten wird, daß er kaum herausfindet, was er eigentlich recht sagen soll; ja, selbst wenn er zu stammeln versucht, so bleibt er alsbald verwirrt stecken. Daraus ergibt sich, daß rechtes Beten eine besondere Gabe ist. Dies wird nicht ausgesprochen, damit wir unserer eigenen Lässigkeit nachgeben, dem Geiste Gottes die Aufgabe, zu beten, völlig überlassen und nun stumpf und faul in jene Sorglosigkeit verfallen, zu der wir ohnehin mehr als genug neigen! Man kann tatsächlich gottlose Stimmen zu hören bekommen, wir sollten teilnahmslos abwarten, bis der Geist unseren Sinnen, die mit anderen Dingen beschäftigt wären, zuvorkäme! Nein, alle diese Ausführungen haben vielmehr den Zweck, daß wir unsere Faulheit und Trägheit tief betrauern und damit solchen Beistand des Geistes begehren. Wenn Paulus gebietet, wir sollten „im Geist beten“ (1. Kor. 14,15), so hört er doch nicht auf, uns zur Wachsamkeit zu ermahnen; damit deutet er an, daß der Antrieb des Geistes zwar seine Kraft darin ausübt, daß er uns zum Beten treibt, aber doch so, daß er dadurch unsere Anstrengung keineswegs hindert oder hemmt! Denn gerade an diesem Stück will Gott erproben, mit welcher Kraft der Glaube unser Herz treibt!

 

 

 

III,20,6

 

Jetzt die zweite Regel: Wir sollen bei unserem Beten stets unseren Mangel wahrhaft empfinden, ernstlich bedenken, daß uns alles das fehlt, was wir erbitten, und dementsprechend auch eine ernstliche, ja brennende Sehnsucht, es zu erlangen, mit unserem Gebet verbinden. Viele Leute plappern geschäftsmäßig ihre Gebete nach festen Formeln daher, als ob sie Gott einen festgesetzten Dienst ableisteten. Sie bekennen zwar, dies sei für ihre Nöte ein notwendiges Heilmittel, weil es ja Verderben brächte, die Hilfe Gottes zu missen, um die sie beteten. Aber es wird doch offenkundig, daß sie hier bloß um der Gewohnheit willen solche Pflicht erfüllen; denn ihr Herz ist unterdessen kalt und erwägt gar nicht, was es bittet! Sie werden zwar von einem allgemeinen, verworrenen Empfinden ihrer Not zum Beten getrieben, aber sie kommen dadurch nicht in eine solche Besorgnis hinein, wie man sie in unmittelbar dringender Sache empfindet, so daß sie etwa wirklich eine Erleichterung ihres Jammers erstrebten! Was sollten wir ferner für häßlicher und Gott widerwärtiger halten, als jene Heuchelei, daß einer Vergebung der Sünden begehrt, aber unterdessen meint, er sei gar kein Sünder, oder wenigstens nicht bedenkt, daß er ein Sünder ist! Mit solcher Heuchelei treibt man mit Gott offen seinen Spott! Aber das Menschengeschlecht ist, wie ich bereits sagte, von solcher Niedertracht erfüllt, daß man oft, nur um sich eine Verpflichtung vom Halse zu laden, von Gott Dinge erbittet, unterdessen aber der sicheren Anschauung ist, sie kämen ohne sein Wohltun von anderswoher, oder man hätte sie schon in Besitz.

 

Es gibt dann andere, deren Vergehen leichter erscheint, aber auch durchaus untragbar ist: sie haben bloß den einen Grundsatz gelernt, man müsse Gott mit Gebeten günstig stimmen, und darum murmeln sie ihre Gebete ohne Bedacht daher. Die Frommen sollen sich dagegen aufs schärfste davor hüten, ja vor Gottes Angesicht zu treten und etwas zu begehren, was sie nicht in ernster Inbrunst ihres Herzens glühend ersehnen und zugleich von ihm zu erlangen trachten. Es könnte nun freilich auf den ersten Blick so scheinen, als ob wir bei den Bitten, die sich allein auf Gottes Ehre beziehen, nicht für unsere eigene Not sorgten; trotzdem muß auch da unser Bitten mit nicht weniger heißem und eindringlichem Verlangen geschehen. Wenn wir zum Beispiel beten: „Dein Name werde geheiligt“, so müssen wir, wenn ich so sagen darf, inbrünstig nach solcher Heiligung hungern und dürsten.

 

III,20,7

 

Wenn jemand hier den Einwurf macht, wir würden doch nicht stets von gleicher Not zum Beten getrieben, so gebe ich das allerdings zu; es ist auch nützlich, daß uns Jakobus eine derartige Unterscheidung bereits lehrt: „Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Muts, der singe Psalmen!“ (Jak. 5,13). So sagt uns schon der gesunde Menschenverstand, daß wir, die wir gar zu lässig sind, je nach Notwendigkeit gelegentlich von Gott heftiger zu ernstlichem Beten getrieben werden. Diese Zeit nennt David die „rechte Zeit“ (Ps. 32,6); denn je härter uns - wie er das an sehr vielen anderen Stellen darlegt - Not, Ungemach, Schrecken und allerlei andere Anfechtungen drücken, desto freier steht uns der Zugang zu Gott offen - es ist gerade, als wenn er uns durch dergleichen Widerfahrnisse an sich heranholte!

 

Indessen ist es nicht weniger richtig, wenn Paulus uns sagt, wir sollten „stets“ beten (Eph. 6,18). Denn mag auch nach der Meinung unseres Herzens alles gut gehen, mag uns allenthalben nur Anlaß zur Freude umgeben, so gibt es doch keinen Augenblick, in dem uns unsere Armut nicht zum Beten mahnte. Mag auch einer an Wein und Weizen Überfluß haben, so kann er doch nicht einmal einen Bissen Brot ohne Gottes beständige Gnade genießen, und so sind ihm Vorratskammern und Scheunen doch wohl nicht im Wege, um das „tägliche Brot“ zu bitten! Wenn wir dann noch in Betracht ziehen, wieviel Gefahren uns jeden Augenblick drohen, so wird uns schon die Furcht lehren, daß wir keine Zeit vom Beten ablassen sollen.

 

Noch deutlicher läßt sich das aber in geistlichen Dingen erkennen. Wann sollten uns denn all unsere Sünden, deren wir uns bewußt sind, einmal erlauben, daß wir sicher würden und davon abließen, demütig um Tilgung von Schuld und Strafe zu bitten? Wann sollen uns denn die Anfechtungen einmal einen Waffenstillstand gewähren, daß wir nicht eilen müßten, um uns Hilfe zu holen? Zudem soll uns der Eifer um Gottes Reich und Ehre nicht in Abständen, sondern immerfort ergreifen, so daß wir stets die gleiche Gelegenheit haben zu beten! Es ist also nicht umsonst, daß uns so oft geboten wird, „ohne Unterlaß“ zu beten. Ich rede hier noch nicht von der Beharrlichkeit im Beten; davon muß später noch gesprochen werden. Aber wenn uns die Schrift mahnt, ohne Unterlaß zu beten, so tadelt sie damit unsere Lässigkeit: wir empfinden eben nicht, wie nötig diese Sorge und dieser Fleiß für uns ist!

Diese Regel hält die Heuchelei und die Verschlagenheit, mit der man Gott belügt, vom Gebet fern, ja, sie treibt sie weit weg. Gott verheißt, er wolle allen nahe sein, die ihn in Aufrichtigkeit anrufen, er tut kund, daß ihn alle finden werden, die ihn von ganzem Herzen suchen (Ps. 145,18; Jer. 29,13f.); wer sich aber in seinem Schmutz gefällt, der hat solche Sehnsucht nicht. Rechtes Gebet erfordert also die Buße. Daher kommt es, daß die Schrift immer wieder erklärt, Gott erhöre die Missetäter nicht, ihre Gebete wie auch ihre Opfer seien ihm zuwider; es ist ja auch billig, wenn die, welche ihr Herz verschließen, Gottes Ohren verschlossen, und wenn die, die seinen Zorn durch ihre Härte hervorrufen, ihn unbeugsam finden. In diesem Sinne droht er bei Jesaja: „Und ob ihr auch schon viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut!“ (Jes. 1,15). Ebenso bei Jeremia: „Ich rief - und sie weigerten sich, zu hören; und sie werden wiederum mich rufen; ich aber will sie nicht hören!“ (Jer. 11,7f.11; summarisch). Denn in seinen Augen ist es die schlimmste Schandtat, wenn die Gottlosen seinen Bund für sich in Anspruch nehmen, die doch mit ihrem ganzen Leben seinen heiligen Namen besudeln. Deshalb klagt auch der Herr bei Jesaja, das Volk nahe sich ihm zwar mit seinen Lippen, aber sein Herz sei fern von ihm (Jes. 29,13). Das schränkt er nun aber nicht auf das Beten allein ein, sondern er erklärt, daß ihm die Heuchelei in allem, was seiner Verehrung dienen mag, widerwärtig ist. Dahin gehören die Worte des Jakobus: „Ihr bittet, und nehmet nicht, darum

 

daß ihr übel bittet, nämlich dahin, daß ihr\'s mit euren Wollüsten verzehret“ (Jak. 4,3). Es ist allerdings richtig - und wir werden das bald erneut sehen -, daß die Gebete, die die Frommen vor dem Herrn ausschütten, sich nicht auf ihre Würdigkeit stützen; aber trotzdem ist die Mahnung des Johannes nicht überflüssig: „Was wir bitten, werden wir von ihm nehmen; denn wir halten seine Gebote ...“ (1. Joh. 3,22). Ein böses Gewissen schließt uns eben das Tor zu! Es ergibt sich daraus, daß nur die, welche Gott in Lauterkeit dienen, recht beten und erhört werden. Wer sich also zum Beten anschickt, der soll in allen seinen bösen Werken Mißfallen an sich haben und nach Gestalt und Gebärde als ein Bettler erscheinen. Das kann aber nicht ohne die Buße geschehen.

 

 

 

III,20,8

Dazu kommt dann die dritte Regel: Wenn einer sich vor Gott hinstellt, um zu beten, so soll er sich jedes Gedankens an eigenen Ruhm entschlagen, soll jeden Wahn eigener Würdigkeit ablegen, kurz, alle Zuversicht auf sich selber fahren lassen und in solcher Verwerfung seiner selbst alle Ehre Gott allein geben. Wir würden ja sonst, wenn wir uns selbst etwas beimessen wollten, und sei es auch noch so gering, mit unserer eitlen Aufgeblasenheit vor seinem Angesicht zuschanden werden. Für diese Unterwerfung, die alle Hoheit zu Boden schlägt, haben wir an den Knechten Gottes sehr viele Beispiele. Ja, gerade die Heiligsten unter ihnen werfen sich am tiefsten darnieder, wenn sie vor das Angesicht des Herrn treten. So betete Daniel, den der Herr selbst mit so hohem Lobpreis gerühmt hatte: „Wir liegen vor dir mit unserem Gebet, nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Ach, Herr, höre, ach, Herr, sei gnädig, ach, Herr, merke auf und tue, um was wir bitten ... um deiner selbst willen; denn dein Name ist doch angerufen worden über dieser Stadt und über deiner heiligen Stätte!“ (Dan. 9,18f.; Schluß nicht Luthertext). Da mischt er sich nicht mit einer versteckten Wendung wie einer aus dem Volke unter die Menge, wie man das so zu tun pflegt; nein, er bekennt sich ganz für sich als schuldig und nimmt demütig seine Zuflucht zu der Freistatt der Vergebung, wie er es ausdrücklich kundgibt: „Als ich so meine und meines Volks Sünde bekannte ...“ (Dan. 9,20). Solche Demut lehrt uns auch David durch sein eigenes Beispiel; er spricht: „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knechte; denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht!“ (Ps. 143,2). In dieser Weise betet auch Jesaja: „Siehe, du zürntest wohl, da wir sündigten (...). Auf deine Wege ist ja die Welt gegründet, und deshalb werden wir gerettet werden. Aber nun sind wir allesamt voll Unreinigkeit, und alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Kleid. Wir sind alle verwelkt wie die Blätter, und unsere Sünden führen uns dahin wie ein Wind. Niemand ruft deinen Namen an oder macht sich auf, daß er sich an dich halte; denn du verbirgst dein Angesicht vor uns und lässest uns in unseren Sünden verschmachten. Aber nun, Herr, du bist unser Vater; wir sind Ton, du bist unser Töpfer, und wir sind alle deiner Hände Werk. Herr, zürne nicht ... und denke nicht ewig der Sünde. Siehe doch das an, daß wir alle dein Volk sind!“ (Jes. 64,4-8; nicht durchweg Luthertext). Da sieht man, wie sich diese Menschen durchaus auf keinerlei Zuversicht stützen, außer einer einzigen: sie bedenken, daß sie Gott gehören, und zweifeln deshalb nicht daran, daß er für sie sorgen werde. Nicht anders redet Jeremia: „Wenn unsere Missetaten wider uns zeugen, so tu es doch um deines Namens willen!“ (Jer. 14,7; nicht Luthertext). Sehr wahr und zugleich sehr heilig ist auch ein Wort, das ein unbekannter Verfasser - er mag schließlich sein, wer er will - geschrieben hat und das man dem Propheten Baruch zuschreibt: „Eine Seele, die da traurig ist und trostlos über der Größe ihrer Bosheit, die gebeugt ist und schwach, eine Seele, die da hungert, und ein Auge, das ermattet - die geben dir die Ehre, Herr. Nicht um der Gerechtigkeit unserer Väter willen schütten wir unsere Gebete vor dir aus und begehren wir Barmherzigkeit vor deinem Angesicht, Herr, unser Gott, sondern, weil du barmherzig bist, darum erbarme dich unser; denn wir haben wider dich gesündigt!“ (Bar. 2,18-20; nicht Luthertext).

 

III,20,9

 

Kurz, der Eingang und zugleich auch die Vorbereitung zu rechtem Beten ist das Bitten um Vergebung unter demütigem und aufrichtigem Bekenntnis unserer Schuld. Denn es ist nicht zu erwarten, daß jemand - auch wenn er der Heiligste wäre! - etwas von Gott gewährt bekommt, ehe er aus Gnaden mit ihm versöhnt ist; es kann auch nicht sein, daß Gott anderen Menschen gnädig wäre, als denen, denen er Verzeihung gewährt. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sich die Gläubigen mit diesem Schlüssel die Tür zum Beten auftun. Das lernen wir aus recht vielen Psalmstellen. So spricht David an einer Stelle, an der er (im übrigen) um etwas anderes bittet: „Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen; gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen, Herr!“ (Ps. 25,7). Oder ebenso: „Siehe an meinen Jammer und mein Elend und vergib mir alle meine Sünden!“ (Ps. 25,18). Da sehen wir auch, daß es nicht genug ist, daß wir uns Tag für Tag für die neuen Sünden zur Rechenschaft ziehen, wenn uns nicht zugleich die Sünden wieder ins Gedächtnis kommen, die bereits der Vergessenheit anheimgefallen scheinen könnten. So bekennt der gleiche Prophet an anderer Stelle eine schwere Missetat, aber er greift doch bei dieser Gelegenheit zurück bis an den Mutterleib, in dem er sich bereits Befleckung zugezogen hatte (Ps. 51,7). Das tut er nicht, um seine Schuld durch den Hinweis auf die Verderbtheit der Natur zu verkleinern, sondern er will die Sünden seines ganzen Lebens aufeinanderhäufen, und je härter er sich verdammt, desto mehr möchte er bei Gott Erhörung finden! Freilich erbitten die Heiligen die Vergebung der Sünden nicht immer mit ausdrücklichen Worten; wenn wir aber ihre Gebete, wie sie uns die Schrift überliefert, gründlich durchgehen, dann wird uns das, was ich meine, unschwer entgegentreten: sie haben den Mut zum Beten allein aus Gottes Barmherzigkeit genommen und deshalb stets damit den Anfang gemacht, daß sie ihn versöhnten. Denn wenn einer sein Gewissen befragt, so kommt er nicht von ferne zu dem Wagnis, seine Sorgen vertrauensvoll bei Gott niederzulegen, nein, er wird sogar zittern, sich Gott zu nahen, wenn er sich nicht auf seine Barmherzigkeit und Vergebung verläßt.

 

Es gibt freilich daneben noch ein anderes, besonderes Schuldbekenntnis, in dem sie um Linderung der Strafen bitten, aber doch auch gleichzeitig darum beten, daß ihnen ihre Sünden vergeben werden; es wäre ja auch widersinnig, wenn sie wollten, daß die Wirkung behoben würde, während unterdessen die Ursache bestehen bliebe. Wir müssen uns hüten, es nicht zu machen wie törichte Kranke, die sich bloß um die Behandlung der äußeren Krankheitserscheinungen Sorge machen, die Wurzel der Krankheit aber vernachlässigen. Nein, wir müssen uns zuerst darum mühen, daß Gott uns gnädig sei, und erst dann darum, daß er uns seine Gunst auch an äußeren Zeichen beweise; denn er will selbst diese Reihenfolge einhalten; es würde uns auch gar wenig nutzen, wenn wir seine Wohltätigkeit zu spüren bekämen, ohne daß unser Gewissen die Empfindung hätte, daß er mit uns versöhnt ist, und ohne daß es uns voll und ganz die Gewißheit verschaffte, daß wir ihn lieben dürfen. Daran mahnt uns auch eine Antwort, die Christus gegeben hat; er hatte beschlossen, den Gichtbrüchigen zu heilen - und da sagte er zu ihm: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ (Matth. 9,2). Damit richtet er die Herzen auf das, was vor allem zu wünschen ist, nämlich: daß uns Gott in Gnaden annimmt und uns dann auch die Frucht der Versöhnung in der Hilfe zukommen läßt, die er uns gewährt.

Neben diesem besonderen Bekenntnis einer gegenwärtigen Schuld, in dem die Gläubigen Vergebung erflehen, um Erlaß jeder Schuld oder Strafe zu erhalten - sollen wir übrigens jenen allgemeinen Gebetseingang, der unseren Bitten freundliche Aufnahme verschafft, niemals beiseite lassen. Denn unsere Bitten werden vor Gott nie und nimmer Erhörung finden, wenn sie nicht auf die aus reiner Gnade an uns geschehende Barmherzigkeit gegründet sind. Darauf läßt sich das Wort des

 

Johannes beziehen: „So wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend“ (Joh. 1,9). Daher mußten auch unter dem Gesetz die Gebete unter sühnendem Blutvergießen geheiligt werden, um (vor Gott) angenehm zu sein (vgl. Gen. 12,8; 26,25; 33,20). Damit sollte dem Volke zum Bewußtsein gebracht werden, daß es des Vorrechts einer solchen Ehre unwürdig war, bis es, von seinen Untugenden gereinigt, allein aus Gottes Barmherzigkeit die Zuversicht zum Bitten gewonnen hatte!

 

 

 

III,20,10

 

Zuweilen scheinen sich freilich die Gläubigen auch auf das Zeugnis ihrer eigenen Gerechtigkeit zu berufen, um von Gott erhört zu werden. So sagt David: „Bewahre meine Seele; denn ich bin rechtschaffen“ (Ps. 86,2; nicht Luthertext). Oder Hiskia betet: „Herr, gedenke doch, daß ich aufrichtig vor dir gewandelt habe und habe getan, was dir wohlgefällt!“ (2. Kön. 20,3; nicht ganz Luthertext). Mit solchen Wendungen wollen sie aber nichts anderes, als sich eben um der Wiedergeburt willen als Gottes Knechte und Kinder zu bezeugen, denen er doch selbst verheißen hat, er wolle ihnen gnädig sein. Er lehrt, wie wir bereits hörten, durch den Mund seines Propheten: „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Schreien“ (Ps. 34,16). Und den Apostel läßt er sprechen: „Was wir bitten, werden wir von ihm nehmen; denn wir halten seine Gebote“ (1. Joh. 3,22). In diesen Sprüchen erklärt er uns nicht etwa, das Gebet solle um des Verdienstes der Werke willen einen Wert haben, sondern er will auf diese Weise die Zuversicht derer stärken, die sich aufrichtig einer ungeheuchelten Lauterkeit und Unschuld bewußt sind - und so sollten ja alle Gläubigen zumal geartet sein! Es ist doch aus Gottes Wahrheit selbst heraus geredet, wenn bei Johannes der Blinde, der sehend geworden ist, sagt: „Wir wissen aber, daß Gott die Sünder nicht hört“ (Joh. 9,31). Dabei müssen wir uns freilich den Sprachgebrauch der Schrift zu eigen machen und unter „Sündern“ solche Leute verstehen, die ohne Verlangen nach der Gerechtigkeit ganz in ihren Sünden schlafen und ruhen; es wird eben kein Herz je zur lauteren Anrufung Gottes gelangen, das sich nicht zugleich nach einem gottesfürchtigen Leben sehnt. Derartigen Verheißungen entsprechen dann auch die Beteuerungen der Heiligen, die auf diese Weise ihre Reinheit und Unschuld in Erinnerung bringen, um dadurch zu erfahren, daß an ihnen offenbar wird, was alle Knechte Gottes erwarten sollen!

 

Ferner finden wir auch, daß sie solcherlei Gebete meistens dann angewandt haben, wenn sie sich vor dem Herrn mit ihren Feinden verglichen, von deren Ungerechtigkeit sie durch des Herrn Hand gerettet zu werden begehrten. Bei solcher Vergleichung ist es nicht verwunderlich, wenn sie ihre Gerechtigkeit und die Einfalt ihres Herzens vorbrachten, um den Herrn unter Berufung auf die Billigkeit ihrer Sache desto mehr zum Helfen zu bewegen. Wir wollen dem frommen Herzen dies Gut also nicht wegnehmen, daß es vor dem Herrn seines guten Gewissens genieße, um sich an den Verheißungen zu stärken, mit denen der Herr seine wahren Diener tröstet und kräftig macht. Wir wollen vielmehr, daß die Zuversicht auf Erhörung sich allein auf Gottes Güte stützt und daß der Mensch dabei jeden Gedanken an eigenes Verdienst von sich abtut.

 

 

 

III,20,11

Nun zum Schluß die vierte Regel: Wir sollen gewiß in dieser Weise in wahrer Demut zu Boden geworfen und erniedrigt sein, uns aber nichtsdestoweniger von der sicheren Hoffnung auf Erhörung zum Beten ermuntern lassen. Es ist dem Anschein nach freilich ein Widerspruch, wenn man mit dem Empfinden der gerechten Strafvergeltung Gottes die gewisse Zuversicht auf seine Gnade verbindet. Aber dies beides kommt doch vollkommen überein, sofern Gottes Güte die aufrichtet, die unter ihren eigenen Sünden erdrückt werden. Ich habe oben bereits dargelegt, wie Buße und Glaube Bundesge-

 

nossen sind, die durch ein unzertrennliches Band miteinander verflochten sind; und das, obwohl uns die Buße erschreckt, der Glaube uns aber mit Freude erfüllt; dementsprechend müssen sie nun beim Beten beide einander begegnen! Dieses Zusammenwirken beschreibt David mit wenigen Worten: „Ich aber will in dein Haus gehen auf deine große Güte und anbeten gegen deinen heiligen Tempel in deiner Furcht“ (Ps. 5,8). Mit der Güte Gottes denkt er zugleich an den Glauben; aber dabei schließt er die Furcht nicht aus, weil uns nicht bloß seine Majestät zur Ehrerbietung zwingt, sondern uns zugleich unsere eigene Unwürdigkeit allen Hochmut und alle Sicherheit vergessen läßt und uns unter der Furcht hält!

 

Ich meine nun aber keine Zuversicht, die unser Herz von jedem Empfinden der Angst freimachte und uns in bequemer und ungestörter Ruhe wiegte. Denn so friedlich zu ruhen, das wäre die Sache solcher Leute, denen alles nach Wunsch geht, die deshalb keine Sorge berührt, in denen kein Verlangen brennt und die von keiner Furcht gequält werden! Für die Heiligen ist es aber der beste Ansporn zur Anrufung Gottes, wenn die Not sie auf die Folter spannt und sie dadurch von höchster Unruhe gemartert und fast entmutigt werden, bis der Glaube ihnen zur rechten Zeit zu Hilfe kommt! Denn mitten in solchen Ängsten leuchtet ihnen Gottes Güte hell auf, und nun seufzen sie zwar, ermüdet unter der Last ihrer gegenwärtigen Nöte, werden auch von der Furcht vor noch größeren bedrückt und gequält, aber sie trauen auf Gottes Güte, und so wird ihnen in der Schwere ihres Duldens Erleichterung und Trost zuteil, und sie hoffen auf das Ende und auf ihre Befreiung. So soll sich das Gebet des Frommen aus einer doppelten Regung erheben, und es muß zweierlei in sich tragen und darstellen: der Mensch seufzt unter seinen gegenwärtigen Nöten, lebt auch in Angst und Furcht vor weiteren, aber dennoch nimmt er zugleich seine Zuflucht zu Gott und zweifelt nicht im mindesten daran, daß er bereit ist, ihm seine helfende Hand zuzustrecken. Es ist nämlich gar nicht zu sagen, wie sehr Gott durch unser mangelndes vertrauen erzürnt wird, wenn wir also von ihm eine Wohltat begehren, die wir tatsächlich gar nicht erwarten.

Dem Wesen des Gebets ist daher nichts mehr angemessen, als daß ihm die Regel vorgeschrieben und festgesetzt wird, nicht etwa unbedacht vorzustürmen, sondern dem Glauben zu folgen, der vorangeht. Zu diesem Grundsatz ruft Christus uns alle, wenn er spricht: „Darum sage ich euch: alles, was ihr bittet ..., glaubet nur, daß ihr\'s empfangen werdet, so wird\'s euch werden!“ (Mark. 11,24). Auch an anderer Stelle bestätigt er das: „Alles, was ihr bittet im Gebet, so ihr\'s glaubet ...“ (Matth. 21,22). Damit stimmt auch ein Wort des Jakobus überein: „So aber jemand unter euch Weisheit mangelt, der bitte Gott, der da gibt einfältig jedermann, und rücket\'s niemand auf (...). Er bitte aber im Glauben und zweifle nicht ...“ (Jak. 1,5f.). Hier stellt er Glauben und Zweifel in Gegensatz zueinander und bringt die Kraft des Glaubens treffend zum Ausdruck. Nicht weniger bemerkenswert ist auch das Weitere: Menschen, die Gott in Ungewißheit und Zweifel anrufen, und die in ihrem Herzen nicht sicher sind, ob sie erhört werden oder nicht, werden mit ihrem Gebet nichts erreichen (Vers 8). Solche Leute vergleicht er auch mit der „Meereswoge“, „die vom Winde getrieben und gewebt wird“ (Vers 6). Deshalb bezeichnet er auch anderwärts das rechte Gebet als „Gebet des Glaubens“ (Jak. 5,15). Auch versichert Gott ja immer wieder, er werde jedem einzelnen geben nach seinem Glauben, und damit gibt er uns zu verstehen, daß man ohne den Glauben nichts erlangen kann: Kurz, was uns auf unser Gebet hin gewährt wird, das erringt tatsächlich der Glaube. Das ist der Sinn eines berühmten Pauluswortes, das von törichten Menschen gar zu wenig beachtet wird: „Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? ... So kommt der Glaube aus

 

dem Hören, das Hören aber aus dem Wort Gottes!“ (Röm. 10,14.17; nicht durch, weg, Luthertext). Bei dieser stufenweisen Ableitung führt er den Ausgangspunkt des Gebets auf den Glauben zurück, und damit behauptet er offen, daß Gott nur von denen aufrichtig angerufen werden kann, denen durch die Predigt des Evangeliums seine Freundlichkeit und Freigebigkeit bekannt geworden, ja vertraut vor Augen gestellt ist!

 

 

 

III,20,12

Diese Notwendigkeit bedenken unsere (römischen) Widersacher nun in keiner Weise. Wenn wir den Gläubigen gebieten, in getroster Zuversicht ihres Herzens daran festzuhalten, daß Gott ihnen gnädig und wohlwollend gegenüberstehe, so meinen sie, wir sprächen das denkbar Widersinnigste aus. Hätten sie aber irgendwelche Erfahrung im wahren Beten, so würden sie gleich einsehen, daß man Gott ohne solch sicheres Empfinden des göttlichen Wohlwollens gar nicht recht anrufen kann. Es kann nur der die Kraft des Glaubens recht verstehen, der sie aus eigener Erfahrung an seinem Herzen empfindet; - was soll man aber dann in der Auseinandersetzung mit solchen Menschen erreichen, die offen an den Tag legen, daß sie nie etwas anderes gehabt haben als eine eitle Einbildung? Was diese Gewißheit, die wir fordern, für einen Wert hat und wie notwendig sie ist, das lernt man vor allem aus der Anrufung Gottes selbst, und wer das nicht sieht, der zeigt, daß er ein recht stumpfes Gewissen hat. Wir wollen also solche blinden Menschen übergehen und uns fest an das Wort des Paulus anklammern, nach dem Gott nur von denen angerufen werden kann, die seine Barmherzigkeit aus dem Evangelium erkannt haben und nun ganz gewiß sind, daß sie auch für sie bereit ist. Wie würde denn solch ein Gebet aussehen (wie es die Widersacher für allein möglich halten)? „O Herr, ich bin zwar im Zweifel, ob du mich erhören willst. Aber die Angst drückt mich, und so nehme ich meine Zuflucht zu dir, damit du mir hilfst, wenn ich dessen würdig bin!“ So waren alle die Heiligen, deren Gebete wir in der Schrift lesen, nicht gewohnt zu beten! So zu beten lehrt uns auch der Heilige Geist nicht, der uns durch den Mund des Apostels gebietet: „Darum lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenftuhl, auf daß wir ... Gnade finden ...“ (Hebr. 4,16), und der uns an anderer Stelle lehrt: „... wir haben Freudigkeit und Zugang in aller Zuversicht durch den Glauben an Christus“ (Eph. 3,12). Diese Gewißheit also, daß wir empfangen, was wir erbitten, die uns der Herr mit eigenem Wort aufträgt und die uns alle Heiligen durch ihr Beispiel lehren, gilt es mit beiden Händen festzuhalten, wenn wir mit Frucht beten wollen! Nur ein solches Gebet ist Gott wohlgefällig, das aus solcher - wenn ich so sagen darf - Vermessenheit des Glaubens entspringt und auf die unerschütterliche Gewißheit der Hoffnung gegründet ist! Paulus hätte sich (an der obigen Stelle Eph. 3,12) auch damit begnügen können, einfach vom Glauben zu reden, aber er fügt nicht allein die Zuversicht hinzu, sondern rüstet sie auch mit Freudigkeit oder Kühnheit aus, um an diesem Kennzeichen einen Unterschied zwischen uns und den Ungläubigen zu machen, die gleich uns zu Gott beten, aber eben aufs Geratewohl! Aus diesem Grunde betet die ganze Kirche mit dem Psalmwort: „Deine Güte, Herr, sei über uns, wie wir auf dich hoffen!“ (Ps. 33,22). Die gleiche Bedingung stellt der Prophet auch an anderer Stelle auf: „An dem Tage, da ich rufe, werde ich des inne, daß du, Gott, mit mir bist!“ (Ps. 56,10, nicht Luthertext). Oder auch: „Frühe will ich mich zu dir schicken und aufmerken“ (Ps. 5,4). Aus diesen Worten nämlich ergibt sich für uns: das Gebet ist ein vergeblicher Streich in die Luft, wenn nicht mit ihm die Hoffnung verbunden ist, in der wir gleichsam wie von einer Warte aus ruhig nach Gott ausschauen. Damit steht auch die Reihenfolge einer Ermahnung des Paulus im Einklang: er will die Gläubigen ermuntern, „mit allem Anhalten und Flehen“ allezeit im Geiste zu beten; aber zuvor gebietet er ihnen, den „Schild des Glaubens“, den „Helm des Heils“ und das „Schwert des Geistes“ zu ergreifen, „welches ist das Wort Gottes“ (Eph. 6,16.18).

 

Hier mag sich der Leser nun weiter daran erinnern, daß, wie bereits gesagt, der Glaube keineswegs ins Wanken gerät, wenn er mit der Erkenntnis unseres Elendes, unserer Armut und unserer Beflecktheit verbunden ist. Die Gläubigen mögen noch so sehr die Erfahrung machen, daß sie von der schweren Last ihrer Missetaten bedrückt werden und sich unter ihr abmühen, sie mögen empfinden, wie ihnen nicht nur alles abgeht, was ihnen bei Gott Gunst verschaffen könnte, sondern wie sie noch mit viel Schuld beladen sind, die Gott für sie mit Recht furchterregend macht - so hören sie dennoch nicht auf, sich vor ihn zu stellen, und solches Empfinden schreckt sie nicht davon ab, sich zu ihm zu wenden; es gibt eben keinen anderen Zugang zu ihm! Denn das Gebet ist nicht dazu eingesetzt, daß wir uns damit anmaßend vor Gott erheben oder etwas von dem Unseren hoch preisen, sondern dazu, daß wir unsere Schuld bekennen und unseren Jammer vor ihm beweinen; so wie Kinder bei ihren Eltern ihre Nöte vertraulich niederlegen dürfen. Ja, in der unermeßlichen Fülle unserer Nöte müssen vielmehr lauter Ansporne und Stachel stecken, die uns zum Beten antreiben, wie es auch der Prophet an seinem Beispiel zeigt: „Heile meine Seele; denn ich habe an dir gesündigt!“ (Ps. 41,5). Ich gebe zwar zu, daß diese Stachel tödliche Stiche austeilen würden, wenn Gott uns nicht zu Hilfe käme; aber unser lieber Vater hat ja in seiner unvergleichlichen Güte dafür eine wirksame Arznei gegeben, mit der er alle Wirrnis stillt, alle Sorgen lindert, aller Furcht ein Ende macht, uns freundlich zu sich lockt, ja, alle Bedenken und erst recht alle Hemmnisse wegräumt und uns einen gangbaren Weg bahnt!

 

 

 

III,20,13

 

Zunächst: er gebietet uns, zu beten, und beschuldigt uns schon durch solche Weisung gottloser Halsstarrigkeit, wenn wir nicht gehorsam sind. Ein klareres Gebot hätte gar nicht gegeben werden können, als das im 50. Psalm: „Rufe mich an in der Not!“ (Ps. 50,15). Keine unter den Pflichten der Frömmigkeit empfiehlt uns die Schrift häufiger als das Beten, und deshalb brauche ich mich hier nicht lange aufzuhalten. „Bittet“, sagt unser Meister, „so wird euch gegeben, klopfet an, so wird euch aufgetan!“ (Matth. 7,7). Diesem Gebot fügt er freilich auch eine Verheißung bei, wie das auch nötig ist; denn es geben wohl alle Menschen zu, man müsse dem Gebot gehorchen; aber es würde doch ein großer Teil vor Gottes Rufen fliehen, wenn er nicht die Verheißung gäbe, er wolle uns erhören und uns freundlich entgegenkommen.

Haben wir dies Doppelte (Gebot - Verheißung) festgestellt, so ist es zugleich sicher, daß alle, die Ausflüchte suchen, um nicht geradewegs zu Gott zu kommen, nicht nur widerspenstig und ungehorsam, sondern auch ihres Unglaubens überführt sind, weil sie ja den Verheißungen kein Vertrauen schenken! Das ist besonders zu bemerken, weil die Heuchler unter dem Deckmantel der Demut und Bescheidenheit Gottes Gebot hoffärtig verachten und zugleich seiner freundlichen Einladung den Glauben verweigern, ja, ihn damit des vornehmsten Stücks seiner Verehrung berauben. Denn er verwirft (in dem oben genannten Psalm 50, Vers 7-13) die Opfer, in denen dazumal alle Heiligkeit zu liegen schien, erklärt aber zugleich, daß bei ihm dies besonders und vor allem anderen als köstlich gelte, daß man ihn am Tage der Not anrufe! (Ps. 50,15). Wo er also fordert, was ihm zukommt, und wo er uns zu freudigem Gehorsam ermuntert, da gibt es für unseren Zweifel keinen noch so glänzenden Vorwand, der uns entschuldigen könnte. Immer wieder begegnen uns in der Schrift Zeugnisse, in denen uns die Anrufung Gottes geboten wird, und die sind alle wie Paniere vor unseren Augen aufgepflanzt, um uns Zuversicht einzuflößen! Es wäre allerdings verwegen, wenn wir vor Gottes Angesicht dringen wollten, ohne daß er uns mit seinem Ruf zuvorgekommen wäre. Darum öffnet er uns mit seinem Wort den Weg: „Ich will sagen: Es ist mein Volk, und sie werden sagen: Herr, mein Gott!“ (Sach. 13,9). Da sehen wir, wie er seinen Dienern vorauf-

 

geht und will, daß sie ihm nachfolgen, und wie deshalb nicht zu befürchten ist, dies Lied, das er ihnen selbst vorsingt, könnte nicht zart genug sein.

 

vor allem soll uns jener herrliche Lobestitel Gottes in den Sinn kommen: „Du, Gott, erhörst Gebet, darum kommt alles Fleisch zu dir!“ (Ps. 65,3). Wenn wir darauf vertrauen, dann werden wir alle Hindernisse ohne Mühe überwinden! Denn was kann lieblicher und holdseliger sein, als daß Gott diesen Titel (Erhörer des Gebets) führt, um uns desto gewisser zu machen, daß nichts seiner Natur mehr gemäß ist, als das Gebet derer zu erhören, die ihn anrufen? Daraus schließt der Prophet, daß die Tür nicht etwa bloß wenigen offensteht, sondern allen Sterblichen, weil er sich eben auch an alle wendet, indem er spricht: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen!“ (Ps. 50,15). Nach dieser Regel beruft sich auch David auf die ihm gegebene Verheißung, um zu erlangen, was er erbittet: „Du, Gott, hast in das Ohr deines Knechts solche Offenbarung gegeben. Darum hat dein Knecht sein Herz gefunden, daß er dies Gebet zu dir betet“ (2. Sam. 7,27; Anfang nicht Luthertext). Daraus entnehmen wir, daß er furchtsam gewesen wäre, wenn ihn die Verheißung nicht aufgerichtet hätte. So rüstet er sich auch an anderer Stelle mit der allgemeinen Lehre: „Er tut, was die Gottesfürchtigen begehren“ (Ps. 145,19). Ja, man kann in den Psalmen beobachten, wie da gewissermaßen unter Abbruch des Zusammenhangs der Gebete bald zu Gottes Macht, bald zu seiner Güte, bald auch zur Unverbrüchlichkeit seiner Verheißungen übergegangen wird. Es könnte den Anschein erwecken, als ob David durch die zusammenhanglose Einfügung derartiger Sätze die Geschlossenheit seiner Gebete verstümmelte; aber die Gläubigen wissen aus Übung und Erfahrung, daß die Hitze (des Gebets) sich abkühlt, wenn sie nicht neuen Zunder anlegen: deshalb ist also auch beim Beten die Betrachtung des Wesens Gottes und seines Wortes nicht überflüssig. So sollen auch wir uns nicht verdrießen lassen, nach dem Beispiel des David solche Stücke einzufügen, die unser verschmachtendes Herz mit neuer Kraft erfrischen.

 

 

 

III,20,14

Es ist nun seltsam, daß uns solche Süßigkeit der Verheißungen bloß oberflächlich oder auch fast gar nicht zu Herzen geht, so daß ein gut Teil der Menschen auf allerlei Abwegen herumirrt und lieber die „lebendige Quelle verläßt“ und sich „löcherige Brunnen macht“, als Gottes Freigebigkeit anzunehmen, die ihm von selbst dargeboten wird! (vgl. Jer. 2,13). Und dabei sagt Salomo: „Der Name des Herrn ist ein festes Schloß; der Gerechte läuft dahin und wird beschirmt“ (Spr. 18,10). Joel gibt uns zunächst eine Weissagung über die furchtbare Verwüstung, die bevorstand, und läßt dann den denkwürdigen Spruch folgen: „Wer aber den Namen des Herrn anruft, der wird selig werden“ (Joel 3,5). Wir wissen aber, daß sich dieser Spruch im eigentlichen Sinne auf den Lauf des Evangeliums bezieht (Apg. 2,21). Und doch läßt sich dadurch kaum unter Hundert einer bewegen, wirklich vor Gott zu treten. Er ruft selbst durch den Mund des Jesaja aus: „Ihr werdet mich anrufen, und ich will euch erhören; ja, ehe ihr ruft, will ich euch antworten!“ (Jes. 65,24; nicht Luthertext). Eben dieser Ehre würdigt er auch an anderer Stelle die ganze Kirche insgemein, wie sie ja eben allen Gliedern Christi zukommt: „Er ruft mich an, so will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not; ich will ihn herausreißen ...“ (Ps. 91,15)! Aber ich habe, wie bereits gesagt, nicht die Absicht, hier alle Stellen aufzuzählen. Ich will nur einige besonders herrliche auswählen, an denen wir einen Geschmack davon bekommen können, wie freundlich uns Gott zu sich lockt - und in was für harte Fesseln unsere Undankbarkeit verstrickt ist, wenn wir in unserer Trägheit mitten unter soviel kräftigen Anspornen noch immer zögern! Deshalb sollen in unseren Ohren stets und ständig solche Worte widerklingen, wie dies: „Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn in Aufrichtigkeit anrufen“ (Ps. 145,18; nicht ganz Luthertext). Oder auch wie jene Worte, die wir aus Jesaja und Joel anführten, in denen doch Gott erklärt, daß er ganz darauf aus ist, Gebete zu erhören,

 

und daß es ihn wie der Duft eines ihm wohlgefälligen Opfers erfreut, wenn wir unsere Sorgen auf ihn werfen. Solche einzigartige Frucht gewinnen wir aus den Verheißungen Gottes, wofern wir, ohne zu zweifeln und zu zagen, unsere Gebete vorbringen, ja, uns im Gegenteil auf das Wort dessen verlassen, dessen Majestät uns sonst erschrecken würde, und es wagen, ihn als unseren Vater anzurufen, wo er sich doch selbst herbeiläßt, uns diesen köstlichen Namen in den Mund zu legen!

 

Sind uns solche Lockungen bereitet, so sollen wir schließlich auch wissen, daß sie uns einen genügsamen Anlaß geben, erhört zu werden; denn unsere Bitten stützen sich auf keinerlei Verdienst, sondern ihre ganze Würdigkeit, alle Hoffnung auf Gewährung ist auf Gottes Verheißungen gegründet und hängt von ihnen ab; sie bedarf also nicht sonstiger Stützen, und sie hat es nicht nötig, in der Runde dahin und dorthin emporzuschauen! Deshalb sollen wir in unserem Herzen daran festhalten: wenn wir uns auch nicht durch die gleiche Heiligkeit auszeichnen, wie sie an den heiligen Vätern, den Propheten und Aposteln gerühmt wird, so haben wir doch mit ihnen zusammen das gleiche Gebot, zu beten, und den gleichen Glauben, und deshalb sind wir, wenn wir uns auf Gottes Wort stützen, in betreff dieses Anrechts ihre Mitgenossen. Denn Gott versichert uns ja, wie wir bereits sahen, daß er allen zugänglich und gnädig sein werde, und damit gibt er auch den Allerelendesten die Hoffnung, daß sie erlangen sollen, um was sie bitten. So müssen wir auf die allgemeinen Wendungen merken, die keinen, - wie man gewöhnlich sagt: - vom ersten bis zum letzten, ausschließen, wofern nur Lauterkeit des Herzens, Mißfallen an uns selbst, Demut und Glaube da ist, damit unsere Heuchelei nicht Gottes Namen durch unwahre Anbetung entheilige. So wird unser lieber Vater die Menschen nicht von sich stoßen, die er nicht nur ermuntert, zu ihm zu kommen, sondern die er auch auf allerlei Weise lockt! Daraus ergibt sich die Art, wie David an der vorhin angeführten Stelle betet: „Herr, du hast es deinem Knecht verheißen;... darum hat dein Knecht heute Mut gefaßt und gefunden, was er vor dir beten soll. Nun, Herr Gott, du bist Gott, und deine Worte werden Wahrheit sein. Du hast zu deinem Knecht von solchen Wohltaten geredet, nun hebe auch an und tu sie ...“ (2. Sam. 7,27-29; zumeist nicht Luthertext). Ähnlich finden wir es auch an anderer Stelle: „Gewähre es deinem Knecht nach deiner Zusage!“ (Ps. 119,76; nicht Luthertext, eigentlich nur Inhaltsangabe). Das gleiche gilt auch von allen Israeliten gemeinsam: sooft sie sich durch die Erinnerung an den Bund stärken, machen sie damit genugsam deutlich, daß man nicht furchtsam beten soll, wo es doch Gott geboten hat, zu beten. Darin sind sie dem Beispiel ihrer Väter gefolgt, besonders dem des Jakob: er bekennt, daß er „zu gering“ ist „aller Barmherzigkeit“, die er von der Hand Gottes empfangen hat (Gen. 32,11); aber dann sagt er doch, daß er ermutigt werde, noch Größeres zu begehren, weil Gott verheißen habe, es zu tun! (vgl. Gen. 32,12ff.).

 

Mit was für Scheinfarben es die Ungläubigen nun auch beschönigen wollen, wenn sie ihre Zuflucht nicht zu Gott nehmen, sooft die Not sie drängt, wenn sie ihn nicht suchen und seine Hilfe nicht erflehen, - sie rauben ihm tatsächlich doch die ihm rechtmäßig gebührende Ehre, genau so, als wenn sie sich neue Götter oder Götzen machten; denn auf solche Weise leugnen sie es, daß Gott für sie der Geber aller Güter ist! Auf der anderen Seite gibt es nichts, das die Frommen durchgreifender von jedem Bedenken frei machte, als wenn sie sich mit der Erwägung wappnen, daß es für sie keinen Grund gibt, sich von irgendeinem Hemmnis vom Gehorsam gegen die Weisung Gottes abbringen zu lassen, der doch kundtut, daß ihm nichts so wohlgefällig ist wie der Gehorsam!

Hieraus wird nun wiederum das, was ich oben ausführte, zu noch größerer Klarheit erhoben: mit Furcht, Ehrerbietung und Bekümmernis kann sich durchaus ein unerschrockener Mut zum Beten vereinen, und es ist auch nicht widersinnig, daß Gott die Darniedergeworfenen aufrichtet. Auf diese Weise kommen Rede-

 

wendungen, die sich dem Anschein nach widersprechen, trefflich überein. So sagen Jeremia und Daniel, sie „würfen“ ihre Gebete vor Gott „nieder“ (Jer. 42,9; Dan. 9,18 nicht Luchertext). Und Jeremia sagt an anderer Stelle: „Es falle unser Gebet vor dem Angesicht des Herrn nieder, damit er sich der übriggebliebenen seines Volkes erbarme!“ (Jer. 42,2; nicht ganz Luthertext). Auf der anderen Seite heißt es von den Gläubigen öfters, daß sie ihre Gebete „erheben“. So drückt es Hiskia aus, als er den Propheten bittet, er möchte die Aufgabe auf sich nehmen, für das Volk fürbittend einzutreten (2. Kön. 19,4). Und David begehrt, sein Gebet möchte „aufsteigen“ wie ein Brandopfer! (Ps. 141,2; nicht Luthertext). Denn diese Männer sind zwar der väterlichen Güte Gottes gewiß und begeben sich freudig in den Schutz seiner Treue, rufen auch ohne Zagen die Hilfe an, die er ihnen aus freien Stücken verheißen hat; aber es ist doch nicht so, daß sie etwa von leichtsinniger Sicherheit erhoben würden, als ob sie alle Scheu von sich abgeworfen hätten, sondern sie steigen auf den Stufen der Verheißungen empor und verharren dabei doch demütig bittend bei der Selbsterniedrigung!

 

 

 

III,20,15

 

Hiergegen erhebt sich nun mehr als eine Frage. Die Schrift berichtet uns nämlich, daß Gott auch einigen Gebeten stattgegeben hat, die doch aus einem keineswegs stillen und wohlbereiteten Herzen kamen. Es geschah zwar aus gerechter Ursache, als Jotham den Bewohnern von Sichem die Strafe anwünschte, die dann auch später über sie kam (Ri. 9,20); aber er hatte sich doch von der Glut des Zorns und der Rache dazu entflammen lassen; wenn nun Gott seinen Fluchworten Folge leistete, so ergibt sich der Anschein, als billige er solch ungeordnete Triebe. Eine ebensolche Hitzigkeit hatte auch den Simson ergriffen, wenn er sagte: „Stärke mich doch, Gott, daß ich mich einmal räche an den Unbeschnittenen.“ (Ri. 16,28; nicht ganz Luthertext). Gewiß ist hier auch etwas guter Eifer mit untermischt; aber die Oberhand hat doch eine hitzige und deshalb böse Rachgier. Trotzdem gewährt Gott seine Bitte! Man scheint daraus doch schließen zu können, daß das Gebet auch dann seine Wirkung tue, wenn es nicht nach der Vorschrift des Wortes gestaltet ist.

 

Ich entgegne: Durch solche einzelnen Beispiele wird die ständige Regel nicht aufgehoben. Auch sind einzelnen Menschen besondere Regungen zuteil geworden, die nun zur Folge haben, daß es um sie anders bestellt ist als um gewöhnliche Leute. Wir müssen uns doch die Antwort merken, die Christus seinen Jüngern gab, als sie das Beispiel des Elia unbedacht nachmachen wollten: „Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?“ (Luk. 9,55).

Übrigens müssen wir noch weiter gehen: Tatsächlich hat Gott nicht immer an den Bitten Gefallen, denen er Gewährung schenkt! Es dient vielmehr zum Vorbild, daß das, was die Schrift lehrt, durch klare Zeugnisse offenbar wird, nämlich dies, daß er den Elenden zu Hilfe kommt und die Seufzer derer erhört, die zu Unrecht angefochten werden und seinen Beistand erflehen; wenn also die Klagen der Elenden zu ihm emporsteigen, so bringt er sein Gericht zur Ausführung - mögen auch jene Klagen nicht wert sein, das Geringste zu erlangen! Wie oft hat er doch die Gottlosen für ihr Wüten, ihre Räuberei, ihre Gewalttätigkeit, ihre Willkür und andere Missetaten bestraft, ihren Mutwillen und ihre Wut gedämpft, ihre tyrannische Macht umgestoßen und dadurch bezeugt, daß er den unrecht Bedrückten Hilfe bringt - selbst dann, wenn sie nur zu einer unbekannten Gottheit gebetet und deshalb bloß die Luft erschüttert haben! Ein einziger Psalm gibt uns die völlig klare Lehre, daß auch solche Bitten nicht wirkungslos bleiben, die tatsächlich nicht aus dem Glauben zum Himmel dringen: Psalm 107! Da werden all solche Bitten aufgezählt, die die Not aus natürlichem Empfinden heraus bei den Ungläubigen wie bei den Frommen herauspreßt; und es wird uns auf Grund des Ausgangs gezeigt, wie Gott solche Bitten gnädig annimmt! Will er nun etwa durch diese Freigebigkeit bezeugen, daß ihm solche Gebete wohlgefällig sind? Nein, er

 

will dadurch, daß auch den Ungläubigen ihre Bitten nicht abgeschlagen werden, seine Barmherzigkeit groß und herrlich machen! Er will zugleich seine rechten Diener dadurch noch kräftiger zum Beten anspornen, daß sie ja sehen, wie selbst unheilige Klagen zuweilen nicht ohne Erfolg bleiben. Es besteht aber trotzdem kein Grund, weshalb die Gläubigen von der ihnen von Gott auferlegten Regel abweichen oder auf die Ungläubigen neidisch werden sollten, als ob diese einen großen Gewinn erlangt hätten, indem sie bekommen, was sie wollten. In dieser Weise hat sich Gott, wie wir sahen, auch durch die erheuchelte Buße des Ahab bewegen lassen (1. Kön. 21,29). er wollte an diesem Beispiel zeigen, wie gern er seine Auserwählten erhören will, wenn man eine wahre Bekehrung an den Tag legt, um ihn zu versöhnen! Deshalb zürnt er auch im 106. Psalm über die Juden, weil sie so oft erfahren haben, daß er ihren Bitten bereitwillig sein Ohr leiht, und doch gleich nachher wieder zur Halsstarrigkeit ihres Wesens zurückgekehrt sind! (Ps. 106,43). Auch aus der Geschichte der Richter wird das ganz deutlich: sooft das Volk (zu Gott) weinte, wurde es, wenn auch seine Tränen trügerisch waren, dennoch aus der Hand seiner Feinde herausgerissen! Denn wie Gott seine Sonne ohne Unterschied über Guten und Bösen aufgehen läßt (Matth. 5,45), so verachtet er auch das Weinen derer nicht, die eine gerechte Sache haben und deren Elend der Hilfe wert ist! Indessen schafft er ihnen durch seine Erhörung nicht etwa das Heil, ebensowenig wie denen, die er mit Nahrung versorgt, obwohl sie Verächter seiner Güte sind.

 

Eine schwierigere Frage aber scheint sich aus dem Verhalten des Abraham und des Samuel zu ergeben: Abraham betete ohne jede Unterweisung durch ein Wort Gottes für die Einwohner von Sodom (Gen. 18,23), und Samuel tat gar gegen Gottes ausdrückliches Verbot Fürbitte für Saul! (Sam. 15,11). Ähnlich war es auch mit Jeremia, der den Untergang der Stadt mit seinem Gebet abzuwenden suchte (Jer. 32,16ff.). Diesen Männern wurde ihre Bitte abgeschlagen - und doch würde es hart erscheinen, ihnen den Glauben abzusprechen! Bescheidenen Lesern wird aber, so hoffe ich, diese Lösung genügen: jene Männer stützten sich auf den allgemeinen Grundsatz, nach dem Gott befiehlt, auch Unwürdigen Barmherzigkeit zu erzeigen; sie waren also nicht ganz ohne Glauben, obwohl sie in diesem Fall von ihrer Meinung getäuscht wurden! Sehr überlegt spricht das Augustin an einer Stelle aus: „Wie können denn die Heiligen im Glauben beten und doch von Gott etwas gegen seinen Ratschluß begehren? Sie beten nach seinem Willen, aber nicht nach jenem verborgenen, unabänderlichen, sondern nach dem, den er ihnen eingegeben hat, um sie nach seiner weisen Bestimmung auf andere Weise zu erhören!“ (Vom Gottesstaat, 22,2). So ist es richtig: er richtet nach seinem unerforschlichen Ratschluß den Ausgang der Ereignisse so ein, daß die Gebete der Heiligen, in denen Glaube und Irrtum sich miteinander verweben, doch nicht wirkungslos sind. Doch soll dies ebensowenig dazu dienen, uns zur Nachahmung (solchen Verhaltens) zu ermuntern, als es die Heiligen selbst entschuldigt; denn ich leugne nicht, daß diese über das rechte Maß hinausgegangen sind. Wo also keine sichere Verheißung besteht, da müssen wir Gott bedingt bitten. Hierher gehört das Gebet Davids: „Wache auf zu dem Gericht, das du verordnet hast“ (Ps. 7,7; nicht Luthertext); David erinnert nämlich daran, daß er durch ein besonderes Gotteswort unterwiesen war, solche zeitliche Wohltat zu erbitten.

 

 

 

III,20,16

 

Es ist aber auch noch vonnöten, auf folgendes zu achten: was ich über die vier Regeln zum Beten ausgeführt habe, wird nicht mit solcher Strenge gefordert, daß Gott solche Gebete verwürfe, in denen er nicht vollkommenen Glauben oder vollkommene Buße und zugleich heißes Begehren wie recht geordnete Bitten vorfindet!

 

(a) Wir sagten, das Gebet sei zwar eine vertraute Unterredung der Frommen mit Gott, aber wir müßten dabei doch Ehrerbietigkeit und Bescheidenheit wahren, um nicht jederlei Wünschen die Zügel schießen zu lassen, und andererseits nur soviel zu begehren, wie Gott zuläßt; auch müßten wir, damit Gottes Majestät bei uns nicht in Verachtung gerate, unsere Sinne aufwärts lenken, um sie rein und zuchtvoll zu verehren.

 

Das hat noch niemand mit der schuldigen Lauterkeit getan. Um von den gewöhnlichen Leuten zu schweigen - wieviel Klagen Davids gehen doch offenkundig über das Maß hinaus! Gewiß wollte er nicht absichtlich mit Gott hadern, wollte auch seinen Gerichten nicht Widerstand leisten. Nein, er ermattete eben vor Schwachheit und fand keinen besseren Trost, als seinen ganzen Schmerz in Gottes Schoß niederzuwerfen. Ja, selbst unser Stammeln trägt Gott, und er verzeiht uns unsere Unwissenheit, wenn uns etwas unbedacht entfährt: ohne diese göttliche Nachsicht gäbe es also wahrhaftig keine Freimütigkeit zum Beten! Obwohl David ferner den Willen hatte, sich Gottes Ratschluß ganz zu unterwerfen, und obwohl er beim Beten eine Geduld aufbrachte, die ebenso groß war wie sein Begehren, etwas zu erlangen, so brachen doch zuweilen unruhige Gedanken in ihm auf, ja, sie quollen hervor - und sie waren von der ersten Regel, die wir aufstellten, nicht wenig entfernt! Vor allem aus dem Schluß des 39. Psalms läßt sich erkennen, welch heftiger Schmerz den heiligen Mann ergriffen hatte, so daß er sich kein Maß setzen konnte. „Laß ab von mir“, spricht er, „ehe denn ich hinfahre und nicht mehr sei.“ (Ps. 39,14; nicht Luthertext). Man könnte sagen: das ist ja ein verzweifelter Mann, der nichts anderes begehrt, als daß Gottes Hand von ihm läßt und er in seinem Unglück verkomme! Nicht, als ob er sich vorsätzlich in solche Maßlosigkeit hineinstürzte! Er will auch nicht, daß Gott von ihm weiche - wie das Gottlose zu tun pflegen. Nein, er klagt nur, daß er Gottes Zorn nicht mehr aushalten kann. In solchen Anfechtungen entfahren den Heiligen öfters Gebetswünsche, die sich nicht recht nach der Regel des Wortes Gottes richten und in denen sie nicht genug bedenken, was recht ist und Segen bringt. Die Gebete, die mit solchen Gebrechen behaftet sind, verdienen allerdings sämtlich, verworfen zu werden - aber wenn die Heiligen nur darüber seufzen, wenn sie sich selber züchtigen und gleich in sich gehen, so verzeiht ihnen Gott!

 

(b) So verstoßen sie auch oft gegen die zweite Regel. Denn sie müssen oft mit ihrem kalten Sinn kämpfen, auch spornt sie ihre Armut und ihr Jammer nicht genug zu ernstlichem Beten an. Oft kommt es auch vor, daß ihre Sinne sich zerstreuen und fast verlieren. Es bedarf also auch in diesem Stück der Vergebung, damit unsere matten, zerfetzten, unterbrochenen, unsteten Gebete nicht abgewiesen werden! Gott hat es in unseren menschlichen Sinn von Natur eingesenkt, daß die Gebete nur dann recht sind, wenn das Herz sich emporhebt. Daher kommt, wie wir bereits darlegten, die Zeremonie des Aufhebens der Hände, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern in Übung stand und auch heute noch im Gebrauch ist. Aber wo ist unter den vielen, die ihre Hände aufheben, einmal einer, der sich nicht seiner Lässigkeit bewußt wäre, weil sein Herz an der Erde klebt;

(c) Was die Bitte um Vergebung der Sünden anbelangt, so ist unter den Gläubigen gewiß keiner, der dies entscheidende Stück beiseite ließe; aber alle, die wahrhaft im Beten geübt sind, empfinden doch, daß sie kaum den zehnten Teil jenes Opfers darbringen, von dem David spricht: „Die Opfer, die Gott gefallen, sind ein geängsteter Geist; ein geängstet und zerschlagen Herz wirst du, Gott, nicht verachten!“ (Ps. 51,19). Deshalb müssen sie hier stets um eine zwiefache Vergebung bitten, einerseits sind sie sich vieler Missetaten bewußt und werden doch durch deren Empfindung nicht so stark gepackt, daß sie sich nach Gebühr selbst mißfielen; sofern es ihnen aber andererseits geschenkt ist, in der Buße und der Furcht Gottes fortzuschreiten, werden sie von der berechtigten Traurigkeit

 

zu Boden geworfen, daß sie Gott erzürnt haben, und sie bitten den Richter, von seiner Vergeltung abzulassen.

 

(d) vor allem aber verdirbt die Gebrechlichkeit des Glaubens und die Unvollkommenheit der Gläubigen die Gebete, sofern ihnen nicht Gottes Nachsicht zu Hilfe kommt. Es ist aber auch nicht verwunderlich, daß Gott solchen Mangel verzeiht; denn er übt die Seinen oftmals mit derart harten Proben, als ob er ihren Glauben mit Absicht auslöschen wollte! Die härteste Versuchung liegt dann vor, wenn die Gläubigen ausrufen müssen: „Wie lange willst du zürnen bei dem Gebet deines Knechtes?“ (Ps. 80,5; nicht ganz Luthertext). Es ist dann so, als ob gerade die Gebete Gott erzürnten. So ist es auch, wenn Jeremia sagt: „Gott hat sich die Ohren verstopft vor meinem Gebet“ (Klagel. 3,8; nicht Luthertext); ohne Zweifel erschüttert ihn hier eine heftige Fassungslosigkeit. So begegnen uns in der Schrift unzählige Beispiele, aus denen sich ergibt, daß der Glaube der Heiligen oft mit Zweifeln untermischt ist und von ihnen umgetrieben wird, so daß sie in ihrem Glauben und Hoffen doch allerlei Unglauben an den Tag legen. Weil sie also nicht soweit kommen, wie es zu wünschen wäre, so müssen sie sich um so kräftiger bemühen, ihre Gebrechen zu bessern und von Tag zu Tag näher an die vollkommene Regel des Betens heranzukommen, unterdessen aber auch fühlen, in was für eine furchtbar tiefe Not sie versunken sind, da sie sich gerade aus der Arznei immer neue Krankheiten zuziehen! Denn es gibt ja kein einziges Gebet, über das sich Gott nicht mit Recht erzürnen müßte, wenn er nicht gnädig über die Makel hinwegsähe, mit denen alle befleckt sind! Das erwähne ich nun nicht, damit die Gläubigen sich alles durchgehen lassen, sondern damit sie sich streng züchtigen und danach streben, diese Hemmnisse zu überwinden. So sehr auch der Satan alle Wege zu verrammeln sucht, um sie vom Beten abzuhalten - so sollen sie doch durchbrechen und sicher überzeugt sein: haben sie sich auch noch nicht von allen Hemmnissen freigemacht, so wird Gott doch an ihren Versuchen Wohlgefallen haben und ihre Gebete gnädig annehmen, wenn sie sich nur da, wo sie nicht gleich zum Ziel gelangen, anstrengen und Mühe geben!

 

 

 

III,20,17

Weil aber keiner unter den Menschen würdig ist, sich vor Gott hinzustellen und vor sein Angesicht zu treten, so hat uns der himmlische Vater selber, um uns von der Scham und Angst zu erlösen, die unser aller Herzen entmutigen müßte, seinen Sohn, Jesus Christus, unseren Herrn geschenkt. Er soll nun bei ihm unser Fürsprecher (1. Joh. 2,1) und unser Mittler sein (1. Tim. 2,5), unter dessen Leitung wir unbesorgt zu ihm dringen sollen! Dabei dürfen wir darauf vertrauen: haben wir solch einen Fürsprecher, so wird uns nichts, was wir in seinem Namen bitten, verweigert werden, gleich wie ihm vom Vater nichts verweigert werden kann. Hierauf muß man auch alles beziehen, was wir oben über den Glauben ausgeführt haben; denn wie die Verheißung uns Christus als unseren Mittler preist, so beraubt sie sich, wenn die Hoffnung auf Erhörung nicht auf ihn gestützt ist, der Wohltat, die das Gebet für uns bedeutet. Denn sobald uns Gottes Majestät zum Bewußtsein kommt, werden wir unabwendbar tief erschrocken, und die Erkenntnis unserer eigenen Unwürdigkeit treibt uns weit weg, bis Christus ins Mittel tritt und den Thron der furchtbaren Herrlichkeit in den Thron der Gnade wandelt. So gibt uns auch der Apostel die Weisung, wir sollten es wagen, mit aller Freudigkeit zu erscheinen, „auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hilfe not sein wird“ (Hebr. 4,16). Und wie uns das Gesetz gegeben ist, Gott anzurufen, wie wir die Verheißung empfangen haben, daß die, welche zu ihm rufen, Erhörung finden sollen - so wird uns jetzt im besonderen geboten, ihn im Namen Christi anzurufen, und es wird uns die Verheißung vor Augen gestellt, daß wir erlangen werden, was wir in seinem Namen bitten. „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen“, sagt er; „bittet, so werdet ihr nehmen! ... An dem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen ... Und was

 

ihr bitten werdet ..., das will ich tun, auf daß der Vater geehrt werde in dem Sohnel“ (Joh. 16,24.26; 14,13).

 

Hieraus wird nun widerspruchslos deutlich, daß die, welche Gott in einem anderen Namen als demjenigen Christi anrufen, seinen Befehl halsstarrig übertreten und seinen Willen für nichts achten, aber auch keinerlei Verheißung haben, etwas zu erlangen. Denn - wie Paulus sagt - „alle Gottesverheißungen sind Ja in ihm und sind Amen in ihm“ (2. Kor. 1,20); das heißt: sie werden in ihm bestätigt und erfüllt.

 

 

 

III,20,18

 

Aufmerksam zu beachten ist auch der Zeitpunkt, an dem die Jünger nach Christi Geheiß zu seiner Fürbitte Zuflucht nehmen sollen: das soll nämlich geschehen, nachdem er gen Himmel gefahren ist: „An dem Tage“, sagt er, „werdet ihr bitten in meinem Namen ...“ (Joh. 16,26).

 

Es ist allerdings gewiß, daß seit Anbeginn alle, die gebetet haben, nur um des Mittlers willen erhört worden sind. Aus diesem Grunde hatte Gott im Gesetz verordnet, daß allein der (Hohe) Priester in das Allerheiligste eintreten durfte und daß er dabei auf seinen Schultern die Namen der Stämme Israels und auf seiner Brust ebensoviele köstliche Steine tragen sollte (Ex. 28,9.12.21); das Volk sollte dagegen fern im Vorhof stehen und von dort seine Gebete mit denen des Priesters vereinen. Ja, auch das Opfer diente eben dazu, daß die Gebete gültig und wirksam wären. Diese schattenhafte Zeremonie unter dem Gesetz enthielt also die Lehre, daß wir alle von Gottes Angesicht ausgeschlossen sind und daß es deshalb eines Mittlers bedarf, der in unserem Namen vor Gott erscheint, der uns auf den Schultern trägt und an seine Brust gebunden hält, damit wir in seiner Person erhört werden! Zugleich bezeugte jene Zeremonie, daß unsere Gebete, die ja, wie wir sagten, sonst nie von Schmutz frei sind, durch die Besprengung mit Blut gereinigt werden. Wir sehen auch, wie die Heiligen, wenn sie irgend etwas zu erbitten begehrten, ihre Hoffnung auf die Opfer gegründet haben, weil sie ja wußten, daß durch diese erst alle Bitten wirksam wurden. So sagt David: „Er gedenke all deines Speisopfers, und dein Brandopfer müsse vor ihm fett sein“ (Ps. 20,4). Daraus ergibt sich die Folgerung, daß Gott seit Anbeginn durch Christi Fürsprache versöhnt worden ist, um dann die Bitten der Frommen anzunehmen.

 

Weshalb hat denn Christus eine neue Stunde angegeben, zu der seine Jünger in seinem Namen zu beten anfangen sollten? Doch deshalb, weil diese Gnade heute herrlicher und deshalb bei uns auch größerer Achtung wert ist! In diesem Sinne hatte er auch zuvor gesagt: „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen. Bittet ...“ (Joh. 16,24). Nicht als ob sie von dem Amt des Mittlers noch gar nichts gewußt hätten - denn in die ersten Anfangsgründe davon waren alle Juden eingeweiht! Nein, sie hatten noch nicht klar erkannt, daß Christus durch seine Himmelfahrt ein gewisserer Beistand seiner Kirche sein würde als zuvor! Er will sie also in ihrem Schmerz über seinen Hingang mit dem Hinweis auf dessen ungewöhnliche Frucht trösten und spricht sich deshalb das Amt des Fürsprechers zu, lehrt sie auch, daß sie dieser vornehmsten Wohltat bisher entbehrt haben und daß sie diese dann genießen dürfen, wenn sie einst Gott, auf Christi Beistand gestützt, freimütiger anrufen werden! So sagt auch der Apostel, durch Christi Blut sei uns sein neuer Weg geheiligt worden (Hebr. 10,20). Um so weniger ist unsere Bosheit zu entschuldigen, wenn wir eine solch köstliche Wohltat, die doch eigens für uns bestimmt ist, nicht - wie man sagt - mit beiden Armen umfassen!

 

 

 

III,20,19

Christus ist also der einzige Weg und der einzige Zugang, durch den es uns geschenkt ist, zu Gott zu dringen; wer nun also von diesem Wege abbiegt und von diesem Zugang weicht, der hat weiter keinen Weg und keinen Zugang mehr zu Gott, und für den bleibt vor Gottes Thron nichts als Zorn, Gericht und Schrecken. Kurz, weil uns der Vater an Christus als unser Haupt und unseren Herzog

 

gewiesen hat, so versucht jeder, der von ihm irgendwie weicht oder sich auf einen Nebenweg begibt, soviel an ihm ist, dieses dem Herrn von Gott aufgeprägte Kennzeichen zu zerstören oder zu verfälschen! So ist Christus als der einzige Mittler eingesetzt, damit uns durch seine Fürsprache der Vater gnädig wird und Erhörung schenkt.

 

Freilich bleibt unterdessen auch den Heiligen ihre Fürsprache überlassen, in der sie Gott gegenseitig ihr Heil ans Herz legen. Dieser Fürsprache gedenkt auch der Apostel (1. Tim. 2,1). Aber diese Fürbitten der Heiligen hängen von jener einen ab; sie können ihr also nie und nimmer etwas entziehen! Denn sie entspringen ja aus der Regung der Liebe, in der wir uns gegenseitig aus freien Stücken als Glieder eines Leibes umfassen; aber eben deshalb beziehen sie sich auch auf die Einheit des Hauptes! Auch geschieht solche gegenseitige Fürsprache ja ebenfalls im Namen Christi, - und was bezeugt sie dann anders, als daß keinem Menschen durch irgendwelche Gebete geholfen werden kann, wenn nicht Christus für ihn eintritt? So steht Christus mit seiner Fürsprache gewiß nicht im Wege, daß wir auch in der Kirche alle füreinander in unseren Gebeten einstehen; aber ebenso muß es fest stehen bleiben, daß alle Fürbitten der ganzen Kirche auf diese eine gerichtet werden müssen: Ja, wir müssen uns gerade an dieser Stelle vor der Undankbarkeit hüten; denn Gott hat, indem er uns unsere Unwürdigkeit verzeiht, nicht nur dem einzelnen erlaubt, für sich zu beten, sondern auch den einen für den anderen als Fürbitter zugelassen! Wenn Gott nun Menschen als Fürsprecher seiner Kirche eingesetzt hat, die mit Recht abgewiesen werden würden, wenn jeder (auch nur) für sich allein betete - was ist es dann für eine Hoffart, diese Freigebigkeit Gottes zu mißbrauchen, um Christi Ehre zu verdunkeln?

 

 

 

III,20,20

Es ist nun aber reines Geschwätz, wenn die (papistischen) Klüglinge plappern, Christus sei der Mittler für die Erlösung, die Gläubigen aber für die Fürbitte. Als ob Christus nun sein zeitliches Mittlertum erfüllt und das ewige und unaufhörliche auf seine Knechte übertragen hätte! Sie behandeln ihn wahrlich freundlich, indem sie ihm bloß ein so „kleines“ Stück von seiner Ehre abschneiden! Ganz anders dagegen die Schrift! Und mit ihrer Schlichtheit sollte doch ein frommer Mensch zufrieden sein und darüber solche Betrüger beiseite lassen! Da sagt Johannes: „Und ob jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum ...“ (1. Joh. 2,1). Meint er damit etwa, Christus sei einst unser Fürsprecher gewesen? Spricht er ihm nicht vielmehr das ständige Eintreten für uns zu? Was will man dazu sagen, wenn Paulus erklärt, Christus sitze zur Rechten des Vaters und trete für uns ein? (Röm. 8,34). Oder wenn er ihn an anderer Stelle den einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen nennt? (1. Tim. 2,5). Nimmt er damit nicht auf jene Gebete (der Gläubigen) Bezug, die er vorher erwähnt? (1. Tim. 2,1). Er spricht doch zunächst davon, daß wir „für alle Menschen“ eintreten sollen - und dann setzt er zur Bekräftigung dieses Satzes bald hinzu: „Denn es ist ein Gott und ein Mittler ...“! Auch Augustin legt es nicht anders aus; er sagt: „Die Christenmenschen legen sich in ihren Gebeten gegenseitig Gott ans Herz. Der aber, für den niemand eintritt, der dagegen selbst für alle Fürsprache tut, der ist der eine und wahre Mittler. Der Apostel Paulus war gewiß unter diesem Haupte ein besonders hervorragendes Glied; aber er war doch ein Glied am Leibe Christi, und er wußte, daß der höchste und wahrhaftigste Priester der Kirche nicht etwa bildlich in das Innere der Hütte und in das Allerheiligste eingegangen ist, sondern in klarer, fester Wahrheit in das Innere des Himmels zu einer nicht nachgebildeten, sondern ewigen Heiligkeit gedrungen ist; und deshalb befiehlt er auch sich selbst den Gebeten der Gläubigen! (Röm. 15,30; Eph. 6,19; Kol. 4,3). Er macht sich auch nicht zum Mittler zwischen dem Volk und Gott, sondern er begehrt, daß alle Glieder am Leibe Christi füreinander beten; denn

 

alle Glieder sind füreinander besorgt, und so ein Glied leidet, so leiden alle Glieder (1. Kor. 12,26). So sollen die gegenseitigen Gebete aller Glieder, die noch hier auf Erden Mühsal leiden, füreinander zu dem Haupte emporsteigen, das ihnen in den Himmel vorangegangen ist und in dem die Versöhnung für unsere Sünden liegt! (1. Joh. 2,2). Wäre Paulus ein Mittler, so wären es gleicherweise auch die übrigen Apostel; wenn es aber auf diese Art viele Mittler gäbe, so würde nicht bestehen können, was Paulus selbst gemeint hat, wenn er sagt: \'Es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus ...\' (1. Tim. 2,5), in dem auch wir eins sind, wenn wir ‘halten die Einigkeit des Glaubens durch das Band des Friedens\'! (Eph. 4,3; ungenau).“ (Augustin, Gegen den Brief des Parmenian, II,8,16). Ebenso sagt er an anderer Stelle: „Fragst du aber nach dem Hohenpriester - der ist über den Himmeln! Da bittet er für dich, er, der auf Erden für dich gestorben ist!“ (Zu Psalm 94; 6). Wir bilden uns aber nicht ein, er fasse da die Knie des Vaters und bitte fußfällig für uns, sondern wir verstehen das mit dem Apostel so: er erscheint dergestalt vor Gottes Angesicht, daß die Kraft seines Todes zu einer ständigen Fürsprache für uns wirkt; aber doch so, daß er, in das Allerheiligste des Himmels eingegangen, nun bis zum Ende der Zeiten die Gebete seines Volkes, das fern im Vorhof steht, allein vor Gott bringt!

 

 

 

III,20,21

 

Was nun die Heiligen betrifft, die nach dem Fleisch verstorben sind, aber in Christus leben, so mögen wir von ihnen wohl zugeben, daß sie beten; aber auch von ihnen träumen wir nicht, es gäbe für sie einen anderen Weg, zu Gott zu beten, als Christus, der der einzige Weg ist, oder ihre Gebete wären in einem anderen Namen Gott wohlgefällig, als in seinem! Nachdem uns also die Schrift von allem weg zu Christus allein zurückruft, nachdem der himmlische Vater in ihm alles zusammenfassen will (Kol. 1,20; Eph. 1,10), wäre es doch ein furchtbarer Stumpfsinn um nicht zu sagen: ein Wahnsinn, wenn man uns durch die Heiligen einen solchen Zugang schaffen wollte, der uns von ihm abbrächte, ohne den auch die Heiligen selbst keinen Zugang besitzen! Wer will aber leugnen, daß dies etliche Jahrhunderte lang im Brauch war und auch heutzutage überall da im Brauch ist, wo das Papsttum herrscht? Um Gottes Wohlwollen zu gewinnen, zieht man immer wieder die Verdienste der Heiligen heran. Man ruft Gott in ihrem Namen an und läßt dabei zumeist Christus beiseite: Was heißt das anders, frage ich, als das Amt der Fürsprache auf sie zu übertragen, das wir doch oben einzig und allein Christus zugesprochen haben?

Aber weiter: welcher Engel oder Teufelsgeist hat denn je einem Menschen auch nur eine Silbe von jener angeblichen Fürbitte der Heiligen kundgetan? In der Schrift steht doch nichts davon! Wie ist man denn darauf gekommen, sich so etwas zu ersinnen? Wenn der Menschengeist sich dergleichen Hilfen herbeisucht, mit denen uns Gottes Wort nicht wappnet - dann legt er damit offen sein mangelndes vertrauen an den Tag! Will man das Gewissen aller derer, die von der Fürbitte der Heiligen so viel halten, zum Zeugen nehmen, so findet man, daß ihre Meinung nur daher kommt, daß sie sich mit ihrer Angst abquälen. Gerade als wenn Christus hier zu schwach wäre oder uns mit furchtbarer Strenge gegenüberträte! Mit dieser Ratlosigkeit verunehren sie zunächst Christus und rauben ihm den Titel des einzigen Mittlers, der ihm vom Vater als besonderes Vorrecht gegeben worden ist und deshalb auch nicht auf jemanden anders übertragen werden darf. Aber eben dadurch verdunkeln sie die Herrlichkeit seiner Geburt und entleeren sie das Kreuz, kurz, alles, was er getan oder gelitten hat, das entkleiden und berauben sie des gebührenden Lobpreises! Denn all dies geht doch darauf hinaus, daß er allein unser Mittler sei und als solcher gelte! Zugleich weisen sie die Freundlichkeit Gottes von sich, der sich ihnen als Vater angeboten hat; denn Gott ist nicht ihr Vater, wenn sie nicht anerkennen, daß Christus ihr Bruder ist; dies aber leugnen sie

 

glatt ab, wenn sie nicht bedenken, daß er ihnen auch in einer brüderlichen Gesinnung gegenübersteht, die über alle Maßen lind und zart ist! Deshalb bietet uns die Schrift einzig und allein ihn dar, schickt uns zu ihm, bindet uns an ihn! „Er“, sagt Ambrosius, „ist unser Mund, durch den wir mit dem Vater reden, er ist unser Auge, mit dem wir den Vater erschauen, er ist unsere Rechte, mit der wir uns dem Vater darbieten! Tritt er nicht für uns ein, so haben weder wir, noch auch alle Heiligen mit Gott irgendwelche Gemeinschaft!“ (Von Isaak und der Seele, 8,75).

 

Unsere Widersacher wenden nun ein, alle öffentlichen Gebete, die sie in ihren Kirchen lesen, schlössen doch mit dem Anhang: „Durch Christus, unseren Herrn.“ Aber das ist eine leichtfertige Ausflucht; denn Christi Fürbitte für uns wird nicht weniger entweiht, wenn sie mit den Gebeten und Verdiensten der Verstorbenen vermischt wird, als wenn man sie ganz beiseite läßt und allein die Toten im Munde führt. Auch wird in ihren Litaneien, Hymnen und Prosen, in welchen den verstorbenen Heiligen jedwede Ehre beigelegt wird, Christus gar nicht erwähnt!

 

 

 

III,20,22

 

Die Torheit ist aber soweit vorgedrungen, daß wir hier ein ausgeprägtes Bild des Aberglaubens vor uns haben, der ja, wenn er einmal den Zügel abgeworfen hat, mit seinem tollen Mutwillen gar kein Ende zu finden pflegt. Denn nachdem man einmal angefangen hatte, seine Gedanken auf die Fürsprache der Heiligen zu richten, hat man allgemach jedem einzelnen Heiligen seine besondere Amtsverrichtung zugewiesen, so daß je nach der Verschiedenheit der Sache bald dieser, bald jener als Fürsprecher angerufen wurde: Dann hat sich auch jeder seinen eigenen Heiligen zugelegt, in dessen Obhut er sich begab - genau wie in die von Schutzgöttern! Und so ist es nicht nur zu dem gekommen, was der Prophet einst dem Volke Israel vorwarf: „So manche Stadt, so manchen Gott hast du ...“ (Jer. 2,28; 11,13), sondern man hat gar soviel Götter, wie es Köpfe gibt!

 

Nun richten aber doch die Heiligen all ihr Verlangen allein auf Gottes Willen, den schauen sie an, in dem ruhen sie; und deshalb denkt man töricht und fleischlich, ja verächtlich von ihnen, wenn man ihnen ein anderes Gebet zuspricht als das, mit dem sie das Kommen des Reiches Gottes begehren: Wenn die Papisten ihnen aber andichten, jeder einzelne von ihnen sei aus privater Regung heraus seinen Verehrern besonders gewogen, so hat das mit jener wirklichen Gesinnung der Heiligen rein nichts zu tun!

 

Schließlich sind einige gar in die furchtbare Gotteslästerung geraten, die Heiligen nicht bloß als Fürsprecher, sondern als Hüter ihres Heils anzurufen! Da sieht man, wohin elende Menschen kommen, wenn sie den ihnen zugewiesenen Standort, nämlich das Wort Gottes, verlassen und unstet umherschweifen!

Ich übergehe dabei noch tollere Ungeheuerlichkeiten von Gottlosigkeit, mit denen sie wohl Gott, den Engeln und den Menschen widerwärtig sind, deren sie sich aber trotzdem nicht schämen noch scheuen! Man wirft sich vor einem Standbild oder einem Gemälde der Barbara oder Katharina oder ähnlicher Heiligen nieder und murmelt sein „Vaterunser“! Und die Pastoren denken nicht daran, für die Behebung oder Verhinderung solchen Unfugs Sorge zu tragen, nein, sie lassen sich von dem Duft des Gewinns anlocken und billigen dergleichen mit ihrem Beifall: Sie wollen gewiß die Schande eines solch gemeinen Frevels von sich abwälzen - aber mit was für einem Vorwand wollen sie es denn verteidigen, daß man zu Eligius oder Medardus betet, sie möchten ihre Diener vom Himmel her anschauen und ihnen helfen? Oder daß man die Heilige Jungfrau bittet, sie möchte ihrem Sohn gebieten, zu tun, was man begehrt? Vorzeiten wurde auf einem Konzil zu Karthago (397) verboten, die Gebete zu den Heiligen stracks am Altar zu verrichten; und es ist wahrscheinlich, daß diese heiligen Männer den Ansturm der bösen Gewohnheit (zwar) nicht gänzlich zu dämpfen vermochten und deshalb (wenigstens) jene Einschränkung durchführten, damit zumindest die öffentlichen Gebete nicht durch solche Formeln verdorben

 

wurden wie: „Heiliger Petrus, bitte für uns“. Wieviel weiter ist aber (inzwischen) der teuflische Unfug derer vorgedrungen, die sich nicht schämen, auf die Toten das zu übertragen, was doch Gott und Christus allein zukommt!

 

 

 

III,20,23

 

Nun möchten sie aber den Eindruck hervorrufen, diese Fürbitte der Heiligen stütze sich auf die Autorität der Heiligen Schrift; aber alles, was sie zu diesem Zweck unternehmen, ist vergebliche Mühe.

 

(a) Sie behaupten: man liest doch öfters von Gebeten der Engel, und nicht nur dies: es heißt auch, daß die Gebete der Gläubigen durch ihre Hand vor Gottes Angesicht gebracht werden! Das gebe ich zu. Aber wenn man die Heiligen, die aus diesem gegenwärtigen Leben geschieden sind, mit den Engeln vergleichen will, dann muß man beweisen, daß auch sie dienstbare Geister sind, denen der Dienst aufgetragen ist, für unser Heil zu sorgen (Hebr. 1,14), denen die Aufgabe zuerteilt ist, uns zu behüten auf allen unseren Wegen (Ps. 91,11), die uns umgeben sollen (Ps. 34, 8), uns ermahnen und trösten, für uns auf der Wacht stehen sollen! Das alles wird den Engeln zugeschrieben, den Heiligen aber nicht! Wie falsch es ist, die verstorbenen Heiligen mit den Engeln durcheinanderzubringen, das geht doch mehr als deutlich aus soviel verschiedenen Ämtern hervor, an denen die Schrift sie voneinander unterscheidet. Das Amt eines Anwalts wird vor dem irdischen Richter nur der auszuüben wagen, der zugelassen ist; - woher nehmen aber dann jene Würmlein die Freiheit, Gott solche Fürsprecher aufzudrängen, von denen man nicht liest, daß ihnen dieses Amt aufgetragen sei? Gott hat nach seinem Willen die Engel dazu eingesetzt, für unser Heil zu sorgen; deshalb besuchen sie auch die heiligen Versammlungen, und die Kirche ist für sie ein Schauhaus, in dem sie die vielgestaltige und „mannigfaltige Weisheit Gottes“ bewundern (Eph. 3,10). Das ist ihnen eigen, und wer es auf andere überträgt, der verwirrt und verkehrt sicherlich die von Gott gesetzte Ordnung, die doch unverletzlich sein sollte!

 

(b) Mit der gleichen „Gewandtheit“ verfahren sie bei der Heranziehung weiterer Schriftzeugnisse. So sprach Gott zu Jeremia: „Und wenngleich Mose und Samuel vor mir stünden, so habe ich doch kein Herz zu diesem Volk ...“ (Jer. 15,1). Wie hätte er, sagen sie, solchermaßen von Verstorbenen reden können, wenn er nicht wüßte, daß sie für die Lebenden Fürbitte tun? Ich dagegen schließe genau umgekehrt, es wird ja hier gerade offenbar, daß weder Mose noch Samuel für das Volk Israel eingetreten sind, und deshalb hat es also zu jener Zeit gerade keine Fürbitte der Verstorbenen gegeben! Von welchem Heiligen sollte man denn glauben, er bemühe sich um das Heil des Volkes, wenn Mose es unterläßt, der doch zu Lebzeiten in diesem Stück weit über alle anderen hinausragte? Wenn also unsere Widersacher solche spitzfindigen Fündlein vorbringen und sagen: Die Toten treten für die Lebenden ein; denn der Herr sagt: wenn sie auch Fürbitte täten ..., - so will ich einen noch heller glänzenden Beweis führen und sprechen: Mose hat in der ärgsten Not des Volkes keine Fürbitte getan; denn es heißt: wenn er auch Fürsprache übte ...; also ist anzunehmen, daß auch kein anderer solche Fürbitte tut; denn von der Freundlichkeit, Güte und väterlichen Sorge des Mose sind sie ja alle weit entfernt! Mit ihrem Geschwätz erreichen sie nämlich doch nur dies, daß sie eben mit den Waffen verwundet werden, mit denen sie sich sicher gewappnet glaubten!

Es ist aber auch reichlich lächerlich, daß sie eine so einfache Aussage dermaßen verdrehen; der Herr tut doch hier nur kund, daß er das Volk in seinen Missetaten nicht verschonen wolle, selbst wenn es Männer wie Mose oder Samuel zu Fürsprechern hätte, deren Gebeten gegenüber er sich so nachsichtig erzeigt hatte! Daß dies der Sinn ist, geht aus einer ähnlichen Stelle bei Ezechiel hell und klar hervor; da spricht der Herr: „Und wenn dann gleich diese drei Männer Noah, Daniel und Hiob in der Stadt wären, so würden sie doch mit ihrer Gerechtigkeit nicht ihre Söhne und

 

Töchter retten, sondern allein ihre eigene Seele!“ (Ez. 14,14; nicht Luthertext; auslegend erweitert). Es ist kein Zweifel, daß er hier sagen will: selbst wenn zwei von ihnen wieder lebendig werden sollten ... Denn der dritte, nämlich Daniel, lebte ja zu dieser Zeit noch; er stand zweifellos erst in der ersten Blüte seiner Jugend und legte darin einen unvergleichlichen Beweis seiner Frömmigkeit an den Tag. Wir wollen also die ruhen lassen, die nach der klaren Kundmachung der Schrift ihren Lauf schon vollendet haben! Deshalb lehrt auch Paulus, wenn er von David redet, nicht etwa, er stehe seiner Nachkommenschaft mit seinen Gebeten bei, sondern nur: er habe seiner Zeit gedient! (Apg. 13,36).

 

 

 

III,20,24

 

(c) Unsere Widersacher stellen nun eine Gegenfrage: ob wir denn den Heiligen, die im ganzen Lauf ihres Lebens nichts als Frömmigkeit und Barmherzigkeit bewiesen haben, (jetzt) jedes fromme Gebet absprechen wollten. Ich will nun freilich nicht vorwitzig untersuchen, was die Heiligen tun und denken; es ist aber auch keineswegs wahrscheinlich, daß sie sich von vielfältigen, einzelne Dinge betreffenden Wünschen hin und her treiben lassen, sondern sie sehnen sich festen und unbeweglichen Willens nach Gottes Reich, das nicht weniger im Untergang der Gottlosen als in der Seligkeit der Gläubigen besteht! Ist das aber richtig, so ist ohne Zweifel auch ihre Liebe in die Gemeinschaft des Leibes Christi eingeschlossen, und sie geht nicht weiter, als es das Wesen dieser Gemeinschaft zuläßt. Wenn ich also auch schon zugebe, daß sie auf solche Weise für uns beten, so entfernen sie sich doch nicht dermaßen aus ihrer Ruhe, daß sie sich in irdische Sorgen verwickeln lassen; noch viel weniger sollen wir sie noch gar darum anrufen!

 

(d) Daß man dies trotzdem tun solle, läßt sich auch nicht aus der Tatsache folgern, daß die Menschen, die auf Erden leben, sich gegenseitig ihrer Fürbitte empfehlen können (1. Tim. 2,1f.; Jak. 5,15f.). Wenn sie nämlich in dieser Weise ihre Nöte gewissermaßen untereinander teilen und einander tragen helfen, so ist solcher Dienst dem Wachstum der Liebe in ihnen förderlich. Und zwar tun sie das aus Gottes Vorschrift heraus, und es fehlt ihnen auch nicht an einer Verheißung; diese beiden Stücke aber stehen beim Gebet stets an erster Stelle! Für die Verstorbenen dagegen fehlt es an allen solchen Ursachen; denn der Herr hat sie aus unserer Gemeinschaft weggenommen und hat uns keinen Umgang mit ihnen mehr gelassen (Pred. 9,5f.), aber auch ihnen keinen mehr mit uns, wie man aus der genannten Stelle vermutungsweise entnehmen kann.

 

(e) Nun möchte vielleicht jemand einwenden, es könne doch nicht sein, daß die Verstorbenen nicht die gleiche Liebe gegen uns bewahrten, wo sie doch mit uns in einem Glauben verbunden seien. Wer aber hat denn kundgetan, daß ihre Ohren weit genug reichen, um auch unsere Stimme zu vernehmen? Woher weiß man, daß ihre Augen tief genug dringen, um auch unsere Nöte zu erspähen? Die Papisten schwatzen zwar in ihren Schulen wer weiß was von dem Glanz des göttlichen Anblicks, der sie anstrahlen soll und in dem sie wie in einem Spiegel das Ergehen der Menschen aus der Höhe herab anschauen könnten. Aber wenn jemand dies behauptet, zumal noch gar mit der Zuversicht, mit der sie es wagen, - was bedeutet das anders, als daß man vermittels der trunkenen Träume unseres Hirns in Gottes verborgene Ratschlüsse ohne sein Wort eindringen und einbrechen und die Schrift mit Füßen treten will? Denn die Schrift erklärt doch so oft, daß die Klugheit unseres Fleisches Feindschaft wider Gottes Weisheit ist (Röm. 8,6f.), sie verdammt insgemein die Eitelkeit unseres Sinnes, wirft alle unsere Vernunft zu Boden und will, daß wir unseren Blick allein auf Gottes Willen richten!

 

 

 

III,20,25

(f) Was sie aber sonst noch an Zeugnissen aus der Schrift heranziehen, um diese ihre Lügen zu verteidigen, das verdrehen sie auf das Schlimmste. So sagen sie: Aber Jakob begehrt doch, daß sein Name und der seiner Vorväter Abraham und

 

Isaak über seiner Nachkommenschaft angerufen werden sollte! (Gen. 48,16). Wir wollen zunächst zusehen, in welcher Form denn solche „Anrufung“ unter den Israeliten geschah: die flehen nämlich da nicht ihre Väter an, ihnen Hilfe zuteil werden zu lassen, sondern sie bitten Gott, er möge sich seiner Knechte Abraham, Isaak und Jakob erinnern! Ihr Beispiel kann also denen, die das Wort an die Heiligen selbst richten, in keiner Weise Beistand gewähren. Aber weil diese Klötze in ihrer Schwachsichtigkeit weder erfassen, was es bedeutet, den Namen Jakobs „anzurufen“, noch auch verstehen, warum man ihn „anrufen“ soll, so ist es kein Wunder, wenn sie auch hinsichtlich der Form (dieser „Anrufung“) selber so kindisch stammeln! Diese Redeweise begegnet uns in der Schrift mehr als einmal. Jesaja sagt nämlich, der Name der Männer würde über den Frauen „angerufen“ (Jes. 4,1), nämlich wenn sie sie zu Ehemännern haben, unter deren Treue und Schutz sie leben. Die „Anrufung“ des Namens Abrahams über die Israeliten beruht also darin, daß sie den Ursprung ihres Geschlechts auf ihn zurückführen und ihn als ihren Ur- und Stammvater in feierlicher Erinnerung verehren! Aber Jakob tut das (Gen. 48!) nicht etwa, weil er auf die Fortpflanzung der Berühmtheit seines Namens Bedacht hätte. Nein, er wußte, daß das ganze Glück seiner Nachfahren auf dem Erbe des Bundes beruhte, den Gott mit ihm gemacht hatte; und weil er sah, daß dies für sie das höchste aller Güter sein würde, darum begehrte er, sie möchten zu seinem Geschlecht gezählt werden. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß er ihnen die Erbnachfolge an jenem Bunde überträgt! Wenn diese Nachkommen aber auf der anderen Seite die Erinnerung daran in ihr Gebet mit einflechten, dann nehmen sie damit nicht ihre Zuflucht zur Fürbitte von Verstorbenen, sondern sie halten dem Herrn die Erinnerung an seinen Bund vor Augen, kraft dessen der Vater es in seiner großen Güte auf sich genommen hat, ihnen um Abrahams, Isaaks und Jakobs willen gnädig und wohltätig zu sein! Wie gar wenig sich sonst die Heiligen auf die Verdienste der Väter gestützt haben, das bezeugt das öffentliche Bekenntnis der Kirche bei dem Propheten: „Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nicht, und Israel kennt uns nicht; du aber, Herr, bist unser Vater und unser Erlöser ...“ (Jes. 63,16). Und während sie gerade noch so reden, fügen sie gleich hinzu: „Kehre wieder, Herr, um deiner Knechte willen!“ (Jes. 63,17); dabei denken sie an keine Fürbitte, sondern sie richten ihren Sinn auf die Wohltat des Bundes. Nun haben wir aber doch unseren Herrn Jesus, durch dessen Hand der ewige Bund der Barmherzigkeit nicht bloß geschlossen, sondern uns auch bestätigt ist - auf wessen Namen sollen wir uns nun sonst in unseren Gebeten berufen?

 

Da nun aber solche guten Lehrmeister auf Grund jener Worte die Erzväter zu Fürsprechern einsetzen wollen - so möchte ich gern von ihnen erfahren, warum bei ihnen denn inmitten einer so gewaltigen Schar von Heiligen Abraham, der Vater der Kirche, noch nicht einmal den geringsten Platz einnimmt! Man weiß doch sehr wohl, aus was für einem Wirrwarr sie ihre Heiligen nehmen! Dann sollen sie mir aber doch antworten, wie es denn billig sein kann, dabei Abraham, den Gott doch allen anderen vorangestellt und den er auf die höchste Stufe der Ehre erhoben hat, auszulassen und zu unterschlagen! Tatsächlich war der Grund folgender: es war offenkundig, daß dieser Brauch (nämlich die Anrufung der Heiligen) der Alten Kirche unbekannt war, und um nun die Neuheit der Sache zu verschleiern, hielt man es für gut, von den alten Vätern zu schweigen! Als ob die Verschiedenheit von Namen eine neue und verfälschte Sitte entschuldigen könnte!

(g) Einige machen nun aber den Einwurf, man habe doch Gott gebeten, sich um Davids willen seines Volkes zu erbarmen (Ps. 132,10). Aber das vermag ihrem Irrtum keinen Beistand zu tun, ja, es gibt nichts Wirksameres, um ihn zu widerlegen! Wenn wir nämlich bedenken, was für eine Stellung David eingenommen hat, so wird er damit aus der ganzen Schar der Gläubigen abgesondert, damit Gott den Bund bestätigt, den er in seiner Hand geschlossen hat! Es geht also um den Bund

 

und nicht um den Menschen, und es wird hier in einem Bilde die einige Fürbitte Christi dargestellt. Denn das, was David besonders zu eigen hatte, das kommt, sofern er ja ein Bild Christi war, sicherlich nicht auch anderen zu!

 

 

 

III,20,26

 

(h) Einige Leute lassen sich nun aber dadurch bewegen, daß wir oft lesen, die Gebete der Heiligen seien erhört worden! Weshalb aber? Eben, weil sie gebetet haben! „Auf dich hofften sie“, spricht der Prophet, „und sie sind errettet worden; zu dir schrien sie, und sie wurden nicht zuschanden!“ (Ps. 22,5f.; nicht Luthertext). So wollen denn auch wir nach ihrem Vorbild beten, um gleich ihnen Erhörung zu finden! Die Papisten dagegen kommen törichterweise zu dem umgekehrten Schluß, als es eigentlich sein sollte: sie meinen, nur der, der einmal erhört worden sei, werde auch späterhin Erhörung finden! Wieviel richtiger folgert da Jakobus! „Elia war ein Mensch wie wir, und er betete ein Gebet, daß es nicht regnen sollte, und es regnete nicht auf Erden drei Jahre und sechs Monate. Und er betete abermals, und der Himmel gab den Regen, und die Erde brachte ihre Frucht!“ (Jak. 5,17f.). Was nun? Zieht er etwa den Schluß, Elia habe ein besonderes Vorrecht gehabt, zu dem wir nun unsere Zuflucht nehmen müßten? Keineswegs, sondern er lehrt die beständige Kraft eines frommen und reinen Gebets, um uns zu gleichem Beten zu ermahnen! Denn wir legen Gottes Bereitschaft und Gütigkeit, die bei der Erhörung solcher Gebete zutage tritt, übel aus, wenn wir uns durch solche Proben nicht zu gewisserer Zuversicht auf seine Verheißungen stärken lassen; und in diesen verheißt er nicht, sein Ohr werde sich zu dem einen oder anderen oder doch nur zu wenigen herabneigen, sondern zu allen, die seinen Namen anrufen! Um so weniger ist aber solcher Unverstand zu entschuldigen, es scheint ja geradezu, als ob man diese vielen Mahnungen der Schrift mit Absicht verachtete! Oft ist David durch Gottes Kraft befreit worden - aber geschah das etwa, damit er diese Kraft nun an sich zöge, so daß wir durch seine Fürsprache errettet werden sollten? Er selbst bezeugt ganz etwas anderes: „Die Gerechten warten auf mich, bis du mich erhörst!“ (Ps. 142,8; nicht Luthertext). Oder: „Und die Gerechten werden es sehen und werden sich fürchten und werden auf den Herrn hoffen!“ (Ps. 52,8; nicht Luthertext). Oder wiederum: „Siehe, dieser Elende rief zu Gott, und er antwortete ihm\'.“ (Ps. 34,7; nicht Luthertext). Es gibt in den Psalmen viele solche Gebete, in denen David Gott auffordert, ihm zu gewähren, um was er bittet, und zwar mit der Begründung, es möchten doch die Gerechten nicht zuschanden werden, sondern durch sein Beispiel zu fröhlicher Hoffnung ermuntert werden. Wir wollen uns damit begnügen, eine derartige Stelle zu nennen: „Um deswillen werden alle Heiligen zu dir beten zur rechten Zeit“ (Ps. 32,6). Diese Stelle habe ich um so lieber herangezogen, als die Zungendrescher, die ihre Zunge um gutes Geld in den Dienst der Verteidigung des Papsttums stellen, sich nicht gescheut haben, gerade sie als Beweis für die Fürbitte der Verstorbenen anzuführen! Als ob David etwas anderes wollte, als die Frucht aufzuzeigen, die aus Gottes Freundlichkeit und Freigebigkeit erwächst, wenn er Erhörung gefunden hat!

Es ist auch ganz allgemein festzuhalten, daß die Erfahrung der Gnade Gottes, wie sie uns oder auch anderen zuteil geworden ist, eine ungewöhnliche Hilfe dazu bietet, die Unverbrüchlichkeit seiner Verheißungen zu bekräftigen. Ich will hier nicht die zahlreichen Stellen anführen, an denen David sich Gottes Wohltaten als Anlässe zur Zuversicht vor Augen stellt; denn dem Leser der Psalmen werden sie von selbst begegnen. Das gleiche hatte Jakob bereits vorher an seinem eigenen Beispiel gelehrt: „Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte getan hast; denn ich hatte nicht mehr als diesen Stab, da ich über diesen Jordan ging, und nun bin ich zwei Heere geworden!“ (Gen. 32,11). Er zieht wohl auch die Verheißung heran, aber dies nicht allein: nein, er verbindet damit zugleich den Blick auf deren Auswirkung, um in Zukunft noch fröhlicher darauf zu vertrauen, daß

 

Gott ihm gegenüber stets der gleiche sein werde! Denn Gott ist nicht den Sterblichen gleich, die sich ihrer Freigebigkeit gereuen lassen oder deren Vermögen sich erschöpft, sondern er will nach seiner eigenen Natur beurteilt werden, wie das David weislich tut: „Du hast mich erlöst, du treuer Gott!“ (Ps. 31,6). Er zollt Gott zunächst den Lobpreis für seine Erlösungstat, und dann setzt er hinzu, daß er treu ist; denn wenn er sich nicht stets gleich bliebe, so könnte man aus seinen Wohltaten keine genügend sichere Ursache entnehmen, ihm zu vertrauen und ihn anzurufen. Sobald wir aber wissen, daß er uns mit jeder einzelnen Hilfe ein Beispiel und einen Beweis für seine Güte und Treue gibt, brauchen wir nicht zu fürchten, daß unsere Hoffnung je zuschanden würde oder uns täuschen könnte!

 

 

 

III,20,27

 

Ich will zusammenfassen. Die Schrift lehrt uns, daß die Anrufung Gottes das wichtigste Stück seiner Verehrung ist und preist sie uns hoch; denn sie setzt alle Opfer beiseite und fordert von uns diesen Dienst der Frömmigkeit! Es kann also nicht ohne offene Gotteslästerung zugehen, wenn wir unser Gebet an andere richten. Deshalb heißt es auch in einem Psalm: „Wenn wir ... unsere Hände aufgehoben hätten zum fremden Gott, würde das Gott nicht finden?“ (Ps. 44,21f.). Ferner will aber Gott einzig und allein aus dem Glauben heraus angerufen werden, und er gebietet uns ausdrücklich, unsere Gebete nach dem Richtmaß seines Wortes zu gestalten. Der auf das Wort gegründete Glaube ist endlich die Mutter des rechten Gebets. Sobald man daher vom Worte abweicht, muß das Gebet notwendig verfälscht werden! Aber wir zeigten schon, daß die Schrift, wenn man sie auch ganz durchforscht, diese Ehre (nämlich: im Gebet angerufen zu werden) Gott allein vorbehält. Was das Amt der Fürbitte angeht, so sahen wir ebenfalls, daß es Christus eigen ist, und daß Gott nur solche Gebete wohlgefällig sind, welche dieser Mittler heiligt. Obgleich nun die Gläubigen gegenseitig ihre Gebete für die Brüder vor Gott bringen, so wird doch dadurch, wie wir darlegten, der einigen Fürbitte Christi kein Abbruch getan; denn wenn sie sich oder auch andere Gott ans Herz legen, so stützen sie sich allein auf diese Fürsprache Christi. Ferner haben wir auseinandergesetzt, daß es unsinnig ist, dies auf die Verstorbenen zu beziehen, von denen wir nirgendwo lesen, daß ihnen die Fürbitte für uns aufgetragen sei. Die Schrift ermahnt uns oft zu dieser gegenseitigen Dienstleistung; aber von den Toten sagt sie dabei nicht eine Silbe! Ja, Jakobus verbindet es miteinander, daß wir uns gegenseitig unsere Sünden bekennen - und daß wir füreinander beten sollen (Jak. 5,16); und damit schließt er die Toten stillschweigend aus!

Um diesen Irrtum zu verurteilen, genügt eine Erwägung: das rechte Beten findet seinen Ursprung im Glauben, der Glaube aber kommt aus dem Hören des Wortes Gottes! (Röm. 10,14.17). Im Worte Gottes aber findet sich diese ersonnene Fürbitte nicht erwähnt. Denn der Aberglaube hat sich in seiner Unbedachtheit Fürsprecher zugelegt, die uns von Gott her nicht gegeben waren. Die Schrift ist zwar voll von den verschiedensten Formen von Gebeten, aber es findet sich dabei kein Beispiel für jene Fürsprache, ohne die man sich im Papsttum kein Gebet denken kann. Außerdem ist dieser Aberglaube offenkundig aus mangelndem Vertrauen entstanden: man war mit Christus als Fürsprecher nicht zufrieden oder man beraubte ihn dieses Lobpreises voll und ganz. Das letztere läßt sich leicht aus der Unverschämtheit der Papisten beweisen: das stärkste Beweismittel, mit dem sie ihre Behauptung verfechten, wir hätten die Fürsprache der Heiligen nötig, besteht nämlich in ihrem Einwurf, wir seien eines vertrauten Zugangs zu Gott unwürdige Nun geben wir zwar zu, daß dies sehr richtig ist, aber wir schließen daraus: wer Christi Fürsprache für nichts achtet, sofern nicht der heilige Georg oder der heilige Hippolyt oder dergleichen Larven hinzukommen, der läßt Christus nichts übrig!

 

III,20,28

 

Obwohl aber das Gebet im eigentlichen Sinne nur Wünsche und Bitten umfaßt, besteht doch zwischen Bitten und Danksagung eine so große Verwandtschaft, daß man sie leicht unter einem einzigen Namen zusammenfassen kann. Die Arten von Gebeten, die Paulus 1. Tim. 2,1 (zunächst) aufführt, fallen unter das erste Glied dieser Einteilung (nämlich: „Bitte, Gebet, Fürbitte“). Wenn wir „bitten“ und „beten“, so schütten wir vor Gott unsere Wünsche aus und begehren einerseits, was zur Ausbreitung seines Ruhms und zur Verherrlichung seines Namens dient, andererseits aber auch Wohltaten, die unserem eigenen Wohlergehen zugute kommen. Wenn wir „Dank sagen“ (1. Tim. 2,1; Fortsetzung!), so preisen wir seine Wohltaten gegen uns mit dem schuldigen Lob und danken seiner Freigebigkeit für alles Gute, das wir erlangt haben. So hat David diese beiden Stücke in eins zusammengefaßt: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen!“ (Ps. 50,15). Nicht ohne Ursache gibt uns die Schrift die Weisung, daß beides bei uns stets in Übung sein soll. Denn unser Mangel ist, wie wir bereits an anderer Stelle sagten, so groß, und die Erfahrung bezeugt es ja laut, daß wir allenthalben von so vielen und so großen Nöten umdrängt werden, daß alle Menschen Ursache genug haben, stets zu Gott zu seufzen und zu flehen und ihn demütig anzurufen! Aber selbst wenn sie von Unglück frei wären, so müßten auch die Heiligsten unter ihnen durch die Schuld ihrer Missetaten und auch durch die unzähligen Angriffe der Anfechtungen dazu angespornt werden, eine Arznei zu begehren. Das Opfer des Lobpreises und der Danksagung kann nie und nimmer eine Unterbrechung erfahren, ohne daß wir dadurch Sünde auf uns laden; denn Gott hört ja auch nicht auf, Wohltaten auf Wohltaten zu häufen, um uns, so langsam und träge wir sind, zur Dankbarkeit zu zwingen. Kurz: so groß und so überschwenglich ist der Reichtum seiner Wohltaten, der uns geradezu überschüttet, so vielfältig und so gewaltig sind die Wunder, die wir ringsum erblicken, daß es uns zum Lobpreis und zur Danksagung nie an Grund und Anlaß fehlt!

Wir wollen dies noch etwas deutlicher entfalten: All unsere Hoffnung und all unser Reichtum liegt in Gott, wie wir das schon oben hinreichend erwiesen haben; und deshalb kann es weder uns, noch allem, was wir haben, gut gehen, ohne allein durch seinen Segen: ihm müssen wir also auch uns und alles, was wir haben, beständig ans Herz legen! (Jak. 4,14f.). Weiterhin sollen wir alles, was wir überlegen, reden und tun, unter seiner Hand, unter seinem Willen und schließlich in der Hoffnung auf seine Hilfe überlegen, reden und tun! Denn es werden alle von Gott für verflucht erklärt, die ihre Pläne im Vertrauen auf sich selber oder irgend jemand anders überlegen und festlegen und die außerhalb seines Willens, ohne ihn anzurufen, etwas ins Werk setzen oder zu beginnen versuchen! (Jes. 30,1; 31,1). Wir haben auch schon mehrfach gesagt, daß ihm die schuldige Ehre widerfährt, wenn er als der Geber aller Güter anerkannt wird; daraus folgt: wir müssen alle diese Güter so aus seiner Hand entgegennehmen, daß wir unablässig für sie danken, und es gibt keine andere Weise, seine Wohltaten recht anzuwenden, als daß wir auch unaufhörlich sein Lob verkündigen und ihm danksagen; denn dies ist der einzige Zweck, weshalb sie uns aus seiner Freundlichkeit heraus zufließen und zukommen! Denn wenn Paulus (von dem, was wir empfangen,) sagt: „Es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet“ (1. Tim. 4,5), so gibt er damit zugleich zu verstehen, daß es ohne Wort und Gebet in keiner Weise heilig und rein für uns ist; dabei meint er nun freilich, wenn er „Wort“ sagt, zugleich damit auch den Glauben! Trefflich finden wir das bei David ausgedrückt: er hat des Herrn Freigebigkeit erfahren, und nun singt er: „Er hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben!“ (Ps. 40,4). Damit deutet er zugleich an, daß es ein böses Schweigen ist, wenn wir irgendeine seiner Wohltaten ohne Lobpreis übergehen! Denn sooft er uns wohltut, sooft bietet er uns auch einen Anlaß zum preisen! So verkündigt auch Jesaja Gottes einzigartige Gnade und ruft dabei die Gläubigen zu

 

einem neuen und ungewöhnlichen Liede auf (Jes. 42,10). Im gleichen Sinne heißt es anderwärts bei David: „Herr, tue meine Lippen auf, daß mein Mund deinen Ruhm verkündige!“ (Ps. 51,17). In gleicher Weise bezeugen Hiskia und Jona, ihre Errettung solle zu dem Ziel führen, daß sie Gottes Güte mit Lobgesängen im Tempel verherrlichten (Jes. 38,20; Jon. 2,10). Dieselbe Regel schreibt David ganz allgemein allen Frommen vor: „Wie soll ich dem Herrn vergelten alle seine Wohltat, die er an mir tut; Ich will den Kelch des Heils nehmen und des Herrn Namen predigen“ (Ps. 116,12f.). Und die Kirche folgt dieser Regel in einem anderen Psalm: „Hilf uns, Herr, unser Gott, ... daß wir danken deinem heiligen Namen und rühmen dein Lob!“ (Ps. 106,47). Oder auch: „Er wendet sich zum Gebet der Verlassenen und verschmäht ihr Gebet nicht. Das werde geschrieben auf die Nachkommen, und das Volk, das geschaffen soll werden, wird den Herrn loben ..., auf daß sie zu Zion predigen den Namen des Herrn und sein Lob zu Jerusalem!“ (Ps. 102,18f.22). Ja, sooft die Gläubigen Gott bitten, er möge etwas „um seines Namens willen“ tun, sooft erklären sie sich für unwürdig, etwas in ihrem eigenen Namen zu empfangen, verpflichten sie sich auch zugleich zur Danksagung und versprechen, Gottes Wohltat solle darin bei ihnen ihre rechte Anwendung finden, daß sie nun ihre Verkündiger werden! So spricht es Hosea aus, und zwar an einer Stelle, an der er von der künftigen Erlösung der Kirche redet: „Vergib uns alle Sünde und tue uns wohl, Herr, so wollen wir opfern die Farren unserer Lippen!“ (Hos. 14,3).

 

Aber Gottes Wohltaten machen nicht nur Anspruch auf den Heroldsdienst unserer Lippen, sondern sie erwirken sich zugleich natürlicherweise unsere Liebe. So sagt David: „Ich habe ihn lieb; denn der Herr hat die Stimme meines Flehens gehört“ (Ps. 116,1; nicht Luthertext). An anderer Stelle berichtet er von der Hilfe, die er erfahren hat, und dabei heißt es: „Herzlich lieb habe ich dich, Herr, meine Stärke!“ (Ps. 18,2). Unser Lobpreis wird aber nie und nimmer Gottes Wohlgefallen finden, wenn er nicht aus dieser herzlichen Liebe hervorgeht! Ja, wir müssen auch ein Wort des Paulus festhalten, nach welchem alle unsere Gebete verkehrt und verderbt sind, wenn sie nicht in eine Danksagung ausmünden; er sagt nämlich: „In allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden“ (Phil. 4,6). Es gibt ja viele Leute, die sich von Eigensinn, Ärger und Ungeduld, von der Bitterkeit des Schmerzes und der Angst dazu treiben lassen, in ihrem Gebet zu murren; da gebietet nun Paulus eine solche Mäßigung der inneren Regungen, daß die Gläubigen, bevor sie erlangt haben, was sie begehren, dennoch Gott fröhlich preisen! Soll diese Verbindung von Gebet und Danksagung nun gar bei schier widerwärtigen Dingen ihre Kraft behalten, so bindet uns Gott mit um so festerem Bande, sein Lob zu singen, wenn er uns unsere Wünsche gewährt!

 

Ich habe aber bereits dargelegt, wie unsere Gebete, die sonst befleckt wären, durch Christi Fürbitte gereinigt werden; dementsprechend gebietet uns nun der Apostel, auch unser Lobopfer durch Christus darzubringen (Hebr. 13,15), und damit macht er uns darauf aufmerksam, daß unser Mund nicht rein genug ist, um Gottes Namen zu verherrlichen, wenn nicht Christi Priestertum ins Mittel tritt: Daraus ergibt sich für uns, daß im Papsttum die Menschen furchtbar verblendet gewesen sind; denn da verwundern sich die meisten, daß Christus unser Fürsprecher genannt wird!

Das ist nun der Grund, weshalb Paulus uns die Weisung gibt, „ohne Unterlaß“ zu beten und Dank zu sagen (1.Thess. 5,17f.). Er will eben, daß wir mit größter Ausdauer, zu jeder Zeit, an jedem Orte, in allen Verhältnissen und bei allen Dingen unsere Gebete zu Gott emporrichten, um alles von ihm zu erwarten und ihm für alles den Lobpreis zu bringen, wie er uns ja auch immerfort Ursache gibt, ihn zu loben und zu ihm zu beten!

 

III,20,29

 

Nun gilt dieses „Beten ohne Unterlaß“ zwar besonders für die eigenen, persönlichen Gebete des einzelnen; aber es betrifft zugleich auch in etwa die öffentlichen Gebete der Kirche. Diese können aber gar nicht mit anhaltender Ausdauer geschehen, sollen auch überhaupt nicht anders gehalten werden, als auf Grund einer öffentlichen Ordnung, die durch gemeinsame Übereinkunft aller zustande kommt. Das gebe ich durchaus zu. Deshalb werden ja auch bestimmte Stunden angesetzt und vorher festgelegt; und dies ist zwar vor Gott ohne Belang, aber doch für den Gebrauch der Menschen erforderlich, damit darauf Rücksicht genommen wird, wann alle am besten die Gelegenheit dazu haben, und damit überhaupt nach dem Wort des Paulus in der Kirche „alles ehrbar und ordentlich zugeht“ (1. Kor. 14,40). Allein, das hindert doch nicht, daß jede einzelne Kirche sich zuweilen zu häufigerer Übung des Gebets anspornen lassen oder auch unter dem Eindruck einer besonders drängenden Not zu heißerem Eifer entbrennen soll, von dem Beharren (im Gebet), das mit dieser fortwährenden, fleißigen Übung viel Verwandtes hat, werde ich am Schluß als der dazu geeigneten Stelle noch zu sprechen haben.

 

Nun hat dies aber nichts mit dem „Plappern“ zu tun, das uns Christus hat verbieten wollen (Matth. 6,7). Denn er untersagt uns damit nicht, lange oder oft oder inbrünstig mit Beten anzuhalten. Wir sollen nur nicht darauf vertrauen, bei Gott etwas erpressen zu können, wenn wir ihm mit plappernder Geschwätzigkeit in die Ohren schreien, als ob er sich nach menschlicher Weise überreden ließe! Wir wissen nämlich, daß die Heuchler, die nicht bedenken, daß sie es mit Gott zu tun haben, bei ihren Gebeten ein Gepränge an den Tag legen, als ob sie einen Triumphzug machten! Unzweifelhaft hat sich jener Pharisäer, der Gott dankte, daß er nicht so wäre wie andere Leute (Luk. 18,11), vor den Augen der Menschen sehr gefallen, als ob er um seines Gebetes willen in den Ruf der Heiligkeit kommen wollte! Daher kommt auch das Plappern, das heutzutage aus gleicher Ursache im Papsttum im Schwang geht, indem die einen die gleichen Gebetlein immer wieder daherreden und damit die Zeit totschlagen, die anderen sich aber durch großen Wortreichtum beim Volke einen Namen machen wollen. Diese Geschwätzigkeit treibt mit Gott ein kindisches Spiel, und es ist darum nicht verwunderlich, daß sie von der Kirche ausgeschlossen wird, damit dort nichts erschalle als ernstes Gebet, das aus dem tiefsten Herzen kommt!

Diesem Mißbrauch ist ein weiterer benachbart und ähnlich, den Christus gleichfalls verdammt: die Heuchler machen um des äußeren Gepränges willen Jagd auf viele Zeugen und belegen lieber den Markt mit Beschlag, um zu beten, als daß ihre Gebete des Lobpreises der Welt entbehren dürften! Nun soll aber doch, wie ich bereits ausführte, der Zweck des Gebets der sein, daß unser Herz zu Gott emporgerichtet werde, um sein Lob zu verherrlichen und von ihm Hilfe zu erflehen; daraus ist aber zu ersehen, daß es sein ursprüngliches Wesen im Gemüt und im Herzen hat; ja, das Gebet selber ist eigentlich eine Regung des tiefsten Herzens, die vor Gott, dem Herzenskündiger, ausgeschüttet und hingelegt wird! Deshalb hat - wie gesagt - unser himmlischer Meister, um uns die beste Regel zum Beten zu geben, uns angewiesen, in unser Kämmerlein zu gehen, die Tür zuzuschließen und dort im verborgenen zu unserem Vater zu beten, damit unser Vater, der im Verborgenen ist, uns erhöre! (Matth. 6,6). Da warnt er uns zunächst vor dem Beispiel der Heuchler, die mit ihren Gebeten ehrgeizig prangen, um die Gunst der Menschen zu erhaschen; zugleich aber weist er uns auch den besseren Weg, nämlich in das Kämmerlein zu gehen, die Tür abzuschließen und dort zu beten. Nach meinem Verständnis lehrt er uns mit diesen Worten, die Einsamkeit zu suchen, die uns dazu hilft, mit allen unseren Gedanken in unser Herz hinabzusteigen und in seine Tiefe zu dringen; und er verheißt uns, daß Gott, dessen Tempel unsere Leiber ja sein sollen, den Regungen unseres Herzens nahe sein werde.

 

Er wollte aber damit doch nicht bestreiten, daß es auch an anderen Orten zu beten nütze sein kann; nur zeigt er, daß das Gebet etwas Verborgenes ist, das vor allem im Herzen sein Wesen hat und das dessen Ruhe, fern von allem Wirrsal unserer Sorgen, erfordert! Es war also nicht ohne Ursache, daß sich auch der Herr selber in die Einsamkeit, abseits von allem Trubel der Menschen begab, wenn er besonders inbrünstig beten wollte. Er hat das vielmehr getan, um uns mit seinem eigenen Beispiel zu mahnen, daß solche Hilfen nicht zu vernachlässigen sind, die unser Herz, das ja an und für sich nur allzu sehr zum Abschweifen geneigt ist, besser zu ernstem Eifer im Gebet hinlenken. Unterdessen hat er es auch nicht unterlassen, mitten im Trubel der Menschen zu beten, wenn die Gelegenheit es mit sich brachte, und so sollen auch wir „an allen Orten“, wo es erforderlich ist, „heilige Hände aufheben“ (1. Tim. 2,8). Wir müssen auch dafür halten, daß jeder, der sich weigert, in der heiligen Versammlung der Frommen zu beten, auch nicht weiß, was es eigentlich heißt, für sich allein oder in der Einsamkeit oder zu Hause zu beten! Wer es aber auf der anderen Seite versäumt, allein und für sich zu beten, der mag die öffentlichen Gottesdienste noch so häufig besuchen, so wird er doch dort nur Scheingebete tun, weil er auf die Meinung der Menschen mehr Wert legt, als auf Gottes verborgenes Urteil.

 

Damit nun aber die gemeinsamen Gebete der Kirche nicht geringgeschätzt würden, hat sie Gott einst mit herrlichen Lobsprüchen geziert, vor allem, indem er den Tempel ein „Bethaus“ nannte (Jes. 56,7). Denn mit diesem Wort hat er uns kundgetan, daß das vornehmste Stück seiner Verehrung der Dienst des Gebets ist und daß der Tempel wie ein Panier vor den Gläubigen aufgerichtet war, damit sie sich einmütig in solchem Dienste übten. Es kam aber auch eine herrliche Verheißung hinzu: „Gott, man lobt dich ... zu Zion, und dir bezahlt man Gelübde!“ (Ps. 65,2). Mit diesen Worten macht uns der Prophet darauf aufmerksam, daß die Gebete der Kirche niemals wirkungslos sein sollen; denn Gott gibt seinem Volke stets Anlaß zu fröhlichem Singen! Nun haben zwar die Schattenbilder des Gesetzes aufgehört; aber Gott wollte durch diese Zeremonie auch unter uns die Einigkeit des Glaubens erhalten, und deshalb besteht kein Zweifel, daß die gleiche Verheißung auch uns gilt; Christus hat sie ja auch mit eigenem Munde bestätigt (Matth. 21,13), und Paulus lehrt, daß sie stets in Kraft bleibt.

 

 

 

III,20,30

 

Wie nun Gott den Gläubigen das gemeinsame Gebet in seinem Wort gebietet, so müssen auch öffentliche Kirchengebäude da sein, die zum Vollzug dieser Gebete bestimmt sind. Wer sich nun weigert, dort mit dem Volke Gottes zusammen gemeinsam zu beten, der kann nicht mißbräuchlich den Vorwand für sich in Anspruch nehmen, er gehe eben in sein Kämmerlein, um dem Gebot des Herrn zu gehorchen! Denn er verheißt doch, wenn zwei oder drei sich in seinem Namen versammelten und etwas erbeteten, so wolle er es tun (Matth. 18,19f.), und damit bezeugt er, daß er die öffentlich gesprochenen Gebete keineswegs verachtet. Nur muß dabei alles Gepränge und alles Haschen nach menschlichem Ruhm wegbleiben, und es muß lautere, wahre Andacht herrschen, die im Verborgenen des Herzens wohnt.

Dies ist also sicherlich der rechte Gebrauch der Kirchengebäude. Dann müssen wir uns aber auf der anderen Seite hüten, sie nicht etwa, wie man das vor einigen Jahrhunderten angefangen hat, für Gottes eigentliche Wohnstätten zu halten, in denen er sein Ohr näher zu uns kommen ließe; auch sollen wir ihnen nicht irgendeine verborgene Heiligkeit andichten, die unser Gebet bei Gott geheiligter machte. Denn wir sind doch selbst Gottes wahre Tempel, und deshalb müssen wir in uns selber beten, wenn wir Gott in seinem heiligen Tempel anrufen wollen! Wir, die wir die Weisung haben, den Herrn ohne jeden Unterschied des Orts „im Geist und in der Wahrheit anzubeten“ (Joh. 4,23) - wir wollen

 

solche groben Verirrungen den Juden und den Heiden überlassen! Gewiß war einst auf Gottes Geheiß der Tempel zum Beten und zur Darbringung der Opfer geweiht; aber das war zu einer Zeit, als sich die Wahrheit noch unter der Darstellung durch solche Schattenbilder verbarg; jetzt aber ist sie uns lebendig offenbar geworden, und nun gestattet sie uns nicht mehr, an irgendeinem Tempel zu hängen, der mit Händen gemacht ist! Selbst den Juden war der Tempel nicht dazu anvertraut, daß sie etwa Gottes Gegenwart zwischen seinen Mauern einschlössen, sondern sie sollten vielmehr darin geübt werden, das Bild des wahren Tempels zu betrachten! Deshalb gehen Jesaja und auch Stephanus mit scharfem Vorwurf gegen solche Leute an, die irgendwie meinten, Gott wohne in Tempeln, die mit Händen gemacht sind: (Jes. 66,1; Apg. 7,48).

 

 

 

III,20,31

 

Hieraus ergibt sich nun aber auch mehr als deutlich, daß weder unsere Stimme, noch auch unser Singen, wenn es beim Beten vorkommt, vor Gott irgendeinen Wert haben oder auch nur das Geringste ausrichten können, wenn sie nicht aus dem tiefen Drang des Herzens erwachsen! Nein, wenn sie bloß obenhin von Lippen und Kehlen ausgehen, dann rufen sie Gottes Zorn wider uns hervor; denn das hieße ja, mit Gottes hochheiligem Namen Schimpf zu treiben und mit seiner Majestät seinen Spott zu haben! So ergibt es sich für uns aus Worten des Jesaja, die zwar noch weiter reichen, aber auch dazu dienen, diesen Mißbrauch zu strafen: „Darum daß dies Volk zu mir naht mit seinem Munde und mit seinen Lippen mich ehrt, aber ihr Herz fern von mir ist, und sie mich fürchten nach Menschengeboten, die sie lehren; darum will ich auch mit diesem Volk wunderlich umgehen, aufs wunderlichste und seltsamste, daß die Weisheit seiner Weisen untergehe und der Verstand seiner Klugen verblendet werde“ (Jes. 29,13f.; Matth. 15,8f.).

 

Aber damit verdammen wir nicht etwa Sprechen oder Singen, sondern wir halten sie vielmehr sehr hoch; nur muß ihnen der Drang des Herzens zur Seite gehen. Denn so üben sie unseren Sinn im Denken an Gott und halten ihn in Spannung; er ist ja unstet und wetterwendisch und wird deshalb leicht abgelenkt und hin und hergezogen, wenn er nicht mit den verschiedensten Mitteln festgehalten wird. Außerdem soll ja Gottes Ehre gewissermaßen aus allen einzelnen Teilen unseres Leibes hervorleuchten, und so ist es billig, daß besonders unsere Zunge mit Reden und Singen zu diesem Dienst bestimmt und geweiht sei; denn sie ist besonders dazu erschaffen, Gottes Lob zu verkündigen und zu preisen. Ihre wichtigste Verwendung findet aber unsere Zunge im öffentlichen Gebet, wie es in der Versammlung der Gläubigen gehalten wird; denn da handelt es sich darum, daß wir Gott, dem wir in einem Geiste und in dem gleichen Glauben dienen, auch gemeinsam mit einer Stimme und wie aus einem Munde gleichermaßen verherrlichen, und zwar öffentlich, so daß wir alle gegenseitig, jeder von seinem Bruder, das Bekenntnis des Glaubens vernehmen und durch sein Beispiel aufgemuntert und angereizt werden.

 

 

 

III,20,32

 

Im Vorbeigehen noch dies: Der Brauch, in den Kirchen zu singen, ist anerkanntermaßen sehr alt, ja er war schon bei den Aposteln in Übung, wie sich aus den Worten des Paulus entnehmen läßt: „Ich will Psalmen singen im Geist, und ich will auch Psalmen singen mit dem Sinn!“ (1. Kor. 14,15). Auch an die Kolosser schreibt er: „Lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, und singet dem Herrn mit Lieblichkeit in eurem Herzen!“ (Kol. 3,16; nicht ganz Luthertext). An der ersten Stelle gibt er die Vorschrift, mit der Stimme und mit dem Herzen zu singen, an der zweiten empfiehlt er die geistlichen Lieder, mit denen sich die Frommen gegenseitig erbauen sollen.

Dies ist aber doch nicht allgemein verbreitet gewesen, wie es uns Augustin bezeugt; er berichtet, daß man in der Kirche von Mailand erst unter Ambrosius zu singen begonnen hat; damals wütete nämlich Justina, die Mutter des Valentinian,

 

gegen den rechten Glauben, und das Volk stand mit größerer Ausdauer auf der Wacht, als es das sonst gewohnt war. Die übrigen Kirchen des Westens sind dann nach Augustins Bericht gefolgt (Bekenntnisse, 9,7). Kurz zuvor berichtet er nämlich, daß diese Sitte ihren Ursprung in den Kirchen des Ostens hatte. Im zweiten Buch seiner „Retractationes“ macht er deutlich, daß sie erst zu seiner Zeit in Afrika aufgenommen wurde. Er sagt da: „Ein gewisser Hilarius, ein Mann vom Rang eines Tribunen, verunglimpfte, wo er nur konnte, mit schmähenden Vorwürfen den damals zu Karthago aufgekommenen Brauch, vor dem Altar aus dem Buche der Psalmen Hymnen anzustimmen, und zwar entweder vor der Darbringung des Opfers, oder aber bei der Austeilung des Geopferten an das Volk. Diesem Mann habe ich auf Geheiß der Brüder eine Erwiderung gegeben“ (Retract. II,11). Und wirklich, wenn der Gesang so würdig und maßvoll geschieht, wie sich das vor Gottes und der Engel Angesicht gebührt, so verschafft er einerseits den heiligen Handlungen Würde und Anmut und dient andererseits sehr dazu, die Herzen zum wahren Eifer und zur rechten Inbrunst im Gebet zu erwecken. Man muß sich nur gründlich hüten, daß nicht das Ohr mehr Aufmerksamkeit auf die Melodie verwendet, als das Herz auf den geistlichen Sinn der Worte! Diese Gefahr hat den gleichen Augustin nach seinem eigenen Geständnis dazu bewegt, daß er zuweilen den Wunsch hatte, es möchte doch der von Athanasius beobachtete Brauch eingeführt werden: Athanasius gebot nämlich dem Vorleser, den Ton seiner Stimme so wenig wechseln zu lassen, daß er eher zu reden, als zu singen schien. Dann aber erinnerte sich Augustin daran, wieviel Gutes ihm das Singen gebracht hatte, und darüber neigte er dann doch wieder zur anderen Seite (Bekenntnisse 10,33). Wenn man also ein solches Maßhalten übt, dann ist der Gesang unzweifelhaft eine sehr heilige und heilbringende Übung. Dagegen ist nun auf der anderen Seite jeder Gesang, der bloß lieblich klingen und die Ohren ergötzen soll, der Majestät der Kirche nicht angemessen, und er kann auch Gott nur höchst mißfällig sein.

 

 

 

III,20,33

 

Daraus ergibt sich auch deutlich, daß man die öffentlichen Gebete nicht etwa bei den Lateinern in griechischer und bei den Franzosen und Engländern in lateinischer Sprache halten darf - wie das bis heute durchweg im Schwange ging! -, sondern daß sie in der Volkssprache abgefaßt sein müssen, die allgemein von der ganzen Versammlung verstanden werden kann. Denn diese Gebete sollen zur Erbauung der ganzen Kirche geschehen; ihr kann aber aus einem unverständlichen Klang keinerlei Frucht erwachsen! Wer aber weder auf die Liebe, noch auf das menschliche Empfinden Rücksicht nimmt, der sollte sich wenigstens einigermaßen vom Ansehen des Paulus bewegen lassen, dessen Worte durchaus eindeutig sind: „Wenn du aber segnest im Geist, wie soll der, so an des Laien Statt steht, Amen sagen auf deine Danksagung, sintemal er nicht weiß, was du sagst? Du danksagest wohl sein; aber der andere wird nicht davon gebessert!“ (1. Kor. 14,16f.). Wer kann sich doch genugsam über den zügellosen Mutwillen der Papisten verwundern, die sich trotz dieses offenen Widerspruchs des Apostels nicht scheuen, die wortreichsten Gebete in einer fremden Sprache widerhallen zu lassen, Gebete, von denen sie selbst zuweilen nicht eine einzige Silbe begreifen und auch nicht wollen, daß andere sie verstehen?

Uns dagegen gibt Paulus eine andere Weisung; er spricht: „Wie soll es aber denn sein? Ich will beten mit dem Geist und will beten auch im Sinn; ich will Psalmen singen im Geist und will auch Psalmen singen mit dem Sinn!“ (1. Kor. 14,15). Unter „Geist“ versteht er hier die besondere Gabe der Zungenrede; einige, denen sie zuteil geworden war, mißbrauchten sie nämlich, indem sie sie vom „Sinn“, das heißt: vom Verständnis, abtrennten. Wir müssen aber allgemein urteilen, daß die Zunge ohne das Herz bei öffentlichem wie bei privatem Gebet Gott in jeder Hinsicht nur höchst mißfällig sein kann. Außerdem - so müssen wir weiter sagen - soll unser Sinn von einer derartigen Inbrunst der Betrachtung entflammt sein, daß

 

er damit weit über alles hinausdringt, was die Zunge mit ihrer Kundmachung zum Ausdruck bringen kann.

 

Und endlich: auch zum Einzelgebet ist die Zunge nicht erforderlich, es sei denn, daß die innere Empfindung von sich aus nicht stark genug ist, um sich recht aufzumuntern, oder aber, daß die Wucht solchen inneren Drangs auch ganz von selbst die Zunge in Bewegung setzt! Denn es geschehen zwar zuweilen die besten Gebete ohne die Zunge, aber in Wirklichkeit kommt es doch oft dazu, daß durch einen heftigen Ausbruch der inneren Bewegung nun auch die Zunge Worte auslöst und die anderen Glieder in heftige Gebärden verfallen, und zwar, ohne daß man dabei nach außen etwas scheinen will! Daher kommt auch das unbestimmte Murmeln der Hanna (1. Sam. 1,13), und etwas Ähnliches erfahren alle Heiligen ständig an sich selbst, indem sie nämlich unwillkürlich abgebrochene und abgehackte Worte entschlüpfen lassen.

 

Die körperlichen Gebärden aber, die man gewöhnlich beim Gebet beobachtet, wie z.B. das Beugen der Knie und das Entblößen des Hauptes, sind Übungen, durch die wir uns zu größerer Ehrerbietung gegen Gott zu erheben bemühen.

 

 

 

III,20,34

 

Nun müssen wir nicht bloß die sicherste Art und Weise, sondern auch gerade die Form des Gebets lernen, nämlich die, welche uns der himmlische Vater durch seinen geliebten Sohn kundgetan hat (Matth. 6,9ff.; Luk. 11,2ff.). Gerade darin läßt sich seine unermeßliche Güte und Freundlichkeit erkennen. Er erinnert und mahnt uns nicht nur daran, ihn in aller unserer Not zu suchen, so wie Kinder, sooft sie irgendeine Bedrängnis anficht, zur Treue ihrer Eltern ihre Zuflucht zu nehmen pflegen. Nein, er hat auch gesehen, daß wir noch nicht einmal genugsam begreifen, wie groß unsere Armut ist, was wir billig begehren dürfen und was uns überhaupt nütze ist, und da kommt er auch dieser unserer Unkenntnis zu Hilfe und hat das, was unserem Verständnis mangelt, selbst aus dem Seinen heraus ersetzt und erstattet! Er hat uns nämlich eine feste Form vorgezeichnet, in der er uns wie auf einem Gemälde vor Augen stellt, was wir von ihm begehren dürfen, was zu unserem Besten dient und was zu erbitten vonnöten ist. Aus dieser seiner Gütigkeit erwächst uns viel Frucht des Trostes; denn wir wissen nun, daß wir nichts Widersinniges, nichts Verkehrtes oder Törichtes, kurz, nichts begehren, was ihm nicht wohlgefällig ist, weil wir ja geradezu wie aus seinem eigenen Munde beten! Als Platon bemerkte, wie unerfahren die Menschen darin sind, ihre Wünsche vor Gott zu bringen, ja, daß ihnen oft schlecht damit gedient wäre, wenn ihre Bitten erfüllt würden, da erklärte er für die beste Regel zum Beten einen Spruch, den er einem alten Dichter entnommen hatte: „Du, König Jupiter, bescheide uns das Beste, ob wir darum bitten oder nicht, und laß das Böse von uns fern bleiben, auch wenn wir es begehren!“ (Platon, Alkibiades). Dabei hat dieser Heide darin weise gedacht, daß er zu dem Urteil kommt, wie gefährlich es doch ist, von dem Herrn zu erbitten, was unser Verlangen uns eingibt; zugleich macht er unseren unglückseligen Zustand offenbar: wir können ja vor Gott noch nicht einmal ohne Gefahr den Mund auftun, wenn uns nicht der Heilige Geist unterweist und uns eine rechte Richtschnur zum Beten an die Hand gibt (Röm. 8,26). Um so höher verdient bei uns dies Vorrecht geschätzt zu werden, daß uns Gottes eingeborener Sohn die Worte in den Mund legt, die unseren Sinn aus allem zögernden Zweifel befreien!

 

 

 

III,20,35

Diese Form oder auch diese Regel zum Beten besteht aus sechs Bitten. Ich kann nämlich denen, die dies Gebet in sieben Hauptstücke einteilen, nicht beipflichten (z.B. Augustin, Handbüchlein an Laurentius, 115); dazu veranlaßt mich die Erwägung, daß der Evangelist die beiden (letzten) Glieder durch die eingefügte Gegenüberstellung („nicht ... sondern“) anscheinend hat zusammenschließen wollen. Er will also etwa sagen: Laß uns nicht von der Versuchung erdrückt werden, sondern bringe vielmehr unserer Gebrechlichkeit Hilfe, errette uns, damit wir nicht

 

unterliegen! Hierin stimmen auch die alten Kirchenlehrer mit uns überein. Was bei Matthäus an siebenter Stelle zugefügt ist, das ist also als Erläuterung zur sechsten Bitte zu ziehen.

 

Nun ist zwar das ganze Gebet von der Art, daß überall Gottes Ehre an erster Stelle stehen soll; aber doch sind die drei ersten Bitten besonders auf Gottes Ehre gerichtet; auf sie sollen wir in diesen Bitten allein schauen, ohne jede Rücksicht auf unseren Vorteil, wie man das so ausdrückt. Die drei übrigen Bitten sorgen für uns, und sie sind wesentlich dazu bestimmt, daß wir das erbitten, was zu unserem Nutzen dient. Wenn wir also Gott bitten: „Dein Name werde geheiligt“, so will er erproben, ob wir ihn frei umsonst oder aus Hoffnung auf Lohn lieben und verehren; wir sollen also hierbei in keiner Weise an unseren Vorteil denken, sondern uns seine Ehre vor Augen halten und sie allein gespannten Blickes anschauen! Auch bei den übrigen Bitten dieser Art dürfen wir nicht anders gesinnt sein. Dabei dient uns eben dies (tatsächlich) zu unserem großen Vorteil; denn wenn Gottes Name geheiligt wird, wie wir es begehren, so geschieht wiederum auch unsere Heiligung! Trotzdem müssen unsere Augen, wie gesagt, gegenüber solchem Nutzen geschlossen, ja gewissermaßen blind sein, so daß sie durchaus nicht darauf schauen! Wenn also alle Hoffnung auf unser eigenes Wohl abgeschnitten wäre, so sollten wir dennoch nicht aufhören, diese Heiligung des Namens Gottes und alles andere, was zu Gottes Ehre gehört, zu wünschen und in unseren Gebeten zu begehren. So sieht man es an dem Beispiel des Mose und dem des Paulus: es fiel ihnen nicht schwer, Herz und Auge von sich selber abzuwenden und mit heftigem, inbrünstigem Eifer ihren eigenen Untergang zu begehren, um durch solche Selbsthingabe Gottes Ehre und Reich zu fördern! (Ex. 32,32; Röm. 9,3). Wenn wir auf der anderen Seite beten: „Unser täglich Brot gib uns heute“, so begehren wir damit allerdings etwas zu unserem eigenen Wohl; aber wir sollen trotzdem auch hier vor allem Gottes Ehre suchen, so daß wir also auch das tägliche Brot nicht begehren, sofern es nicht zu seiner Ehre gereicht: Jetzt aber wollen wir an die Auslegung des Gebets selber herantreten.

 

 

 

III,20,36

 

Hier tritt uns nun zunächst gleich zu Eingang wieder entgegen, was wir schon oben ausgeführt haben: wir können all unser Gebet nur im Namen Christi vor Gott bringen, wie es ihm auch in keinem anderen Namen empfohlen werden kann! Denn wenn wir Gott unseren Vater nennen, so berufen wir uns damit sicherlich auf den Namen Christi. Wie sollte sonst auch jemand zu der Zuversicht kommen Gott seinen Vater zu nennen? Wer sollte sich zu dem frechen Vorwitz hinreißen lassen, sich die Ehre anzumaßen, ein Kind Gottes zu sein, wenn wir nicht in Christus zu Kindern der Gnade angenommen wären? Denn er, der der wahre Sohn ist, er ist uns von Gott zum Bruder gegeben, damit uns das, was ihm von Natur eigen ist, durch die Wohltat der Annahme in die Kindschaft zuteil werde, sofern wir solche Freundlichkeit in festem Glauben annehmen. So sagt Johannes, denen, die an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glauben, sei nun „Macht“ gegeben, auch selbst „Gottes Kinder zu werden“! (Joh. 1,12).

Deshalb nennt er sich unseren Vater und will auch von uns so angeredet werden, und durch die wunderbare Süßigkeit dieses Namens entreißt er uns allem Mangel an Vertrauen; denn es läßt sich keine Liebe finden, die herzlicher wäre als die eines Vaters! Er konnte also seine unermeßliche Liebe zu uns durch keinen gewisseren Beweis belegen als dadurch, „daß wir Gottes Kinder sollen heißen“! (1. Joh. 3,1). Seine Liebe zu uns ist aber größer und herrlicher als alle Liebe unserer Eltern, weil er ja an Güte und Erbarmen hoch über allen Menschen steht. So mag es auf Erden wohl Väter geben, die alles Empfinden väterlicher Zuneigung von sich getan haben und ihre Kinder im Stich lassen. Er aber wird uns nie verlassen (Ps. 27,10; Jes. 63,16); denn er „kann sich selbst nicht verleugnen“! (2. Tim. 2,13). Wir haben

 

ja sein Verheißungswort: „So denn ihr, die ihr doch arg seid, könnt dennoch euren Kindern gute Gaben geben, wieviel mehr ... euer Vater im Himmel ...!“ (Matth. 7,11). Oder auch entsprechend bei dem Propheten: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen...? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen!“ (Jes. 49,15). Nun kann sich aber ein Kind nicht in die Obhut eines außenstehenden, fremden Menschen begeben, ohne damit seinen Vater der Grausamkeit oder Armut zu bezichtigen. Sind wir also Gottes Kinder, so können wir nicht anderswo als bei ihm Hilfe suchen, ohne ihm damit Armut und Mangel an Vermögen oder auch Grausamkeit oder übermäßige Härte vorzuwerfen!

 

 

 

III,20,37

 

Wir sollen auch nicht einwenden, das Bewußtsein unserer Sünden müßte uns doch billig furchtsam machen; denn diese machten doch unseren Vater, so gütig und freundlich er auch sei, tagtäglich gegen uns erzürnt! Unter uns Menschen kann doch ein Sohn keinen besseren Fürsprecher finden, um bei seinem Vater seine Sache zu vertreten, auch keinen besseren Vermittler, um die verlorene Gnade seines Vaters zurückzugewinnen und wiederzuerlangen, - als wenn er selbst fußfällig und demütig seine Schuld bekennt und den Vater um Erbarmen anfleht! Denn das väterliche Herzblut kann sich ja dann nicht verleugnen, sondern läßt sich von solchen Bitten bewegen. Wenn es so bei uns Menschen steht - was wird dann der tun, der „der Vater der Barmherzigkeit und der Gott alles Trostes“ ist? (2. Kor. 1,3). Wird er nicht lieber die Tränen und Seufzer seiner Kinder erhören, die für sich zu ihm beten - vor allem, wo er uns dazu doch einlädt und ermuntert -, als irgendwelche Fürsprache anderer? Denn wenn sie, nicht ohne eine gewisse Verzweiflung an den Tag zu legen, in ihrer Zaghaftigkeit zu solchem Beistand anderer ihre Zuflucht nehmen, so geschieht das doch deshalb, weil sie zu der Freundlichkeit und Güte ihres Vaters kein Vertrauen haben! Diesen überfließenden Reichtum väterlicher Freundlichkeit hat er uns in einem Gleichnis gemalt und vor Augen gestellt: Da ist ein Sohn, der sich von seinem Vater entfremdet, der seine Habe mit Prassen vergeudet, der sich auf allerlei Weise schwer gegen ihn vergangen hat - und der Vater nimmt ihn doch mit offenen Armen auf, wartet auch nicht, bis er mit Worten um Verzeihung bittet, sondern kommt ihm selbst zuvor, erkennt ihn bei seiner Rückkehr von ferne, eilt ihm aus freien Stücken entgegen, tröstet ihn, nimmt ihn in seine Gnade auf! (Luk. 15,11ff.). Wenn er uns damit an einem Menschen ein Beispiel solcher großen Güte zu schauen gibt, dann will er uns damit lehren, wieviel reichlicher wir solche Freundlichkeit von ihm erwarten sollen, der doch nicht bloß ein Vater ist, sondern von allen Vätern der denkbar beste und gütigste! Und da mögen wir noch so undankbare, noch so aufrührerische und verworfene Kinder sein - wenn wir uns nur in sein Erbarmen hinein versenken! Um uns nun einen um so gewisseren Glauben zu geben, daß er ein solcher Vater für uns ist, wenn wir Christen sind, will er nicht nur, daß wir „Vater“ sagen, sondern: „Unser Vater.“ Wir sollen also etwa in der Weise mit ihm reden: Vater, der du so voll Liebe gegen deine Kinder bist, der du so gern bereit bist, ihnen zu verzeihen, - wir, deine Kinder, rufen zu dir und fragen nach dir und sind dabei der gewissen Zuversicht, daß du gegen uns keine andere als väterliche Gesinnung trägst, wie unwürdig wir auch solch eines Vaters sind!

Aber unser Herz in seiner Enge vermag diese Unermeßlichkeit der Gnade gar nicht zu fassen, und deshalb ist nicht nur Christus für uns das Pfand und Angeld unserer Aufnahme in die Kindschaft, sondern er gibt uns auch als Zeugen dieser Kindschaft den Heiligen Geist, durch den wir mit freier, lauter Stimme rufen dürfen: „Abba, lieber Vater!“ (Röm. 8,15; Gal. 4,6). Sooft uns also zaudernde Furcht hemmen will, sollen wir daran denken, von ihm zu begehren, er wolle unsere Zaghaftigkeit beheben und uns diesen Geist der Hochgemutheit zum Führer schenken, damit wir kühnlich beten können!

 

III,20,38

 

Nun werden wir aber nicht so unterwiesen, daß jeder für sich allein Gott als seinen Vater anrufen soll, sondern wir sollen ihn vielmehr unseren gemeinsamen Vater nennen. Dadurch werden wir daran gemahnt, wie stark der Drang brüderlicher Liebe unter uns sein soll, die wir doch gleichermaßen eines solchen Vaters Kinder sind, auf Grund der gleichen Barmherzigkeit und der gleichen unverdienten Gnade! Denn wir haben alle gemeinsam einen Vater (Matth. 23,9), von dem alles herkommt, was uns je Gutes widerfahren mag, und deshalb darf unter uns nichts geteilt sein, was wir nicht mit größter, herzlicher Freudigkeit einander mitzuteilen bereit wären, soweit es erforderlich ist.

 

Wenn wir nun so, wie es billig ist, einander die Hand reichen und Hilfe bieten wollen, so können wir unseren Brüdern nicht besser zu ihrem Wohle dienen, als wenn wir sie der Fürsorge und Vorsehung unseres lieben Vaters empfehlen; denn wem er seine Gnade und Gunst zuwendet, dem mangelt nichts mehr! Eben dies aber sind wir auch unserem Vater selbst schuldig. Wenn jemand einen Hausvater wahrhaft und von Herzen liebt, so umfaßt er zugleich sein ganzes Haus mit seiner Liebe und seinem Wohlwollen. Darum müssen wir nun auch unsere Neigung und Gesinnung gegen diesen himmlischen Vater zugleich seinem Volk, seinen Hausgenossen, kurz, seinem ganzen Erbteil erzeigen, das er doch so geehrt hat, daß er es „die Fülle“ seines eingeborenen Sohnes nennt! (Eph. 1,23). Der Christenmensch muß also seine Gebete nach der Regel richten, daß sie auf die Gemeinschaft bezogen sind und alle umfassen, die in Christus seine Brüder sind! Damit schließt er nicht nur die ein, die er gegenwärtig als seine Brüder um sich sieht, sondern alle Menschen, die auf der Erde leben. Er weiß nicht, was Gott über sie beschlossen hat, aber das weiß er: daß es ebenso fromm wie menschlich ist, für sie das Beste zu wünschen und zu erhoffen! Freilich sollen wir vor allem mit besonderer Liebe zu „des Glaubens Genossen“ hinneigen, die uns der Apostel in jeder Hinsicht besonders ans Herz gelegt hat (Gal. 6,10). Kurz, alle unsere Gebete müssen so beschaffen sein, daß sie sich auf die Gemeinschaft richten, die unser Herr in seinem Reich, seinem Haus aufgerichtet hat!

 

 

 

III,20,39

 

Doch hindert das nicht, daß wir auch für uns und bestimmte andere Menschen besonders bitten dürfen; nur darf sich unser Herz von dem Blick auf diese Gemeinschaft nicht abbringen lassen, ja nicht einmal davon abweichen, sondern es muß alles darauf ausrichten. Mögen solche Gebete ihrer Fassung nach auf einzelne gehen, so hören sie doch nicht auf, auf die Gemeinschaft bezogen zu sein, weil sie ja auf jenen Zielpunkt ausgerichtet sind: Dies läßt sich alles an einem Vergleich leicht begreifen. Es ist Gottes allgemeines Gebot, der Not aller Armen zu steuern, und doch leisten die diesem Gebot Gehorsam, welche zu diesem Zweck dem Mangel derer zu Hilfe kommen, von denen sie wissen oder sehen, daß sie in Not sind - selbst wenn sie dabei viele übergehen, die von gleicher Not bedrückt sind, und zwar weil sie nicht alle kennen oder auch nicht allen ausreichend helfen können! In gleicher Weise verstößt auch der nicht gegen Gottes Willen, der seinen Blick und seine Gedanken auf die allgemeine Gemeinschaft der Kirche richtet und nun solche Gebete hält, die sich auf einzelne beziehen; wobei er also aus einem der ganzen Gemeinschaft gehörigen Sinn heraus doch mit besonderen Worten sich oder andere Gott ans Herz legt, deren Not ihm Gott nach seinem Willen näher zu erkennen gegeben hat.

Allerdings ist diese Ähnlichkeit zwischen dem Gebet und der Darreichung des Vermögens an den Bruder nicht ganz allgemein. Denn die gütige Handreichung läßt sich nur denen gegenüber ausüben, deren Armut uns bekannt ist; durch die Fürbitte können wir aber auch den Fremdesten und Unbekanntesten beistehen, wie groß auch die Weite der Entfernung sein mag, die uns von ihnen trennt. Das geschieht nun durch jene allgemeine Fassung des Gebets, in die alle Kinder

 

Gottes eingeschlossen sind; darunter befinden sich jene aber auch! Hierauf können wir es beziehen, wenn Paulus die Gläubigen seiner Zeit ermahnt, „an allen Orten heilige Hände aufzuheben ohne Zorn und Zweifel“ (1. Tim. 2,8). Er erinnert uns hier daran, daß die Zwietracht dem Gebet die Tür verschließt, und er verlangt daraufhin, daß die Gläubigen ihre Gebete einmütig dem allgemeinen Nutzen dienen lassen.

 

 

 

III,20,40

 

Dann heißt es weiter: „... der du bist in den Himmeln“. Daraus soll man nicht gleich schließen, Gott sei in den Umkreis des Himmels wie zwischen Zäune eingeschlossen und an ihn in engen Grenzen gebunden. Denn Salomo bekennt, daß ihn „der Himmel und aller Himmel Himmel“ nicht zu fassen vermögen (1. Kön. 8,27). Und er spricht selbst durch den Mund des Propheten aus, daß der „Himmel sein Stuhl ist und die Erde seiner Füße Schemel“ (Jes. 66,1; Apg. 7,49; 17,24). Damit gibt er uns zu verstehen, daß er nicht von einem bestimmten Ort begrenzt ist, sondern alles durchdringt. Aber unser Sinn vermag in seiner Grobschlächtigkeit sonst seine unaussprechliche Herrlichkeit nicht zu fassen, und deshalb wird sie uns unter dem Bilde des Himmels angedeutet; denn wir können ja nichts Erhabeneres oder Majestätischeres erschauen als ihn! Wo auch immer unsere Sinne irgend etwas wahrnehmen, da pflegen sie es an den Ort zu binden, an dem sie es wahrnehmen; deshalb wird nun also Gott außerhalb jedes Orts gestellt; wenn wir ihn also suchen wollen, so müssen wir über alle Empfindungen Leibes und der Seele hinausgehoben werden! Zudem wird durch diese Redeweise Gott allen Wechselfällen der Verweslichkeit oder Veränderlichkeit gänzlich entnommen. Und schließlich wird uns dadurch deutlich gemacht, daß er die ganze Welt umfaßt und zusammenhält und sie mit seiner Macht regiert. Es ist also, als ob es hieße: er besitzt unendliche Größe und Hoheit, unbegreifliches Wesen, unermeßliche Macht und ewige Unsterblichkeit. Wenn wir das aber vernehmen, so muß unser Denken sich höher schwingen, wenn von Gott die Rede ist, damit wir von ihm nichts Irdisches oder Fleischliches erträumen, ihn auch nicht nach unserem Maß messen und seinen Willen nicht nach unseren Regungen beurteilen! Zugleich soll damit aber auch unsere Zuversicht auf ihn gerichtet werden; wissen wir doch, daß er mit seiner Vorsehung und seiner Kraft Himmel und Erde lenkt!

Ich fasse zusammen. Unter dem Namen „Vater“ tritt der Gott vor uns hin, der uns in seinem Ebenbilde erschienen ist, damit er in gewissem Glauben angerufen werde. Dieser vertraute Vatername soll nun aber nicht nur unserer Zuversicht dienen, sondern er hat auch die Kraft, unseren Sinn zurückzuhalten, damit er sich nicht zu unsicheren, erdachten Göttern hinziehen läßt, sondern von dem eingeborenen Sohne aus zu dem einen Vater der Engel und der Kirche emporsteigt! Daß sein Thron in den Himmeln steht, das soll uns auf Grund seiner Weltregierung daran mahnen, daß wir nicht vergebens zu ihm kommen, da er uns doch von sich aus mit gegenwärtiger Fürsorge entgegenkommt! Der Apostel sagt: „Wer zu Gott kommen will, der muß zuvor glauben, daß er sei und denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde“ (Hebr. 11,6). Beides schreibt Christus hier seinem Vater zu: auf ihn soll unser Glaube gegründet sein, und dann sollen wir auch die feste Gewißheit haben, daß er sich unser Heil angelegen sein läßt, weil er sich ja herbeiläßt, seine Vorsehung bis zu uns reichen zu lassen. Von solcher Grundlage her unterweist uns Paulus zum rechten Beten; er gebietet uns, unsere Bitten vor Gott kund werden zu lassen (Phil. 4,6); aber er macht zunächst eine Vorrede und sagt: „Sorget nichts.. Der Herr ist nahe!“ (Phil. 4,5f.). Daraus wird deutlich: wer sich nicht ganz fest daran hält: „Des Herrn Auge sieht auf die Gerechten“ (Ps. 33,18; nicht Luthertext), der kann seine Gebete bloß zweifelnd und verwirrt im Herzen bewegen.

 

III,20,41

 

Die erste Bitte geht dahin, daß Gottes Name geheiligt werde. Daß wir so beten müssen, bringt uns große Unehre. Denn was ist unwürdiger, als daß Gottes Ehre teils durch unsere Undankbarkeit, teils durch unsere Bosheit verdunkelt, ja, daß sie gar durch unsere Vermessenheit und wilde Frechheit, soweit es an ihnen ist, zunichte gemacht wird? Mögen nun aber auch alle Gottlosen in ihrer lästerlichen Willkür bersten - die Heiligkeit des Namens Gottes wird doch hell erstrahlen! Nicht ohne Ursache ruft der Prophet aus: „Gott, wie dein Name, so ist dein Ruhm bis an der Welt Enden!“ (Ps. 48,11). Denn wo immer Gott bekannt geworden ist, da treten auch seine Tugenden unweigerlich an den Tag, seine Macht und Güte, Weisheit und Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Wahrheit - und sie reißen uns fort, ihn zu bewundern, und treiben uns dazu, seinen Lobpreis zu verherrlichen! Weil nun also Gott auf Erden seiner Heiligkeit so schändlich beraubt wird, so wird uns, wenn es uns schon nicht gegeben ist, sie zu verteidigen, wenigstens geboten, in unseren Gebeten für sie einzustehen.

 

Der Hauptinhalt dieser Bitte ist: wir sollen wünschen, daß Gott die Ehre widerfährt, die ihm gebührt, daß also die Menschen niemals ohne die höchste Ehrerbietung von ihm reden oder an ihn denken. Im Gegensatz dazu steht die Entheiligung des Namens Gottes, die stets in der Welt gar zu sehr üblich war, wie sie auch heute noch im Schwange geht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit dieser Bitte, die allerdings, wenn auch nur ein wenig Frömmigkeit bei uns lebendig wäre, eigentlich überflüssig sein sollte! Die Heiligkeit des Namens Gottes hat nun aber dann ihren Bestand, wenn er von allem anderen abgesondert ist und wenn an ihm lauter Herrlichkeit zutage tritt. Wir sollen also nach dieser Anweisung nicht nur darum beten, Gott möge diesen heiligen Namen vor aller Verachtung und Schande bewahren, sondern auch: er möge das ganze Menschengeschlecht zur Ehrerbietung gegen seinen Namen zwingen.

 

Da sich uns Gott nun teils durch seine Lehre, teils auch durch seine Werke offenbart, so wird er nur dann von uns geheiligt, wenn wir ihm in beiderlei Hinsicht zukommen lassen, was ihm gehört, und so alles annehmen, was von ihm kommt, auch seiner Strenge nicht weniger Lobpreis zuteil werden lassen, als seiner Güte; denn er hat die Merkzeichen seiner Herrlichkeit seinen vielfältig verschiedenartigen Werken aufgeprägt, und diese soll billigerweise allen Zungen das Bekenntnis seines Lobes entlocken! So wird es geschehen, daß die Heilige Schrift bei uns die verdiente Autorität erlangt und wir uns durch kein Geschehen an dem Lobpreis hindern lassen, den Gott über dem ganzen Gang seiner Regierung verdient. Auf der anderen Seite geht diese Bitte auch dahin, daß alle Gottlosigkeit, die diesen heiligen Namen besudelt, vergehe und abgetan werde, daß alles, was diese Heiligung des Namens Gottes verdunkelt oder mindert, nämlich alle Schmähung und aller Spott, weiche, und daß Gottes Majestät je mehr und mehr verherrlicht werde, indem er alle Lästerungen dämpft!

 

 

 

III,20,42

 

Die zweite Bitte geht dahin, daß Gottes Reich komme. Sie enthält zwar nichts Neues, wird aber doch von der ersten nicht ohne Ursache unterschieden. Denn wenn wir unsere Schläfrigkeit in dieser Sache, die doch von allen die wichtigste ist, recht erwägen, so ist es schon nötig, daß uns doch noch eingeschärft wird, was uns allerdings an sich völlig bekannt sein sollte! Wir haben bisher die Weisung empfangen, Gott zu bitten, er möge alles, was seinen heiligen Namen mit einem Makel besudelt, in die Reihe bringen und schließlich ganz und gar zunichte machen. Jetzt wird eine zweite, ähnliche und fast gleiche Bitte zugefügt, nämlich daß sein Reich komme.

Was dies Reich ist, habe ich bereits oben umschrieben; ich will es aber hier kurz wiederholen: Gott übt da seine Herrschaft, wo die Menschen sich selbst verleugnen, zugleich die Welt und das irdische Leben verachten und sich damit seiner Gerechtig-

 

keit hingeben, um nach dem himmlischen Leben zu trachten. Dies Reich umfaßt also wesentlich zweierlei: erstens, daß Gott alle Begierden des Fleisches, die in geschlossenen Heerhaufen wider ihn streiten, durch die Kraft seines Geistes dämpft, zweitens, daß er unsere Sinne zum Gehorsam gegen seinen Befehl zubereitet.

 

Daher hält nur der bei dieser Bitte die rechte Ordnung ein, der bei sich selber den Anfang macht, um sich nämlich von allen Verderbnissen zu reinigen, die den geordneten Zustand des Reiches Gottes in Verwirrung bringen und seine Reinheit beflecken. Weil aber nun das Wort Gottes wie ein königliches Zepter ist, so wird uns hier aufgetragen, darum zu beten, daß er die Sinne und Herzen aller Menschen dem freiwilligen Gehorsam gegen dies Wort unterwerfe. Das geschieht, wo er durch die verborgene Triebkraft seines Heiligen Geistes seinem Worte Wirkung verschafft, so daß es die hervorragende Ehre erhält, die ihm zukommt. Dann müssen wir uns auch den Gottlosen zuwenden, die Gottes Herrschaft halsstarrig und in verzweifelter Wut Widerstand leisten. Gott richtet also sein Reich auf, indem er die ganze Welt demütigt. Dies aber vollzieht sich auf verschiedene Weise: Gott dämpft die Ausgelassenheit der einen, und die zügellose Hoffart der anderen zerbricht er. Wir sollen wünschen, daß dies Tag für Tag geschehe, damit Gott seine Kirche aus allen Orten der Welt versammle, sie der Zahl nach ausbreite und wachsen lasse, sie mit seinen Gütern reich mache, in ihr die rechte Ordnung aufrichte, auf der anderen Seite alle Feinde der reinen Lehre und Religion zu Boden werfe, ihre Pläne zunichte mache und ihre Anschläge verstöre! Daraus wird deutlich, daß uns nicht ohne Ursache der Eifer darum aufgetragen wird, daß Gottes Reich Tag für Tag Fortschritte mache 1); denn es steht um unsere menschlichen Dinge nie so gut, daß aller Schmutz der Sünden abgetan und ausgefegt wäre und die Lauterkeit voll in Blüte und Kraft stünde. Die Vollendung dieses Reiches aber dehnt sich aus bis zum endgültigen Kommen Christi; dann wird nach der Lehre des Paulus „Gott sein alles in allen“ (1. Kor. 15,28).

 

So soll uns diese Bitte von den Befleckungen der Welt wegziehen, die uns von Gott trennen, so daß sein Reich in uns keine Kraft gewinnt. Zugleich soll sie unseren Eifer entfachen, unser Fleisch zu töten, und schließlich soll sie uns zum geduldigen Tragen des Kreuzes anleiten; denn auf diese Art will Gott sein Reich ausbreiten. Wir sollen uns aber nicht darüber grämen, wenn unser äußerer Mensch verfällt, wenn nur der innere erneuert wird! (2. Kor. 4,16). Denn Gottes Reich ist so beschaffen, daß er uns, wenn wir uns seiner Gerechtigkeit unterwerfen, auch seiner Herrlichkeit teilhaftig macht. Das geschieht, wenn er sein Licht und seine Wahrheit durch immer größeres Wachstum verherrlicht, durch das die Finsternis und die Lügen des Satans und seines Reiches zergehen, ausgelöscht werden und umkommen, - wenn er die Seinen schützt und sie durch die Hilfe seines Geistes auf die rechte Bahn leitet und zum Beharren kräftig macht, wenn er dagegen die gottlosen Anschläge der Feinde zunichte macht, ihre Hinterlist und ihren Betrug aufdeckt, ihrer Bosheit entgegentritt, ihre Halsstarrigkeit dämpft - bis daß er schließlich den Antichrist „umbringen wird mit dem Geist seines Mundes“ und alle Gottlosigkeit durch den Glanz seines Kommens vernichtet! (2. Thess. 2,8).

 

 

 

III,20,43

Die dritte Bitte geht dahin, daß Gottes Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Das hängt nun von Gottes Reich ab und kann von ihm nicht abgesondert werden; es wird aber doch nicht ohne Ursache noch besonders für sich hinzugefügt, weil wir ja in unserer Grobschlächtigkeit nicht leicht und nicht alsbald begreifen, was es eigentlich heißt: Gott übt sein Regiment in der Welt! Es wird daher nicht ungereimt sein, wenn wir annehmen, daß es sich hier um

 

eine Auslegung des vorigen handelt: Gott wird dann in der Welt König sein, wenn sich alle seinem Willen unterwerfen.

 

Nun geht es aber hier nicht um Gottes verborgenen Willen, mit dem er alles lenkt und seiner Absicht dienstbar macht. Denn der Satan und die Menschen mögen sich gegen diesen Willen noch so sehr auflehnen, so weiß er doch nach seinem unerforschlichen Ratschluß ihre Anläufe nicht nur zu lenken, sondern sie auch unter seine Ordnung zu zwingen, um durch sie auszuführen, was er beschlossen hat!

 

Hier ist aber ein anderer Wille Gottes gemeint, nämlich der, welchem der freiwillige Gehorsam entspricht. Deshalb wird hier auch ausdrücklich der Himmel mit der Erde verglichen; denn die Engel leisten Gott, wie es im 103. Psalm ausgeführt wird, freiwillig Gehorsam und sind darauf gespannt, seine Befehle auszurichten (Ps. 103,20). Wie also im Himmel nichts geschieht, was nicht aus Gottes Wink hervorgeht, und wie die Engel zu allem rechten Werk gehorsam bereit sind, so sollen wir hier wünschen, daß auch auf Erden alle Widerspenstigkeit und alle Bosheit vertilgt werde und die Erde solchem Befehl Gottes sich unterwerfe.

 

Wenn wir das nun begehren, so leisten wir auf die Wünsche unseres Fleisches Verzicht; denn wer sein Wollen nicht Gott hingibt und überläßt, der stellt sich, soviel an ihm ist, seinem Willen entgegen, weil aus uns ja nichts hervorgeht, was nicht verderbt wäre. Durch diese Bitte werden wir nun aufs neue zur Selbstverleugnung angeleitet, damit uns Gott nach seinem Gutdünken regiere, und nicht allein dies, sondern zugleich damit er unseren Sinn und unser Herz zunichte mache und in uns einen neuen Sinn und ein neues Herz schaffe, damit in uns keine Regung der Begierde mehr aufkomme, als allein die lautere Übereinstimmung mit seinem Willen! Kurz, wir sollen nichts mehr aus uns selbst heraus wollen, sondern sein Geist soll unser Herz regieren, damit wir durch seine innere Unterweisung lernen, zu lieben, was ihm wohlgefällig ist, und zu hassen, was ihm mißfällt. Daraus folgt dann auch dies, daß er alle Regungen, die seinem Willen widerstreiten, eitel und wirkungslos mache.

 

Das sind also die drei ersten Hauptstücke des Gebets; wenn wir diese Bitten vorbringen, so gilt es, allein Gottes Ehre vor Augen zu haben und alle Rücksicht auf uns selber fahren zu lassen, auch nicht auf irgendwelchen eigenen Vorteil zu achten. Gewiß erwächst uns hieraus auch selbst reicher Nutzen; aber diesen sollen wir nicht suchen. Und obwohl dies alles auch, wenn wir nicht daran denken, wenn wir es nicht wünschen und wenn wir nicht darum bitten, nichtsdestoweniger zu seiner Zeit geschehen muß, so sollen wir es dennoch wünschen und begehren. Das zu tun ist auch recht von Wichtigkeit, damit wir so bezeugen und bekennen, daß wir Gottes Knechte und Kinder sind, indem wir, soviel an uns ist, nach seiner Ehre trachten, wie wir es ihm als dem Herrn und dem Vater schuldig sind, und uns dieser Aufgabe wahrhaft und von Herzensgrund hingeben. Wer also nicht von solchem Drang und Eifer um die Förderung der Ehre Gottes erfaßt ist und deshalb nicht betet, daß Gottes Name geheiligt werden möge, daß sein Reich komme, daß sein Wille geschehe - der ist auch nicht zu den Kindern und Knechten Gottes zu rechnen. Und wenn dann all dies doch auch gegen den Willen solcher Menschen geschieht, so gereicht es ihnen eben zur Beschämung und zum Verderben.

 

 

 

III,20,44

Jetzt folgt der zweite Teil des Gebets, in dem wir zu dem übergehen, was unserem eigenen Wohlergehen dient. Das bedeutet nicht, daß wir etwa Gottes Ehre fahren lassen und nur um das bitten wollten, was uns selber nützt! Nach dem Zeugnis des Paulus soll ja selbst beim Essen und Trinken unser Augenmerk auf Gottes Ehre gerichtet sein! (1. Kor. 10,31). Nein, diese Unterscheidung besagt, wie oben ausgeführt, folgendes: Indem sich Gott drei Bitten ganz allein vorbehält, zieht er uns ganz an sich heran, um auf diese Weise unsere Frömmigkeit zu erproben; dann

 

aber gestattet er uns auch, für unser eigenes Wohl zu sorgen, aber doch nach der Regel, daß wir bei allem, was wir erbitten, das Ziel vor Augen haben sollen: es muß alles, was er uns an Wohltaten zuteil werden läßt, seinen Ruhm verherrlichen - denn es ist ja nichts billiger, als daß wir ihm leben und ihm sterben! (Röm. 14,7-9).

 

In dieser (vierten) Bitte („Unser täglich Brot gib uns heute“) begehren wir von Gott nun allgemein alles, dessen unseres Leibes Notdurft unter den Elementen dieser Welt bedarf; wir bitten also nicht nur, daß wir Nahrung und Kleidung bekommen, sondern auch sonst alles, was uns nach seinem Ermessen dazu hilft, unser Brot mit Frieden zu essen. Wir begeben uns also, kurz gesagt, mit dieser Bitte in seine Obhut und vertrauen uns seiner Vorsehung an, damit er uns nähre, versorge und bewahre. Denn unser lieber Vater hält es nicht für unwert, auch unseren Leib in seine Treue und Obhut zu nehmen. Gerade in diesen ganz geringen Dingen will er unseren Glauben üben, indem wir nun von ihm alles erwarten, selbst einen Bissen Brot und einen Tropfen Wassers! Es ist - ich weiß nicht, durch was für eine Ungerechtigkeit von uns! - dazu gekommen, daß uns die Sorge um unser Fleisch mehr ergreift und quält, als die um unsere Seele, und es gibt auf diese Weise viele Leute, die es wohl wagen, Gott hinsichtlich ihrer Seele zu trauen, die aber noch immer in Sorge um ihr Fleisch sind und noch zweifelnd fragen: „Was werden wir essen und womit sollen wir uns kleiden?“ Haben solche Leute nicht Wein und Korn und Öl in Menge vor sich, dann geraten sie ans Zittern. So viel höher achten wir den Schatten dieses vergänglichen Lebens als jene ewige Unsterblichkeit! Wer aber Gott vertraut und damit diese ängstliche Sorge um das Fleisch von sich abgetan hat, der erwartet zugleich auch das Größere von ihm, auch das Heil und das ewige Leben. Es ist also keine geringe Übung im Glauben, von Gott zu erhoffen, was uns sonst so sehr in Angst hält, und es ist kein gar so geringer Fortschritt, wenn wir diesen Unglauben ablegen, der fast allen Menschen nagend in den Knochen sitzt.

 

Hier philosophieren nun einige Leute von einem „übernatürlichen“ Brot. Das scheint mir aber mit Christi Meinung gar wenig übereinzustimmen. Ja, wenn wir Gott nicht auch in diesem hinfälligen Leben für unseren Ernährer halten wollten, so wäre unser Gebet nur Stückwerk! Die Begründung, die man hier vorbringt, ist gar zu unheilig; man erklärt, es sei doch nicht angemessen, wenn die Kinder Gottes, die doch geistlich sein sollten, nicht nur ihr Herz an irdische Sorgen hängten, sondern auch Gott noch mit sich darin verstrickten. Als ob nicht auch in unserer Nahrung sein Segen und seine väterliche Gunst hervorleuchtete, oder als ob es nichts wäre, wenn geschrieben steht: „Die Gottseligkeit ... hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens!“ (1. Tim. 4,8). Gewiß ist die Vergebung der Sünden weit wichtiger als die Ernährung unseres Leibes; aber Christus hat doch das, was weniger bedeutet, an die erste Stelle gesetzt, um uns dann zu den beiden anderen Bitten, die dem himmlischen Leben zugehören, stufenweise emporzuführen. Damit ist er unserer Trägheit zu Hilfe gekommen.

Wenn uns nun hier geboten wird, um unser Brot zu bitten, so geschieht das, damit wir uns mit dem zugeteilten Maß zufrieden geben, das uns der himmlische Vater zu gewähren sich herbeigelassen hat, und nicht etwa mit unerlaubten Künsten Gewinn zu erhaschen suchen. Dabei müssen wir festhalten, daß uns unser Brot als Geschenk zukommt, weil, wie Mose sagt, weder unser Fleiß, noch unsere Arbeit, noch unsere Hände uns aus sich heraus etwas erwerben können, ohne daß Gottes Segen dabei wäre! (Lev. 26,20). Ja, selbst eine Fülle von Brot würde uns nicht im mindesten nützen, wenn es nicht von Gott in Nahrung gewandelt würde! Deshalb ist diese Freigebigkeit Gottes für die Reichen nicht weniger vonnöten, als für die Armen; denn auch bei vollen Kammern und Scheunen würden die

 

Menschen kraftlos und hungrig ermatten, wenn sie nicht durch seine Gnade ihr Brot genießen dürften.

 

Durch den Zusatz „heute“ oder „alle Tage“ - wie es bei dem anderen Evangelisten (Lukas: „immerdar“) heißt -, auch durch das Beiwort „unser „täglich“ Brot...“ wird unserer unmäßigen Gier nach vergänglichen Dingen ein Zügel angelegt. Wir pflegen ja in dieser Gier ohne alles Maß inbrünstig zu sein. Und dazu kommen dann auch andere Unarten: wenn uns ein reicherer Überfluß zur Verfügung steht, so geraten wir gleich in Wollust, in Vergnügungen, in Prunk und allerlei sonstige Ausschweifungen! Deshalb sollen wir nach dieser Weisung nur soviel erbitten, wie es zu unserer Notdurft ausreicht, gleichsam von einem Tag auf den anderen. Dabei sollen wir die Zuversicht haben, daß der himmlische Vater, der uns heute ernährt hat, uns auch morgen nicht verlassen wird. Es mag uns also eine noch so große Fülle von Gütern zufließen, es mögen auch unsere Scheunen gefüllt und unsere Vorratskammern voll sein, so sollen wir doch stets um das tägliche Brot bitten. Denn wir müssen mit Gewißheit daran festhalten, daß all unser Hab und Gut nichts ist, sofern es nicht der Herr immerfort durch Ausgießung seines Segens fruchtbar macht. Ja, auch der Besitz, der sich in unserer Hand befindet - das müssen wir weiter bedenken - gehört nicht uns, sofern Gott uns nicht Stunde für Stunde unser Stücklein gewährt und uns den Gebrauch verstattet! Die menschliche Hoffart läßt sich davon nur sehr ungern überzeugen, und deshalb hat der Herr nach seinem Zeugnis für alle Zeiten einen Beweis gegeben, indem er in der Wüste sein Volk mit dem Manna ernährte, um uns daran zu mahnen, daß der Mensch „nicht lebt vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“! (Deut. 8,3; Matth. 4,4). Dadurch wird uns deutlich gemacht, daß unser Leben und unsere Kräfte einzig und allein durch Gottes Kraft erhalten werden, obwohl er sie uns durch leibliche Werkzeuge zuteil werden läßt. So pflegt er uns auch durch einen umgekehrten Beweis zu belehren: wenn es ihm gefällt, so bricht er die Kraft - oder wie er es selber nennt: den „Stab“ - des Brotes, so daß die, welche essen, vor Hunger verschmachten und die, die da trinken, verdursten! (Lev. 26,26; vgl. den Urtext).

 

Wer sich aber mit dem täglichen Brot nicht zufrieden gibt, sondern in zügelloser Gier nach unendlichem Gut schnappt, oder wer über seinem Überfluß satt und über der Menge seiner Reichtümer sicher ist und sich dann Gott trotzdem mit dieser Bitte vor die Füße wirft, der tut nichts anderes, als seiner zu spotten. Die Menschen der ersten Art bitten um etwas, das sie gar nicht erlangen wollen, ja das sie zutiefst verabscheuen, nämlich das „bloße“ tägliche Brot; sie verhehlen Gott, so sehr sie es vermögen, den Drang ihrer Habgier, während doch das wahre Gebet unseren ganzen Sinn, alles, was im Innern verborgen liegt, bei ihm ausschütten soll! Die anderen dagegen erbitten etwas, das sie in keiner Weise von ihm erwarten, weil sie ja meinen, es bereits bei sich selber zu besitzen!

 

Dadurch, daß dies Brot „unser“ Brot genannt wird, wird zunächst allerdings, wie gesagt, Gottes Güte verherrlicht, die uns das zueignet, was uns auf Grund keines Rechtes zukommt. Trotzdem ist auch die oben bereits berührte Ansicht nicht zu verwerfen, mit diesem Ausdruck werde der Ertrag rechter und ehrlicher Arbeit bezeichnet, nicht aber etwa das, was man sich mit Betrügerei oder Raub errafft hat. Denn was wir mit anderer Leute Schaden an uns bringen, das bleibt stets fremdes Gut.

 

Wenn wir bitten, das Brot möge uns gegeben werden, so wird damit deutlich gemacht, daß es schlechthin ein aus Gnaden uns gewährtes Geschenk Gottes ist, - woher es uns auch zukommen mag, selbst wenn es noch so sehr den Anschein hat, als hätten wir es uns mit Fertigkeit und Fleiß erschafft oder mit unserer Hände Arbeit erworben. Denn allein durch Gottes Segen kommt es dazu, daß unsere Arbeit recht vonstatten geht.

 

III,20,45

 

Dann folgt: „Vergib uns unsere Schulden..“. In dieser und der folgenden Bitte hat Christus kurz zusammengefaßt, was uns zum himmlischen Leben dient. Der geistliche Bund, den Gott zum Heil seiner Kirche geschlossen hat, besteht ja auch nur aus zwei Stücken: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben ...“ und „Ich will ihnen vergeben alle Missetaten“ (Jer. 31,33; 33,8). Hier macht Christus den Anfang mit der Vergebung der Sünden und läßt dann gleich die zweite Gnade folgen, nämlich daß uns Gott durch die Kraft seines Geistes und durch seine Hilfe stütze, damit wir wider alle Versuchungen unbesiegt standhalten!

 

Er nennt aber unsere Sünden „Schulden“, weil wir für sie Strafe schuldig sind und weil wir auf keine Weise Genugtuung leisten könnten, wenn wir nicht durch diese Vergebung davon loskämen. Diese Verzeihung geschieht aus seinem gnädigen Erbarmen heraus, indem er selbst in seiner Güte unsere Schulden austilgt; er empfängt von uns keinerlei Lösegeld, sondern verschafft sich aus seinem Erbarmen selber in Christus Genugtuung, der sich einmal zur Bezahlung für uns dahingegeben hat! (Röm. 3,24). Wer also darauf vertraut, Gott erhalte durch seine oder durch anderer Menschen Verdienste Genugtuung, und durch diese genugtuenden Werke werde die Vergebung der Sünden bezahlt und erworben, der hat an dieser aus Gnaden erfolgenden Vergebung keinen Anteil. Ruft ein solcher Mensch in dieser Form Gott an, so tut er nichts anderes, als daß er die Anklage gegen sich selber unterzeichnet und sich durch sein eigenes Zeugnis die Verdammnis versiegelt. Denn wer so betet, der bekennt, daß er ein Schuldner ist, wenn er nicht durch die Wohltat der Vergebung losgesprochen wird - diese Wohltat aber nimmt er nicht an, sondern weist sie vielmehr verächtlich von sich, indem er ja versucht, Gott seine eigenen Verdienste und Genugtuungen aufzudrängen! Er fleht eben auf diese Weise nicht Gottes Erbarmen an, sondern beruft sich auf sein Gericht!

Andere erträumen sich eine Vollkommenheit, die es nicht mehr notwendig macht, um Vergebung zu bitten. Sie mögen wohl Jünger haben, die sich von der Geilheit ihrer Ohren zu solchem Betrug verführen lassen; aber es steht doch fest, daß alle, die sie sich als Jünger gewinnen, Christus geraubt sind; denn er gibt allen die Weisung, ihre Schuld zu bekennen, und er nimmt also nur Sünder an! Er hat das nicht getan, weil er etwa ihren Sünden gar noch mit Schmeicheleien Nahrung geben wollte, sondern weil er wußte, daß die Gläubigen nie ganz vom Fleisch und seinen Gebrechen frei werden, sondern stets des Gerichtes Gottes schuldig bleiben! Es ist allerdings zu wünschen und wir müssen auch angespannt daran arbeiten, daß wir unsere Pflicht voll und ganz erfüllen, so daß wir uns dann wahrhaft vor Gott dessen rühmen könnten, wir seien von allen Makeln rein! Aber es ist Gottes Wohlgefallen, sein Ebenbild allmählich wieder neu in uns zum Ausdruck zu bringen, so daß also an unserem Fleisch immer noch irgendwelche Befleckung bleibt, und deshalb durfte diese Arznei unter keinen Umständen beiseite bleiben. Christus gebietet uns kraft seiner ihm vom Vater gegebenen Autorität, wir sollten im ganzen Lauf unseres Lebens unsere Zuflucht dazu nehmen, für unsere Schuld Abbitte zu tun! Wer will dann aber die neuen Lehrmeister erträglich finden, die mit dem Schein vollkommener Unschuld die Augen schlichter Leute zu blenden suchen, damit sie darauf vertrauen, sie könnten von aller Schuld frei und ledig gemacht werden? Das ist nach dem Zeugnis des Johannes nichts anderes, als daß man „Gott zum Lügner macht“ (1. Joh. 1,10). Durch ein solches Vorhaben nehmen diese Taugenichtse zugleich dem Bunde Gottes, in dem, wie wir sahen, doch unser Heil zusammengefaßt ist, ein Hauptstück (nämlich das ganz im Anfang dieser Sektion an zweiter Stelle genannte) weg und verstümmeln ihn dadurch, ja bringen ihn von Grund auf ins Wanken. Denn sie handeln nicht nur gotteslästerlich, indem sie diese beiden Stücke auseinanderreißen, die so fest miteinander verbunden sind, sondern auch gottlos und grausam, indem sie die armen Seelen in Verzweiflung stürzen; an sich selbst und an ihresgleichen aber handeln sie treulos, insofern

 

sie sich eine träge Ruhe verschaffen, die zu Gottes Barmherzigkeit in unaufhebbarem Gegensatz steht. - Sie wenden freilich ein: wenn wir um das Kommen des Reiches Gottes beteten, so erbäten wir damit doch zugleich die Beseitigung der Sünde. Aber das ist nun gar zu kindisch; denn in der ersten Tafel dieses Gebets wird uns die höchste Vollkommenheit, hier dagegen unsre Schwachheit vor Augen gestellt. Es stimmt also trefflich miteinander überein, daß wir einerseits nach dem Ziel streben und doch andererseits die Heilmittel nicht vernachlässigen, die unsere Notdurft erheischt.

 

Schließlich bitten wir, es möchte uns Vergebung zuteil werden, „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Das bedeutet: wir sollen allen denen Schonung und Vergebung gewähren, die uns irgendwie gekränkt oder mit irgendeiner Tat unbillig behandelt oder mit einem Wort verächtlich gemacht haben! Nicht, als ob es unsere Sache wäre, die Schuld solcher Übeltat oder Kränkung zu vergeben - denn das kommt allein Gott zu! (Jes. 43,25); nein, unsere Vergebung soll darin bestehen, daß wir aus freien Stücken allen Zorn, allen Haß, alle Rachsucht aus unsrem Herzen entfernen und die Erinnerung an Beleidigungen durch freiwilliges Vergessen tilgen. Deshalb können wir von Gott keine Vergebung der Sünden erbitten, wenn wir nicht allen, die uns beleidigen oder beleidigt haben, die an uns geschehene Kränkung vergeben. Wenn wir aber in unserem Herzen doch irgendwelchen Haß bewahren, wenn wir auf Rache sinnen und auf eine günstige Gelegenheit warten, den anderen zu schädigen, ja, wenn wir uns nicht anstrengen, mit unseren Feinden wieder in ein freundliches Verhältnis zu kommen und sie durch allerlei Dienstleistungen zu gewinnen und mit uns zu versöhnen - dann bitten wir Gott in dieser Bitte, er wolle uns keine Vergebung der Sünden zuteil werden lassen! Denn wir begehren ja, er wolle uns vergeben, wie wir anderen vergeben! Das heißt aber: wir bitten ihn, uns keine Vergebung zu schenken, wenn wir sie anderen verweigern! Was soll aber ein Mensch, der so gesinnt ist, mit seinem Bitten anders über sich bringen, als schweres Gericht?

 

Zum Schluß müssen wir noch folgendes beachten: wenn unser Gebet unter der Bedingung steht: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, so geschieht das nicht etwa deshalb, weil wir durch die Vergebung, die wir anderen gewähren, uns selbst Gottes Vergebung verdienten. Diese Bedingung bezeichnet also nicht etwa eine Ursache für die Vergebung. Der Herr hat uns vielmehr mit diesem Wort in der Schwachheit unseres Glaubens ermuntern wollen; denn er fügt es einerseits gewissermaßen als ein Zeichen an, das uns gewiß machen soll: so sicher, wie wir uns bewußt sind, anderen Vergebung zu gewähren, so sicher hat auch er uns die Vergebung unserer Sünden zuteil werden lassen - wenn nur unser Herz von allem Haß, allem Neid und aller Rache frei und rein ist! Andererseits soll dieser Zusatz ein Merkzeichen sein, kraft dessen er alle die aus der Zahl seiner Kinder austilgt, die zur Rache neigen, die sich ungern zur Vergebung herbeilassen, an ihrer Feindschaft hartnäckig festhalten und den Zorn, den sie doch durch ihr Gebet von sich wegbitten, anderen gegenüber nähren. Diese sollen es also nicht wagen, ihn als ihren Vater anzurufen! Das kommt denn auch in Christi Worten bei Lukas deutlich zum Ausdruck.

 

 

 

III,20,46

Die sechste Bitte entspricht, wie gesagt, der Verheißung: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben“ (vgl. Anfang der vorigen Sektion). Aber bei dem Gehorsam gegen Gott geht es nicht ohne fortwährenden Kriegsdienst, nicht ohne harte und schwere Kämpfe ab, und deshalb bitten wir hier, Gott möge uns mit Waffen ausrüsten und mit seinem Schutz wappnen, damit wir fähig werden, den Sieg zu erringen. Damit werden wir daran gemahnt, daß wir nicht bloß die Gnade des Heiligen Geistes nötig haben, der unsere Herzen innerlich erweicht und zum Gehorsam gegen Gott geneigt macht und ausrichtet, sondern auch seine

 

Hilfe, mit der er uns unüberwindlich macht gegen alle Nachstellungen und wütenden Anläufe des Satans! Die Versuchungen treten nun in vielen und vielerlei Formen auf. Versuchungen sind nämlich zunächst die bösen Gedanken unseres Herzens, die uns zur Übertretung des Gesetzes herausfordern; solche Gedanken gibt uns entweder unsere eigene Begehrlichkeit ein, oder der Teufel erregt sie in uns. Versuchungen sind andererseits auch solche Dinge, die ihrer Natur nach nicht böse sind, aber durch die List des Teufels zu Versuchungen werden, wenn sie nämlich in solcher Gestalt vor unsere Augen treten, daß wir dadurch, daß sie uns nahegebracht werden, von Gott abgezogen werden oder abweichen (Jak. 1,2.14; Matth. 4,1.3; 1. Thess. 3,5). Diese Versuchungen umdrohen uns von rechts wie von links. Von rechts her - da sind Reichtum, Macht und Ehre, die zumeist durch ihren Glanz und den Schein des Guten, den sie an den Tag legen, den Blick des Menschen verblenden, ihn mit ihrer schmeichlerischen Pracht anlocken, so daß er sich schließlich von solchen Täuschungen fangen, von solcher Süßigkeit trunken machen läßt und seinen Gott vergißt! Von links - da stehen Armut, Schmach, Verachtung, Trübsal und dergleichen mehr; von ihrer Bitterkeit und Not wird der Mensch dann gequält, und er verliert den Mut, wirft Zuversicht und Hoffnung weg und entfremdet sich schließlich ganz und gar von Gott!

 

Nun bitten wir Gott, unseren Vater, er möge es nicht zulassen, daß wir vor diesen zwiefachen Versuchungen zurückweichen, die unsere Begierde in uns entfacht oder die, vom Satan in seiner Verschlagenheit vor uns hingestellt, mit uns streiten! Nein, wir bitten, er möge uns vielmehr mit seiner Hand stützen und aufrichten, damit wir in seiner Kraft stark werden und gegen alle Anläufe des bösen Feindes fest stehen können, was für Gedanken er auch in unserem Herzen aufkommen lassen mag, und weiter bitten wir, daß wir alles, was uns nach beiden Seiten hin vor Augen steht, zum Guten wenden mögen, das heißt: uns vom Glück nicht aufblähen lassen und im Unglück nicht verzagen.

 

Wir begehren aber hier nicht, daß wir überhaupt gar keine Versuchungen erfahren möchten. Es ist uns vielmehr hoch vonnöten, von ihnen aufgerüttelt, angestachelt und aufgestört zu werden, damit wir nicht gar zu faul und schlaff dahinleben! Es war doch nicht ohne Ursache, wenn David wünschte, versucht zu werden (Ps. 26,2), und es ist auch nicht ohne Grund, wenn der Herr Tag für Tag seine Auserwählten versucht (Gen. 22,1; Deut. 8,2; 13,4), indem er sie mit Schmach und Armut, mit Trübsal und anderem Kreuz züchtigt. Aber Gott versucht ganz anders als der Satan. Der Satan will uns mit seiner Versuchung verderben, verdammen, beschämen und ins Unheil stürzen. Gott dagegen will dadurch, daß er die Seinen auf die Probe stellt, einen Beweis ihrer Lauterkeit gewinnen, er will dadurch, daß er sie übt, ihre Kraft stärken, er will ihr Fleisch ertöten, ausfegen, ausbrennen; denn wenn es nicht in dieser Weise im Zaum gehalten würde, dann gäbe es sich seiner Ausgelassenheit hin und triebe maßlosen Mutwillen! Zudem greift der Satan Waffenlose und Ungerüstete an, um sie unversehens niederzustoßen, Gott dagegen schafft zugleich mit der Versuchung auch den Ausweg, so daß die Seinigen alles, was er ihnen schickt, auch geduldig aushalten können (1. Kor. 10,13; 2. Petr. 2,9).

Ob wir unter dem „Bösen“ den Teufel oder die Sünde verstehen, tut sehr wenig zur Sache. Denn der Satan ist zwar selbst der Feind, der uns nach dem Leben trachtet (1. Petr. 5,8), aber er ist zu unserem Verderben mit der Sünde gerüstet! Unsere Bitte geht also dahin, daß wir von keinen Versuchungen besiegt oder überrannt werden möchten, sondern in der Kraft des Herrn gegen alle feindlichen Kräfte, die uns bestürmen, fest stehen - das heißt: den Versuchungen nicht unterliegen! Wir bitten weiter, daß wir, in seine Obhut und Treue aufgenommen und seines Schutzes gewiß, über Sünde und Tod, über die

 

Pforten der Hölle und das ganze Reich des Teufels den Sieg behalten und ausharren - das heißt: von dem Bösen erlöst werden!

 

Dabei müssen wir gründlich darauf achten, daß es nicht in unseren Kräften steht, mit dem Teufel, einem so mächtigen Kriegsmann, zu streiten und seine Gewalt und seinen Ansturm auszuhalten! Wenn das bei uns stünde, dann wäre es ja auch vergebens, ja, es wäre Spott, es von Gott zu erbitten. Wahrlich, wer sich im Vertrauen auf sich selber zu solchem Streite anschickt, der hat nicht genugsam begriffen, mit was für einem streitbaren, wohlgerüsteten Feinde er es zu tun hat! Nun aber bitten wir um Erlösung aus seiner Gewalt, wie aus dem Rachen eines rasenden, wütenden Löwen! Wir würden ja alsbald von seinen Zähnen und Krallen zerfleischt, von seinem Rachen verschlungen werden, wenn uns der Herr nicht mitten aus dem Tode herausrisse. Zugleich aber wissen wir: wenn der Herr bei uns ist und für uns Schweigende streitet, dann werden auch wir in seiner Stärke wackere Taten tun (Ps. 60,14). Mögen andere nach Gutdünken auf die eigenen Fähigkeiten und die Kräfte ihres freien Willens trauen, die sie von sich aus zu haben wähnen - uns ist es genug, daß wir allein durch des Herrn Kraft standhalten und etwas ausrichten können!

 

Diese Bitte umfaßt aber mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte; denn wenn der Geist Gottes unsere Kraft ist, um den Kampf mit dem Satan zu bestehen, dann können wir den Sieg nicht eher davontragen, als bis er uns ganz erfüllt und wir alle Schwachheit unseres Fleisches abgelegt haben. Wenn wir also vom Satan und der Sünde erlöst zu werden begehren, so bitten wir damit, Gott wolle uns immer neu mit dem Wachstum seiner Gnade reich machen - bis wir ganz und gar von ihr erfüllt sind und über alles Böse triumphieren!

 

Manchen Leuten scheint es hart und schwer begreiflich, daß wir Gott bitten: „Führe uns nicht in Versuchung“. Denn Jakobus bezeugt doch, daß es Gottes Wesen zuwider ist, uns zu versuchen! (Jak. 1,13). Aber die Frage ist bereits teilweise gelöst, weil die Ursache aller Versuchungen, von denen wir besiegt werden, eigentlich unsere eigene Lust ist! (Jak. 1,14). Unsere Lust trägt also die Schuld. Jakobus will auch nichts anderes sagen, als daß es umsonst und ungerecht ist, Gott die Laster zuzuschieben, die wir uns doch selbst zurechnen müssen: wir sind uns ja wohl bewußt, daß wir ihrer schuldig sind! Indessen hindert das nicht, daß uns Gott, wenn es ihm so gut erscheint, in die Knechtschaft des Satans fallen, in einen verkehrten Sinn und in böse Lüste hineinstürzen läßt und also auf diese Weise „in Versuchung führt“, und zwar nach seinem gerechten, aber oft verborgenen Urteil; denn den Menschen ist oft die Ursache verborgen, die doch bei Gott klar und sicher ist! Daraus ergibt sich, daß es sich also hier nicht um eine uneigentliche Redeweise handelt; wir müssen doch überzeugt sein, daß er nicht ohne Ursache so oft droht: wenn die Gottlosen mit Blindheit und Verhärtung ihres Herzens geschlagen würden, so werde das ein sicherer Beweis seiner Strafe sein!

 

 

 

III,20,47

 

Diese drei Bitten, in denen wir besonders uns selbst und alles, was wir haben, Gott ans Herz legen, zeigen nun mit voller Klarheit, was wir bereits oben ausführten: die Gebete der Christen müssen auch die anderen mit umfassen und ihr Ziel in der gemeinsamen Erbauung der Kirche und in der Förderung der Gemeinschaft der Gläubigen haben. Denn es begehrt hier nicht der einzelne, es möchte ihm für sich selbst etwas gegeben werden, sondern wir bitten alle miteinander um unser täglich Brot, um die Vergebung unserer Sünden und darum, daß uns Gott nicht in Versuchung führe, sondern von dem Bösen erlöse!

Dann folgt auch zu dem allen noch die Ursache, weshalb wir solche Freudigkeit haben dürfen, zu beten, und solche Zuversicht, etwas zu erlangen. Dieses Stück findet sich allerdings in den lateinischen Handschriften nicht; aber es paßt doch zu gut hierher, als daß es mir recht schiene, es auszulassen; es lautet: „Denn dein

 

ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“. Das ist die unverbrüchliche und sichere Ruhe unseres Glaubens; denn wenn unsere Gebete sich durch unsere Würdigkeit vor Gott in Empfehlung bringen sollten - wer würde da auch nur vor ihm zu mucksen wagen? Nun aber wird uns, ob wir auch die Elendesten, ob wir auch die Unwürdigsten von allen sind und nichts haben, dessen wir uns rühmen könnten, doch nie die Ursache zum Beten abgehen, nie die Zuversicht fehlen; denn man kann auch unserem Vater nicht sein Reich, seine Macht und seine Herrlichkeit entreißen!

 

Zum Schluß wird dann hinzugesetzt: „Amen“. Damit kommt die Inbrunst des Wunsches zum Ausdruck, zu erlangen, was man von Gott erbeten hat. Auch wird so unsere Hoffnung gestärkt, daß wir all dies bereits erlangt haben und es uns ganz sicher widerfahren wird, weil Gott es verheißen hat, Gott, der nicht trügen kann! Das stimmt denn auch mit der oben bereits mitgeteilten Formel überein: „Herr, tue es, um deines Namens willen, nicht um unsert- oder um unserer Gerechtigkeit willen“ (vgl. Dan. 9,18f.). Denn damit bringen die Heiligen nicht bloß das Ziel ihrer Wünsche zum Ausdruck, sondern sie bekennen, daß sie unwürdig sind, etwas zu empfangen, wenn Gott nicht die Ursache dazu aus sich selber nimmt, und daß ihnen die Zuversicht, etwas gewährt zu erhalten, einzig und allein aus Gottes Wesen kommt!

 

 

 

III,20,48

 

So finden wir alles, was wir von Gott erbitten sollen und auch überhaupt erbitten können, in dieser Form oder auch gleichsam: dieser Regel des Gebets beschrieben, die uns Christus, der beste Lehrmeister gelehrt hat; diesen Christus aber hat Gott uns ja zum Lehrer gesetzt, und auf ihn sollen wir nach seinem Willen allein hören! (Matth. 17,5). Er ist allezeit Gottes ewige Weisheit gewesen (Jes. 11,2). Und als er Mensch wurde, da wurde er den Menschen als ein Gottesbote von „wunderbarem Rat“ gegeben (Jes. 9,5).

 

Dies Gebet ist nun aber in allen Stücken so vollkommen, daß alles Fremde, von außen Hinzukommende, das sich nicht mit ihm in Übereinstimmung bringen läßt, gottlos und nicht würdig ist, von Gott gebilligt zu werden! (vgl. Augustin, Brief 130). Denn in dieser Zusammenfassung hat er uns vorgezeichnet, was seiner würdig, was ihm wohlgefällig und was uns vonnöten ist, kurz, was er uns gewähren will.

 

Wer also weiter zu gehen und über dies hinaus von Gott etwas zu begehren wagt, der will zunächst Gottes Weisheit aus dem Eigenen heraus etwas zusetzen - und das kann ohne unsinnige Lästerung nicht abgehen! -, er hält sich aber weiter auch nicht unter Gottes Willen, sondern verachtet ihn und läßt sich von seiner Begehrlichkeit ins Weite treiben. Schließlich aber erlangt er auch nie und nimmer etwas, weil er ohne Glauben betet. Denn es ist außer Zweifel, daß alle solchen Gebete ohne Glauben geschehen; es fehlt nämlich hier das Wort Gottes, und wenn sich der Glaube nicht darauf stützt, dann kann er unter keinen Umständen bestehen. Wer aber die Regel des Meisters beiseite läßt und sich nachsichtig seinen eigenen Wünschen hingibt, der ist nicht nur ohne Gottes Wort, sondern ist ihm, soweit er es mit seinem Unterfangen vermag, entgegen! Deshalb hat Tertullian dies Gebet ebenso trefflich wie wahr das „rechte“ Gebet genannt (Von der Flucht in der Verfolgung, 2), und damit deutet er stillschweigend an, daß alle anderen Gebete außerhalb des Gesetzes stehen und unerlaubt sind.

 

 

 

III,20,49

Das wollen wir nun aber nicht so verstanden wissen, als ob wir an die Form des Gebets in der Weise gebunden wären, daß wir kein Wort und keine Silbe ändern dürften. Denn wir bekommen doch in der Schrift immer wieder viele Gebete zu lesen, die den Worten nach von dem Gebet des Herrn sehr verschieden sind, aber doch von dem gleichen Geist gestaltet sind, und deren Gebrauch für uns sehr nütze ist. Der gleiche Geist legt den Gläubigen immerfort viele Gebete in den

 

Mund, die in der Ähnlichkeit der Worte mit diesem Gebet nicht so sehr übereinstimmen. Nein, es geht uns mit unserer Lehre nur darum, daß niemand etwas anderes sucht, erwartet oder begehrt, als was in diesem Gebet wie in einer Summe zusammengefaßt ist. Mag er auch noch so verschiedene Worte brauchen, so soll er doch im Sinn keine Abweichung eintreten lassen. Auf diese Weise sind sicherlich alle Gebete, die wir in der Schrift vor uns haben, wie auch alle, die aus einem gläubigen Herzen hervorgehen, auf dies eine Gebet bezogen, und es wird sich wahrlich nie eines finden lassen, das seiner Vollkommenheit gleichkommen, geschweige denn über sie hinausgelangen könnte! Hier ist nichts ausgelassen, was wir zum Lobpreis Gottes bedenken sollen, nichts aber auch, was uns zu unserem eigenen Wohl in den Sinn kommen soll. Und das alles ist so genau ausgedrückt, daß billigerweise jeder die Hoffnung verlieren muß, etwas Besseres zu versuchen! Kurz, wir sollen bedenken, daß wir hier die Unterweisung der göttlichen Weisheit vor uns haben: was ihr Wille ist, das hat sie uns kundgetan, und sie hat nur gewollt, was notwendig war!

 

 

 

III,20,50

 

Wir haben nun zwar oben bereits gesagt, daß wir allezeit unser Herz zu Gott erheben, allezeit zu ihm seufzen und ohne Unterlaß beten sollen. Aber unsere Schwachheit ist so groß, daß sie mit viel Beistand unterstützt werden muß, unsere Schläfrigkeit so schwer, daß sie es nötig hat, mit allerlei Ansporn aufgerüttelt zu werden. Deshalb sollte jeder von uns zu seiner Übung bestimmte Stunden festlegen, die er nicht ohne Gebet vorübergehen läßt und in denen er sich mit allen Regungen seines Herzens ganz dem Gebet widmet. Das sollte geschehen, wenn wir morgens aufstehen, bevor wir an unser Tagewerk herangehen, dann, wenn wir uns zu Tisch setzen, ferner, wenn wir durch Gottes Segen unsere Speise haben genießen dürfen, und endlich, wenn wir uns zur Ruhe begeben. Das soll nun aber kein abergläubisches Einhalten von Stunden sein, bei dem wir also Gott gewissermaßen das schuldige Maß darbrächten und dann meinten, für die übrigen Stunden aller Pflicht ledig zu sein; nein, es soll eine Zucht für unsere Schwachheit bedeuten, die auf diese Weise geübt und immer wieder angespornt werden soll! Vor allem müssen wir sorgfältig darauf halten, daß wir, sooft wir selbst von irgendwelcher Bedrängnis bedrückt werden oder andere bedrückt sehen, dann alsbald zu Gott unsere Zuflucht nehmen - nicht eilenden Fußes, sondern eilenden Herzens! Auch sollen wir niemals eine Förderung, die uns selber oder anderen widerfährt, vorübergehen lassen, ohne durch Lobpreis und Danksagung zu bezeugen, daß wir darin seine Hand erkennen. Und schließlich sollen wir bei allem Beten fleißig darauf achten, daß wir nicht etwa begehren, Gott an bestimmte Umstände zu binden und ihm vorzuschreiben, zu welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Weise er etwas tun soll. Wir werden ja auch durch das Gebet des Herrn gelehrt, ihm kein Gesetz zu machen und keine Bedingungen aufzuerlegen, sondern es seinem Ermessen zu überlassen, das, was er tun will, auf die Art, zu der Zeit und an dem Ort zu tun, die ihm richtig erscheinen. Bevor wir also irgendeine Bitte für uns selber aussprechen, sollen wir zuvor bitten: „Dein Wille geschehe“. Damit unterwerfen wir unseren Willen dem seinigen, damit er gewissermaßen im Zaum gehalten wird und sich nicht vermißt, Gott in eine Ordnung zu zwingen, sondern ihn als Richter und Lenker aller eigenen Wünsche anerkennt.

 

 

 

III,20,51

Wenn unser Herz zu solchem Gehorsam geschickt ist und wir uns so von den Gesetzen der göttlichen Vorsehung lenken lassen, dann werden wir es auch leicht lernen, im Gebet auszuharren, unsere Wünsche in der Schwebe zu lassen und geduldig auf den Herrn zu warten, in der Gewißheit, daß er, auch wenn es keineswegs zutage tritt, doch stets bei uns ist, und daß er zu seiner Zeit klarmachen wird, wie er unseren Gebeten, die vor Menschenaugen vernachlässigt schienen, doch nicht mit tauben Ohren begegnet ist! Das wird uns aber dann einen ganz starken Trost verleihen, so daß wir nicht ermatten oder vor Verzweiflung niedersinken, wenn

 

Gott einmal nicht gleich auf unsere erste Bitte Antwort gibt. So machen es gewöhnlich solche Leute, die sich bloß von ihrer Hitzigkeit leiten lassen und dann Gott so anrufen, daß sie, wenn er nicht gleich beim ersten Anlauf zuspringt und unmittelbar gegenwärtige Hilfe gebracht hat, alsbald meinen, er sei zornig oder ungnädig, alle Hoffnung auf Erhörung wegwerfen und aufhören, ihn anzurufen. Nein, wir sollen vielmehr in rechtem, maßvollem Gleichmut unsere Hoffnung anstehen lassen und nach der Beharrlichkeit trachten, die uns in der Schrift so sehr anempfohlen wird. Man kann doch in den Psalmen immer wieder sehen, wie es David und den übrigen Gläubigen zwar so erging, daß sie, vom Beten geradezu erschöpft, doch nur die Luft erschüttert zu haben schienen, als ob ihre Worte bei Gott taube Ohren gefunden hätten, - wie sie aber dennoch nicht vom Beten abließen; denn wir wahren die Autorität des Wortes Gottes nur dann, wenn unser Glaube daran über alle Geschehnisse erhaben ist.

 

Weiter sollen wir auch Gott nicht versuchen, ihn nicht mit unserer Zudringlichkeit belästigen und so gegen uns zum Zorn reizen. Das ist bei vielen Leuten Brauch: sie machen mit Gott stets gewissermaßen nur einen unter bestimmten Bedingungen stehenden Vertrag und binden ihn, als ob er der Knecht ihrer Begierden wäre, an die Gesetze dieser ihrer Verabredung; wenn er denen nun nicht gleich gehorcht, dann werden sie zornig, knirschen sie mit den Zähnen, erheben sie Einspruch, murren sie und empören sie sich! Solchen Leuten gewährt nun Gott in Zorn und Grimm öfters, was er anderen aus Gnade und Barmherzigkeit - versagt! Ein Beispiel dafür sind die Kinder Israels, denen es besser gewesen wäre, keine Erhörung zu finden, als mit dem (von ihnen zudringlich erbetenen) Fleisch nun auch Gottes Zorn schlucken zu müssen! (Num. 11,18.33).

 

 

 

III,20,52

 

Wenn nun aber unsere Erfahrung schließlich auch nach langem Warten nichts davon bemerkt, was wir mit unserem Gebet ausgerichtet haben, und wenn sie gar keine Frucht davon zu fühlen bekommt, so wird uns doch unser Glaube zur Gewißheit machen, was unser Sinn nicht schauen konnte, nämlich: daß wir das empfangen haben, was uns gut war. Denn der Herr hat sich so oft und so gewiß verpflichtet, er wolle sich unsere Nöte angelegen sein lassen, nachdem wir sie ihm einmal in den Schoß gelegt haben! So wird er dafür sorgen, daß wir in der Armut Reichtum und in der Trübsal Trost besitzen! Denn mag auch alles dahinsinken, so wird uns doch Gott nie im Stich lassen; denn er kann die Erwartung und Geduld der Seinen nicht täuschen! Er wird uns allein zu allen Dingen genug sein. Denn er faßt alle Güter in sich - und er wird sie uns einst am Tage des Gerichts offen zeigen, wenn er sein Reich voll und ganz offenbaren wird!

Freilich, wenn uns auch Gott unsre Bitte gewährt, so geht er mit seiner Antwort nicht immer genau nach der Form unseres Gebets; nein, er läßt uns scheinbar im Ungewissen - und zeigt doch auf verborgene Weise, daß unsere Bitten nicht vergebens gewesen sind! Dies ist der Sinn der Worte des Johannes: „Und so wir wissen, daß er uns hört, was wir bitten, so wissen wir, daß wir die Bitten haben, die wir von ihm gebeten haben“ (1. Joh. 5,15). Das scheint eine überflüssige Fülle von Worten zu sein; aber tatsächlich wird uns hier etwas äußerst Nützliches auseinandergesetzt: selbst wo Gott uns nicht willfahrt, da ist er doch unseren Bitten gegenüber freundlich und gnädig, so daß also die Hoffnung, die sich auf sein Wort stützt, uns niemals zuschanden werden läßt! Diese Geduld aber ist für die Gläubigen eine derart notwendige Stütze, daß sie nicht lange standhalten würden, wenn sie nicht auf ihr gegründet wären. Denn der Herr prüft die Seinen mit nicht leichten Proben, er übt sie auch nicht sanft, sondern drängt sie oft bis zum äußersten, und wenn er sie soweit gedrängt hat, dann läßt er sie lange im Sumpf stecken, bis er ihnen einen Geschmack von seiner Freundlichkeit zuteil werden läßt. Es ist so, wie Hanna sagt: „Der Herr tötet und macht lebendig, führt in die Hölle und wieder

 

heraus!“ (1. Sam. 2,6). Was sollten sie da machen, als den Mut zu verlieren und in Verzweiflung zu versinken - wenn sie nicht als angefochtene, trostlose und schon halbtote Leute der Gedanke aufrichtete, daß Gott sie ansieht und ihren gegenwärtigen Nöten ein Ende bereiten wird? Trotzdem: so sehr sie durch die Gewißheit dieser Hoffnung aufrechterhalten werden, so wenig hören sie unterdessen auf zu beten. Denn wenn unserem Gebet nicht die beständige Beharrung innewohnt, dann richten wir nichts mit ihm aus!

Einundzwanzigstes Kapitel

 

 

 

Von der ewigen Erwählung, kraft deren Gott die einen zum Heil, die anderen zum Verderben vorbestimmt hat

 

 

 

III,21,1

 

Nun wird aber der Bund des Lebens nicht gleichermaßen bei allen Menschen gepredigt, und er findet auch bei denen, die seine Predigt zu hören bekommen, nicht gleichermaßen und fortwährend den gleichen Platz. In dieser Verschiedenheit tritt die wundersame Hoheit des göttlichen Gerichts zutage. Denn es kann nicht zweifelhaft sein, daß auch diese Verschiedenartigkeit dem Urteil der ewigen Erwählung Gottes dient. Ist es nun aber offenkundig, daß es durch Gottes Wink geschieht, wenn den einen das Heil ohne ihr Zutun angeboten wird, den anderen dagegen der Zugang zu diesem Heil verschlossen bleibt, - so erheben sich hier gleich große und schwere Fragen, die nicht anders zu lösen sind, als wenn die Frommen innerlich klar erfaßt haben, was sie von der Erwählung und Vorbestimmung wissen müssen. Wahrlich, - wie es vielen scheint! - eine verwickelte Frage: man meint, es sei doch nichts weniger sinnvoll, als daß aus der allgemeinen Schar der Menschen die einen zum Heil, die anderen aber zum Verderben vorbestimmt sein sollten! Wie ungeschickt sich aber die Menschen, die dergleichen Meinungen haben, selbst Schwierigkeiten bereiten, das wird gleich aus dem Zusammenhang deutlich werden.

Man muß auch bedenken, daß gerade in dieser Dunkelheit, die sie erschreckt, nicht nur der Nutzen dieser Lehre, sondern auch ihre über die Maßen süße Frucht zutage tritt. Wir werden nie und nimmer so klar, wie es sein sollte, zu der Überzeugung gelangen, daß unser Heil aus dem Brunnquell der unverdienten Barmherzigkeit Gottes herfließt, ehe uns nicht Gottes ewige Erwählung kundgeworden ist; denn diese verherrlicht Gottes Gnade durch die Ungleichheit, daß er ja nicht unterschiedslos alle Menschen zur Hoffnung auf die Seligkeit als Kinder annimmt, sondern den einen schenkt, was er den anderen verweigert. Wie sehr die Unkenntnis dieses Grundsatzes Gottes Ehre mindert und wie sehr sie der wahren Demut Abbruch tut, das liegt auf der Hand. Nun kann aber nach Paulus diese Tatsache, die zu erkennen so hoch vonnöten ist, gar nicht begriffen werden, wenn nicht Gott unter Beiseitelassen jeder Rücksicht auf die Werke die Menschen erwählt, die er bei sich zu erwählen beschlossen hat! „In dieser Zeit“, sagt er, „werden die übrigen selig werden nach der Wahl der Gnade. Ist\'s aber aus Gnaden, so ist\'s nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein. Ist\'s aber aus den Werken, so eben nicht aus Gnaden; sonst wäre Werk nicht Werk!“ (Röm. 11,5f.; nicht Luthertext). Wir müssen also auf den Ursprung der Erwählung zurückverwiesen werden, damit es feststeht, daß uns das Heil von nirgendwo anders her, als allein aus reiner Freundlichkeit Gottes zuteil wird; wer das nun also auslöschen will, der verdunkelt, soweit es in seiner Macht steht, in Bosheit, was doch gewaltig und mit vollem Munde gerühmt werden sollte, ja, er reißt auch die Wurzel der Demut aus! Paulus bezeugt deutlich: wo das Heil des übrigbleibenden Volkes der „Wahl der Gnade“ zugeschrieben wird, da wird erst erkannt, daß Gott aus reinem Wohlgefallen selig macht, welche er will, daß er aber nicht etwa Lohn austeilt, den er ja nicht schuldig sein kann. Wer nun die Tore verschließt, so daß keiner es wagt, an einen Geschmack von dieser Lehre zu kommen, der tut den Menschen nicht weniger Unrecht als Gott; denn es gibt nichts anderes, das uns so nach Gebühr zu demütigen vermöchte - und wir werden dann auch nicht von Herzen empfinden, wie sehr wir Gott verpflichtet sind! Auch finden wir doch anderswo keine Stütze zu getroster Zuversicht. So lehrt es Christus selber: um uns mitten in soviel Gefahren, soviel Nachstellungen und tödlichen Kämpfen von aller Furcht zu befreien und unbesieglich zu machen,

 

verheißt er, daß alles, was er von seinem Vater in Obhut empfangen hat, unversehrt bleiben soll (Joh. 10,28f.). Daraus schließen wir: wer nicht weiß, daß er Gottes besonderes Eigentum ist, der muß jämmerlich daran sein und aus dem Zittern nicht herauskommen. Die Leute also, die diesen dreifachen Nutzen, von dem wir sprachen (Gewißheit, Demut, Dankbarkeit), blind übersehen und auf diese Weise das Fundament unseres Heils gern aufheben möchten, die tun also sich selbst und allen Gläubigen einen sehr schlechten Dienst! Was will man denn dazu sagen, daß doch auf diesem Grunde die Kirche sich erhebt, die man sonst, wie Bernhard richtig lehrt, gar nicht auffinden, auch nicht unter den Kreaturen wahrnehmen könnte? Denn sie liegt auf wundersame Weise einerseits im Schoß der seligen \'Vorbestimmung, andererseits in der Masse der elenden Verdammnis verborgen! (Bernhard von Clairvaux, Predigten zum Hohen Liede, 78).

 

Bevor ich nun an die Sache selbst herangehe, muß ich zunächst mit zweierlei Menschen ein zwiefaches Vorgespräch halten.

 

Die Erörterung über die Vorbestimmung ist zwar an sich schon einigermaßen verzwickt; aber der Vorwitz der Menschen macht sie erst recht verwickelt und geradezu gefährlich. Er läßt sich durch keinerlei Riegel davon abbringen, sich auf verbotene Abwege zu verlaufen und über sich hinaus in die Höhe zu dringen; wenn es möglich ist, so läßt er Gott kein Geheimnis übrig, das er nicht durchforscht und durchwühlt. Wir sehen, wie viele Menschen immer wieder in diese Vermessenheit und Schamlosigkeit geraten, auch solche, die sonst nicht übel sind; es ist also an der Zeit, sie darauf aufmerksam zu machen, was in diesem Stück ihre Pflicht ist.

 

Zunächst sollen sie sich daran erinnern, daß sie mit ihrem Forschen nach der Vorbestimmung in die heiligen Geheimnisse der göttlichen Weisheit eindringen; wer nun hier ohne Scheu und vermessen einbricht, der erlangt nichts, womit er seinen Vorwitz befriedigen könnte, und er tritt in einen Irrgarten, aus dem er keinen Ausgang finden wird! Denn es ist nicht billig, daß der Mensch ungestraft durchforscht, was nach des Herrn Willen in ihm selber verborgen bleiben soll, und daß er die Hoheit seiner Weisheit, die er angebetet und nicht begriffen wissen wollte und um deretwillen er uns ja eben wunderbar sein will, geradezu von der Ewigkeit her durchwühlt. Die Geheimnisse seines Willens, die er uns kundzumachen für gut erachtete, die hat er uns durch sein Wort vor Augen gestellt. Er hat das aber soweit für gut erachtet, als es nach seiner Vorsehung zu unserem Besten dient und uns nützlich ist.

 

 

 

III,21,2

Wir sind auf dem Wege des Glaubens gekommen“, sagt Augustin, „so wollen wir auch beständig auf ihm bleiben! Er führt uns zur Kammer des Königs, in der alle Schätze der Erkenntnis und der Weisheit verborgen liegen. Denn es war nicht etwa Mißgunst, die den Herrn Christus gegenüber seinen Jüngern, die doch groß und besonders auserwählt waren, bewegte, als er zu ihnen sprach: „Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen“ (Joh. 16,12). Wir müssen in Bewegung sein, wir müssen weiterschreiten, wir müssen wachsen, damit unsere Herzen fähig werden, das zu fassen, was wir jetzt noch nicht aufnehmen können! Wenn uns der jüngste Tag fortschreitend antrifft, so werden wir da lernen, was wir hier nicht zu lernen vermögen!“ (Predigten zum Johannesevangelium, 53). Wenn bei uns der Gedanke gilt, daß das Wort des Herrn der einzige Weg ist, der uns zur Erforschung dessen führt, was uns von ihm zu wissen gebührt, daß es das einzige Licht ist, das uns voranleuchtet, damit wir sehen, was wir von ihm erschauen sollen, - dann wird er uns mit Leichtigkeit vor allem Vorwitz bewahren und zurückhalten. Wir werden dann nämlich wissen, daß unser Lauf, sobald wir die Grenzen des Wortes überschreiten, vom Wege abführt und in der Finsternis verläuft - und daß wir da notwendig in die Irre gehen, fallen und immer wieder

 

anstoßen müssen! Deshalb wollen wir uns zuerst vor Augen halten: eine andere Erkenntnis der Vorbestimmung zu erstreben als die, welche uns im Worte Gottes entfaltet wird, das ist ebenso wahnwitzig, wie wenn einer weglos schreiten oder im Finstern sehen wollte. Auch sollen wir uns nicht schämen, in einer solchen Sache etwas nicht zu wissen, in der es eine wohlgelehrte Unwissenheit (docta ignorantia) gibt! Nein, wir wollen vielmehr gern davon Abstand nehmen, nach einem Wissen zu forschen, nach dem zu haschen töricht wie gefährlich, ja, geradezu verderblich ist! Wenn uns aber der Übermut unseres Wesens kitzelt, dann wird es von Nutzen sein, ihm stets zu seiner Dämpfung das Wort entgegenzuhalten: „Wer zuviel Honig ißt, dem ist\'s nicht gut, und das Forschen nach Ruhm wird den Vorwitzigen nicht zum Ruhm gereichen!“ (Spr. 25,27; zweite Hälfte nicht Luthertext, ausgemalt). Denn es besteht aller Grund, daß wir von einer Vermessenheit abgeschreckt werden, die nichts anderes vermag, als uns ins Verderben zu stürzen!

 

 

 

III,21,3

Dagegen gibt es andere, die dies Übel heilen wollen und zu diesem Zweck beinahe jede Erwähnung der Vorbestimmung zu begraben gebieten; ja, sie lehren, man solle sich vor jeder Frage nach ihr wie vor einer Klippe hüten! Nun ist das Maßhalten dieser Leute mit Recht zu loben, insofern sie der Ansicht sind, man solle die Geheimnisse mit solcher Bescheidenheit erwägen. Aber sie bleiben doch gar zu sehr hinter dem rechten Maß zurück, und deshalb richten sie bei der menschlichen Art wenig aus; denn diese läßt sich nicht so blindlings in Schranken weisen. Um also auch in diesem Stück die rechte Begrenzung innezuhalten, müssen wir auf das Wort des Herrn zurückgehen, an dem wir eine sichere Richtschnur des Erkennens haben. Denn die Schrift ist die Schule des Heiligen Geistes, und in ihr wird nichts übergangen, was zu wissen notwendig oder nützlich ist, es wird aber auch ebenso nichts gelehrt, als was zu wissen förderlich ist! Was nun auch in der Schrift über die Vorbestimmung gelehrt wird, - wir müssen uns hüten, die Gläubigen davon fernzuhalten, damit wir nicht den Anschein erwecken, als wollten wir sie boshaft um die Wohltat ihres Gottes betrügen oder auch den Heiligen Geist beschuldigen und beschimpfen, er habe Dinge kundgemacht, die man nützlicherweise auf alle Art unterdrücken sollte: Wir wollen, meine ich, dem Christenmenschen erlauben, allen Worten Gottes, die an ihn gerichtet werden, Herz und Ohr zu öffnen, allerdings mit solcher Zurückhaltung, daß, sobald der Herr seinen heiligen Mund schließt, auch der Mensch sich den Weg zum Forschen verschließt! Unsere Bescheidenheit wird dann das richtige Maß haben, wenn wir beim Lernen nicht nur stets Gottes Leitung folgen, sondern auch da, wo er seiner Belehrung ein Ende macht, aufhören, noch etwas wissen zu wollen. Auch ist die Gefahr, die jene Leute fürchten, nicht so groß, daß wir deshalb die Herzen von Gottes Offenbarungsworten abwenden dürften! Es ist (allerdings) ein herrliches Wort des Salomo: „Es ist Gottes Ehre, ein Wort zu verbergen“ (Spr. 25,2; nicht Luthertext). Aber die Frömmigkeit und auch der gesunde Menschenverstand leiten uns an, diese Stelle nicht unterschiedslos auf alles zu beziehen; wir müssen also eine Unterscheidung aufsuchen, damit nicht unter dem Deckmantel der Zurückhaltung und Bescheidenheit die grobe Unwissenheit unser Wohlgefallen findet! Diese Unterscheidung wird nun von Mose in wenigen Worten klar zum Ausdruck gebracht: „Das Geheimnis gehört unserem Gott; aber dies hat er uns und unseren Kindern offenbart!“ (Deut. 29,29; nicht Luthertext, ungenau). Da sehen wir, wie er dem Volke die Beschäftigung mit der Lehre des Gesetzes einzig auf Grund des himmlischen Willensratschlusses ans Herz legt, weil es eben Gott gefallen hatte, das Gesetz kundzumachen, wie er aber zugleich das nämliche Volk in diese Schranken einschließt, und zwar einzig aus dem Grunde, weil es den Sterblichen nicht gebührt, in Gottes Geheimnisse einzudringen.

 

III,21,4

 

Ich gestehe zwar, daß unfromme Menschen bei der Behandlung der Vorbestimmung, ehe man sich versieht, etwas erhaschen, um es zu zerpflücken, übel zu deuten, anzubellen oder zu verspotten. Aber wenn uns die Unverschämtheit solcher Leute schreckt, dann müssen wir von allen hochwichtigen Glaubenslehren schweigen; denn solche Menschen oder ihresgleichen lassen fast keine von ihnen mit ihren Lästerungen unverletzt. Ein widerspenstiger Geist wird ebenso frech losfahren, wenn er hört, daß in Gottes Wesen drei Personen bestehen, wie wenn er vernimmt, daß Gott, als er den Menschen schuf, auch vorausgesehen hat, was in Zukunft mit ihm geschehen werde. Solche Menschen werden auch ihr Gelächter nicht unterlassen, wenn sie gewahr werden, daß erst wenig mehr als fünftausend Jahre seit der Erschaffung der Welt verflossen sind; denn sie werden dann fragen, warum denn Gottes Kraft solange müßig und schlafend gewesen sei. Kurz, man kann nichts vorbringen, was sie nicht mit ihrem Spott angreifen! Wollen wir aber, um diese Lästerungen niederzuhalten, von der Gottheit des Sohnes und des Heiligen Geistes schweigen? Wollen wir die Erschaffung der Welt mit Stillschweigen übergehen? Nein, in diesem Stück und auch sonst in allen ist Gottes Wahrheit zu mächtig, als daß sie die Schmähsucht der Gottlosen zu fürchten hätte. So behauptet es auch Augustin gründlich in seinem Werk „Von der Gabe der Beharrung“ (15-20). Wir sehen doch, wie es die falschen Apostel nicht fertiggebracht haben, den Apostel durch Verleumdung und Beschimpfung seiner wahren Lehre dazu zu bringen, daß er sich ihrer schämte!

 

Töricht ist es aber auch, wenn man erklärt, diese ganze Erörterung sei auch für fromme Gemüter gefährlich, weil sie den Ermahnungen zuwider sei, den Glauben erschüttere und weil sie das Herz selbst verwirre und ängstige. Augustin verhehlt nicht, daß er es gewohnt war, auf Grund solcher Ursachen beschuldigt zu werden, weil er die Vorbestimmung gar zu frei predige; aber er widerlegt diesen Vorwurf doch vollauf, was ihm ja sehr leicht möglich war (Von der Gabe der Beharrung, 14). Wir wollen dagegen, da hier viele und verschiedenartige Widersinnigkeiten vorgebracht werden, die Widerlegung jeder einzelnen bis an die je passende Stelle aufschieben. Nur dies eine sollte, das möchte ich gern, bei ihnen allgemein fest stehen bleiben: Was der Herr im Geheimen hat verborgen sein lassen, dem sollen wir nicht nachspüren, was er hat offen an den Tag treten lassen, das sollen wir nicht vernachlässigen, damit wir nicht auf der einen Seite um unserer allzu großen Neugierde, auf der anderen um unserer Undankbarkeit willen verdammt werden, denn auch das ist ein kluges Wort Augustins: wir könnten der Schrift sicher folgen, weil sie gleichsam nach der Art des Gangs einer Mutter langsam schreite, um unsere Schwachheit nicht hinter sich zu lassen (Von der Genesis V,3). Wenn aber einige so vorsichtig oder ängstlich sind, daß sie wohl wünschten, die Vorbestimmung sei begraben, damit sie nur ja keine schwächlichen Seelen verwirre, - mit was für einer Farbe wollen die denn, das möchte ich gar zu gern wissen, ihre Anmaßung zudecken? Denn hintenherum beschuldigen sie Gott törichter Unbedachtheit, als ob er nämlich eine Gefahr, der sie weislich zu begegnen glauben, nicht vorhergesehen hätte! Wer also die Lehre von der Vorbestimmung mit übler Nachrede belastet, der treibt offene Gotteslästerung - als ob Gott nämlich unbesonnen etwas entfallen wäre, was der Kirche Schaden brächte!

 

 

 

III,21,5

 

Die Vorbestimmung, kraft deren Gott die einen zur Hoffnung auf das Leben als seine Kinder annimmt, die anderen aber dem ewigen Tode überantwortet, wagt keiner, der als fromm gelten will, rundweg zu bestreiten, nein, man verwickelt sie nur in viele Spitzfindigkeiten; vor allem tun das die, welche das Vorherwissen (praescientia) für ihre Ursache erklären. Nun stellen auch wir beides an Gott fest, wir erklären es aber für verkehrt, eines dem anderen unterzuordnen.

Wenn wir Gott das Vorherwissen zuschreiben, so meinen wir damit: alles ist stets vor seinen Augen gewesen und wird es auch allezeit bleiben; für seine Er-

 

kenntnis gibt es also nichts Zukünftiges oder Vergangenes, sondern es ist alles gegenwärtig, und zwar so gegenwärtig, daß er es sich nicht bloß auf Grund von bildlichen Gedanken vorstellt, so wie uns die Dinge wieder vorkommen, an die unser Sinn eine Erinnerung bewahrt, - sondern daß er diese Dinge wirklich schaut und gewahrt, als Gegenstände, die vor ihm stehen! Dieses Vorherwissen erstreckt sich nun auf den ganzen Umkreis der Welt und auf alle Kreaturen.

 

Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so - sagen wir - ist er zum Leben oder zum Tode „vorbestimmt“.

 

Diese Vorbestimmung hat nun Gott nicht bloß an den einzelnen Personen bezeugt, sondern er hat ein Beispiel dafür an der gesamten Nachkommenschaft des Abraham gegeben; daraus sollte offenkundig werden, daß es in seinem Ermessen steht, wie die Stellung jedes einzelnen Volkes einmal werden soll. „Als der Allerhöchste die Völker zerteilte und zerstreute die Kinder Adams, ... da wurde das Volk Israel sein Teil und die Schnur seines Erbes ...“ (Deut. 32,8f.; nicht durchweg Luthertext). Die Aussonderung ist vor aller Augen: In der Person des Abraham wird wie in einem dürren Stumpf ein einziges Volk besonders erwählt, während die anderen verworfen werden; eine Ursache aber wird nicht sichtbar - abgesehen davon, daß Mose die Nachkommen, um ihnen jeden Anlaß zum Rühmen abzuschneiden, lehrt, sie hätten ihre hervorragende Stellung einzig und allein aus Gottes gnädiger Liebe! Denn er gibt als Grund ihrer Errettung an, „daß er deine Väter geliebt und ihren Samen nach ihnen erwählt hat!“ (Deut. 4,37). Noch ausdrücklicher finden wir das in einem anderen Kapitel: „Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, darum daß euer mehr wäre als alle Völker..., sondern darum, daß er euch geliebt hat ...“ (Deut. 7,7f.). Mehrmals wiederholt sich bei ihm die gleiche Ermahnung: „Siehe, der Himmel ... und die Erde und alles, was darinnen ist, das ist des Herrn, deines Gottes; dennoch hat er allein zu deinen Vätern Lust gehabt, daß er sie liebte, und hat ihren Samen erwählt, ... euch!“ (Deut. 10,14f.). Ebenso wird ihnen anderwärts die Heiligung zur Vorschrift gemacht, weil sie „erwählt“ seien „zum Volk des Eigentums“ (Deut. 7,6). Und an anderer Stelle wird wiederum erklärt, Ursache des (dem Volke gewährten) Schutzes sei die Liebe Gottes! (Deut. 23,5). Das verkündigen auch die Gläubigen mit einer Stimme: „Er erwählt uns unser Erbteil, die Herrlichkeit Jakobs, den er liebt“ (Ps. 47,5). Denn sie schreiben hier alle Gaben, mit denen sie Gott geziert hatte, seiner unverdienten Liebe zu - nicht nur, weil sie wußten, daß sie sie durch keinerlei Verdienste erworben hatten, sondern auch, weil sie erkannt hatten: nicht einmal der heilige Erzvater war mit solcher Tugend ausgerüstet, daß er damit sich und seinen Nachkommen ein solches Ehrenvorrecht erworben hätte! Um alle Hoffart zu Boden zu stoßen, schilt er auch das Volk, es habe sich nichts dergleichen verdient, weil es doch ein widerspenstiges und halsstarriges Volk sei! (Deut. 9,6; 9,24). Die Propheten halten den Juden oft ihre Erwählung zur Schmach und als Vorwurf vor, weil sie ja schändlich von ihr abgefallen waren (z.B. Amos 3,2).

Wie dem aber nun sei - es sollen doch einmal die vortreten, die Gottes Erwählung an die Würdigkeit der Menschen oder an die Verdienste der Werke binden wollen! Sie sehen doch, daß hier ein einziges Volk allen anderen vorgezogen wird, und sie vernehmen, daß Gott durch keinerlei Rücksicht dazu gebracht worden ist, gegen so wenige und unedle, dazu aber auch böse und ungehorsame Menschen gnädig zu sein! Wollen sie nun mit ihm hadern, weil er einen solchen Beweis seiner Barm-

 

herzigkeit hat liefern wollen? Aber sie werden weder mit ihrem lauten Widerspruch sein Werk hindern, noch auch dadurch, daß sie die Steine ihrer Vorwürfe gegen den Himmel schleudern, seine Gerechtigkeit treffen und verletzen! Nein, diese Steine fallen vielmehr auf ihr eigenes Haupt zurück!

 

Eben auf diesen Grundsatz des aus Gnade mit ihnen geschlossenen Bundes werden die Israeliten zurückverwiesen, wenn es gilt, Gott Dank zu sagen oder auch die Hoffnung für die kommende Zeit aufzurichten. „Er hat uns gemacht, und nicht wir selbst“, sagt der Prophet, „zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide!“ (Ps. 100,3). Die verneinende Bemerkung („und nicht wir selbst“!), die hinzugesetzt ist, um uns auszuschließen, ist nicht überflüssig; sie sollen eben wissen, daß Gott nicht nur der Geber all der Gaben ist, um derentwillen sie solch hervorragende Stellung genießen, sondern daß er auch die Ursache (sie ihnen zu schenken) aus sich selber genommen hat, weil in ihnen ja nichts solcher Ehre würdig gewesen wäre: Der Prophet gebietet ihnen auch, sich an Gottes reinem Wohlgefallen genügen zu lassen, indem er spricht: „Ihr, der Same Abrahams, seines Knechtes, ihr Kinder Jakobs, seines Auserwählten!“ (Ps. 105,6; nicht ganz Luthertext). Er zählt weiter Gottes fortwährende Wohltaten als Früchte der Erwählung auf, und nachdem das geschehen ist, kommt er am Ende zu dem Schluß, Gott habe so freigebig an ihnen gehandelt, weil er seines Bundes gedacht habe (Ps. 105,42). Dieser Lehre entspricht der Gesang der ganzen Kirche. „Deine Rechte und das Licht deines Angesichts haben unseren Vätern das Land gegeben; denn du hattest Wohlgefallen an ihnen!“ (Ps. 44,4; der Anfang ist Inhaltsangabe). Dabei ist zu bemerken: wo das Land erwähnt wird, da ist es ein sichtbares Merkzeichen der verborgenen Aussonderung, in die die Annahme in die Kindschaft eingeschlossen ist. Zu dieser Dankbarkeit ermahnt David das Volk an anderer Stelle: „Wohl dem Volk, des Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat!“ (Ps. 33,12). Zu fröhlicher Hoffnung aber ermuntert es Samuel: „Gott wird euch nicht verlassen um seines großen Namens willen; denn es hat ihm wohlgefallen, sich euch zum Volk zu erschaffen!“ (1. Sam. 12,22; nicht Luthertext). Ebenso wappnet sich auch David zum Kampfe, wenn sein Glaube angegriffen wird: „Wohl dem, den du erwählt hast ..., daß er wohne in deinen Höfen!“ (Ps. 65,5).

 

Weil aber die Erwählung, die in Gott verborgen ist, durch die erste wie die zweite Erlösung, wie auch durch andere zwischendurch geschehende Wohltaten bekräftigt worden ist, so wird bei Jesaja das Wort „Erwählen“ auch darauf übertragen. So hören wir: „Der Herr wird sich über Jakob erbarmen und Israel noch fürder erwählen“ (Jes. 14,1). Denn er redet hier von der kommenden Zeit: da wird Gott das übrige Volk, das er dem Anschein nach enterbt hat, wieder sammeln, und Jesaja erklärt dies nun für ein Zeichen der beständigen, gewissen Erwählung, die zugleich dem Anschein nach dahingefallen war. Wenn es dann auch anderwärts heißt: „Ich erwähle dich und verwerfe dich nicht“ (Jes. 41,9), so rühmt er damit den fortwährenden Gang der herrlichen Freigebigkeit des väterlichen Wohlwollens Gottes. Noch offener redet der Engel bei Sacharja: „Gott wird Jerusalem wieder erwählen“ (Sach. 2,16); es ist, als hätte er durch solche gar harte Züchtigung Jerusalem verworfen und als wäre die Verbannung eine Unterbrechung der Erwählung gewesen; die Erwählung bleibt aber dennoch unverletzt, wenn auch ihre Kennzeichen nicht immer sichtbar sind!

 

 

 

III,21,6

Wir müssen nun weiter zu einer zweiten, enger umgrenzten Stufe der Erwählung kommen, in der nun die mehr besondere Gnade Gottes sichtbar wird: Gott hat nämlich aus dem gleichen Geschlecht Abrahams die einen verworfen, die anderen aber in seiner Kirche belassen und dadurch gezeigt, daß er sie unter seinen Kindern erhalten hat. So hatte Ismael im Anfang die gleiche Stufe wie auch sein Bruder Isaak erlangt; denn durch das Merkzeichen (symbolum) der

 

Beschneidung war in ihm der geistliche Bund nicht minder versiegelt als in seinem Bruder. Trotzdem wird er verstoßen; nach ihm dann auch Esau, und schließlich eine unzählbare Schar und fast ganz Israel: „In Isaak“ wurde (dem Abraham) „der Same“ berufen (Gen. 21,12) - und die gleiche Berufung dauerte bei Jakob an. Ein gleiches Beispiel hat Gott mit der Verwerfung des Saul gegeben; das wird auch in einem Psalm herrlich gerühmt: „Und er verwarf den Stamm Josephs und erwählte nicht den Stamm Ephraim, sondern erwählte den Stamm Juda ...“ (Ps. 78,67f.; nicht ganz Luthertext). Die heilige Geschichte wiederholt das mehrfach, damit in diesem Wechsel das wunderbare Geheimnis der Gnade Gottes desto besser offenbar werde. Ich gebe zu: Ismael, Esau und ihresgleichen fielen durch ihr eigenes Vergehen und ihre eigene Schuld aus der Annahme in die Kindschaft heraus; denn da ist ja die Bedingung zugesetzt, nach der sie Gottes Bund treulich halten sollten; und sie haben diesen Bund tatsächlich treulos verletzt! Aber trotzdem war es doch eine besondere Wohltat Gottes, daß er sich herbeigelassen hatte, sie den anderen Völkern vorzuziehen, wie es auch in einem Psalm heißt: „So tut er keinen Heiden, noch läßt er sie wissen seine Rechte!“ (Ps. 147,20). Ich habe aber hier nicht ohne Bedacht gesagt, man müsse dabei zwei Stufen beachten. Gott zeigt nämlich bereits durch die Erwählung des ganzen Volkes, daß er in seiner reinen Freundlichkeit an keinerlei Gesetze gebunden, sondern frei ist, so daß man also von ihm keineswegs eine gleichmäßige Verteilung seiner Gnade verlangen kann; gerade die Ungleichheit dieser Verteilung zeigt, daß es sich hier wahrhaftig um eine Gnadentat handelt. Deshalb macht Maleachi Israels Undank so groß, weil es nicht bloß aus dem ganzen Menschengeschlecht auserwählt, sondern auch noch aus dem heiligen Hause (Abrahams) ausgesondert war, und doch Gott, seinen so wohltätigen Vater, treulos und unfromm verachtete. „Ist nicht Esau Jakobs Bruder?“, sagt er, „Und doch habe ich Jakob lieb und hasse Esau ...“ (Mal. 1,2f.). Gott nimmt hier als zugestanden an, daß schon dadurch, daß beide einem heiligen Vater entstammten, beide Erbgenossen des Bundes und endlich Zweige aus der geheiligten Wurzel waren, die Kinder Jakobs nicht wenig verpflichtet waren, weil Gott sie ja zu solcher Würde angenommen hatte. Da nun aber ihr Vater Jakob, der der Natur nach der Geringere war, unter Verwerfung des Erstgeborenen, des Esau, zum Erben gemacht worden war, so beschuldigt er sie doppelter Undankbarkeit und beklagt sich, daß sie sich auch durch dies doppelte Band nicht haben halten lassen!

 

 

 

III,21,7

Hiermit ist nun zwar bereits vollauf klar geworden, daß Gott nach seinem verborgenen Ratschluß frei erwählt, welche er will, und daß er die anderen verwirft. Trotzdem ist seine gnädige Erwählung damit erst zur Hälfte deutlich gemacht, ehe wir zu den einzelnen Personen kommen, denen Gott das Heil nicht bloß anbietet, sondern derart versiegelt, daß die Gewißheit seiner Wirkung nicht mehr in der Schwebe oder im Ungewissen bleibt. Diese werden zu dem einigen Samen gerechnet, den Paulus erwähnt (Röm. 9,8; Gal. 3,16ff.). Denn die Annahme in die Kindschaft wurde allerdings in Abrahams Hand gelegt; aber von seinen Nachfahren sind viele gleichsam als faule Glieder abgeschnitten worden: soll also die Erwählung wirksam werden, so müssen wir zu dem Haupte emporsteigen, in welchem der himmlische Vater seine Auserwählten unter sich vereint und durch ein unauflösliches Band an sich selber gebunden hat! So ist zwar in der Erwählung des Geschlechts Abrahams Gottes freie Gunst, die er anderen verwehrte, hervorgetreten; aber in den Gliedern Christi leuchtet die Kraft seiner Gnade noch weit glänzender hervor; denn weil sie in ihr Haupt eingefügt sind, deshalb fallen sie nie und nimmer aus dem Heil heraus. Deshalb zieht Paulus aus der oben angeführten Stelle bei Maleachi die Folgerung: wenn Gott den Bund des ewigen Lebens mit einem Volke aufrichtet und es zu sich einlädt, so wirkt sich an einem Teil dieses Volkes noch eine besondere Art von Erwählung aus, so daß er also nicht alle in unterschiedsloser

 

Gnade wirksam erwählt. Wenn es heißt: „Jakob habe ich geliebt“ (Mal. 1,2), so bezieht sich das auf die gesamte Nachkommenschaft des Erzvaters, die der Prophet hier in einen Gegensatz zu den Nachkommen Esaus stellt. Das hindert aber nicht, daß uns in der Person eines Menschen ein Beispiel der Erwählung vor Augen gestellt ist, die nicht vergehen kann, sondern zu ihrem Ziel kommt! Paulus bemerkt nun nicht umsonst, daß solche Menschen als „die übrigen“ bezeichnet werden; denn die Erfahrung zeigt, daß aus der großen Menge die meisten zu Fall kommen und vergehen, so daß also öfters nur ein kleiner Teil übrigbleibt. Die Ursache dafür, daß die allgemeine Erwählung eines Volkes nicht immer fest und wirksam ist, liegt auf der Hand: wenn Gott mit Menschen einen Bund macht, so schenkt er ihnen nicht gleich den Geist der Wiedergeburt, in dessen Kraft sie bis ans Ende in solchem Bunde beharren können; nein, diese äußere Veränderung ohne die innere Wirksamkeit der Gnade, die stark genug wäre, um sie zu erhalten, ist gewissermaßen ein Mittelding zwischen der (allgemeinen) Verwerfung des Menschengeschlechts und der Erwählung einer geringen Zahl von Frommen. So wird das ganze Volk Israel als Gottes Erbe bezeichnet (Deut. 32,9; 1. Kön. 8,51; Ps. 28,9; 33,12); trotzdem sind viele aus diesem Volke tatsächlich Draußenstehende. Aber Gottes Zusage, er werde dieses Volkes Vater und Erlöser sein, war doch nicht umsonst, und deshalb schaute er mehr seine gnädige Gunst an, als den treulosen Abfall vieler; durch diese war auch seine Wahrheit nicht abgetan: denn, wo er sich einen Rest bewahrte, da zeigte er, daß ihn seine Berufung nicht gereute! Wenn sich Gott nämlich seine Kirche immer wieder eher aus den Kindern Abahams, als aus den unheiligen Völkern sammelte, so nahm er dabei auf seinen Bund Bedacht: als dieser gerade von der großen Menge verletzt war, da beschränkte er ihn auf wenige, damit er nicht gänzlich dahinfalle! Kurz, diese allgemeine Annahme des Samens Abrahams in die Kindschaft war gewissermaßen ein sichtbares Abbild jener größeren Wohltat, deren Gott einige aus vielen gewürdigt hat. Das ist der Grund, weshalb Paulus so gründlich zwischen dem Samen Abrahams nach dem Fleisch - und dem geistlichen Samen unterscheidet, der nach dem Vorbild des Isaak berufen ist. Nicht, als ob es eine eitle, fruchtlose Sache gewesen wäre, einfach ein Kind Abrahams zu sein - das könnte man nicht aussprechen, ohne damit den Bund verächtlich zu machen! Nein, Gottes unwandelbarer Ratschluß, kraft dessen er sich die vorbestimmt hat, welche er wollte, wurde eben an sich nur in diesen Nachkommen zum Heil wirksam! Bevor sich also aus den Schriftstellen, die ich anführen werde, klar ergibt, was wir hierüber zu denken haben, möchte ich die Leser ermahnen, sich nicht nach irgendeiner Seite hin ein Vorurteil zu bilden.

Was demnach die Schrift klar zeigt, das sagen wir auch: Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluß einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluß ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu! Was die Auserwählten betrifft, so halten wir dann aber weiter dafür, daß die Berufung das Zeugnis der Erwählung ist. Ein zweites Merkzeichen zur Bekräftigung der Erwählung ist dann die Rechtfertigung - bis wir endlich zu der Herrlichkeit gelangen, in der die Erfüllung der Erwählung besteht. Wie aber der Herr seine Auserwählten durch die Berufung und Rechtfertigung kenntlich macht, so gibt er den Verworfenen durch ihren Ausschluß von der Erkenntnis seines Namens und der Heiligung seines Geistes wie durch Zeichen bekannt, was für ein Gericht ihrer wartet, viele Phantasiegebilde, die sich

 

törichte Menschen ersonnen haben, um die Vorbestimmung umzustoßen, werde ich hier übergehen. Denn sie bedürfen keiner Widerlegung, weil sie, gleich wenn sie vorgebracht werden, selbst ihre Unwahrheit vollauf beweisen. Ich werde mich nur bei solchen aufhalten, die entweder unter den Gelehrten Gegenstand eines Streites sind, oder die den Einfältigen Schwierigkeiten machen könnten, oder die die Gottlosigkeit in falschem Schein zum Deckmantel nimmt, um Gottes Gerechtigkeit zu verunglimpfen.

Zweiundzwanzigstes Kapitel

 

 

 

Bekräftigung dieser Lehre aus Zeugnissen der Heiligen Schrift

 

 

 

III,22,1

 

Alles, was wir hier behauptet haben, findet nun bei vielen Widerspruch: vor allem die gnädige Erwählung der Gläubigen. Trotzdem kann sie nicht umgestoßen werden. Die gewöhnliche Meinung ist hier die: Gott trifft seine Unterscheidung unter den Menschen je nachdem, wie nach seiner Voraussicht die Verdienste des einzelnen sein werden; er nimmt also die, von denen er zuvor erkennt, daß sie seiner Gnade nicht unwürdig sein werden, als Kinder an; dagegen gibt er die, von denen er sieht, daß ihr Wesen zum Bösen und zur Unfrömmigkeit sich neigen wird, der Verdammnis des Todes preis. So zieht man also das Vorherwissen Gottes als Deckmantel vor und verdunkelt damit die Erwählung, ja man tut so, als ob diese ihren Ursprung von anderswoher nähme! Aber diese im Volke allgemein angenommene Meinung ist nicht allein Sache des gewöhnlichen Menschen - sie hat nämlich in allen Jahrhunderten auch hochbedeutende Verfechter gehabt! Das gestehe ich freimütig zu, damit keiner darauf vertraut, es werde unserer Sache schwer schaden, wenn man ihre Namen dagegen aufführt! Denn hier ist Gottes Wahrheit zu gewiß, als daß sie durch menschliche Autorität erschüttert, zu klar, als daß sie von ihr verdunkelt werden könnte!

 

Dann gibt es andere Leute, die weder in der Schrift erfahren sind, noch auch sonst eine Stimme verdienen, die mit so großer Unverschämtheit die gesunde Lehre zerfetzen, daß man ihre Frechheit nicht ertragen kann. Weil Gott, indem er einige Menschen nach seinem Ermessen erwählt, bestimmte andere übergeht, darum wollen sie mit ihm hadern. Aber wenn doch die Sache selbst wohlbekannt ist - was wollen sie dann mit ihrem Rechtsstreit gegen Gott ausrichten? Wir lehren nichts, was nicht die Erfahrung selbst ergibt, nämlich daß es Gott stets freigestanden hat, seine Gnade zu gewähren, wem er will! Ich will nicht fragen, woher Abrahams Nachkommenschaft eine solche Vorzugsstellung vor anderen gehabt hat - sie kommt doch nur aus jenem Vorrang, für den sich außerhalb Gottes keine Ursache finden läßt! Sie sollen mir doch antworten, warum sie denn Menschen sind und nicht Ochsen oder Esel; denn in Gottes Hand stand es auch, Hunde aus ihnen zu machen, und er hat sie doch zu seinem Ebenbild gestaltet! Wollen sie auch den unverständigen Tieren das Recht zuerkennen, über ihr Los mit Gott zu hadern, als ob ihre Unterschiedenheit vom Menschen unbillig wäre! Wahrlich, daß sie diesen Vorzug (Menschen zu sein), den sie durch keinerlei Verdienste erlangt haben, doch genießen, das ist um nichts billiger, als daß Gott seine Wohltaten nach dem Maß seines Urteils verschieden austeilt!

Wenn sie aber dann zu den einzelnen Personen überspringen, wo ihnen die Ungleichheit noch mehr Ärger bereitet, so werden sie doch wenigstens angesichts des Beispiels Christi stutzig werden, um von diesem erhabenen Geheimnis nicht gar so unbekümmert zu schwatzen! Er wird aus dem Samen Davids als sterblicher Mensch empfangen - mit was für Tugenden soll er es nun nach ihrer Meinung verdient haben, daß er bereits im Mutterleibe zum Haupt der Engel, zum eingeborenen Sohne Gottes, zum Ebenbild und zur Herrlichkeit des Vaters, zum Licht, zur Gerechtigkeit und zum Heil der Welt wurde? Weislich bemerkt Augustin, daß wir gerade an dem Haupt der Kirche einen leuchtenden Spiegel der gnädigen Erwählung vor uns haben, damit sie uns an seinen Gliedern nicht irre macht! (Von der Züchtigung und der Gnade an Valentinus 11,30; ebenso: von der Gabe der Beharrung 24,67). Er bemerkt auch weiter, daß Christus nicht durch ein gerechtes Leben zum Sohn Gottes gemacht worden, sondern aus Gnaden mit solcher Ehre beschenkt worden sei, um hernach andere zu Mitgenossen seiner Gaben zu

 

machen (Predigt 174). Will nun hier jemand fragen, warum andere nicht sind, was er ist, oder warum wir alle von ihm durch einen so weiten Abstand getrennt sind, warum wir alle verderbt sind und er die Reinheit ist, so legt er damit nicht bloß seinen Wahnsinn, sondern zugleich auch seine Schamlosigkeit an den Tag. Wenn sie nun in dem Unterfangen fortfahren, Gott das freie Recht zu entreißen, daß er erwählen und verwerfen kann, so sollen sie zugleich auch Christus wegnehmen, was ihm gegeben ist!

 

Nun ist es aber vonnöten, wohl darauf zu achten, was uns die Schrift über die einzelnen Punkte kundmacht.

 

Wenn Paulus lehrt, daß wir in Christus erwählt worden sind vor Grundlegung der Welt (Eph. 1,4), so hebt er damit sicherlich jede Rücksicht auf unsere Würdigkeit auf. Es ist so, als ob er sagte: Der himmlische Vater fand ja in dem ganzen Samen Abrahams nichts, was seiner Erwählung würdig gewesen wäre, deshalb hat er seinen Blick auf seinen Christus gerichtet, um gewissermaßen aus seinem Leibe die Glieder zu erwählen, die er zur Mitgenossenschaft am Leben aufnehmen wollte. Bei den Gläubigen soll also dieser Grund gelten: wir sind deshalb in Christus zum himmlischen Erbe als Kinder angenommen, weil wir in uns selbst solche hervorragende Würde nicht zu fassen vermochten!

 

Das bemerkt Paulus auch an anderer Stelle: da ermahnt er nämlich die Kolosser zur Danksagung, und zwar darum, weil sie von Gott aus „tüchtig gemacht“ worden sind, an dem „Erbteil der Heiligen“ teilzuhaben (Kol. 1,12). Wenn nun dieser Gnade Gottes, daß wir nämlich tüchtig gemacht werden, die Herrlichkeit des zukünftigen Lebens zu erlangen, die Erwählung voraufgeht - was wird dann Gott selber wohl schon bei uns finden, das ihn bewegen könnte, uns zu erwählen? Noch deutlicher findet sich das, was ich im Auge habe, in einem anderen Wort des Apostels ausgedrückt: „Er hat uns erwählt, ehe denn der Welt Grund gelegt war, nach dem Wohlgefallen seines Willens, daß wir sollten sein heilig und unbefleckt und unsträflich vor ihm!“ (Eph. 1,4f.; nicht genau). Hier stellt er Gottes Wohlgefallen jedweden Verdiensten von unserer Seite entgegen!

 

 

 

III,22,2

Damit der Beweis festeren Grund hat, ist es der Mühe wert, die einzelnen Stücke dieser Stelle (Eph. 1,4f.) zu betrachten, die dann, miteinander verbunden, keinerlei Zweifel mehr übriglassen. Wenn Paulus hier solche Menschen nennt, die „erwählt“ sind (Vers 4), so redet er damit ohne jeden Zweifel die Gläubigen an, wie er das denn auch bald nachher bezeugt. Daher verdrehen die Leute, welche diesen Ausdruck („Erwählte“) gewaltsam auf die Zeit beziehen, in der das Evangelium (erstmalig) öffentlich kundgemacht wurde, den Begriff mit einer gar zu schmählichen Phantasterei. - Wenn er dann erklärt, sie seien erwählt worden, „ehe denn der Welt Grund gelegt war“, so hebt er damit jede Rücksicht auf Würdigkeit auf. Denn wie sollte unter denen, die noch nicht da waren und die hernach in Adam alle gleich sein sollten, eine Unterscheidung stattfinden? Wenn sie nun „in Christus“ erwählt sind, so ergibt sich, daß nicht nur jeder einzelne außerhalb seiner selbst erwählt ist, sondern auch die einen aus den anderen ausgesondert sind; denn wir sehen ja, daß nicht alle Menschen Christi Glieder sind! Er sagt dann weiter, sie seien erwählt, um „heilig“ zu sein; damit widerlegt er offen den Irrtum, der die Erwählung aus Gottes Vorherwissen ableitet (nämlich aus Gottes Vorherwissen hinsichtlich der zukünftigen Verdienste!); denn Paulus behauptet ja hier im Gegenteil, daß alles, was in den Menschen an Tugend sichtbar wird, die Wirkung der Erwählung ist! Fragt man nun nach der übergeordneten Ursache, so antwortet Paulus, Gott habe es so vorbestimmt, und zwar „nach dem Wohlgefallen seines Willens“! Damit stößt er alles um, was die Menschen als Mittel ihrer Erwählung in sich zu haben vermeinen; denn er lehrt ja, daß alle Wohltaten, die uns Gott zum

 

geistlichen Leben darreicht, aus dieser einen Quelle hervorströmen, daß er nämlich erwählt hat, welche er wollte, und für diese Erwählten, bevor sie geboren waren, bei sich selbst die Gnade aufgehoben hat, die er ihnen gewähren wollte.

 

 

 

III,22,3

 

Wo nun auch immer dieses „Wohlgefallen“ Gottes regiert, da kommen keinerlei Werke in Betracht. Diesen Gegensatz verfolgt der Apostel hier zwar nicht; er ist aber herauszuhören, so wie er ihn anderswo selbst entfaltet. Da heißt es: „Der uns hat ... berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Vorsatz und der Gnade, die uns gegeben ist in Christo Jesu vor der Zeit der Welt“ (2. Tim. 1,9). Wir haben ja auch bereits gezeigt, wie in den (auf die erstgenannte Stelle Eph. 1,4) folgenden Worten: „daß wir sollten sein heilig und unsträflich ...“ aller Zweifel behoben wird. Wenn man nämlich sagt: er hat sie eben erwählt, weil er voraussah, daß sie einst heilig sein würden, so hat man die Reihenfolge bei Paulus umgekehrt! Demnach kann man mit Sicherheit die Schlußfolgerung ziehen: Wenn er uns erwählt hat, damit wir heilig würden, so hat er uns eben nicht erwählt, weil er voraussah, daß wir es sein würden! Denn diese beiden Aussagen: „Die Frommen erlangen durch ihre Erwählung, daß sie heilig sein sollen“, und: „die Erwählung kommt ihnen auf Grund der Werke zu“ - stehen im Gegensatz zueinander. Hier vermag auch die Ausflucht nichts zu helfen, zu der man immer wieder seine Zuflucht nimmt: der Herr vergelte die Gnade der Erwählung nicht etwa voraufgehenden Verdiensten, gewähre sie aber doch zukünftigen. Denn wenn es heißt, die Gläubigen seien erwählt worden, damit sie heilig seien, so wird uns damit zugleich zu verstehen gegeben, daß alle Heiligkeit, die sich später bei ihnen finden wird, ihren Ursprung in der Erwählung hat! Und wie sollte sich da solch eine Aussage zusammenreimen, nach der das, was von der Erwählung abgeleitet wird, die Ursache der Erwählung abgegeben haben soll? Eben das, was Paulus ausgesprochen hat, scheint er nachher noch besser zu bekräftigen, wo er sagt: „Nach dem Wohlgefallen seines Willens ..., so er sich vorgesetzt hatte in ihm“ (Eph. 1,5.9). Denn wenn es heißt, Gott habe es sich in sich selber vorgenommen, so bedeutet das genau soviel, als wenn da stünde: er hat außer sich nichts in Betracht gezogen, das er bei seiner Entscheidung berücksichtigt hätte! Deshalb setzt er auch gleich hinzu, daß unsere Erwählung insgesamt darauf hinausgeht, daß wir „zum Lob der göttlichen Gnade“ gereichten! (Eph. 1,6). Wahrlich, Gottes Gnade würde es nicht verdienen, angesichts unserer Erwählung allein gepriesen zu werden, wenn diese nicht eben rein aus Gnaden geschähe! Sie geschieht aber nun nicht aus Gnaden, wenn Gott selbst bei der Erwählung der Seinen darauf achtet, wie nun in Zukunft die Werke jedes einzelnen aussehen werden! Deshalb findet es sich, daß für alle Gläubigen allgemein das Wort in Geltung steht, das Christus zu seinen Jüngern sprach: „Nicht ihr habt mich erwählet, sondern ich habe euch erwählet ...“ (Joh. 15,16). Hier schließt er nicht nur vergangene Verdienste aus, sondern macht ihnen deutlich, daß in ihnen selbst keinerlei Grund zu ihrer Erwählung läge, wenn er ihnen nicht mit seinem Erbarmen zuvorgekommen wäre! In diesem Sinne müssen wir auch das Wort des Paulus verstehen: „Wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß ihm werde wiedervergolten?“ (Röm. 11,35). Denn er will zeigen, wie Gottes Güte den Menschen in solcher Weise zuvorkommt, daß er bei ihnen nichts, weder Vergangenes noch Zukünftiges findet, auf Grund dessen er mit ihnen versöhnt würde.

 

 

 

III,22,4

Im Römerbrief überdenkt Paulus diesen Gegenstand noch tiefer und verfolgt ihn auch weitläufiger. Hier bestreitet er, daß alle, die von Israel abstammen, auch „Israeliten“ seien (Röm. 9,6); denn es waren zwar alle mit einem erblichen Recht gesegnet worden, aber die Erbfolge ging nicht gleichermaßen auf alle über. Diese Erörterung hatte ihren Ursprung in dem Hochmut und dem falschen Rühmen des jüdischen Volkes: die Juden schrieben sich selbst den Namen

 

Kirche“ zu und meinten deshalb, der Glaube an das Evangelium hinge von ihrem Gutdünken ab. In gleicher Weise möchten sich heutzutage die Papisten gern unter diesem trügerischen Schein an Gottes Stelle setzen! Paulus gesteht nun durchaus zu, daß Abrahams Geschlecht auf Grund des mit ihm geschlossenen Bundes heilig sei; aber er behauptet doch, daß sehr viele aus ihm tatsächlich Draußenstehende sind, und zwar nicht allein, weil sie entartet und so aus rechtmäßigen Kindern zu Bastarden geworden sind, sondern weil Gottes besondere Erwählung hier an allerhöchster Stelle steht und regiert; - und sie allein macht ja erst die Aufnahme in die Kindschaft wirksam, die er übt. Wenn die einen allein durch ihre Frömmigkeit in der Hoffnung auf das Heil gestärkt, die anderen allein durch ihren Abfall von ihm ausgeschlossen würden, so wäre es wahrhaftig töricht und widersinnig, daß Paulus seine Leser bis zur verborgenen Erwählung emporführt! Wenn nun aber Gottes Wille, für den außerhalb seiner selbst keine Ursache sichtbar wird oder zu suchen ist, die einen von den anderen unterscheidet, so daß nicht alle Kinder Israels wahre „Israeliten“ sind, - dann ist es umsonst, sich vorzumachen, der Ursprung der Stellung jedes einzelnen läge in ihm selber.

Dann verfolgt Paulus die Sache noch weiter, und zwar mit Hilfe des Beispiels von Jakob und Esau. Denn sie waren doch alle beide Söhne Abrahams, wohnten miteinander in dem gleichen Mutterleibe; wenn nun die Ehre der Erstgeburt auf Jakob übertragen wird, so ist das eine ungeheuerliche Vertauschung; - und doch behauptet Paulus, daß dadurch die Erwählung des einen und die Verwerfung des anderen bezeugt wurde! Es fragt sich nun, aus was für einem Ursprung und was für einem Grund heraus das geschieht. Die Männer, die hier Gottes Vorherwissen lehren, meinen, die Ursache läge in den Tugenden und Lastern der Menschen. Sie kommen nämlich leichtlich zu der kurzen Antwort: Gott habe eben in der Person des Jakob gezeigt, daß er die erwähle, die seiner Gnade würdig seien, und in der Person des Esau, daß er die verwerfe, von denen er vorhersehe, daß sie solcher Gnade unwürdig sein würden. So behaupten sie es nun kühnlich! Was sagt aber Paulus? „Ehe denn die Kinder geboren wurden und weder Gutes noch Böses getan hatten - auf daß der Vorsatz Gottes bestünde nach der Wahl, nicht aus Verdienst der Werke, sondern aus Gnade des Berufers - ward zu ihr gesagt: \'Der Ältere soll dienstbar werden dem Jüngeren\'. Wie denn geschrieben steht: \'Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehaßt’“ (Röm. 9,11-13). Wenn das Vorherwissen Gottes bei dieser Unterscheidung der beiden Brüder eine Bedeutung hätte, so wäre es wahrlich unangemessen, hier die Zeit (der Erwählung) zu erwähnen! Geben wir zu, Jakob sei erwählt worden, weil ihm aus seinen künftigen Tugenden eine Würdigkeit erwachsen sei; - wozu soll dann aber Paulus gesagt haben, er sei damals noch gar nicht geboren gewesen? Unbedacht wäre dann auch die anschließende Bemerkung, er habe dazumal noch nichts Gutes getan. Denn man könnte doch da sogleich einwenden, es sei Gott nichts verborgen, und so sei Jakobs Frömmigkeit vor ihm gegenwärtig gewesen! Wenn die Werke wirklich einem Menschen Gnade verschaffen, so mußten sie verdientermaßen ihren Wert auch schon damals haben, als Jakob nicht geboren war, genau, als wenn er damals schon herangewachsen gewesen wäre! Aber Paulus fährt fort, diesen Knoten aufzulösen, und er lehrt, die Annahme des Jakob in die Kindschaft sei nicht aus den Werken hervorgegangen, sondern aus Gottes Berufung. Bei den Werken erwähnt er weder die zukünftige noch die vergangene Zeit, ferner stellt er sie auch in scharfen Gegensatz zu Gottes Berufung; er will also ohne Zweifel durch die Behauptung des einen das andere ausdrücklich umstoßen. Es ist, als ob er sagte: wir müssen darauf achten, was Gott wohlgefiel, nicht aber darauf, was die Menschen aus sich selbst heraus beigebracht haben! Und schließlich ist es sicher, daß durch die Worte „Erwählung“ und „Vorsatz“ alle Ursachen, die die Menschen sich außerhalb des verborgenen Ratschlusses Gottes auszudenken pflegen, aus dieser Sache ausgeschlossen werden.

 

III,22,5

 

Was wollen nun die Leute, die unseren vergangenen oder auch zukünftigen Werken bei der Erwählung eine Bedeutung zuerkennen, für einen Vorwand brauchen, um dies zu verdunkeln? Denn das hieße ja, ganz und gar zu verspotten, was der Apostel behauptet, nämlich daß die Unterscheidung zwischen den beiden Brüdern nicht von irgendwelcher Rücksicht auf die Werke, sondern von Gottes reiner Berufung abhing, weil sie ja bereits beschlossen wurde, als sie noch gar nicht geboren waren. Auch wäre die Spitzfindigkeit dieser Leute dem Paulus nicht unbekannt gewesen, wenn sie einen festen Grund gehabt hätte; aber er wußte ja nur zu genau, daß Gott im Menschen gar nichts Gutes vorhersehen kann, außer dem, was er schon zuvor beschlossen hat, ihnen auf Grund ihrer Erwählung als Wohltat zu verleihen, und darum nimmt er seine Zuflucht nicht zu der verkehrten Ordnung, daß er etwa die guten Werke ihrer eigenen Ursache voranstellte. Wir entnehmen den Worten des Apostels, daß das Heil der Gläubigen allein auf das Gutdünken der göttlichen Erwählung gegründet ist und daß diese Gunst Gottes nicht durch Werke erworben wird, sondern aus seiner gnädigen Berufung hervorgeht. Wir bekommen auch für diesen Tatbestand gewissermaßen ein Beispiel vor Augen gestellt. Jakob und Esau sind Brüder, von den gleichen Eltern abstammend, noch von dem gleichen Mutterleibe umschlossen, noch nicht ins Licht der Welt getreten! Alles an ihnen ist gleich - und doch ist Gottes Urteil über sie verschieden! Den einen nimmt er an, den anderen verwirft er! Einzig und allein durch das Recht der Erstgeburt hatte der eine einen Vorrang vor dem anderen. Aber auch diese wird beiseite gelassen, und es wird dem Jüngeren übertragen, was dem Älteren versagt wird: Ja, auch bei anderen sieht man, wie Gott mit voller Absicht stets die Erstgeburt verachtet hat, um dem Fleisch allen Anlaß zum Rühmen abzuschneiden! Er verwarf den Ismael und wandte sein Herz dem Isaak zu! Er setzte Manasse zurück und ehrte den Ephraim mehr als ihn!

 

 

 

III,22,6

 

Es könnte nun aber jemand Einspruch erheben und meinen, aus diesen untergeordneten und geringfügigen Wohltaten könne man doch nicht auf das ganze zukünftige Leben schließen; man könne doch nicht sagen, daß der, welcher zur Ehre der Erstgeburt erhoben worden ist, nun auch dafür gelten könnte, daß er dazu aufgenommen sei, den Himmel zu ererben! Es gibt ja sehr viele, die nicht einmal den Paulus ungeschoren lassen und ihm vorwerfen, er hätte mit der Anführung dieser Zeugnisse der Schrift gewaltsam einen ihr fremden Sinn gegeben! Darauf antworte ich wie bisher auch: der Apostel ist weder in Unbedachtsamkeit verfallen noch hat er die Zeugnisse der Schrift mit Absicht mißbraucht. Nein, er sah, was unsere Gegner nicht beachten wollen, daß Gott die geistliche Erwählung des Jakob, die sonst vor seinem unzugänglichen Richtstuhl verborgen bleiben mußte, an einem irdischen Merkzeichen hat deutlich machen wollen! Denn wenn wir die Erstgeburt, die dem Jakob gewährt wurde, nicht auf die künftige Zeit beziehen, so muß sie ja bloß eine leere, lächerliche Art von Segen sein, aus der ihm nichts erwachsen ist als vielerlei Mühsal und Ungemach, als elende Verbannung und die vielen Bitterkeiten der Trauer und der Sorge! Paulus hat also ohne jeden Zweifel gesehen, daß Gott mit dieser äußerlichen Segnung jenen geistlichen und schlechterdings unvergänglichen Segen bezeugt hat, den er seinem Knecht in seinem Reiche bereitet hatte; und darum zögerte er auch nicht, den Beweis für den geistlichen Segen aus der äußerlichen Segnung zu entnehmen! Wir müssen auch im Gedächtnis behalten, daß an das Land Kanaan ein Unterpfand der himmlischen Wohnstatt geheftet war; wir dürfen also in keiner Weise bezweifeln, daß Jakob mit den Engeln in Christi Leib eingefügt war, um Mitgenosse des gleichen Lebens zu sein!

So wird also Jakob erwählt. Esau wird verworfen. Durch Gottes Vorbestimmung wird er von ihm unterschieden, obwohl er durch keinerlei Verdienste von ihm verschieden war! Fragt man nach der Ursache, so gibt der Apostel

 

folgende an: „Denn er spricht zu Mose. Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich!“ (Röm. 9,15; Ex. 33,19). Und nun frage ich: was will er damit sagen? Doch dies, daß der Herr mit voller Klarheit verkündet, er habe in den Menschen selbst keinerlei Ursache, ihnen wohlzutun, sondern nehme sie allein aus seinem Erbarmen, es sei also das Heil der Seinen sein Werk! Wenn nun Gott dein Heil einzig auf sich gründet, - weshalb wendest du dich denn dir selber zu? Wenn er dir allein seine Barmherzigkeit zuspricht, - weshalb nimmst du denn deine Zuflucht zu deinen eigenen Verdiensten? Wenn er deine Gedanken stracks auf sein Erbarmen gerichtet hält, - weshalb kehrst du dich denn zum Teil auch noch dazu, deine eigenen Werke anzuschauen?

Wir müssen also auf das kleinere Volk kommen, von dem Paulus anderwärts sagt, es sei Gott zuvor bekannt gewesen. (Röm. 11,2-5). Das ist freilich nicht so zu verstehen, wie sich das jene Leute einbilden, als ob er nämlich in müßigem Zuwarten etwas vorherwisse, was er doch nicht selbst tut, sondern in dem Sinne, wie wir es oft zu lesen bekommen. Wenn nämlich Petrus bei Lukas erklärt, Christus sei „aus vorbedachtem Rat und Vorsehung Gottes“ dem Tode überliefert worden, so stellt er uns Gott sicherlich nicht etwa als Zuschauer vor, sondern als den Urheber unseres Heils! Wenn nun ebenso derselbe Petrus von den Gläubigen, an die er schreibt, sagt, sie seien „nach der Vorerkenntnis Gottes“ erwählt (1. Petr. 1,2), so bringt er doch damit im eigentlichen Sinne jene verborgene Vorbestimmung zum Ausdruck, kraft deren Gott als Kinder bezeichnet hat, welche er wollte! Auch das Wort „Vorsalz“, das er als gleichbedeutenden Ausdruck anfügt, bezeichnet ja allgemein eine „feste Entschließung“, wie man das gewöhnlich ausdrückt; und es lehrt ohne Zweifel, daß Gott, indem er der Urheber unseres Heils ist, nicht aus sich selbst herausgeht. In diesem Sinne sagt Petrus auch in dem gleichen Kapitel, Christus sei das Lamm gewesen, das „zuvor ersehen ist, ehe der Welt Grund gelegt ward“ (1. Petr. 1,19f.). Was wäre denn doch ungereimter und frostiger, als daß Gott von seiner Höhe her zuschauen sollte, woher dem Menschengeschlecht das Heil käme! Das „Volk“, das Gott „zuvor ersehen“ hat (Röm. 11,2), bedeutet also bei Paulus das gleiche wie der kleine Teil, der unter die große Schar gemischt ist, die Gottes Namen fälschlich für sich in Anspruch nimmt! So will Paulus auch an anderer Stelle den hohen Anspruch solcher Menschen dämpfen, die bloß von einer Larve umhüllt sind und sich vor der Welt den ersten Platz unter den Frommen anmaßen; dazu erklärt er: „Der Herr kennt die Seinen ...“ (2. Tim. 2,19). Kurz, Paulus bezeichnet uns mit jenem Ausdruck ein zwiefaches Volk: das eine besteht aus dem ganzen Geschlecht Abrahams, das andere aber ist davon abgesondert, es ist unter Gottes Augen verborgen und deshalb dem Anblick der Menschen entzogen! Ohne Zweifel hat er das aus Mose entnommen, der ja behauptet, Gott werde barmherzig sein, welchen er will (Ex. 33,19). Allerdings ist an dieser Stelle von dem auserwählten Volk die Rede, dessen Stellung dem Augenschein nach die gleiche war. Es ist, als ob er sagte: in die allgemeine Annahme zur Kindschaft ist bei Gott die besondere Gnade gegen bestimmte Menschen wie ein noch heiligerer Schatz eingeschlossen, und der allgemeine Bund hindert nicht, daß diese kleine Zahl aus der Schar der anderen ausgesondert wird. Indem sich nun aber Gott als freier Verwalter und Lenker darüber erweisen will, erklärt er ausdrücklich, er werde nur aus dem einen Grunde dem einen mehr barmherzig sein als dem anderen, daß es ihm eben so wohlgefalle! Denn wo die Barmherzigkeit dem widerfährt, der sie sucht, da mag ein solcher Mensch zwar nicht abgewiesen werden, aber er kommt jener Gunst Gottes doch zuvor oder erwirbt sie sich gar zum Teil, - während sich Gott doch tatsächlich den Lobpreis für diese Gunst selber vorbehält!

 

III,22,7

Nun soll der oberste Richter und Lehrmeister über die ganze Sache sein Urteil sprechen! Er gewahrte bei seinen Hörern eine solche Verhärtung, daß er bei der großen Masse seine Worte fast ohne Frucht ausstreute; um nun diesem Ärgernis abzuhelfen, rief er aus: „Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir (...). Das aber ist der Wille des Vaters, daß ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat“ (Joh. 6,37.39). Bemerke wohl: es hat bei des Vaters Geschenk seinen Ursprung, daß wir in Christi Treue und Schutz übergeben werden! Vielleicht wird aber jemand den Kreis umdrehen und einwenden, es würden nur die zu Gottes Eigentum gezählt, die sich ihm aus dem Glauben heraus freiwillig ergeben. Aber Christus legt doch nur auf folgendes Nachdruck: Mag auch der Abfall gewaltiger Scharen die ganze Welt erschüttern, so bleibt doch Gottes Ratschluß fest und stärker als selbst der Himmel bestehen, so daß die Erwählung nie und nimmer ins Wanken gerät! Von den Erwählten heißt es, daß sie dem Vater schon eher gehörten, als er sie seinem eingeborenen Sohne „gab“. Man fragt, ob sie das von Natur hätten. Nein, gewiß nicht, er zieht die heran, die Fremde waren, und macht sie dadurch zu den Seinen! Christi Worten wohnt eine Klarheit inne, die zu groß ist, als daß man sie durch irgendeine Ausflucht im Nebel versinken lassen konnte! Er spricht: „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe der Vater ... Wer es nun hört vom Vater und lernt es, der kommt zu mir“ (Joh. 6,44f.). Wenn wirklich alle ihre Knie vor Christus beugten, dann wäre die Erwählung allgemein; nun aber wird an der geringen Zahl der Glaubenden eine unverkennbare Ungleichartigkeit sichtbar. Deshalb erklärt Christus, daß die Jünger, die ihm gegeben waren, das Eigentum Gottes, des Vaters waren, und fügt dann bald darauf hinzu: „Ich bitte ... nicht für die Welt, sondern für die, die du mir gegeben hast; denn sie sind dein!“ (Joh. 17,6.9). So kommt es, daß die ganze Welt ihrem Schöpfer nicht angehört, außer insofern, als die Gnade einige wenige aus der Verdammnis, aus Gottes Zorn und dem ewigen Tode herausreißt, die sonst verlorengehen würden, die Welt aber in ihrem Verderben, das für sie bestimmt ist, beläßt. So sehr übrigens Christus sich hier als Mittel einfügt, so eignet er sich das Recht zur Erwählung doch selbst gemeinsam mit dem Vater zu. Er sagt: „Nicht sage ich von euch allen; ich weiß, welche ich erwählt habe“ (Joh. 13,18). Wenn jemand fragt, aus was er sie denn erwählt habe, so antwortet er an anderer Stelle: „Aus der Welt“ (Joh. 15,19), aus der Welt also, die er, als er seine Jünger dem Vater ans Herz legt, von seinem Gebet ausschließt! (Joh. 17,9). Dabei ist aber festzuhalten: Wenn er sagt: „Ich weiß, welche ich erwählt habe“, so wird damit eine bestimmte Gruppe im menschlichen Geschlecht bezeichnet. Ferner müssen wir beachten, daß diese Menschen nicht nach der Art ihrer Tugenden abgesondert werden, sondern auf Grund des himmlischen Beschlusses. Daraus folgt, daß keiner von ihnen durch eigene Bemühung oder eigenen Fleiß solchen Vorrang besitzt; denn Christus macht sich ja selbst zum Urheber der Erwählung! Denn wenn er an anderer Stelle auch den Judas zu den Erwählten zählt, der doch ein „Teufel“ war (Joh. 6,70), so bezieht sich das nur auf das apostolische Amt; denn dies ist zwar ein herrlicher Spiegel der Huld Gottes, wie es ja Paulus an seiner Person oft bemerkt, aber es trägt doch nicht die Hoffnung auf das ewige Heil in sich! So konnte es der Fall sein, daß Judas, weil er sein Apostelamt treulos führte, schlimmer war als der Teufel; von denen aber, die Christus einmal in seinen Leib eingefügt hat, läßt er keinen umkommen! (Joh. 10,28). Denn er wird ihr Heil bewahren und damit seine Verheißung erfüllen, nämlich Gottes Macht an den Tag legen, die größer ist als alles! (Joh. 10,29). Wenn er nämlich anderwärts sagt: „Vater, die du mir gegeben hast, die habe ich bewahrt und ist keiner von ihnen verloren, als das verlorene Kind ...“ (Joh. 17,12), so ist das zwar eine uneigentliche Redeweise, aber sie hat doch mit keinerlei Zweideutigkeit zu kämpfen. Insgesamt ist zu sagen: Gott schafft

 

sich in gnädiger Aufnahme in die Kindschaft die zu seinen Kindern, die er als solche haben will; die Ursache dazu aber trägt er in sich selbst; denn er hält sich allein an sein verborgenes Wohlgefallen!

 

 

 

III,22,8

 

Aber Ambrosius, Origenes und Hieronymus sind doch der Ansicht gewesen, Gott teile seine Gnade unter den Menschen je nachdem aus, wie sie nach seiner Voraussicht jeder einzelne anwenden werde! Ja, noch mehr: selbst Augustin hat diese Meinung einige Zeit geteilt; - aber als er in der Schrift bessere Fortschritte gemacht hatte, da hat er sie nicht allein als offenbar falsch widerrufen, sondern scharf widerlegt! (Rektraktationen I,23). Ja, auch nach seinem Widerruf nimmt er sich die Pelagianer vor, weil sie in diesem Irrtum verharren, und sagt: „Wer wollte sich nicht verwundern, daß dem Apostel ein dermaßen spitzfindiger Sinn gefehlt haben soll! Denn er bringt doch da zunächst diese merkwürdige Geschichte von den noch ungeborenen Brüdern vor und stellt sich dann selbst die Frage: ’Was wollen wir denn hier sagen? Ist denn Gott ungerecht?\' (Röm. 9,14). Das wäre doch die Stelle gewesen, an der er hätte antworten können, Gott habe eben beider Verdienste vorausgesehen! Das sagt er aber nicht, sondern er nimmt seine Zuflucht zu Gottes Gerichten und zu Gottes Barmherzigkeit!“ (Brief 194). Und an anderer Stelle sagt er, nachdem er alle der Erwählung voraufgehenden Verdienste aufgehoben hat: „Hier unterbleibt nun sicherlich die eitle Schlußfolgerung derer, die Gottes Vorherwissen gegen Gottes Gnade verteidigen, und die da meinen, wir seien deshalb vor Grundlegung der Welt erwählt worden, weil Gott im voraus gewußt hätte, daß wir gut sein würden, nicht aber, daß er uns selbst gut machen würde. So redet aber der nicht, der da spricht: \'Ihr habt mich nicht erwählet, sondern ich habe euch erwählet!\' (Joh. 15,16). Denn wenn er uns deshalb erwählt hätte, weil er vorausgesehen hätte, daß wir gut sein würden - dann hätte er auch vorhergewußt, daß wir ihn erwählen würden!“ Dazu kommen dann an dieser Stelle noch weitere Äußerungen zur gleichen Sache. (Johannespredigten 86,2). So mag nun das Zeugnis Augustins bei denen gelten, die sich gerne auf die Autorität der Kirchenväter verlassen.

 

Allerdings will es Augustin auch nicht dulden, daß man ihn von den anderen Kirchenvätern trennt; nein, er weist mit klaren Zeugnissen nach, daß diese Mißhelligkeit (zwischen ihm und den anderen), die ihm die Pelagianer in übler Nachrede vorwarfen und mit der sie ihn verhaßt zu machen suchten, fälschlich erdacht sei. Er führt nämlich aus Ambrosius das Wort an: „Christus ruft den, dessen er sich erbarmt“ (Auslegung des Lukasevangeliums I,10). Oder auch: „Wenn er es gewollt hätte, dann hätte er aus Widerspenstigen solche gemacht, die ihm ergeben sind; aber Gott ruft die, die er dessen würdigt, und er macht fromm, wen er will!“ (ebenda VII,27). Wenn ich aus Augustin einen ganzen Band zusammensetzen wollte, so würde ich den Lesern gleich zeigen, daß ich nichts nötig habe, als seine Worte; aber ich will sie nicht mit Weitläufigkeit beschweren!

Aber wohlan, setzen wir den Fall, daß die Kirchenväter hiervon nicht redeten, - und wenden wir uns der Sache selbst zu! Es war doch eine schwere Frage gestellt worden: ob nämlich Gott gerecht daran täte, wenn er bestimmte Menschen seiner Gnade würdigte (und andere nicht). Paulus hätte sich mit einem einzigen Wort losmachen können, wenn er nämlich eine Rücksicht auf die Werke vorgewendet hätte! Weshalb tut er das denn nicht? Weshalb setzt er lieber eine Erörterung fort, die sich doch stets in der gleichen Schwierigkeit bewegt? Aus was für einer anderen Ursache, als weil er es nicht darf? Denn der Heilige Geist, der durch seinen Mund redet, hat nicht mit dem Gebrechen der Vergeßlichkeit zu kämpfen! Paulus antwortet also ohne alle Umschweife, Gott wende seinen Erwählten seine Huld zu, weil er es so wolle, er erbarme sich eben, weil er es wolle! Denn das Gotteswort: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich“ (Ex. 33,19), heißt doch mit anderen Worten: Gott

 

läßt sich durch keine andere Ursache zum Erbarmen bewegen, als dadurch, daß er sich eben erbarmen will: Daher bleibt das Wort Augustins wahr: die Gnade Gottes findet nicht solche, die sie erwählen könnte, sondern schafft sie! (Brief 186).

 

 

 

III,22,9

 

Wir lassen uns aber durch die Spitzfindigkeit des Thomas nicht aufhalten, wonach das Vorherwissen der Verdienste zwar nicht von Seiten dessen eine Ursache der Vorbestimmung sein soll, der sie übt (also Gottes), dagegen auf unserer Seite gewissermaßen so genannt werden könnte, nämlich gemäß einer besonderen Einschätzung der Vorbestimmung! So heißt es etwa, Gott bestimme für den Menschen die Herrlichkeit auf Grund der Verdienste zuvor, weil er beschlossen habe, ihm die Gnade zu gewähren, durch die er sich solche Herrlichkeit verdienen könne! (Zu den Sentenzen I,41,1,3). Wir lehnen das ab. Denn der Herr will, daß wir bei der Erwählung einzig und allein seine Güte anschauen; wenn also hier jemand noch etwas mehr schauen will, so ist das ein verkehrtes Trachten! Wenn es aber gilt, hier mit Klügelei zu fechten, so fehlt es auch dann nicht daran, daß wir solche Spitzfindigkeit des Thomas niederschlagen. Er behauptet, den Erwählten werde die Herrlichkeit gewissermaßen auf Grund ihrer Verdienste vorbestimmt, weil Gott ihnen nämlich die Gnade vorbestimme, kraft deren sie die Herrlichkeit verdienen könnten. Wenn ich nun aber dagegen geltend mache, die Vorbestimmung zur Gnade stehe im Dienst der Erwählung zum Leben, sie folge ihr also auf dem Fuße nach? Wenn ich nun sage, die Gnade werde denen vorbestimmt, denen der Besitz der Herrlichkeit schon lange zugewiesen ist, weil es eben dem Herrn gefällt, seine Kinder auf Grund der Erwählung zur Rechtfertigung zu führen? Denn daraus ergibt sich doch, daß die Vorbestimmung zur Herrlichkeit vielmehr die Ursache der Vorbestimmung zur Gnade ist - und nicht umgekehrt! Aber lassen wir solche Streitereien fahren, wie sie auch unter solchen überflüssig sind, die dafür halten, daß sie im Worte Gottes Weisheit genug haben. Denn es ist richtig, was einst ein kirchlicher Schriftsteller ausgesprochen hat: „Wer Gottes Erwählung den Verdiensten zuschreibt, der ist klüger, als man sein soll.“

 

 

 

III,22,10

 

Nun machen einige den Einwand, Gott gerate ja mit sich selbst in Widerspruch, wenn er alle zu sich einlüde und doch nur wenige Auserwählte annähme. Nach ihrer Meinung hebt also die Allgemeinheit der Verheißungen die Besonderheit der dem einzelnen zukommenden Gnade auf. Und so reden gewisse maßvolle Leute, nicht etwa, um die Wahrheit zu unterdrücken, sondern um spitzfindige Fragen abzuwehren und den Vorwitz vieler im Zaum zu halten. Das ist gewiß eine löbliche Absicht; aber der Rat, den man gibt, ist keineswegs zu billigen; denn Ausflucht ist nie entschuldbar! Andere fallen uns unverschämter an, aber ihr Geschwätz ist doch allzu faul, und ihr Irrtum ist allzu beschämend!

Wie die Schrift dies beides in Übereinstimmung bringt, daß in der äußeren Predigt alle zu Buße und Glauben gerufen werden, und daß doch nicht allen der Geist der Umkehr und des Glaubens geschenkt wird, das habe ich an anderer Stelle entfaltet, und einiges davon muß bald abermals erörtert werden. Was diese Leute nun aber fordern, das gestehe ich ihnen nicht zu, weil es nämlich in doppelter Hinsicht verkehrt ist. Denn der, der da droht, auf die eine Stadt regnen zu lassen und über die andere Dürre zu verhängen (Am. 4,7), der an anderer Stelle einen Hunger nach Unterweisung ankündigt (Am. 8,11) - der bindet sich nicht an ein bestimmtes Gesetz, alle gleichermaßen zu berufen! Und der, der dem Paulus untersagt, in Asien zu predigen (Apg. 16,6), der ihn von Bithynien weglenkt und nach Mazedonien herüberzieht (Apg. 16,7ff.), der zeigt, daß es sein Recht ist, diesen Schatz auszuteilen, an wen es ihm gut scheint! Durch Jesaja aber zeigt er noch deutlicher, wie er die Heilsverheißungen besonders für die Erwählten bestimmt; denn er sagt nur von ihnen, sie sollten seine Jünger sein (Jes. 8,16), nicht aber

 

unterschiedslos von der ganzen Welt! Daraus ergibt sich: es ist falsch, wenn man meint, die Lehre des Heils sei vor alle Menschen ohne Unterschied öffentlich hingestellt, so daß sie da wirksamen Nutzen stifte; denn es heißt ja, daß sie allein für die Kinder der Kirche insonderheit aufbehalten ist. Im Augenblick mag die Feststellung genügen: obwohl die Stimme des Evangeliums allgemein alle Menschen anredet, so ist doch das Geschenk des Glaubens eine seltene Sache. Die Ursache gibt Jesaja an: es ist eben nicht allen „der Arm des Herrn offenbar!“ (Jes. 53,1). Hätte er gesagt, das Evangelium würde in Bosheit und Verkehrtheit verachtet, weil viele sich ja hartnäckig weigern, es zu hören, so würde jene Scheinwahrheit von der „allgemeinen Berufung“ vielleicht Geltung haben. Aber ist es nicht die Absicht des Propheten, die Schuld des Menschen zu verkleinern, wenn er lehrt, die Quelle seiner Blindheit liege darin, daß Gott sich nicht herbeilasse, ihm seinen Arm zu offenbaren; nein, er macht nur darauf aufmerksam, daß der Glaube ein besonderes Geschenk ist und daß deshalb die Ohren durch äußere Unterweisung vergebens berührt werden.

Ich möchte aber von jenen Lehrern gern wissen, ob denn allein die Predigt Kinder Gottes macht - oder der Glaube. Bei Johannes heißt es doch im ersten Kapitel, alle, die an den eingeborenen Sohn Gottes glaubten, die würden auch zu Kindern Gottes! (Joh. 1,12). Damit wird uns aber sicherlich nicht ein wirrer Haufe vor Augen gestellt, sondern den Gläubigen ein besonderer Stand gegeben, die „nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind!“ (Joh. 1,13). Aber - sagt man - es besteht doch ein wechselseitiges Zusammenklingen von Glaube und Wort! Freilich: wo Glaube ist! Aber es ist doch nichts Neues, daß auch Same unter die Dornen oder auf steiniges Land fällt (Matth. 13,5.7), nicht nur, weil der größere Teil tatsächlich in offenbarer Halsstarrigkeit gegen Gott lebt, sondern weil auch nicht alle mit Augen und Ohren begabt sind! Wie reimt es sich nun zusammen, daß Gott Menschen zu sich ruft, von denen er weiß, daß sie nicht kommen werden? Augustin möge an meiner Statt die Antwort geben: „Du willst mit mir streiten? Verwundere dich lieber mit mir und rufe aus: ’O, welche Tiefe:\' Wir wollen beide in der Furcht einhellig sein, damit wir nicht im Irrtum verlorengehen!“ (Predigt 26). Außerdem ist ja auch nach dem Zeugnis des Paulus die Erwählung die Mutter des Glaubens, und deshalb drehe ich die Beweisführung meiner Gegner um, so daß sie auf ihr eigenes Haupt zurückfällt: der Glaube ist eben deshalb nicht allgemein, weil die Erwählung etwas Besonderes ist! Wenn Paulus sagt, wir seien erfüllt „mit allerlei geistlichem Segen“, „wie Gott uns denn erwählt hat ..., ehe der Welt Grund gelegt war“, so ergibt sich aus der Aufeinanderfolge von Ursachen und Wirkungen, daß diese Reichtümer deshalb nicht allen gemeinsam sind, weil eben Gott nur erwählt hat, welche er wollte! Das ist auch der Grund, weshalb er an anderer Stelle den „Glauben der Auserwählten“ rühmt (Tit. 1,1): es soll niemand meinen, er erwürbe sich den Glauben aus eigenem Antrieb, sondern es soll Gott die Ehre verbleiben, daß die, welche er zuvor erwählt hat, auch von ihm aus Gnaden erleuchtet werden! Es ist nämlich richtig, wenn Bernhard sagt: „Seine Freunde hören ihn besonders. Zu ihnen spricht er ja auch: ’Fürchte dich nicht, du kleine Herde ...; denn euch ist\'s gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreichs versteht!\' (Luk. 12,32; Matth. 13,11). Wer sind aber diese? Doch die, welche er zuvor ersehen ... und verordnet hat, daß sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes!\' (Röm. 8,29). Das ist ein großer und verborgener Ratschluß, der hier bekannt geworden ist: ’Es kennt der Herr die Seinen\' (2. Tim. 2,19). Aber was Gott bekannt war, das ist den Menschen offenbar gemacht, und er würdigt wahrhaftig keinen anderen des Teilhabens an solchem Geheimnis, als die, welche er zuvor ersehen und dazu vorbestimmt hat, daß sie sein Eigentum sein sollten!“ (Brief 107). Kurz darauf kommt er zu dem Schluß: „Gottes Erbarmen

 

währet von Ewigkeit zu Ewigkeit über die, so ihn fürchten\' (Ps. 103,17); - \'von Ewigkeit\' um der Vorbestimmung willen, ’zu Ewigkeit\' um der Seligmachung willen; die eine kennt keinen Anfang, die andere kein Ende!“ (ebenda). Aber wozu ist es nötig, den Bernhard als Zeugen anzuführen, wo wir doch aus des Meisters eigenem Munde vernehmen, daß nur die sehen, die aus Gott sind! (Joh. 6,46). Mit diesen Worten zeigt er uns, daß alle, die nicht aus Gott wiedergeboren sind, vor dem Glanz seines Anblicks erstarren!

 

Nun wird zwar der Glaube sehr wohl mit der Erwählung verbunden, nur soll er den zweiten Platz innehaben! Diese Stufenfolge bringen Christi Worte an anderer Stelle deutlich zum Ausdruck: „Das ist der Wille des Vaters ..., daß ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat. Denn das ist sein Wille, daß, wer an den Sohn glaubt, habe das ewige Leben!“ (Joh. 6,39f.; verkürzt). Wenn er sie alle selig machen wollte, so würde er ihnen den Sohn zum Hüter setzen und alle durch das heilige Band des Glaubens in seinen Leib einfügen. Nun steht es aber fest, daß der Glaube ein besonderes Unterpfand seiner Vaterliebe ist, das für die Kinder verborgen gehalten wird, die er sich angenommen hat! Darum sagt Christus an anderer Stelle: „Die Schafe folgen dem Hirten nach, denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber folgen sie nicht nach ...; denn sie kennen der fremden Stimme nicht“ (Joh. 10,4f.; nicht ganz Luthertext). Woher kommt dieses Unterscheiden? Doch nur daher, daß ihnen von Gott her die Ohren geöffnet sind! Denn keiner macht sich selbst zu einem Schaf, sondern er wird durch die himmlische Gnade dazu gestaltet! Daher lehrt der Herr auch, daß unser Heil allezeit gewiß und sicher sein wird, weil es nämlich von Gottes unüberwindlicher Macht gehütet wird (Joh. 10,29). Und von da her kommt er zu dem Schluß, daß die Ungläubigen nicht zu seinen Schafen gehören (Joh. 10,26). Denn sie gehören ja nicht zu der Zahl derer, von denen Gott durch Jesaja verheißen hat, sie sollten seine Jünger sein (Jes. 8,16; auch Jes. 54,13).

 

Weil nun weiter durch die von mir angeführten Zeugnisse auch die Beharrung zum Ausdruck kommt, so bezeugen sie zugleich die unwandelbare Beständigkeit der Erwählung.

 

 

 

III,22,11

Nun wenden wir uns den Verworfenen zu, die der Apostel (Röm. 9-11) zugleich in seine Betrachtung einbezieht. Wie nämlich Jakob, als er sich noch durch keinerlei gute Werke Verdienste erworben hat, zu Gnaden angenommen wird, so wird andererseits Esau, als er noch durch keinerlei Missetat befleckt ist, gehaßt (Röm. 9,13). Richten wir unser Auge auf die Werke, so fügen wir dem Apostel Unrecht zu, als hätte er eben das, was uns deutlich ist, nicht gesehen. Daß er es aber nicht gesehen hat, liegt klar zutage; denn er legt ausdrücklich darauf Gewicht, daß, als die beiden Brüder noch nichts Gutes oder Böses aus sich hervorgebracht hatten, der eine erwählt, der andere dagegen verworfen worden ist; er will ja eben beweisen, daß das Fundament der göttlichen Vorbestimmung nicht in den Werken liegt. Dann bringt er weiter den Einwand zur Sprache, ob denn Gott ungerecht sei (Röm. 9,14); aber dabei beruft er sich nicht auf das, was doch der sicherste und offenste Beleg für Gottes Gerechtigkeit gewesen wäre, nämlich darauf, er habe dem Esau eben nach seiner Bosheit vergolten; nein, er begnügt sich mit einer ganz anderen Lösung: die Verworfenen würden dazu erweckt, daß Gottes Ehre durch sie verherrlicht werde! Zum Schluß fügt er die Feststellung an: „So erbarmt er sich nun, welches er will, und verstockt, welchen er will“ (Röm. 9,18). Siehst du, wie er beides allein auf Gottes Gutdünken zurückführt? Wir können also dafür, daß er den Seinen Barmherzigkeit zuteil werden läßt, nur einen Grund anführen: weil es ihm so wohlgefällt; aber ebenso haben wir auch für die Verwerfung anderer keine andere Ursache als seinen Willen. Denn wenn es heißt, Gott verstocke oder verfolge auch mit seiner Barmherzigkeit, wen er wolle, so werden die Menschen dadurch gemahnt, keinerlei Ursache außerhalb seines Willens zu suchen!

Dreiundzwanzigstes Kapitel

 

 

 

Widerlegung der Verleumdungen, mit denen man diese Lehre zu allen Zeiten unbillig beladen hat

 

 

 

III,23,1

 

Wenn dies die menschliche Vernunft hört, so läßt sich ihre Unverschämtheit nicht Länger davon abhalten, nun, wie auf ein Trompetensignal hin, in verschiedener Art und über alles Maß hinaus in lärmende Aufregung zu geraten.

 

Einige möchten dem Anschein nach jede Verunglimpfung von Gott fernhalten und bekennen die Erwählung so, daß sie dabei bestreiten, es würde irgendwer verworfen. Aber das ist doch gar zu unverständig und kindisch: denn die Erwählung selbst hätte ohne die ihr gegenüberstehende Verwerfung keinen Bestand. Es heißt doch, daß Gott die aussondert, die er zum Heil aufnimmt; da wäre es doch mehr als ungereimt, wenn man sagte, die anderen erlangten durch Zufall oder erwürben sich mit ihrer eigenen Mühe, was doch allein die Erwählung wenigen Menschen zuteil werden läßt. Die Gott also übergeht, die verwirft er, und zwar aus keinem anderen Grunde als dem, daß er sie von dem Erbteil, das er seinen Kindern vorbestimmt, ausschließen will. Unerträglich ist aber die Unverschämtheit der Menschen, wenn sie sich von Gottes Wort nicht am Zügel halten läßt, wo es sich um seinen unbegreiflichen Ratschluß handelt, den selbst die Engel anbeten. Aber wir haben doch eben gehört, daß die Verstockung nicht weniger in Gottes Hand und Ermessen steht, als das Erbarmen (Röm. 9,14ff.). Paulus verfährt nun nicht nach dem Beispiel derer, von denen ich sprach: er müht sich nicht ängstlich darum, Gott unter dem Schutz einer Lüge zu entschuldigen, nein, er erinnert nur daran, daß es einem Gebild nicht gebührt, mit seinem Bildner zu rechten! (Röm. 9,20). Wie wollen sich auch diese Leute, die nicht annehmen wollen, daß Gott irgendwen verwerfe, dem Wort Christi entwinden, der da spricht: „Alle pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht pflanzte, die werden ausgereutet“? (Matth. 15,13). Da hören sie doch, daß alle, die der himmlische Vater nicht gewürdigt hat, sie wie heilige Bäume in seinen Garten zu pflanzen, offen und klar dem Verderben überantwortet und preisgegeben werden! Wenn sie bestreiten, daß dies ein Zeichen der Verwerfung sei, dann ist nichts so klar, daß man es ihnen beweisen könnte.

 

Wenn sie nun nicht aufhören zu widersprechen, so soll doch die Bescheidenheit des Glaubens mit der Mahnung des Paulus zufrieden sein, daß wir keine Ursache haben, mit Gott zu hadern, wenn er auf der einen Seite „seinen Zorn erzeigen“ und „seine Macht kundtun“ wollte und deshalb „mit großer Geduld“ die „Gefäße des Zorns“ trug, „die da zugerichtet sind zur Verdammnis“, - und wenn er auf der anderen Seite „den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit“ kundtut, „die er bereitet hat zur Herrlichkeit“ (Röm. 9,22f.). Die Leser wollen bemerken, wie der Apostel, um alles Murren und alle Mißgunst von vornherein abzuschneiden, die oberste Befehlsgewalt dem Zorn und der Macht Gottes einräumt; denn es wäre ja unbillig, wenn diese tiefverborgenen Gerichte, die all unsere Sinne verschlingen, unserem Urteil unterworfen sein sollten!

Was unsere Widersacher darauf entgegnen, ist leichtfertig; sie behaupten, wen Gott in seiner Geduld erträgt, den verwerfe er nicht durchaus, sondern seine Gesinnung gegen ihn bleibe in der Schwebe, ob er sich vielleicht doch noch bekehre. Als ob Paulus Gott eine Geduld zuschriebe, in der er die Bekehrung solcher Menschen abwarte, von denen er doch sagt, sie seien „zugerichtet zur Verdammnis“! Denn es ist richtig, wenn Augustin diese Stelle so auslegt: wenn doch Gottes Macht neben seiner Geduld stehe (Röm. 9,22), so lasse Gott nicht zu, sondern er walte selbst mit seiner Kraft! (Gegen Julian V,3,13). Die Widersacher erklären nun weiter: es sei doch nicht ohne Ursache, wenn es von den Gefäßen des

 

Zorns einfach heiße, sie seien „zugerichtet zur Verdammnis“, von den Gefäßen der Barmherzigkeit dagegen, Gott habe sie „bereitet zur Herrlichkeit“; denn auf diese Weise, so sagt man, schreibt er das Lob für das Heil Gott zu und behält es ihm vor, während er dagegen die Schuld für das verderben auf die wirft, die es sich mit eigenem Gutdünken zugezogen haben. Aber wenn ich ihnen nun auch zugebe, der Apostel mildere durch die verschiedenartige Redeweise die Härte des ersten Aussagegliedes, so ist es doch keineswegs sachentsprechend, das „Zurichten zur Verdammnis“ auf jemanden anders zu übertragen als auf Gottes verborgenen Ratschluß; es heißt, Gott habe den Pharao erweckt (Röm. 9,17) und er verstocke, welchen er wolle! (Röm. 9,16). Daraus ergibt sich, daß Gottes verborgener Rat die Ursache der Verstockung ist. Wenigstens will ich an dem festhalten, was Augustin lehrt: Wenn Gott aus Wölfen Schafe macht, so wendet er mächtigere Gnade daran, sie zu erneuern, damit nämlich ihre Verhärtung gezähmt wird; er bekehrt also die Verstockten deshalb nicht, weil er diese mächtigere Gnade nicht an ihnen wirken läßt; denn diese würde ihm nicht fehlen, wenn er sie beweisen wollte!

 

 

 

III,23,2

 

Das würde nun frommen und bescheidenen Leuten, solchen, die da wissen, daß sie Menschen sind, vollauf genügen. Aber jene tollen Hunde speien nicht nur eine einzige Art von Lästerungen gegen Gott aus, und wir werden deshalb auf die einzelnen Arten von Vorwürfen, so wie es die Sache mit sich bringt, antworten. Auf vielerlei Weise hadern törichte Menschen mit Gott, als ob er ihren Anklagen unterworfen wäre.

 

Erstens fragen sie also, mit welchem Recht der Herr eigentlich seinen Geschöpfen zürne, die ihn doch zuvor mit keinerlei Beleidigung gereizt hätten. Denn nach eigenem Wohlgefallen die Leute dem Verderben preiszugeben, - das passe doch mehr zu der Willkür eines Tyrannen, als zum rechtmäßigen Spruch eines Richters! Die Menschen hätten also, so meint man, wohl Grund, mit Gott zu rechten, wenn sie nach seinem bloßen Gutdünken, ohne alles eigene Verdienst zum ewigen Tode vorbestimmt würden!

 

Wenn nun solcherlei Gedanken einem frommen Menschen einmal in den Sinn kommen, so wird er sich, um ihren Ansturm zu brechen, allein mit der Erwägung wappnen, was es doch für eine Unverschämtheit ist, die Ursachen des göttlichen Willens auch nur zu erforschen; - Gottes Wille ist doch selbst die Ursache von allem, was ist, und er soll es auch billig sein! Hat er nun nämlich irgendeine Ursache, so muß es etwas geben, das ihm vorausgeht und an das er gewissermaßen gebunden ist; es ist aber ein Frevel, sich so etwas einzubilden! Denn Gottes Wille ist die höchste Richtschnur der Gerechtigkeit: wenn er also etwas will, so ist es eben darum, weil er es will, für gerecht zu halten! Wenn man also fragt, warum der Herr so gehandelt habe, so ist zu antworten: Weil er es gewollt hat! (aus Augustin, Von der Genesis gegen die Manichäer I,2,4). Geht man aber weiter und fragt, warum er es denn gewollt habe, so sucht man etwas Größeres, Erhabeneres, als Gottes Willen, - und das kann man eben nicht finden! So soll sich die menschliche Vermessenheit in Zucht halten und nach dem, was nicht ist, auch nicht fragen - damit sie nicht vielleicht auch das nicht findet, was ist! Mit diesem Zügel, meine ich, wird jeder recht zurückgehalten werden, der über die Geheimnisse seines Gottes in Ehrfurcht nachsinnen will. Gegen den Vorwitz der Gottlosen, die sich nicht scheuen, Gott offen zu lästern, wird sich der Herr in seiner Gerechtigkeit, ohne unseren Schutz, vollauf selber verteidigen, indem er ihrem Gewissen alle Ausflucht benimmt, es überführt und als schuldig hinstellt.

Dennoch bringen wir hiermit nicht das Hirngespinst von der bindungslosen Gewalt (absoluta potentia) Gottes auf; denn das ist unfromm und soll bei uns billigerweise Abscheu erregen! Wir erdichten uns keinen Gott, der außerhalb des Gesetzes stünde; denn Gott ist sich doch selbst ein Ge-

 

setz. Die Menschen nämlich, die mit ihren Lüsten zu kämpfen haben, die bedürfen, wie Platon sagt, des Gesetzes; Gottes Wille aber ist nicht nur von allem Laster rein, sondern die höchste Richtschnur der Vollkommenheit, und er ist deshalb das Gesetz aller Gesetze! Wir bestreiten aber, daß er schuldig ist, uns Rechenschaft abzulegen, wir leugnen auch, daß wir geeignete Richter sind, um über solche Sachen nach eigenem Sinn ein Urteil zu sprechen! Wenn wir also über die uns gesetzte Grenze hinausstreben, so mag uns die Drohung des Psalms Furcht einflößen, wonach Gott stets als Sieger hervorgeht, wenn er von einem sterblichen Menschen gerichtet wird! (Ps. 51,6).

 

 

 

III,23,3

 

So vermag Gott seine Feinde schweigend zu bezwingen! Aber damit wir nicht dulden, daß sie seinen heiligen Namen ungestraft verspotten, reicht er uns aus seinem Wort auch Waffen gegen sie dar. Nun mag uns jemand angreifen und fragen, warum denn Gott seit Anbeginn bestimmte Menschen zum Tode vorbestimmt habe, die doch noch gar nicht da waren und deshalb auch das Todesurteil noch nicht zu verdienen vermochten: wir werden sie dann an Stelle einer Antwort unsererseits fragen, was denn Gott nach ihrer Meinung dem Menschen schuldig sei, wenn man diesen auf Grund seiner Natur beurteilen wollte! Denn wie wir alle von der Sünde verderbt sind, so können wir gar nicht anders, als Gott verhaßt zu sein, und zwar nicht in tyrannischer Grausamkeit, sondern aus gerechtester Ursache. Wenn alle Menschen in ihrer natürlichen Stellung des Todesurteils schuldig sind, so möchte ich nur wissen, über was für eine Unbilligkeit Gottes, die ihnen angetan sein soll, sich eigentlich die beschweren wollen, die der Herr zum Tode vorbestimmt! Es sollen doch alle Kinder des Adam herkommen und mit ihrem Schöpfer hadern und streiten, weil sie nach seiner ewigen Vorsehung, ehe sie geboren wurden, ständiger Not preisgegeben worden sind! Was wollen sie denn gegen die Verteidigung noch vorbringen, (die geschieht), wenn Gott sie im Gegenteil zu ihrer eigenen Selbsterkenntnis ruft? Aus einer verderbten Masse sind sie alle genommen, und darum ist es nicht verwunderlich, wenn sie der Verdammnis unterliegen! So sollen sie also nicht etwa Gott fälschlich der Unbilligkeit beschuldigen, wenn sie nach seinem ewigen Gericht zum Tode bestimmt sind; denn sie müssen ja, ob sie wollen oder nicht, selbst empfinden, daß sie zu solchem Tode von ihrer eigenen Natur ganz von selbst hingeführt werden! Daraus wird deutlich, wie verkehrt solche Neigung zum Widerspruch ist, weil diese Menschen ja mit voller Absicht jene Ursache ihrer Verdammnis, die sie in sich zu erkennen genötigt sind, unterschlagen, um Gott zum Deckmantel zu nehmen und dadurch selber frei zu kommen! Wenn ich ihnen aber auch hundertmal zugebe, daß Gott der Urheber sei - denn das ist ja ganz und gar richtig! -, so waschen sie damit doch nicht die Anklage ab, die ihnen ins Gewissen eingeprägt ist und die ihnen immer wieder vor die Augen tritt!

 

 

 

III,23,4

Hier kommen sie nun abermals mit einem Einwand. Sind denn diese Menschen zu der Verderbnis, die jetzt als Ursache ihrer Verdammnis vorgeschützt wird, nicht zuvor durch Gottes Verordnung bestimmt worden? Wenn sie also in ihrer Verderbnis umkommen, so tragen sie doch damit nur die Strafe für jene Not, in die Adam durch Gottes Vorbestimmung gefallen ist und in die er seine Nachkommen kopfüber mit hineingezogen hat: Ist nun der nicht ungerecht, der mit seinen Geschöpfen solchen Spott treibt? (soweit die gegnerische Frage). Ich gestehe nun zwar, daß die Kinder Adams allesamt in diesen elenden Stand, an den sie nun gebunden sind, durch Gottes Willen verfallen sind. Das ist es ja, was ich im Anfang sagte: wir müssen schließlich immer allein auf das Gutdünken des göttlichen Willens zurückgreifen, dessen Ursache in Gott selber verborgen ist. Aber daraus folgt nicht, daß Gott solcher tadelnden Rede unterworfen ist! Denn solchen Tadelworten werden wir mit Paulus entgegentreten und sagen: „Ja lieber Mensch,

 

wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst? Spricht auch ein Werk zu seinem Meister: Warum machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht, aus einem Klumpen zu machen ein Gefäß zu Ehren und das andere zu Unehren?“ (Röm. 9,20f.). Sie werden aber bestreiten, daß damit Gottes Gerechtigkeit wirklich verteidigt werde, sie werden sagen, hier werde vielmehr eine Ausflucht erhascht, wie sie Leute vorzubringen pflegen, die einer rechten Entschuldigung ermangeln! Denn was scheint hier anders gesagt zu sein, als daß Gott eine Gewalt eigen ist, die sich nicht hindern läßt, alles zu tun, wie es in ihrem Belieben steht? Aber es ist ganz anders! Denn was läßt sich für eine gewichtigere Ursache angeben, als wenn man uns zu bedenken heißt, wer Gott ist? Wie sollte denn der irgendeine Unbilligkeit vorkommen lassen, der der Richter der Welt ist? Es gehört doch ganz eigentlich zu Gottes Wesen, Gericht zu üben -: also liebt er von Natur die Gerechtigkeit und ist der Ungerechtigkeit zuwider! Es ist also nicht so, als ob der Apostel bei falscher Meinung ertappt wäre und nun einen Unterschlupf suchte; nein, er zeigt uns, daß Gottes Gerechtigkeit ihrer Art nach zu tief ist, als daß man sie nach Menschenmaß messen oder mit unserem schwachen Menschenverstand begreifen könnte! Der Apostel bekennt zwar, daß Gottes Gerichte so tief sind, daß aller Verstand der Menschen davon verschlungen wird, wenn er da hineinzudringen versucht. Aber er lehrt auch, wie unwürdig es ist, Gottes Werke unter ein solches Gesetz zu zwingen, daß man sie zu tadeln wagt, sobald einem ihre Ursache nicht klar ist! Bekannt ist das Wort des Salomo, das freilich nur wenige recht verstehen: „Der große Schöpfer aller Dinge gibt dem Narren seinen Lohn und den Übertretern ihre Vergeltung!“ (Spr. 26,10; nicht Luthertext). Sein lauter Ausruf gilt der Größe Gottes, in dessen Ermessen es steht, an den Narren und Übertretern Strafe zu üben, obwohl er ihnen seinen Geist nicht gewährt! Und es ist auch ein seltsamer Wahn der Menschen, wenn sie das, was doch unermeßlich ist, dem Maß ihrer Vernunft zu unterwerfen trachten. Paulus nennt die Engel, die in ihrer Unschuld verblieben sind, „auserwählte Engel“ (1. Tim. 5,21). Wenn nun die Beständigkeit dieser Engel in Gottes Wohlgefallen begründet war, so ergibt sich aus dem Abfall der anderen, daß sie eben von Gott verlassen waren. Dafür aber läßt sich kein anderer Grund anführen als die Verwerfung, die in Gottes geheimem Ratschluß verborgen ist.

 

 

 

III,23,5

Wohlan, nun mag solch ein Manichäer oder Coelestiner, solch Verächter der göttlichen Vorsehung vortreten: ich sage mit Paulus, daß man die Ursache dieser göttlichen Vorsehung nicht angeben kann, weil sie in ihrer Größe weit über unser Verstehen hinausgeht. Was ist da verwunderlich, was widersinnig? Will solch ein Mensch Gottes Macht in so enge Grenzen gespannt sein lassen, daß sie nichts mehr auszurichten vermag, als sein Verstand begreift? Ich behaupte mit Augustin, daß der Herr Menschen erschaffen hat, von denen er ohne Zweifel vorher wußte, daß sie verlorengehen würden, und das ist geschehen, weil er es so wollte! Weshalb er es aber gewollt hat - behaupte ich weiter -, danach zu fragen, ist nicht unsere Sache; denn wir können es doch nicht begreifen; auch gebührt es sich nicht, daß Gottes Wille bei uns in eine Wortstreiterei hineingezogen werde; denn sooft von ihm die Rede ist, wird unter seinem Namen die höchste Richtschnur der Gerechtigkeit begriffen! Weshalb erhebt man denn die Frage, ob sein Handeln nicht vielleicht unbillig wäre -, wo doch seine Gerechtigkeit so klar aufleuchtet? Wir wollen es uns aber nicht verdrießen lassen, derartigen Lästermäulern nach dem Beispiel des Paulus solchergestalt das Maul zu stopfen, daß wir ihnen jedesmal, wenn sie zu kläffen wagen, immer wieder entgegenhalten: Wer seid ihr denn, ihr elenden Menschen, daß ihr Gott mit Anklage bedroht? (Röm. 9,20). Und ihr droht ihm solche Anklage ja doch nur an, weil er seine großen Werke nicht nach eurem groben Verstand richtet! Als ob sie aber deshalb verkehrt wären, weil sie dem Fleisch verborgen sind! Die Unermeßlichkeit der Gerichte Gottes ist euch doch

 

aus deutlichen Proben bekannt. Ihr wißt doch, daß sie als tiefer Abgrund bezeichnet werden: (Ps. 36,7). Nun fragt einmal bei eurer engen Vernunft nach, ob sie auch faßt, was Gott bei sich beschlossen hat. Was hilft es euch also, euch in unsinnigem Nachspüren in einen Abgrund zu versenken, von dem doch schon die Vernunft sagt, daß er euch zum Untergang führen wird! Weshalb hält euch nicht wenigstens angesichts dessen, was die Geschichte des Hiob wie auch die prophetischen Bücher von Gottes unbegreiflicher Weisheit und furchtbarer Gewalt predigen, einige Furcht zurück? Wenn dein Verstand sich auflehnt, so laß es dich nicht verdrießen, den Rat Augustins anzunehmen: „Du, Mensch, erwartest von mir eine Antwort, - und ich bin auch ein Mensch! Deshalb wollen wir beide auf den hören, der da spricht: «Ja, lieber Mensch, wer bist du denn?\' (Röm. 9,20). Denn ein gläubiges Nichtwissen ist besser als ein vorwitziges Wissen!“ (Predigt 28). „Suche nach Verdiensten, - und du wirst nichts als Strafe finden - O, welche Tiefe! Petrus verleugnet, der Schächer glaubt - O, welche Tiefe!“ (ebenda). „Fragst du nach einer Ursache? Ich will mich vielmehr vor solcher Tiefe entsetzen! Klügle du, - ich verwundere mich: Disputiere du, - ich will glauben! Ich sehe die Tiefe, aber ich komme nicht auf Grund. Paulus ist zur Ruhe gekommen, weil er zu solcher Bewunderung kam. Er nennt Gottes Gerichte ’unbegreiflich\' (Röm. 11,33), - und du bist gekommen, sie zu durchforschen? Er sagt, seine Wege seien ’unerforschlich\' (Röm. 11,33) - und du willst dich hindurchfinden?“ (ebenda).

 

Wenn wir hier weitergehen, so richten wir doch nichts aus; denn die Zudringlichkeit solcher Menschen wird keine Befriedigung finden. Auch bedarf der Herr keiner anderen Verteidigung, als die er selbst durch seinen Geist angewendet hat, der durch den Mund des Paulus sprach, - und wir verlernen es, recht zu reden, wenn wir aufhören, (gemeinsam) mit Gott zu reden!

 

 

 

III,23,6

 

Noch ein zweiter Einwurf erhebt sich aus der Gottlosigkeit; er ist aber nicht so sehr darauf gerichtet, Gott zu beschimpfen, als vielmehr gerade darauf aus, den Sünder zu entschuldigen. Allerdings kann man den Sünder, den doch Gott verdammt, schließlich nur unter Schmähung des Richters rechtfertigen. Solche unheiligen Zungen schreien uns also entgegen: „Wie sollte Gott den Menschen Dinge als Laster zurechnen, die er ihnen doch durch seine Vorbestimmung zwingend auferlegt hat? Was sollten die Menschen denn tun? Sollten sie etwa mit seinen Entschlüssen Streit führen? Das würden sie aber doch vergebens unternehmen, da sie es nie und nimmer vermöchten! Es ist also Unrecht, sie um solcher Dinge willen zu strafen, deren vornehmste Ursache in Gottes Vorbestimmung liegt!“

 

Hier will ich nun von der Verteidigung Abstand nehmen, bei der die kirchlichen Schriftsteller durchweg ihre Zuflucht suchen; sie erklären, Gottes Vorherwissen hindere nicht, daß der Mensch als Sünder geachtet würde; denn Gott sehe ja seine Sünden, nicht etwa seine eigenen voraus. Das lästerliche Geschwätz ließe sich dadurch nämlich nicht zum Stehen bringen; es würde im Gegenteil nun darauf dringen, Gott hätte doch trotzdem den bösen Werken, die er voraussah, entgegenwirken können, wenn er gewollt hätte; er habe das aber nicht getan und deshalb habe er den Menschen eben zu dem Zweck geschaffen, daß er sich auf Erden so aufführe! Wenn der Mensch - so würde man dann fortfahren - durch Gottes Vorsehung in jene Lage hineingeschaffen ist, daß er hernach eben alles tun mußte, was er wirklich tut (nämlich Sünde), so kann man ihm daraus kein Verbrechen machen, weil er es ja gar nicht vermeiden kann und durch Gottes Willen in diese Zwangslage gekommen ist.

Wir wollen also zusehen, wie man diesen Knoten richtig lösen muß. Vor allem anderen muß da jedermann das Wort des Salomo festhalten: Gott hat alles um seiner selbst willen geschaffen, „auch den Gottlosen für den bösen Tag“! (Spr. 16,4). Hier sehen wir es: das Walten über alle Dinge ist in Gottes Hand, bei ihm liegt die Entscheidung über Heil und Tod, und deshalb ordnet er es mit seinem Ratschluß

 

und Willen so, daß unter den Menschen einige geboren werden, die bereits vom Mutterleibe an dem sicheren Tode geweiht sind, um durch ihr verderben seinen Namen zu verherrlichen! Hier mag nun jemand zu erwägen geben, durch Gottes Vorsehung werde diesen Menschen doch keinerlei Notwendigkeit auferlegt, sondern sie seien in solcher Stellung von ihm erschaffen, weil er eben ihre künftige Bosheit vorausgesehen habe; wer das nun aber behauptet, der sagt damit mehr als nichts, aber doch nicht alles! Die Alten pflegen zwar diese Lösung zuweilen zu verwenden, aber doch gewissermaßen im Zweifel. Die Schultheologen jedoch ruhen auf ihr aus, als ob man nichts dagegen sagen könnte. Ich will zwar gern zugeben, daß Gottes Vorherwissen allein den Kreaturen keine Notwendigkeit auferlegt. Freilich geben auch das nicht alle zu; es gibt nämlich auch solche, die in Gottes Vorherwissen die Ursache der Dinge erblicken wollen. Aber mir scheint valla, ein sonst in den heiligen Dingen nicht besonders geübter Mann, diese Frage schärfer und klüger durchschaut zu haben: er zeigt, daß dieser Streit überflüssig ist, weil Leben und Tod eher Wirkungen des göttlichen Willens als des göttlichen Vorherwissens sind. Wenn Gott den zukünftigen Zustand der Menschen bloß vorhersähe und ihn nicht auch nach seinem Ermessen lenkte und anordnete, dann wäre es nicht unsachgemäß, die Frage zu erheben, welche Bedeutung sein Vorherwissen für die Notwendigkeit dieses Zustandes hätte. Aber tatsächlich hat er die künftigen Geschehnisse nur aus der einen Ursache heraus vorhergesehen, weil er beschlossen hatte, sie sollten so vor sich gehen, und deshalb ist es umsonst, um das Vorherwissen zu streiten, wo es doch feststeht, daß alles vielmehr aus seiner Anordnung, seinem Wink heraus geschieht!

 

 

 

III,23,7

Man erklärt nun, es stünde nicht mit ausdrücklichen Worten geschrieben, daß Gott beschlossen habe, Adam solle durch seinen Abfall zugrunde gehen. Als ob dieser Gott, von dem die Schrift Predigt, daß er macht, „was er will“ (Ps. 115,3), das edelste seiner Geschöpfe auf ein ungewisses Ziel hin geschaffen hätte! Man sagt, es habe bei seinem freien Willen gestanden, sich selbst sein Los zu gestalten, Gott aber habe nichts bestimmt, als daß er ihn nach seinem Verdienst behandeln werde. Wo bleibt aber, wenn solch ein inhaltloses Hirngespinst zur Annahme kommt, Gottes Allmacht, in der er nach seinem geheimen Ratschluß, der sonst von nichts abhängt, alle Dinge lenkt? Aber mögen solche Menschen wollen oder nicht, so tritt doch die Vorbestimmung an den Nachkommen Adams zutage! Denn es ist nicht natürlicherweise geschehen, daß durch die Schuld des einen Stammvaters alle aus dem Heil herausgefallen sind. Was hindert sie nun, von einem Menschen zu bekennen, was sie wider ihren Willen vom ganzen Menschengeschlecht zugeben? Denn wozu geben sie sich vergebliche Mühe, hier Ausflüchte zu suchen? Die Schrift erklärt laut, daß alle Sterblichen in der Person eines einzigen Menschen dem ewigen Tode zu eigen gegeben worden sind. Da man dies aber nicht der Natur zuschreiben kann, so liegt es hell am Tage, daß es aus Gottes wunderbarem Rat hervorgegangen ist. Gar zu widersinnig ist es aber, daß diese guten Beschützer der Gerechtigkeit Gottes an solch einem Grashalm hängen bleiben, aber hohe Baumstämme überspringen! Ich frage auf der anderen Seite: Wie ist es denn gekommen, daß Adams Fall rettungslos so viele Völker samt ihren unmündigen Kindern in den ewigen Tod verwickelt hat? Gibt es einen anderen Grund, als daß es Gott so Wohlgefallen hat? Hier müssen jene sonst so geschwätzigen Zungen verstummen. Es ist zwar ein furchtbarer Ratschluß, das gebe ich zu; aber dennoch wird niemand leugnen können, daß Gott, bevor er den Menschen schuf, zuvor gewußt hat, welchen Ausgang er nehmen würde, und daß er dies eben darum vorauswußte, weil er es in seinem Ratschluß so bestimmt hatte! Wer hier gegen Gottes Vorherwissen losfahren will, der rennt vorwitzig und unbedacht an. Denn aus was für einem Grunde, frage ich, soll der himmlische Richter der Anklage unterliegen, weil er wohl wußte, was ein-

 

treten würde? Alles, was man an rechtmäßiger oder scheinbarer Klage vorbringen mag, richtet sich doch gegen seine Vorbestimmung. Es darf auch nicht widersinnig erscheinen, wenn ich behaupte: Gott hat den Fall des ersten Menschen und in ihm das Verderben seiner Nachfahren nicht bloß vorhergesehen, sondern auch nach seinem Gutdünken angeordnet. Denn wie es zu seiner Weisheit gehört, daß er alles Zukünftige zuvor weiß, so zu seiner Macht, alles mit seiner Hand zu regieren und zu leiten! Auch diese Frage, wie andere, hat Augustin weislich gelöst. Er sagt: „Sehr heilsam bekennen wir, was wir sehr recht glauben, nämlich daß der Gott und Herr aller Dinge, der alles ’sehr gut\' geschaffen hat, der zuvor wußte, daß aus dem Guten Böses erwachsen würde, und der wußte, daß es seiner schlechthin allmächtigen Güte eher anstünde, das Böse zum Guten zu wenden, als das Böse nicht geschehen zu lassen, daß dieser Gott das Leben der Engel und der Menschen so angeordnet hat, daß er an ihm zunächst zeigte, was der freie Wille vermag, und dann auch, was die Wohltat seiner Gnade und das Urteil seiner Gerechtigkeit kann!“ (Von der Züchtigung und Gnade 10,27).

 

 

 

III,23,8

 

Hier nimmt man nun seine Zuflucht zu der Unterscheidung zwischen Willen und Zulassung; danach will man erreichen, daß die Gottlosen nur unter Gottes Zulassung, nicht aber nach seinem Willen verlorengehen. Aber was wollen wir sagen: aus welchem anderen Grunde soll er denn etwas zulassen, als - weil er es will? Freilich ist es nicht einmal an sich einzusehen, daß der Mensch sich das Verderben allein unter Gottes Zulassung und ohne seine Anordnung zugezogen habe. Als ob Gott nicht fest beschlossen hätte, in welcher Stellung nach seinem Willen die vornehmste unter seinen Kreaturen sich befinden sollte! Ich trage also keine Bedenken, mit Augustin einfach zu bekennen, daß Gottes Wille die Notwendigkeit der Dinge ist (Von der Genesis IV,15,26), und daß, was er will, notwendig eintreten wird, wie ja auch alles wirklich geschehen wird, was er vorausgesehen hat!

Wenn nun aber die Pelagianer oder die Manichäer oder die Wiedertäufer oder die Epikuräer - denn mit diesen vier Sekten haben wir es bei dieser Erörterung zu tun! - zu ihrer und der Gottlosen Entschuldigung auf die „Notwendigkeit“ verweisen, kraft deren sie durch Gottes Vorbestimmung gezwungen würden, so bringen sie nichts vor, was zu dieser Sache geeignet ist. Denn die Vorbestimmung ist doch nichts anderes als die Austeilung der zwar verborgenen, aber unbeschuldbaren göttlichen Gerechtigkeit. Weil es nun aber sicher ist, daß die, welche zu solchem Geschick (nämlich zum Verderben) vorbestimmt wurden, dessen nicht unwürdig waren, so ergibt sich: es ist ebenso sicher, daß das Verderben, dem sie kraft der Vorbestimmung unterworfen sind, völlig gerecht ist! Außerdem ist ihr Verlorengehen von Gottes Vorbestimmung in der Weise abhängig, daß sich doch die Ursache und Begründung dazu in ihnen selbst finden! Der erste Mensch ist nämlich gefallen, weil Gott es für nützlich hielt; warum er es dafür hielt, ist uns nicht bekannt. Dennoch ist es sicher, daß er es aus keinem anderen Grund getan hat, als weil er sah, daß so die Ehre seines Namens mit Recht verherrlicht würde. Wo du aber Gottes Ehre nennen hörst, da denke auch an seine Gerechtigkeit. Denn das, was Lobpreis verdient, muß gerecht sein! Der Mensch kommt also zu Fall, weil Gottes Vorsehung es so ordnet - aber er fällt durch seine eigene Schuld! Kurz zuvor hatte der Herr kundgetan, alles, was er gemacht hatte, sei „sehr gut“ (Gen. 1,31). Woher kommt denn dem Menschen solche Bosheit, daß er von seinem Gott abfällt? Es sollte niemand meinen, sie stamme aus der Schöpfung; deshalb hatte Gott das, was von ihm selbst ausgegangen war, durch eigenen Lobspruch gutgeheißen. Der Mensch hat also in eigener Bosheit die reine Natur verderbt, die er von dem Herrn empfangen hatte und zog durch seinen Fall auch seine ganze Nachkommenschaft mit sich ins Verderben! Deshalb sollen wir an der verderbten Natur des Menschengeschlechts die offen-

 

kundige Ursache der Verdammnis anschauen, die uns naher liegt - statt eine verborgene und tiefst unbegreifliche in Gottes Vorbestimmung zu suchen! Wir wollen es uns auch nicht verdrießen lassen, unseren Verstand Gottes unermeßlicher Weisheit so gar zu unterwerfen, daß er unter ihren vielen Geheimnissen zusammenbricht! Denn gegenüber dem, was zu wissen uns nicht gegeben ist und nicht gebührt, ist Nichtwissen etwas Gelehrtes, Trachten nach Wissen aber eine Art Wahnsinn!

 

 

 

III,23,9

 

Vielleicht wird aber irgendwer sagen, ich hätte noch nichts vorgebracht, was jene gotteslästerliche Entschuldigung (der Sünde unter Hinweis auf die Prädestination) zum Schweigen brächte. Ich gestehe nun zwar, daß auch dies nicht geschehen kann, ohne daß die Unfrömmigkeit immer noch murrt und mault. Ich habe aber doch den Eindruck, daß ich genug gesagt habe, um nicht nur die Ursache zu solcher Widerrede, sondern auch den Vorwand dazu aus der Welt zu schaffen. Die Verworfenen wollen über ihrem Sündigen für entschuldbar gelten, weil sie der Notwendigkeit zum Sündigen nicht entgehen könnten, vor allem, wo ihnen doch diese Notwendigkeit durch Gottes Anordnung auferlegt werde. Wir dagegen bestreiten, daß sie solchermaßen recht entschuldigt werden, weil doch Gottes Anordnung, kraft deren sie nach ihrer Klage zum Verderben bestimmt sind, ihre klare Billigkeit in sich trägt, die uns zwar verborgen, die aber doch ganz gewiß ist! Daraus ergibt sich für uns die Feststellung: sie stehen kein Übel aus, das ihnen nicht durch Gottes schlechthin gerechtes Gericht zugefügt wird. Ferner lehren wir auch, daß sie verkehrt vorgehen, wenn sie ihre Augen auf das verborgene Allerheiligste des göttlichen Ratschlusses richten, um dort den Ursprung ihrer Verdammnis zu suchen, unterdessen aber vor der Verderbnis ihrer Natur, aus der solche Verdammnis wirklich hervorquillt, die Augen zukneifen! Diese Verderbnis können sie aber nicht Gott zurechnen: dem steht im Wege, daß er seiner Schöpfung ein solches Zeugnis gibt (nämlich: sie sei „sehr gut“!). Obgleich nämlich der Mensch durch Gottes ewige Vorsehung zu dem Jammer erschaffen ist, dem er unterliegt, so hat er doch den Grund und Anlaß dazu aus sich selbst, nicht aber aus Gott genommen. Denn er ist aus keiner anderen Ursache so verloren, als weil er aus Gottes reiner Schöpfung zu lasterhafter, unreiner Verderbtheit entartet ist!

 

 

 

III,23,10

 

Noch mit einer dritten Widersinnigkeit wird Gottes Vorbestimmung von ihren Widersachern verunglimpft. Wir schreiben es ja nichts anderem als dem Gutdünken des göttlichen Willens zu, daß dem allgemeinen Verderben einige entnommen werden, die Gott zu Erben seines Reiches annimmt, - und daraus ziehen jene Widersacher die Folgerung, es gebe also bei Gott ein Ansehen der Person, was doch die Schrift allerorts verneint. Also muß - so folgert man weiter - entweder die Schrift sich selbst widersprechen oder aber bei Gottes Erwählung eine Rücksicht auf Verdienste stattfinden!

Zunächst: wenn die Schrift bestreitet, daß Gott einer sei, der „die Person ansieht“, so geschieht das in anderem Sinne, als in dem die Widersacher urteilen. Denn sie versteht (hier) unter „Person“ nicht den Menschen, sondern das, was am Menschen vor Augen ist und ihm Gunst, Ansehen und Würdigkeit zu verschaffen oder auch Haß, Verachtung und Unehre zuzuziehen pflegt. Dazu gehören Reichtum, Besitz, Macht, Adel, öffentliche Amtsstellung, Herkunft, seine Gestalt und anderes dieser Art. Ebenso auch Armut, Mangel, unedle Herkunft, niedrige Stellung, Verächtlichkeit und dergleichen mehr. So lehren Petrus und Paulus, der Herr sei nicht einer, der die Person ansieht (Apg. 10,34; Röm. 2,11), weil er nämlich zwischen Juden und Griechen keinen Unterschied macht (Gal. 3,28), also nicht etwa wegen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk den einen verwirft und den anderen annimmt. So gebraucht auch Jakobus die gleichen Worte, indem er beweisen will,

 

daß sich Gott in seinem Urteil nicht um Reichtümer kümmert (Jak. 2,5). Paulus aber redet an anderer Stelle in derselben Weise von Gott, und zwar weil er bei seinem Urteil keine Rücksicht auf Freiheit oder Knechtschaft nimmt (Kol. 3,25; Eph. 6,9). Es liegt also gar kein Widerspruch darin, wenn wir sagen: Gott erwählt ohne jedes Verdienst nach dem Ermessen seines Wohlgefallens die zu seinen Kindern, die zu erwählen ihm gut scheint, die anderen aber verstößt und verwirft er.

 

Die Sache läßt sich aber auch folgendermaßen erklären, um die Widersacher noch völliger zufriedenzustellen. Man fragt, wie es denn komme, daß Gott von zwei Menschen, die kein Verdienst voneinander unterscheidet, den einen in seiner Erwählung übergeht, den anderen aber annimmt. Ich frage auf der anderen Seite: Meint man denn, in dem, der angenommen wird, wäre irgend etwas, das Gottes Herz zu ihm hinneigt? Wenn man nun zugibt, daß sich da nichts findet - und das muß man zugeben! -, so folgt daraus, daß Gott nicht den Menschen anschaut, sondern aus seiner Güte die Ursache nimmt, aus der heraus er ihm wohltut! Daß also Gott den einen Menschen erwählt und dabei den anderen verwirft, das ergibt sich nicht etwa daraus, daß Gott den Menschen ansähe, sondern allein aus seinem Erbarmen, dem es freistehen muß, sich zu erzeigen und auszuwirken, wo und wie oft es ihm gefällt! (siehe Augustin, An Bonifacius II,7,13ff.). Wir sahen doch auch anderwärts, daß seit Anbeginn nicht viel Edle, nicht viel Weise, nicht viel Gewaltige berufen worden sind (1. Kor. 1,26), damit Gott die Hoffart des Fleisches demütigte! So wenig ist Gottes Gunst an Personen gebunden gewesen!

 

 

 

III,23,11

Es ist also verkehrt und sehr übel, wenn einige Leute Gott verleumden, er übe ungleiche Gerechtigkeit, weil er in seiner Vorbestimmung nicht allen gegenüber die gleiche Haltung einnimmt. Man sagt: Wenn er sie alle schuldig befindet, so soll er sie auch alle gleichermaßen strafen, findet er sie aber unschuldig, so soll er sich allen gegenüber der Strenge seines Gerichts enthalten. Aber dabei geht man mit ihm gerade so um, als ob ihm Barmherzigkeit untersagt wäre oder als ob er, wenn er sich erbarmen will, nun auch gezwungen wäre, seinem Gericht ganz und gar zu entsagen! Was verlangt man denn? Wenn alle schuldig sind, so sollen sie auch alle miteinander die gleiche Strafe erleiden. Nun geben wir zu: die Schuld ist gemeinsam! Wir behaupten aber, daß einigen Gottes Barmherzigkeit zu Hilfe kommt. Dann muß sie auch allen helfen - sagen sie darauf! Wir dagegen wenden ein: es ist billig, daß er sich auch durch Strafen als gerechten Richter beweise! Wenn sie das nicht ertragen, was tun sie dann anders, als daß sie versuchen, Gott entweder des Vermögens zum Erbarmen zu berauben - oder es ihm wenigstens nur unter der Bedingung zuzugestehen, daß er auf sein Gericht gänzlich Verzicht leistet? Daher passen die folgenden Aussagen Augustins trefflich hierher. Zunächst: Weil in dem ersten Menschen die gesamte Masse seines Geschlechts in Verdammnis geraten ist, so sind alle, die aus ihr zu Gefäßen zur Ehre werden (vgl. Röm. 9,21), nicht Gefäße ihrer eigenen Gerechtigkeit, sondern der Barmherzigkeit Gottes. Daß aber andere zu Gefäßen zur Unehre werden, das ist nicht Gottes Ungerechtigkeit, sondern seinem Gericht zuzuschreiben (Brief 196). Ferner: Wenn Gott denen, die er verwirft, die verdiente Strafe zuteil werden läßt, und wenn er andererseits denen, die er beruft, unverdiente Gnade schenkt, so ist er darin von jeder Anklage frei, und zwar nach dem Gleichnis des Schuldherrn, in dessen Gewalt es steht, dem einen seine Schuld zu erlassen, sie aber von dem anderen einzufordern! (Von der Prädestination und Gnade 3; Pseudo-Augustin). Oder auch: Der Herr kann also auch Gnade schenken, welchem er will, weil er barmherzig ist; wiederum kann er sie auch nicht allen schenken, weil er der gerechte Richter ist! Indem er einigen schenkt, was sie nicht verdient haben, kann er seine freie Gnade ans Licht bringen; indem er es aber nicht allen schenkt, kann er zeigen, was alle verdienen! (Von der Gabe der Be-

 

harrung 12,28). Denn wenn Paulus schreibt, Gott habe alles unter die Sünde beschlossen, „auf daß er sich aller erbarme“ (Röm. 11,32), so ist zugleich zuzufügen: er ist niemandem etwas schuldig; denn keiner „hat ihm etwas zuvor gegeben, daß ihm werde wieder vergolten!“ (Röm. 11,35).

 

 

 

III,23,12

 

Die Widersacher verweisen, um die Vorbestimmung umzustoßen, auch mit Schärfe darauf, daß bei Aufrechterhaltung der Vorbestimmung jede Sorge, jeder Eifer um rechtes Tun zu Boden falle. Denn wer wird, so sagen sie, vernehmen, daß für ihn durch ewigen, unveränderlichen Entscheid Gottes bereits Leben oder Tod festgelegt sind, ohne sofort auf den Gedanken zu verfallen, es liege nichts daran, wie er sich aufführe, weil ja mit seinem Werk Gottes Vorbestimmung weder zu hindern noch zu fördern wäre? So werden sich denn alle zuchtlos gehen lassen und auf jammervolle Weise kopfüber in alles hineinstürzen, wohin sie auch ihre Lust treibt!

 

Und diese Leute sagen wahrhaftig nicht in jeder Beziehung die Unwahrheit! Denn es gibt gar viele solcher Säue, die die Lehre von der Vorbestimmung mit unsauberen Gotteslästerungen besudeln, alle Mahnungen, allen Ladet verspotten und als Deckmantel vorwenden: „Gott weiß ja, was er einmal mit uns zu machen beschlossen hat; hat er uns das Heil zubestimmt, dann wird er uns auch zu seiner Zeit zu ihm hinführen; hat er uns den Tod zugesprochen, so werden wir uns vergebens dagegen sperren!“

 

Indem uns aber die Schrift gebietet, mit wieviel größerer Ehrerbietung und Gottesfurcht wir über ein so tiefes Geheimnis nachzudenken haben, unterweist sie die Frommen in ganz anderem Sinne und spricht auch einen gründlichen Tadel gegen den gottlosen Mutwillen jener Leute aus. Denn sie erwähnt die Vorbestimmung nicht dazu, daß wir uns zur Vermessenheit erheben und versuchen, Gottes unzugängliche Geheimnisse in nichtswürdigem Vorwitz zu durchforschen, sondern vielmehr, damit wir gedemütigt und niedergeschlagen lernen, vor seinem Gericht zu erzittern und zu seiner Barmherzigkeit emporzuschauen! Nach diesem Ziel sollen sich also die Gläubigen richten!

 

Jenes gemeine Säuegrunzen aber wird von Paulus nach Gebühr zum Schweigen gebracht. Sie sagen, sie könnten unbekümmert in ihren Lastern weiterhin einhergehen; denn wenn sie zu der Zahl der Erwählten gehörten, dann würden ihre Laster nicht hindern, daß sie schließlich doch zum Leben herzugeführt würden. Paulus dagegen mahnt uns, wir seien zu dem Ziel erwählt, daß wir ein „heiliges“ und „unsträfliches“ Leben führten! (Eph. 1,4). Ist nun das Ziel der Erwählung die Heiligkeit unseres Lebens, so muß sie uns dazu erwecken und anspornen, nach solcher Heiligkeit wacker zu trachten, statt uns etwa einen Deckmantel für unsere Faulheit zu bieten! Denn was ist das doch für ein scharfer Widerspruch: man läßt davon ab, Gutes zu tun, weil die Erwählung zum Heil genüge - und dabei ist der Erwählung das Ziel gesetzt, daß wir uns dem Eifer um das Gute hingeben sollen! Fort also mit solchen Gotteslästerungen, die die ganze Ordnung der Erwählung fälschlich umkehren!

Sie lassen ihre Lästerungen aber noch weiter gehen und behaupten, wer von Gott verworfen sei, der wende verlorene Mühe daran, wenn er durch Unschuld und Rechtschaffenheit des Lebens danach trachte, Gottes Wohlgefallen zu gewinnen. Aber damit werden sie nun der unverschämtesten Lüge überführt. Woher sollte nämlich solch eifriges Trachten entstehen können, als aus der Erwählung? Denn alle, die zu der Zahl der verworfenen gehören, die sind ja Gefäße, die zu Unehren gemacht sind (Röm. 9,21), und deshalb hören sie nicht auf, durch fortdauernde Missetaten Gottes Zorn wider sich zu reizen und Gottes Gericht, das bereits über sie geschehen ist, durch offenkundige Merkzeichen zu bestätigen! So wenig kann die Rede davon sein, daß sie mit solchem Gericht Gottes in einem vergeblichen Streite lägen!

 

III,23,13

 

Trotzdem schmähen andere diese Lehre boshaft und schamlos, als ob sie alle Ermahnungen, fromm zu leben, über den Haufen würfe. Dieser Sache halben hat Augustin einst viel Unglimpf ausstehen müssen; dessen hat er sich dann aber in seinem Buche „Von der Züchtigung und Gnade an Valentinus“ erwehrt, das alle frommen und belehrbaren Leute leicht zufriedenstellen wird, wenn sie es lesen. Trotzdem will ich hier einiges berühren, das, wie ich hoffe, rechtschaffenen und nicht streitsüchtigen Menschen Genüge tun wird. Wir haben ja oben gesehen, was für ein klarer und lauter Herold der Gnadenerwählung Paulus gewesen ist; - aber war er deshalb etwa untätig im Ermahnen und Ermuntern? Es sollen doch jene guten Eiferer sein ernstes Drängen mit dem ihrigen vergleichen: - dann werden sie bei sich selber Eis vorfinden im Vergleich zu seiner unglaublichen Glut! Und wirklich: alle Zweifel werden behoben, wenn wir den Grundsatz hören: „Gott hat uns nicht berufen zur Unreinigkeit“ (1. Thess. 4,7), sondern daß „ein jeglicher sein Gefäß behalte in ... Ehren“ (1. Thess. 4,4), oder dann auch: „Wir sind Gottes Werk, geschaffen ... zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen“ (Eph. 2,10). Kurz, wer in (den Schriften des Paulus) auch nur mittelmäßig bewandert ist, der wird ohne langen Beweis einsehen, wie trefflich er diese beiden Dinge (Vorbestimmung und Ermahnungen) miteinander überein bringt, von denen jene Leute phantasieren, sie stritten widereinander.

Christus gibt uns das Gebot, wir sollten an ihn glauben; aber trotzdem ist es kein falscher Satz und auch jenem Gebot nicht zuwider, wenn er spricht: „Niemand kann zu mir kommen, es sei ihm denn von meinem Vater gegeben“ (Joh. 6,65). Deshalb soll die Predigt ihren Lauf nehmen, welche die Menschen zum Glauben führe und sie in ständigem Fortschreiten in der Beharrung erhalte! Dennoch aber soll auch die Erkenntnis der Vorbestimmung nicht gehemmt werden, damit die, welche gehorchen, nicht hoffärtig meinen, sie hätten das aus sich selbst, sondern sich in dem Herrn rühmen: Nicht ohne Ursache spricht Christus. „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ (Matth. 13,9). Wenn wir also vermahnen und predigen, so gehorchen die, welche mit Ohren begabt sind, gern; die aber keine Ohren haben, - an denen erfüllt sich, was geschrieben steht: „Höret, und verstehet\'s nicht!“ (Jes. 6,9). „Weshab“, sagt Augustin, „haben nun die einen Ohren, die anderen nicht? Wer hat des Herrn Sinn erkannt?\' (Röm. 11,34). Sollen wir etwa leugnen, was offenbar ist, weil wir nicht begreifen können, was verborgen ist?“ (Augustin, Von der Gabe der Beharrung 14,37). Das habe ich getreulich aus Augustin entnommen. Weil aber seine Worte vielleicht mehr Autorität haben werden als meine, nun, so soll jetzt vorgetragen werden, was wir bei ihm lesen! „Wenn sich auf das Hören dieser Botschaft hin einige der Trägheit und Faulheit zuwenden, wenn sie sich, zur Lust geneigt, von der Arbeit abwenden und hinter ihren Begierden herlaufen - sollen wir deshalb meinen, was man von Gottes Vorherwissen gesagt hat, sei verkehrt? Ist es nicht so: wenn Gott zuvor gewußt hat, daß sie gut sein werden, so werden sie gut sein, in was für Bosheit sie jetzt auch einhergehen mögen, und wenn er zuvor gewußt hat, daß sie böse sein werden, so werden sie böse sein, in was für gutem Wesen man sie auch jetzt sehen mag? Soll man nicht um solcher Ursachen willen alles leugnen oder verschweigen, was man von Gottes Vorherwissen in Wahrheit sagt; vor allem dann, wenn das Nichtaussprechen andere Irrtümer mit sich bringt;“ (Von der Gabe der Beharrung 15,38). „Es ist“, so sagt er, „anders bestellt um das Verschweigen der Wahrheit, als um die Notwendigkeit, die Wahrheit zu sagen. Es wäre nun aber eine weitläufige Sache, all die Gründe aufzusuchen, weshalb man die Wahrheit verschweigen könnte. Einer unter ihnen ist aber der: es sollen doch nicht, während wir die, welche es begreifen, klüger machen wollen, die anderen, die es nicht begreifen, schlimmer werden. Nun werden die ersteren, wenn wir ihnen dergleichen sagen, zwar nicht weiser, aber sie werden auch nicht schlimmer

 

gemacht. Wenn es sich nun aber mit einer Sache, die wahr ist, so verhält, daß durch unser Reden von ihr der, der sie nicht begreift, schlimmer wird, durch unser Schweigen von ihr aber der, der sie zu begreifen vermag, was meinen wir dann tun zu sollen? Sollen wir das Wahre nicht lieber aussprechen, damit der es begreife, der es fassen kann, als es zu verschweigen, so daß sie es nun nicht nur beide nicht fassen, sondern auch gerade der Verständigere schlimmer wird, durch den, wenn er es hörte und begriffe, wiederum viele andere es lernen würden? Und wir wollen etwa nicht sagen, was nach dem Zeugnis der Schrift zu sagen erlaubt ist? Wir fürchten nämlich eben, es könnte durch unser Reden dem, der es nicht begreifen kann, ein Anstoß bereitet werden- aber wir fürchten nicht, daß durch unser Schweigen der, der die Wahrheit zu begreifen vermag, dem Irrtum verfällt!“ (Von der Gabe der Beharrung 16,40). Diesen Ausspruch faßt er schließlich noch kürzer zusammen und bekräftigt ihn auch mit größerer Klarheit. „Wenn nun also die Apostel und die ihnen nachfolgenden Lehrer der Kirche beides getan haben, wenn sie also Gottes ewige Erwählung fromm gelehrt und zugleich auch die Gläubigen unter der Zucht eines frommen Lebens gehalten haben, - weshalb meinen denn unsere heutigen Lehrer, von dem unüberwindlichen Zwang der Wahrheit überzeugt, sie redeten recht, wenn sie meinen, man solle das, was von der Vorbestimmung gesagt wird, dem Volke nicht predigen, wenn es auch wahr sei? Nein, man muß es durchaus predigen, damit die, welche Ohren zum Hören haben, es vernehmen! Wer hat aber solche Ohren, wenn er sie nicht von dem empfangen hat, der sie zu schenken verheißen? Freilich, wer sie nicht empfangen hat, der mag diese Lehre verwerfen, während dagegen der, der sie begreift, sie annehme und trinke, trinke und lebe! Wie nämlich die Frömmigkeit gepredigt werden muß, damit Gott recht verehrt werde, so auch die Vorbestimmung, damit der, der Ohren hat zu hören, sich über Gottes Gnade in Gott und nicht in sich selber rühme!“ (Von der Gabe der Beharrung 20,51).

 

 

 

III,23,14

Und doch: wie dieser heilige Mann ganz besonders vom Eifer um die Erbauung erfüllt war, so übte er auch die Art und Weise, wie er die Wahrheit lehrte, mit Maßen, damit jedes Ärgernis nach Möglichkeit weislich vermieden werde. Denn er macht darauf aufmerksam, daß man das, was wahr geredet wird, auch zugleich angemessen aussprechen kann. Wenn jemand das Volk anschreit und sagt: „Wenn ihr nicht glaubt, so kommt das daher, daß ihr von Gott aus bereits zum Verderben verordnet seid“ - so nährt er nicht bloß die Faulheit, sondern begünstigt auch die Bosheit! Und wenn jemand seine Rede auch auf die Zukunft wendet und erklärt, seine Zuhörer würden ja doch nicht glauben, weil sie eben bereits verworfen wären, - so ist das eher eine Verfluchung, als etwa eine Unterweisung! Es ist daher nicht unverdient, wenn Augustin solchen Leuten als unklugen Lehrern oder auch als verkehrten, unheilkündenden Propheten befiehlt, sich aus der Kirche fortzumachen! Allerdings behauptet er an anderer Stelle auch richtig, man müsse daran festhalten: der Mensch kommt nur dann durch Züchtigung vorwärts, wenn der sich seiner erbarmt und ihm hilft, der die, welche er will, auch ohne Züchtigung vorwärtskommen läßt! Warum er nun aber mit dem einen so, mit dem anderen anders verfährt - darüber steht das Urteil durchaus nicht dem Ton zu, sondern dem Töpfer! Ebenso sagt er nachher: „Wenn die Menschen durch Züchtigung auf den Weg der Gerechtigkeit gelangen oder zurückkommen - wer wirkt dann in ihrem Herzen das Heil? Doch kein anderer als der, welcher bei allem pflanzen und Begießen von Menschen das Wachstum verleiht (1. Kor. 3,6-8), der, dem kein freier Wille des Menschen widersteht, wenn er selig machen will! ... Es ist also nicht daran zu zweifeln, daß der Wille der Menschen dem Willen Gottes nicht zu widerstehen vermag, so daß er etwa nicht täte, was er will; denn Gott hat ja im Himmel und auf Erden alles gemacht, was er wollte, und er

 

hat auch das geschaffen, was in Zukunft sein wird! Er macht ja doch gerade aus dem Willen der Menschen, was er will!“ (Von der Gabe der Beharrung 14,43.45). Ähnlich: „Wenn er die Menschen zu sich bringen will, bindet er sie dann mit leiblichen Banden? Nein, er wirkt inwendig, inwendig hält er die Herzen fest, inwendig bewegt er die Herzen und zieht sie mit ihrem eigenen Willen, den er in ihnen gewirkt hat!“ (ebenda 14,45). Aber dabei darf man keineswegs vergessen, was er gleich hinzusetzt: „Weil wir nicht wissen, wer zu der Zahl der Vorbestimmten gehört oder auch nicht gehört, so gebührt uns solche Gesinnung, daß wir wünschen, es möchten alle selig werden. So wird es kommen, daß wir jeden, der uns begegnet, zum Mitgenossen des Friedens zu machen trachten! Aber unser Friede wird auf den Kindern des Friedens ruhen (vgl. Matth. 10,13). Sofern es an uns liegt, sollen wir also allen die heilsame, strenge Züchtigung wie eine Arznei zuteil werden lassen, damit sie nicht verlorengehen und auch andere nicht verderben. Gottes Sache aber wird es sein, solche Züchtigung an denen nützlich werden zu lassen, die er zuvor ersehen und vorbestimmt hat!“ (Von der Gabe der Beharrung 15,46; 16,49).

Vierundzwanzigstes Kapitel

 

 

 

Die Erwählung wird durch Gottes Berufung bekräftigt; die Verworfenen aber ziehen sich die gerechte Verdammnis zu, zu der sie bestimmt sind

 

 

 

III,24,1

 

Damit aber die Sache noch klarer wird, muß von der Berufung der Erwählten und von der Verblendung und Verstockung der Gottlosen noch die Rede sein.

 

Von der ersteren habe ich nun zwar schon etwas gesprochen, als ich den Irrtum derer widerlegte, denen die Allgemeinheit der Verheißungen das ganze Menschengeschlecht in eine Linie zu stellen scheint. Aber es geht nicht ohne eine Auswahl ab, wenn Gott die Erwählung, die er sonst in sich selber verborgen hält, schließlich durch seine Berufung offen zutage treten läßt; man kann diese also im eigentlichen Sinne als Bezeugung der Erwählung bezeichnen. „Denn welche er zuvor ersehen hat, die hat er auch verordnet, daß sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes ... Welche er aber verordnet hat, die hat er auch berufen, welche er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht, um sie einst auch herrlich zu machen! (Röm. 8,29f.; Schluß verkürzt). Schon durch seine Erwählung hatte der Herr die Seinen an Kindes Statt angenommen; aber wir sehen doch, daß sie in den Besitz eines so herrlichen Gutes erst dann gelangen, wenn sie berufen werden; andererseits sehen wir auch, daß sie als Berufene das Teilhaben an seiner Erwählung bereits etlichermaßen genießen. Aus diesem Grunde nennt Paulus den Geist, den sie empfangen, den „Geist der (Aufnahme in die) Kindschaft“ (Röm. 8,15), auch das „Siegel“ und das „Pfand“ des künftigen Erbes (Eph. 1,13f.; 2. Kor. 1,22; 5,5), weil er nämlich durch sein Zeugnis in ihren Herzen die Gewißheit der zukünftigen Aufnahme in die Kindschaft bekräftigt und versiegelt.

Gewiß sprudelt bereits die Predigt des Evangeliums aus dem Brunnquell der Erwählung hervor; aber sie ist ja auch den Verworfenen gemein und wäre an sich kein sicherer Beweis solcher Erwählung. Gott unterweist dagegen seine Auserwählten in wirksamer Kraft, um sie zum Glauben zu bringen. So haben wir es oben aus Christi Worten angeführt: „Wer aus Gott ist, der sieht den Vater, und kein anderer“ (Joh. 6,46; summarisch). Ebenso heißt es: „Ich habe deinen Namen offenbart den Menschen, die du mir ... gegeben hast“ (Joh. 17,6). An anderer Stelle sagt er auch: „Es kann niemand zu mir kommen, es sei denn, daß ihn ziehe mein Vater“ (Joh. 6,44). Diese Stelle hat Augustin weislich erwogen; seine Worte lauten: „Wenn - wie es die Wahrheit ausspricht! - jeder zu ihm kommt, der es gelernt hat, so hat der, der nicht kommt, es gewiß auch nicht gelernt: Daraus ergibt sich deshalb nicht die Folgerung, wer kommen könne, der komme auch; - das gilt allein, wenn er es will und tut! Jeder aber, der es vom Vater gelernt hat, der kann nicht bloß kommen, sondern der kommt auch; denn da ist bereits das Fortschreiten des Vermögens, die Regung des Willens und die Wirklichkeit der Tat vorhanden!“ (Von Christi Gnade und der Erbsünde I,14,15). An anderer Stelle finden wir das gleiche noch klarer: „Was heißt das: Wer es nun hört vom Vater und lernt es, der kommt zu mir?“ (Joh. 6,45). Doch dies: es ist keiner, der es vom Vater hört und lernt - und der nicht zu mir kommt! Wenn nämlich jeder, der es vom Vater gehört hat und lernt, auch kommt, so ist es sicher: wer nicht kommt, der hat es auch nicht vom Vater gehört und nicht gelernt; denn wenn er es gehört und gelernt hätte, dann käme er auch. Gar verborgen ist den Sinnen des Fleisches jene Schule, in der der Vater gehört wird und lehrt, damit man zum Sohne kommt!“ (Von der Vorbestimmung der Heiligen 8,13). Kurz hernach heißt es: „Diese Gnade, die in verborgener Weise dem Menschenherzen

 

zuteil wird, nimmt kein hartes Herz an; ja, sie wird eben dazu gegeben, daß die Härtigkeit des Herzens zuallererst weggenommen werde! Wenn also der Vater im Innern gehört wird, dann nimmt er das steinerne Herz weg und schenkt ein fleischernes. So nämlich schafft er Kinder der Verheißung und Gefäße seines Erbarmens, die er zur Herrlichkeit bereitet hat. Weshalb lehrt er nun also nicht alle, damit sie zu Christus kommen? Doch nur deshalb, weil er alle, die er lehrt, in seiner Barmherzigkeit lehrt, alle dagegen, die er nicht lehrt, in seinem Gericht unbelehrt läßt! Denn er erbarmt sich, welches er will, und er verstockt, welchen er will (Röm. 9,18).“ (Von der Vorbestimmung der Heiligen 8,13f.).

 

Zu seinen Kindern bestimmt er also die, welche er erwählt hat, und nur ihnen gibt er sich selbst zum Vater! Indem er sie dann beruft, nimmt er sie in seine Hausgenossenschaft auf und eint sich selbst mit ihnen, so daß sie miteinander eins sind. Wenn aber nun die Berufung an die Erwählung geknüpft ist, so gibt die Schrift auf diese Weise genugsam zu verstehen, daß in ihr nichts zu finden ist als Gottes gnädiges Erbarmen. Denn wenn wir fragen, welche Menschen er beruft und aus welchem Grunde er das tut, so antwortet sie: er beruft die, welche er erwählt hat! Kommt man aber auf die Erwählung, so wird dabei allenthalben allein Barmherzigkeit sichtbar. Und deshalb hat hier in Wahrheit das Wort des Paulus seinen Platz: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Röm. 9,16). Das darf aber nicht so verstanden werden, wie man das gewöhnlich tut, indem man zu gleichen Teilen zwischen Gottes Gnade und dem Wollen und Laufen des Menschen teilt. Man legt nämlich das Wort des Paulus so aus: das Begehren und Streben des Menschen habe zwar an sich keinerlei Bedeutung, wenn ihm nicht Gottes Gnade Erfolg verliehe; wenn ihm aber Gottes Segen zu Hilfe komme, dann - so behauptet man - trage es zur Gewinnung des Heils auch seinen Anteil bei! Das Geschwätz solcher Leute will ich lieber mit Augustins Worten als mit meinen eigenen widerlegen. Er sagt: „Wenn der Apostel nichts anderes sagen wollte, als daß es nicht allein auf unser Wollen und Laufen ankomme, wofern uns der Herr in seiner Barmherzigkeit nicht beistünde, so kann man die Sache ja auch umkehren und sagen: es kommt nicht allein auf dieses Erbarmen an, wofern nicht Wille und Laufen das Ihrige dazutun. Wenn das aber nun offenbar gottlos ist, so sollen wir nicht daran zweifeln, daß der Apostel der Barmherzigkeit des Herrn alles zuschreibt, unserem Wollen und Trachten aber nichts übrigläßt!“ (Handbüchlein an Laurentius 32). Das ist die Aussage dieses heiligen Mannes. Nicht um Haaresbreite achte ich auf das Fündlein, das man vorbringt: Paulus hätte gar nicht so geredet, wenn bei uns nicht irgendein Streben und irgendwelcher Wille vorhanden wäre. Denn er hat nicht darauf gesehen, was etwa im Menschen ist; nein, er sah, wie einige Leute dem Fleiß des Menschen einen Anteil am Heil zuschrieben, und deshalb hat er im ersten Glied (seiner Aussage: Röm. 9,16) einfach deren Irrtum verdammt und dann (im zweiten Gliede) das gesamte Heil allein der Barmherzigkeit Gottes vorbehalten. Was tun auch die Propheten anders, als daß sie ohne Unterlaß Gottes Berufung aus reiner Gnade rühmen?

 

 

 

III,24,2

Außerdem zeigt sich das auch im Wesen und in der Austeilung der Berufung selbst; denn diese besteht nicht allein in der Predigt des Wortes, sondern auch in der Erleuchtung durch den Heiligen Geist. Welchen Menschen Gott sein Wort darbietet, das lesen wir bei dem Propheten: „Ich werde gefunden von denen, die nicht nach mir suchten, ich bin voll offenbar geworden denen, die nicht nach mir fragten, und zu einem Volk, das meinen Namen nicht anrief, habe ich gesagt: Hier bin ich!“ (Jes. 65,1; nicht Luthertext). Und damit die Juden nicht meinten, solche Freundlichkeit komme nur zu den Heiden (weil diese sie allein nötig hätten!), brachte er auch ihnen in Erinnerung, woher er denn ihren Vater

 

Abraham genommen hatte, als er sich herbeiließ, ihn mit sich in Gemeinschaft zu bringen (Jos. 24,3): er hatte ihn nämlich mitten aus dem Götzendienst herausgenommen, in dem er mit all den Seinigen versunken war! Indem er Leuten, die es nicht verdient haben, zuerst mit dem Licht seines Wortes aufleuchtet, gibt er ihnen einen Beweis seiner unverdienten Güte, der hell genug strahlt. Bereits hier tritt also Gottes unermeßliche Güte an den Tag, aber nicht allen zum Heil; denn der Verworfenen wartet ein um so schwereres Gericht, weil sie solch Zeugnis der Liebe Gottes verwerfen. Gott entzieht ihnen überdies auch, um seinen Ruhm ans Licht zu bringen, die Wirksamkeit seines Geistes. Daher ist diese innerliche Berufung ein Unterpfand des Heils, das nicht täuschen kann. Dahin gehört das Wort des Johannes: „Daran erkennen wir, daß wir seine Kinder sind, an dem Geist, den er uns gegeben hat“ (1. Joh. 3,24; ungenau). Und damit das Fleisch sich nicht rühmt, es habe doch auf seinen Ruf hin, darauf hin, daß er sich selbst von sich aus angeboten habe, wenigstens geantwortet, so betont er, daß wir keine Ohren zum Hören, keine Augen zum Sehen haben, die er nicht selber gemacht hat! Er macht sie aber - das betont er weiter - nicht auf Grund der Dankbarkeit jedes einzelnen, sondern nach seiner Erwählung! Dafür finden wir bei Lukas ein hervorragendes Beispiel: da hörten nämlich Juden und Heiden gemeinsam die Rede des Paulus und des Barnabas; und obwohl alle mit dem gleichen Worte unterwiesen worden waren, so wurden doch nach dem Bericht nur die gläubig, die „zum ewigen Leben verordnet waren“ (Apg. 13,48). Woher sollten wir nun die Unverschämtheit nehmen, zu leugnen, daß die Berufung aus lauter Gnade erfolgt, wo doch in ihr bis ins letzte Stücklein hinein ausschließlich die Erwählung regiert;

 

 

 

III,24,3

 

Hier muß man sich aber vor zwei Irrtümern hüten. (1.) Einige machen nämlich den Menschen zum Werkgenossen Gottes, so daß er also durch seine Zustimmung die Erwählung (erst) wirksam macht. Nach ihrer Meinung ist also auf diese Weise der Wille des Menschen dem Ratschluß Gottes übergeordnet. Als ob uns aber die Schrift lehrte, es würde uns bloß geschenkt, daß wir glauben könnten! Als ob sie uns nicht vielmehr lehrte, daß wir den Glauben selbst zum Geschenk erhalten! (2.) Andere schwächen die Gnade des Heiligen Geistes nicht gar so ab; aber sie machen die Erwählung doch - ich weiß nicht, aus was für einem Grunde! - von dem ihr nachfolgenden Glauben abhängig, als ob sie zweifelhaft oder auch unwirksam wäre, bis sie vom Glauben bekräftigt wird!

 

Allerdings ist es hell und deutlich, daß die Erwählung, was uns betrifft, vom Glauben bekräftigt wird. Auch haben wir ja bereits gesehen, daß Gottes Ratschluß, der verborgen war, (nun) klar zu sehen ist. Nun soll man darunter nichts anderes verstehen, als daß hierdurch das, was unbekannt war, erwiesen und wie mit einem Siegel verbrieft wird. Falsch geredet ist es aber, wenn man meint, die Erwählung sei erst dann wirksam, wenn wir das Evangelium angenommen hätten, und sie nehme eben daraus ihre Kraft! Zwar müssen wir die Gewißheit unserer Erwählung daraus entnehmen; denn wenn wir versuchen sollten, zu Gottes ewiger Anordnung zu dringen, dann müßte uns dieser tiefe Abgrund verschlingen. Sobald uns Gott solche Erwählung aber offenbart hat, da müssen wir höher dringen, damit die Wirkung nicht ihre eigene Ursache überrennt! Die Schrift lehrt uns, daß wir erleuchtet worden sind, gleichwie Gott uns erwählt hat; - was wäre nun da aber widersinniger und unwürdiger, als wenn unsere Augen vom Glanz solcher Erleuchtung dermaßen geblendet würden, daß sie sich weigerten, auf die Erwählung selbst zu achten?

Unterdessen leugne ich nicht, daß wir, um unseres Heils gewiß zu sein, bei dem Wort den Anfang machen müssen und daß unsere Zuversicht sich mit diesem Wort zufrieden geben soll, damit wir Gott als unseren Vater anrufen. Denn es ist ver-

 

kehrt, wenn einige, um über Gottes Ratschluß - der doch „nahe“ bei uns ist, in unserem „Munde“ und in unserem „Herzen“ (Deut. 30,14) - Sicherheit zu erlangen, über die Wolken hinaus zu fliegen begehren. Daher müssen wir jene Vermessenheit durch die Mäßigkeit des Glaubens im Zaum halten, damit uns Gott als Zeuge seiner verborgenen Gnade in seinem äußeren Wort genüge; nur darf uns der Kanal, aus dem uns das Wasser reichlich zum Trinken zufließt, nicht daran hindern, daß der Brunnquell selbst seine Ehre erhält!

 

 

 

III,24,4

 

So tut man also verkehrt daran, wenn man die Kraft der Erwählung vom Glauben an das Evangelium abhängig macht, durch den wir erfahren, daß solche Erwählung uns zukommt. Dementsprechend werden wir die beste Ordnung innehalten, wenn wir uns beim Suchen nach der Gewißheit unserer Erwählung an jene nachfolgenden Zeichen halten, die deren sichere Bezeugungen sind.

 

Es gibt keine schwerere und gefährlichere Anfechtung, mit der der Satan die Gläubigen erschüttern kann, als wenn er sie mit dem Zweifel an ihrer Erwählung beunruhigt und sie zugleich zu dem üblen Begehren aufstachelt, außerhalb des rechten Weges nach ihr zu forschen. Unter solchem Forschen außerhalb des rechten Weges verstehe ich dies, daß ein kleiner Mensch in die verborgenen Winkel der göttlichen Weisheit einzubrechen und bis zu Gottes höchster Ewigkeit zu dringen versucht, um zu erkennen, was vor seinem Richtstuhl über ihn beschlossen sei. Denn dabei stürzt er sich in die Tiefe eines unermeßlichen Schlundes, um von ihr verschlungen zu werden, umschlingt sich mit unzähligen, unentwirrbaren Fesseln und begibt sich in einen Abgrund von undurchdringlicher Finsternis. Denn es ist billig, daß auf solche Weise die Torheit des Menschengeistes mit furchtbarem Zusammenbruch bestraft wird, wenn sie auf eigene Faust in die Tiefe der göttlichen Weisheit zu dringen unternimmt. Diese Versuchung ist um so verderblicher, als wir fast alle zu keiner anderen mehr geneigt sind, als zu ihr. Denn es findet sich sehr selten ein Mensch, dessen Herz nicht zuweilen der Gedanke bedrängte: Woher kommt dir dein Heil anders als aus Gottes Erwählung? Wo aber ist dir solche Erwählung geoffenbart? Wenn dieser Gedanke einmal bei einem Menschen aufgekommen ist, dann peinigt er den Elenden unablässig mit harter Qual oder er stürzt ihn ganz und gar in Verwirrung. Ich möchte mir wahrhaftig keinen gewisseren Beweis wünschen, um zu bekräftigen, in welch verkehrter Art solche Menschen über die Vorbestimmung phantasieren, als eben solche Erfahrung selbst; denn unser Sinn kann von keinem verderblicheren Irrtum vergiftet werden, als dem, der das Gewissen in seinem Frieden und seiner Ruhe Gott gegenüber stört und verwirrt. Wenn wir also Furcht vor einem Schiffbruch haben, so müssen wir uns sorgsam vor dieser Klippe hüten, gegen die man nie und nimmer ohne Verderben anrennen wird. Mag man auch die Erörterung über die Vorbestimmung als ein gefahrvolles Meer ansehen, so ist bei ihrer Betrachtung doch auch eine sichere, ruhige, ja auch fröhliche Schiffahrt möglich, - wofern sich einer nicht mutwillig der Gefahr auszusetzen strebt! Denn wie alle, die ohne das Wort den ewigen Ratschluß Gottes ergründen, um über ihre Erwählung Gewißheit zu erlangen, sich in einen verderbenbringenden Abgrund versenken, so empfangen alle, die recht und nach der Ordnung nach ihr forschen, wie sie in dem Worte enthalten ist, herrliche Frucht des Trostes daraus! Der Weg, hier Nachforschungen zu treffen, soll für uns also der sein, daß wir bei Gottes Berufung den Ausgang nehmen und mit ihr auch schließen!

Freilich steht dem nicht entgegen, daß die Gläubigen empfinden, wie all die Wohltaten, die sie Tag für Tag aus Gottes Hand empfangen, aus jener verborgenen Annahme in die Kindschaft herfließen; wie sie bei Jesaja sprechen: „Du tust Wunder; deine Ratschlüsse von alters her sind treu und wahrhaftig!“ (Jes. 25,1). Denn Gott will uns durch diese Berufung in die Kindschaft gewissermaßen ein Merk-

 

zeichen geben, an dem er uns bekräftigt, soviel uns von seinem Ratschluß zu wissen gebührt. Damit aber niemand meint, diese Bezeugung sei doch schwach, wollen wir bedenken, wieviel Klarheit und Gewißheit sie uns bringt. Trefflich redet Bernhard hiervon; zunächst ist die Rede von den verworfenen; dann sagt er: „Es besteht Gottes Vorsatz, es besteht Gottes Friedensspruch über die, die ihn fürchten: denn er übersieht ihre bösen Werke und vergilt ihnen die guten, so daß ihnen auf wundersame Weise nicht nur das Gute, sondern auch das Böse zum Guten mitwirkt. ’Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?\' Mir genügt es zu aller Gerechtigkeit, allein dessen Gnade zu besitzen, an dem allein ich gesündigt habe! Alles, was er beschlossen hat, mir nicht zuzurechnen, das ist, als wäre es nicht gewesen!“ (Predigten zum Hohen Liede 23,15). Und kurz danach: „O, welch ein Stätte wahrer Ruhe, die ich nicht unverdient auch wohl eine Schlafkammer nennen möchte, da Gott nicht gleichsam zornerschüttert oder sorgenerfüllt sich anschauen läßt, sondern da man an ihm seinen guten, wohlgefälligen und vollkommenen Willen erfährt (Röm. 12,2). Solch Schauen schreckt nicht, sondern erfreut, es erweckt keine unruhige Neugier, sondern dämpft sie, es müht unsere Sinne nicht ab, sondern macht sie still. Hier hat man wirklich Ruhe. Der stille Gott macht alles still, und ihn als den Ruhigen anzuschauen, das heißt: Ruhe haben!“ (ebenda 23,16).

 

 

 

III,24,5

 

Suchen wir Gottes väterliche Freundlichkeit und sein uns gnädiges Herz, so müssen wir zunächst unsere Augen auf Christus richten, auf dem allein des Vaters Wohlgefallen ruht! (Matth. 3,17). Suchen wir Heil und Leben, suchen wir die Unsterblichkeit des Himmelreichs, so sollen wir auch dabei unsere Zuflucht zu keinem anderen nehmen; denn er allein ist der Brunnquell des Lebens, er ist der Anker des Heils, er ist der Erbe des Himmelreichs. Worauf geht nun aber unsere Erwählung anders hinaus, als darauf, daß wir, von dem himmlischen Vater an Kindes Statt angenommen, durch seine Gunst Heil und Unsterblichkeit erlangen? Man mag sie überdenken und durchforschen, soviel man will, so wird man doch finden, daß ihr letzter Zielpunkt nicht weiter geht, als bis dahin: Deshalb heißt es von denen, die sich Gott zu Kindern angenommen hat, nicht, daß sie in sich selber erwählt worden sind, sondern in seinem Christus! (Eph. 1,4). Denn nur in ihm vermochte er sie zu lieben; und er konnte sie auch nur dann mit dem Erbe seines Reiches ehren, wenn er sie zuvor zu seinen Mitgenossen gemacht hatte! Sind wir nun aber in ihm erwählt, so werden wir die Gewißheit unserer Erwählung nicht in uns selber finden, ja auch nicht in Gott, dem Vater, wenn wir ihn uns für sich allein, ohne den Sohn vorstellen! Christus ist also der Spiegel, in dem wir unsere Erwählung anschauen sollen und es ohne Täuschung vermögen! Er ist es, in dessen Leib der Vater alle die einzufügen beschlossen hat, die er seit aller Ewigkeit zu den Seinen haben wollte; er will also alle die als seine Kinder ansehen, die er unter Christi Gliedern erkennt. Ist es aber so, dann haben wir ein reichlich klares und sicheres Zeugnis dafür, daß wir in das Buch des Lebens geschrieben sind, wenn wir mit Christus Gemeinschaft haben!

Nun hat er uns aber solche gewisse Gemeinschaft mit sich geschenkt, indem er uns durch die Predigt des Evangeliums bezeugt hat, er sei uns von dem Vater gegeben, damit er mit allen seinen Gütern unser sei (Röm. 8,32). Es heißt, daß wir ihn „anziehen“, daß wir mit ihm zusammenwachsen, um zu leben, weil ja er lebt! Wie oft wird diese Lehre wiederholt, daß der Vater „seines eigenen Sohnes nicht hat verschont“, „auf daß alle die an ihn glauben, nicht verloren werden ...“! (Röm. 8,32; Joh. 3,16). Von dem nun, der an ihn glaubt, heißt es, er sei „vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh. 5,24). In diesem Sinne nennt er sich selbst „das Brot des Lebens“ (Joh. 6,35) und verkündigt dem, der solches Brot gegessen hat, er werde nicht sterben in Ewigkeit! (Joh. 6,51. 58). Er ist uns,

 

sage ich, der Zeuge dafür geworden, daß alle, die ihn im Glauben angenommen haben, von dem himmlischen Vater für seine Kinder geachtet werden sollen! Suchen wir etwas Größeres, als daß wir zu Gottes Kindern und Erben gezählt werden, so müssen wir freilich über Christus hinaus dringen! Ist dies aber für uns das höchste Ziel, was ist es dann für ein Wahnwitz, wenn wir außer ihm suchen, was wir doch in ihm bereits erlangt haben und in ihm allein zu finden vermögen! Zudem ist er doch des Vaters ewige Weisheit, unwandelbare Wahrheit und unerschütterlicher Ratschluß, und deshalb steht nicht zu befürchten, es könnte das, was er uns in seinem Worte verkündet, von jenem Willen des Vaters, nach dem wir fragen, auch nur im mindesten verschieden sein, nein, er legt ihn uns vielmehr getreulich offen dar, wie er seit Anbeginn gewesen ist und stets sein wird.

 

Die Übung (Praxis) dieser Lehre soll auch in unseren Gebeten ihre Kraft beweisen. Denn gewiß ermuntert uns der Glaube an die Erwählung zur Anrufung Gottes; aber es wäre doch, wenn wir unsere Gebete aussprechen, verkehrt, diese Erwählung Gott vorzuhalten, etwa mit ihm einen Vertrag zu machen, ihm dabei eine Bedingung zu stellen und zu sagen: „Herr, wenn ich erwählt bin, so mögest du mich erhören!“ Denn er will, daß wir uns mit seinen Verheißungen zufrieden geben und nirgendwo anders zu erfahren suchen, ob er uns erhören wolle. Diese Einsicht wird uns von vielen Stricken frei machen, wenn wir es verstehen, das, was recht geschrieben steht, auch in rechter Weise anzuwenden, und wenn wir das, was in bestimmtem Sinne hätte eingeschränkt werden sollen, nicht unbedacht auf alles Mögliche beziehen.

 

 

 

III,24,6

 

Zur Kräftigung unserer Zuversicht kommt nun noch weiter die Beständigkeit der Erwählung hinzu, die, wie wir sagten, mit unserer Berufung verbunden ist. Denn die Menschen, welche Christus mit der Erkenntnis seines Namens erleuchtet und in den Schoß seiner Kirche aufgenommen hat, die nimmt er auch, wie es von ihm heißt, in seine Treue und in seine Hut. Und von allen, die er angenommen hat, wird gesagt, daß sie ihm vom Vater anvertraut und anbefohlen sind, um zum ewigen Leben bewahrt zu werden. Was wollen wir denn mehr? Christus ruft doch mit lauter Stimme, daß der Vater alle, die er selig machen will, ihm in seine Obhut gegeben hat! (Joh. 6,37.39; 17,6.12). Wollen wir nun wissen, ob Gott unser Heil am Herzen liegt, so müssen wir fragen, ob er es Christus anbefohlen hat; denn ihn hat er als den einigen Seligmacher all der Seinen eingesetzt! Zweifeln wir nun aber, ob wir auch von Christus in seine Treue und Hut aufgenommen sind, so tritt er selbst solchem Zweifel entgegen, indem er sich aus freien Stücken als unseren Hirten anbietet und uns kundtut, daß wir in die Zahl seiner Schafe eingereiht werden, wenn wir seine Stimme hören (Joh. 10,3). Deshalb wollen wir also Christus umfangen, der sich uns so freundlich vor Augen stellt und uns entgegenkommt; er aber wird uns zu seiner Herde zählen, von seiner Hürde umschließen und uns so bewahren!

Aber zuweilen kommt doch die Angst um unseren künftigen Zustand über uns! Denn wie Paulus lehrt, es würden nur die berufen, die zuvor erwählt sind (Röm. 8,30), so zeigt doch Christus, daß zwar viele berufen, aber nur wenige auserwählt sind! (Matth. 22,14). Ja, Paulus warnt auch selbst an anderer Stelle vor der Sicherheit: „Wer sich läßt dünken, er stehe, mag wohl zusehen, daß er nicht falle!“ (1. Kor. 10,12). Oder ebenso: „Du bist in Gottes Volk eingefügte Sei nicht stolz, sondern fürchte dich. Denn Gott kann auch dich wieder abschlagen, um andere einzupfropfen!“ (Röm. 11,20ff.; zusammenfassend). Und endlich lehrt uns die Erfahrung selbst genugsam, daß Berufung und Glaube wenig Wert haben, wenn nicht die Beharrung hinzukommt, die nicht allen zuteil wird.

 

Aber von solcher Besorgnis hat uns doch Christus frei gemacht. Denn es sind wahrhaftig Verheißungen für die Zukunft, wenn er spricht: „Alles, was mir mein Vater gibt, das kommt zu mir, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen“ (Joh. 6,37). Oder ebenso: „Das ist aber der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, daß ich nichts verliere von allem, was er mir gegeben hat ..., sondern daß ich es auferwecke am Jüngsten Tage“ (Joh. 6,39f.; Schluß nicht Luthertext). Oder: „Meine Schafe hören meine Stimme ... und sie folgen mir. Ich kenne sie, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden in Ewigkeit nicht umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Der Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen“ (Joh. 10,27-29; geringe Unterschiede gegenüber dem Luthertext). Ja, auch wenn er erklärt: „Alle pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht pflanzte, die werden ausgereutet“ (Matth. 15,13), so gibt er damit auf der anderen Seite zu verstehen, daß die, welche ihre Wurzeln in Gott haben, niemals aus dem Heil herausgerissen werden können! Dem entspricht auch das Wort des Johannes: „Wo sie von uns gewesen wären, so wären sie niemals von uns weggegangen“ (1. Joh. 2,19; zweiter Teil ist Inhaltsangabe). Daher kommt auch jenes hochgemute Rühmen des Paulus gegenüber Leben und Tod, Gegenwärtigem und Zukünftigem (Röm. 8,38f.); denn solches Rühmen muß in der Gabe der Beharrung gegründet sein. Es ist aber auch kein Zweifel, daß er diesen Spruch auf alle Gläubigen anwendet. An anderer Stelle spricht der gleiche Paulus: „Der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollenden bis auf den Tag ... Christi“ (Phil. 1,6). So hat sich auch David, als sein Glaube ins Wanken geriet, auf diesen Grund gestützt: „Das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen“ (Ps. 138,8). Es kann aber auch kein Zweifel darüber bestehen, daß Christus, wenn er für alle Auserwählten betet, für sie das nämliche erbittet wie einst für den Petrus, nämlich daß ihr Glaube nicht aufhöre (Luk. 22,32). Daraus ergibt sich für uns, daß sie außerhalb jeder Gefahr sind, abzufallen, weil ja der Sohn Gottes um die Beständigkeit ihrer Gottesfurcht gebetet und dabei keine Abweisung erfahren hat. Was sollen wir nun daraus nach dem Willen Christi lernen? Doch dies, daß wir zuversichtlich darauf trauen sollen: wir werden ewig selig sein, weil wir einmal sein Eigentum geworden sind!

 

 

 

III,24,7

Man wird aber entgegnen: Es kommt doch Tag für Tag vor, daß Menschen, die Christus zu gehören schienen, wieder von ihm weichen und zu Fall kommen. Ja, eben an der Stelle, an der Christus erklärt, es sei keiner von denen verlorengegangen, die ihm von dem Vater gegeben worden waren - da nimmt er doch „das verlorene Kind“ aus! (Joh. 17,12). - Dies ist zwar wahr; aber ebenso wahr ist es auch, daß solche Menschen nie und nimmer mit jener Herzenszuversicht an Christus gehangen haben, in der uns - wie ich behaupte - die Gewißheit der Erwählung bekräftigt wird! „Sie sind von uns ausgegangen“, sagt Johannes, „aber sie waren nicht von uns. Denn wo sie von uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns geblieben“ (1. Joh. 2,19). Ich leugne auch nicht, daß sich an ihnen gleiche Merkzeichen der Berufung wie an den Auserwählten finden; aber die unerschütterliche Festigkeit der Erwählung, welche ich die Gläubigen aus dem Wort des Evangeliums zu nehmen heiße, die gestehe ich ihnen durchaus nicht zul Deshalb sollen uns dergleichen Beispiele nie und nimmer davon abbringen, uns ruhig auf die Verheißung des Herrn zu stützen, in der er uns kundtut, daß alle, die ihn in wahrem Glauben annehmen, ihm vom Vater gegeben sind, und daß keiner von ihnen verlorengehen wird, da er doch ihr Hüter und Hirte ist (Joh. 3,16; 6,39). Von Judas wird übrigens nachher gleich die Rede sein. Paulus (1. Kor. 10,12; Röm. 11,20ff.) warnt die Christen nicht einfach vor Sicherheit schlechthin, sondern vor jener lässigen, ungebundenen Sicherheit des Fleisches, die Aufgeblasenheit, Anmaßung und Verachtung der anderen mit sich bringt, die die Demut und Ehrerbietung vor Gott aus-

 

löscht, und die den Menschen dazu bringt, die empfangene Gnade zu vergessen! Denn er redet (Röm. 11,20ff.) die Heiden an und lehrt sie, sie sollten die Juden nicht hoffärtig und unmenschlich schmähen, weil diese nun enterbt und sie selbst an ihrer Statt eingesetzt worden seien. Er verlangt nun auch „Furcht“ von ihnen; aber das ist nicht eine solche, die sie erschrecken und wankend machen, sondern die uns lehren soll, demütig Gottes Gnade anzuschauen, und die, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde, der Zuversicht zu ihm keinerlei Abbruch tun soll. Zudem redet er nicht einzelne an, sondern eben die Parteien im ganzen. Denn die Kirche war in zwei Parteien zerteilt, und der Wetteifer unter ihnen führte zum Zwiespalt. Da ermahnt nun Paulus die Heiden: wenn sie an die Stelle des heiligen Eigentumsvolkes aufgenommen seien, dann müsse ihnen das eine Ursache zur Furcht und zur Bescheidenheit sein. Aber unter ihnen waren viele eitle Leute, und es war von Nutzen, ihr leeres Prahlen zu dämpfen. - Übrigens haben wir anderwärts gesehen, daß unsere Hoffnung auch die Zukunft umfaßt, selbst über den Tod hinaus, und daß zu ihrem Wesen nichts so sehr im Widerspruch steht, als im Zweifel zu sein, was denn in Zukunft mit uns geschehen solle.

 

 

 

III,24,8

 

Recht verkehrt ist es, wenn man Christi Ausspruch von den vielen, die berufen, und den wenigen, die auserwählt sind, in diesem Sinne versteht. Es wird keinen Zweifel geben, wenn wir daran festhalten, was sich aus den obigen Ausführungen bereits klar ergibt, nämlich daß es eine zwiefache Art von Berufung gibt. Da ist zunächst die allgemeine Berufung, kraft deren Gott durch die äußere Predigt des Wortes alle gleichermaßen zu sich einlädt, auch die, welchen er solche Predigt als „Geruch des Todes“ und als Anlaß zu desto schwererer Verdammnis anbietet. Die andere Art der Berufung ist die besondere, deren er gemeinhin allein die Gläubigen würdigt, indem er nämlich vermittelst der innerlichen Erleuchtung durch seinen Geist bewirkt, daß das gepredigte Wort in ihrem Herzen einwurzelt. Indes macht er zuweilen auch solche dieser Berufung teilhaftig, die er bloß für eine Zeitlang erleuchtet und nachher aus Verdienst ihrer Undankbarkeit wieder fahren läßt und mit um so größerer Blindheit schlägt.

Nun sah der Herr, wie das Evangelium weit und breit gepredigt, aber von den meisten verachtet und nur von wenigen mit der ihm zukommenden Wertschätzung angenommen wurde. Da zeichnet er uns nun Gott unter der Person eines Königs vor Augen, der ein feierliches Gastmahl richtet und nun seine Boten allenthalben herumschickt, um eine große Schar von Gästen zu laden, aber doch nur von ganz wenigen eine Zusage erhalten kann, weil jeder einzelne für sich Hinderungsgründe vorwendet, so daß er schließlich angesichts der Weigerung dieser Geladenen genötigt wird, auf den Straßen alle herbeizuholen, die daherkommen (Matth. 22,2ff.). Jeder sieht, daß dies Gleichnis bis hierhin auf die äußere Berufung zu beziehen ist. Dann fährt er aber fort: Gott handelt nun wie ein rechter Gastgeber und geht um die Tische herum, um seine Gäste freundlich zu begrüßen. Wenn er nun einen trifft, der nicht mit einem hochzeitlichen Kleide angetan ist, so läßt er es durchaus nicht zu, daß dieser mit seinem Schmutz die Festlichkeit des Gastmahls entehrt (Matth. 22,11-13). Dieser Abschnitt muß, das bekenne ich, auf solche Leute bezogen werden, die vermittelst des Glaubensbekenntnisses in die Kirche eindringen, aber durchaus nicht mit Christi Heiligung angetan sind! Solche Schandflecke, ja gleichsam: solche Krebsschwären seiner Kirche wird Gott nicht allezeit dulden, sondern er wird sie hinauswerfen, wie es ja ihrer Verruchtheit verdientermaßen zukommt. Aus der großen Zahl der Berufenen sind also wenige auserwählt; - aber das bezieht sich nicht auf die Berufung, aus der die Gläubigen, wie wir behaupten, ihre Erwählung erkennen sollen. Denn jene (erste Art von) Berufung kommt zugleich auch den Gottlosen zu, während diese (zweite) den Geist der Wiedergeburt mit sich bringt, der das Unterpfand und Siegel des zukünftigen

 

Erbes ist, mit welchem unsere Herzen auf den Tag des Herrn versiegelt werden (Eph. 1,13f.). Kurzum: Die Heuchler erheben den Anspruch auf Frömmigkeit nicht anders als Gottes wahre Anbeter, und angesichts dessen tut Christus kund, daß sie schließlich von dem Platz verstoßen werden, den sie zu Unrecht innehaben (Matth. 22,13). So heißt es auch in einem Psalm: „Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte?“ (Ps. 15,1). „Der unschuldige Hände hat und reines Herzens ist!“ (Ps. 24,4; vgl. Ps. 15,2ff.). Oder an anderer Stelle: „Das ist das Geschlecht derer, die nach Gott fragen, die da suchen das Angesicht des Gottes Jakobs (Ps. 24,6; nicht Luthertext). So ermahnt nun auch der Heilige Geist die Gläubigen zur Geduld, damit sie es sich nicht verdrießen lassen, daß in der Kirche auch Ismaeliter unter sie gemischt sind; - denn schließlich wird diesen doch die Maske vom Gesicht gezogen, und sie werden mit Schande hinausgeworfen!

 

 

 

III,24,9

 

Ebenso ist es um die vor kurzem angeführte Ausnahme bestellt, in der Christus erklärt, daß ihm keiner verlorengegangen ist, „als das verlorene Kind“ (Joh. 17,12). Das ist nun eine zwar uneigentliche, aber doch keineswegs dunkle Redeweise: denn Judas wurde nicht deshalb zu den Schafen Christi gezählt, weil er es etwa wirklich gewesen wäre, sondern weil er den Platz eines solchen Schafes einnahm. Wenn dann der Herr an einer anderen Stelle erklärt, er habe mit den anderen Aposteln zusammen auch ihn erwählt, so bezieht sich das nur auf das Amt; er spricht: „Habe ich nicht euch zwölf erwählt? Und euer einer ist ein Teufel!“ (Joh. 6,70). Zum Amt eines Apostels hatte er ihn ja tatsächlich erwählt. Als er dagegen von der Erwählung zum Heil redet, da hält er ihn weit von der Zahl der Erwählten fern: „Nicht sage ich von euch allen; ich weiß, welche ich erwählt habe“ (Joh. 13,18). Wenn jemand hier den Ausdruck „Erwählen“ an beiden Stellen im gleichen Sinne versteht, dann gerät er elend in Verwirrung; wenn er dagegen eine Unterscheidung macht, dann gibt es nichts Klareres!

 

Ganz übel und gefährlich ist es daher, wenn (Papst) Gregor (I.) die Lehre vertritt, wir seien uns bloß unserer Berufung bewußt, unserer Erwählung dagegen seien wir ungewiß. Aus diesem Grunde ermahnt er alle zu Furcht und Zittern, und als Ursache führt er auch an, wir wüßten zwar, wie es heute um uns bestellt sei, nicht aber, wie wir in Zukunft daran sein würden! (Predigten II,38). Aber er erklärt an dieser Stelle auch mit aller Deutlichkeit, wieso er an diese Klippe gestoßen ist. Er machte nämlich die Erwählung von dem Verdienst der Werke abhängig, und deshalb bot sich ihm hier mehr als genug Ursache, um die Herzen niederzuschlagen; sie zu stärken vermochte er dagegen nicht, weil er sie nicht von sich selbst weg auf die Zuversicht zu Gottes Güte verwies. Hieraus gewinnen die Gläubigen einigen Geschmack von dem, was wir im Anfang feststellten, nämlich daß die Vorbestimmung, wenn sie recht bedacht wird, nicht eine Erschütterung, sondern vielmehr die beste Bekräftigung des Glaubens bringt.

 

Ich leugne aber auch nicht, daß der Heilige Geist seine Worte zuweilen dem Maß unseres Verstandes anpaßt. So z.B. wenn er spricht: „Sie sollen in der Versammlung meines Volks nicht sein und in die Zahl meiner Knechte nicht geschrieben werden ...“ (Ez. 13,9; nicht ganz Luthertext). Als ob Gott anfinge, die, welche er zu der Zahl der Seinen rechnet, in das Buch des Lebens zu schreiben, wo wir doch aus Christi Zeugnis wissen, daß die Namen der Kinder Gottes seit Anbeginn in das Buch des Lebens geschrieben sind! (Luk. 10,20; Phil. 4,3). Aber in diesen Worten (bei Ezechiel) wird tatsächlich einfach die Verwerfung solcher zum Ausdruck gebracht, die unter den Auserwählten als die Allervornehmsten erschienen; so heißt es auch in einem Psalm: „Mögen sie getilgt werden aus dem Buche des Lebens und mit den Gerechten nicht angeschrieben werden!“ (Ps. 69,29; Anfang nicht Luthertext).

 

III,24,10

 

In der Tat werden die Erwählten nicht gleich vom Mutterleibe an, auch nicht alle zur gleichen Zeit, sondern je nachdem, wie es Gott gut scheint, seine Gnade an sie auszuteilen, durch die Berufung in die Hürde Christi versammelt. Bevor sie aber zu diesem höchsten Hirten versammelt werden, irren sie, in der allgemeinen Wüste verstreut, umher; sie unterscheiden sich auch in nichts von den anderen - einzig darin, daß sie von besonderem Erbarmen Gottes geschützt werden, um nicht in den äußersten Abgrund des Todes hineinzurennen. Schaut man also auf sie selbst, so sieht man Adams Geschlecht, das die allgemeine Verderbtheit der ganzen Menge an sich erkennen läßt. Daß sie nun aber doch nicht bis zu äußerster, heilloser Gottlosigkeit getrieben werden, das hat seine Ursache nicht etwa in irgendeiner ihnen angeborenen Güte, sondern es kommt daher, daß zu ihrem Heil Gottes Auge auf der Wacht und seine Hand ausgereckt ist!

 

Einige träumen da nämlich, in ihr Herz sei von Geburt an wer weiß was für ein „Same der Erwählung“ eingesenkt, durch dessen Kraft sie stets zur Frömmigkeit und zur Furcht Gottes geneigt wären; aber sie haben keine Stütze an der Autorität der Schrift und werden auch durch die Erfahrung selbst widerlegt. Freilich bringen sie einige wenige Beispiele vor, um daraus zu beweisen, daß die Auserwählten auch vor ihrer Erleuchtung der Gottesverehrung nicht gar fremd gegenüberstünden. Paulus sei doch, betonen sie, in seinem Pharisäertum von untadeliger Lebensführung (Phil. 3,5), Kornelius durch Almosen und Gebete Gott wohlgefällig gewesen (Apg. 10,2), und ähnliches mehr. Was Paulus betrifft, so geben wir ihnen ihre Behauptung zu. Im Blick auf Kornelius aber sind wir der Überzeugung, daß sie sich täuschen. Denn es ist offenkundig, daß er dazumal bereits erleuchtet und wiedergeboren war, so daß ihm nichts mehr mangelte als die klare Offenbarung des Evangeliums. Aber was will man denn schließlich auch mit so gar wenigen Beispielen für ein Zugeständnis erpressen? Will man damit beweisen, daß alle Erwählten allezeit mit dem Geiste der Frömmigkeit begabt seien? Das werden sie ebensowenig erreichen, als wenn jemand auf die Lauterkeit eines Aristides, Sokrates, Xenokrates, Scipio, Curius, Camillus oder anderer zeigte und daraus folgerte, alle, die in der Blindheit der Abgötterei verkommen waren, wären Eiferer um Heiligkeit und Rechtschaffenheit gewesen!

Auch widerspricht die Schrift an mehr als einer Stelle den Vertretern dieser Ansicht. Der Zustand der Epheser vor ihrer Wiedergeburt, wie ihn uns Paulus schildert, zeigt nämlich nicht ein einziges Korn von diesem (angeblichen) „Samen“! „Ihr wäret tot in euren Sünden und Übertretungen“, sagt er, „in welchen ihr weiland gewandelt habt nach dem Lauf dieser Welt und nach dem Fürsten, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des Unglaubens, unter welchen auch wir alle weiland unseren Wandel gehabt haben in den Lüsten des Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Vernunft und waren auch Kinder des Zorns von Natur, gleich wie auch die anderen“ (Eph. 2,1-3). Oder ebenso: „Gedenket daran ..., daß ihr ... keine Hoffnung hattet und wäret ohne Gott in der Welt!“ (Eph. 2,12). Oder: „Denn ihr wäret weiland Finsternis; nun aber seid ihr ein Licht in dem Herrn. Wandelt wie die Kinder des Lichtes ...“ (Eph. 5,8f.). Aber vielleicht wollen jene Leute diese Aussagen auf die Unkenntnis des wahren Gottes beziehen; denn sie leugnen auch nicht, daß die Erwählten vor ihrer Berufung in solcher Unkenntnis befangen sind. Nun hieße das allerdings, unverschämte Schmähungen auszusprechen, wo doch Paulus aus solchen Worten folgert, man solle jetzt nicht mehr weiter lügen (Eph. 4,25) und stehlen (Eph. 4,28)! Aber was will man nun auf andere Stellen für eine Antwort geben? Eine solche findet sich im ersten Korintherbrief; da erklärt Paulus zunächst: „Weder die Hurer noch die Abgöttischen noch die Ehebrecher noch die Weichlinge noch die Knabenschänder noch die Diebe noch die Geizigen ... werden das Reich Gottes ererben“ (1. Kor. 6,9f.), und dann fährt er gleich fort, in die gleichen

 

Laster seien auch sie verstrickt gewesen, ehe sie Christus kannten; nun aber seien sie durch sein Blut abgewaschen und durch seinen Geist geheiligt (1. Kor. 6,11). Oder eine andere Stelle im Brief an die Römer: „Gleichwie ihr eure Glieder begeben habt zum Dienst der Unreinigkeit und von einer Ungerechtigkeit zu der anderen, also begebet auch nun eure Glieder zum Dienst der Gerechtigkeit (...). Was hattet ihr nun aus jenen Dingen für Frucht? Welcher ihr euch jetzt schämet!“ (Röm. 6,19.21; nicht ganz Luthertext). Dazu kommen noch andere Stellen dieser Art.

 

 

 

III,24,11

 

Was für ein „Same der Erwählung“ - das möchte ich zu gerne wissen! - keimte denn dazumal in jenen, die in ihrem ganzen Leben auf vielfältige Weise beschmutzt waren und sich gleichsam in verruchter Bosheit in dem scheußlichsten und fluchwürdigsten aller Laster wälzten? Hätte Paulus (1. Kor. 6,9-11) nach der Meinung jener Leute reden wollen (die vom „Samen der Erwählung“ sprechen), so hätte er darlegen müssen, wieviel sie der Wohltätigkeit Gottes verdankten, durch die sie davor bewahrt worden wären, in solchen Unflat hineinzufallen! So hätte auch Petrus die Seinen zur Dankbarkeit mahnen müssen, angesichts dieses „bleibenden Samens der Erwählung“. Er dagegen mahnt im Gegenteil: „Es ist genug, daß wir die vergangene Zeit des Lebens zugebracht haben nach heidnischem Willen ...“ (1. Petr. 4,3). Was will man entgegnen, wenn wir nun auf Beispiele kommen? Was war denn das für ein Keim der Gerechtigkeit in der Hure Rahab, bevor sie zum Glauben kam? (Jos. 2,1). Oder in Manasse, als er Jerusalem mit dem Blute der Propheten benetzte und schier darin ersäufte? (2. Kön. 21,16). Oder in dem Schacher, der erst beim letzten Atemzug an Buße dachte? (Luk. 23,42). Deshalb fort mit solchen „Beweisen“, die sich vorwitzige Menschen unüberlegt und ohne die Schrift ausdenken! Für uns aber soll es bei dem Wort der Schrift bleiben: „Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg“, das heißt: auf das Verderben! (Jes. 53,6). Die Menschen nun, die der Herr einst aus diesem Schlund herauszureißen beschlossen hat, die spart er auf, bis seine Gelegenheit für sie gekommen ist; nur bewahrt er sie, damit sie nicht in unvergebbare Lästerung stürzen!

 

 

 

III,24,12

 

Wie nun Gott an seinen Erwählten durch die Wirksamkeit der Berufung das Heil vollbringt, zu dem er sie kraft seines ewigen Ratschlusses bestimmt hat, - so hat er gegenüber den Verworfenen seine Gerichte, in denen er seinen Ratschluß über sie verwirklicht. Denn die, welche er zur Schmach des Lebens und zum Verderben im Tode erschaffen hat, damit sie Werkzeuge seines Zorns seien und Beispiele seiner Strenge, die beraubt er, damit sie zu ihrem Ende kommen, bald der Fähigkeit, sein Wort zu hören, bald verblendet und verstockt er sie durch die Predigt nur um so mehr. Für das Erstere gibt es unzählige Beispiele; doch wollen wir eins, das vor allen anderen klar und bemerkenswert ist, auswählen. Etwa viertausend Jahre sind vor dem Kommen Christi verflossen, in denen Gott das Licht seiner heilsamen Lehre allen Heiden verborgen hat! Wenn darauf jemand erwidert, sie seien solcher Wohltat deshalb nicht teilhaftig geworden, weil Gott sie für unwürdig erachtet hätte, so antworte ich: ihre Nachkommen waren doch auch um nichts würdiger! Dafür ist außer der Erfahrung der Prophet Maleachi ein vollgenügender Zeuge: er hält harte Anklage gegen den Unglauben, der sich mit groben Lästerungen mischt, und doch verkündet er, daß ein Erlöser kommen werde! (Mal. 3,19ff.).

Warum wird nun dieser Erlöser den einen gegeben und den anderen nicht? Vergebens wird sich abplagen, wer hier eine Ursache sucht, die höher wäre als Gottes geheimer und unerforschlicher Ratschluß! Es ist auch nicht zu befürchten, daß irgendein Jünger des Porphyrius Gottes Gerechtigkeit ungestraft antastet, - auch wenn wir kein Wort zu ihrer Verteidigung vorbringen! Denn wenn wir darauf verweisen, daß keiner unverdient verlorengeht und daß es ein Werk der unverdienten

 

Wohltätigkeit Gottes ist, wenn einige gerettet werden, so ist reichlich genug zur Verherrlichung ihres Ruhms gesagt, so daß sie unserer Ausflüchte durchaus nicht bedarf! Demnach bahnt der höchste Richter selbst seiner Vorbestimmung einen Weg, indem er die, welche er einmal verworfen hat, der Gemeinschaft an seinem Licht verlustig gehen und sie in Blindheit versinken läßt.

 

Für das zweite Glied (der obigen Aussage) gibt es Tag für Tag Beweise, und ebenso sind in der Schrift viele enthalten. Hält man vor Hundert Menschen schier die gleiche Predigt, so nehmen sie wohl zwanzig in bereitwilligem Gehorsam des Glaubens an, die anderen aber legen ihr gar kein Gewicht bei oder verlachen oder verspotten oder verabscheuen sie! Wollte hier jemand erwidern, diese Verschiedenheit käme eben von der Bosheit und Verkehrtheit der Menschen her, so ist das noch nicht ausreichend; denn die Natur der anderen (die das Wort annehmen) würde ja von der gleichen Bosheit in Besitz gehalten, wenn Gott nicht in seiner Güte für Besserung sorgte! Deshalb werden wir uns hier stets verwickeln, wenn uns nicht das Wort des Paulus zu Hilfe kommt: „Wer hat dich vorgezogen?“ (1. Kor. 4,7). Da macht er deutlich, daß der Vorzug des einen vor dem anderen nicht aus eigener Tugend, sondern allein aus Gottes Gnade kommt.

 

 

 

III,24,13

 

Weshalb gewährt er denn den einen seine Gnade und geht an den anderen vorbei? Was die ersteren betrifft, so gibt Lukas die Ursache an: Sie sind „zum ewigen Leben verordnet!“ (Apg. 13,46). Was sollen wir demnach von den letzteren anders halten, als daß Gott sie übergeht, weil sie „Gefäße des Zorns“ „zu Unehren“ sind? (Röm. 9,21f.). Daher wollen wir es uns nicht verdrießen lassen, mit Augustin zu sprechen: „Gott hätte den Willen der Bösen zum Guten wenden können; denn er ist ja allmächtig. Durchaus hätte er das gekonnt. Warum tut er es denn nicht? Weil er es nicht wollte! Warum er aber nicht wollte, - das steht bei ihm!“ (Von der Genesis nach dem Wortsinn XI,10,13). Denn wir sollen nicht weiser sein, als es sich gebührt! Das ist viel besser, als wenn wir mit Chrysostomus auf die Ausflucht verfielen, Gott ziehe den, der da wolle und der ihm die Hand entgegenstrecke! (Chrysostomus, Von der Bekehrung des Paulus). Er will damit den Anschein erwecken, der Unterschied stünde nicht bei dem Urteil Gottes, sondern allein bei dem Gutdünken des Menschen. Es liegt nun aber gar nicht bei der eigenen Regung des Menschen, an Gott heranzutreten; so wenig, daß auch die Frommen und Gottesfürchtigen stets noch den besonderen Antrieb des Heiligen Geistes nötig haben. Die Purpurkrämerin Lydia fürchtete Gott, und doch mußte ihr Herz noch „aufgetan“ werden, damit sie auf die Lehre des Paulus merkte (Apg. 16,14) und in ihr Fortschritt machte. Das ist nicht allein von dieser einen Frau gesagt, sondern dazu, daß wir wissen: das Fortschreiten in der Frömmigkeit ist bei jedem einzelnen ein verborgenes Werk des Heiligen Geistes!

Dies kann nun aber nicht in Zweifel gezogen werden, daß der Herr sein Wort vielen sendet, deren Blindheit er nur noch tiefer machen will! Wozu gebietet er sonst, dem Pharao soviele Anordnungen zukommen zu lassen? Etwa deshalb, weil er gehofft hätte, er werde durch oft wiederholte Botschaften erweicht werden? Nein, bevor er damit begann, hatte er ja das Ergebnis bereits gewußt und vorausgesagt! „Geh hin“, sprach er zu Mose, „und lege ihm meinen Willen vor; ich aber will sein Herz verstocken, daß er nicht gehorche“ (Ex. 4, 21; sehr ungenau). So machte er es auch, als er Ezechiel erweckte: er machte ihn schon zuvor darauf aufmerksam, daß er ihn zu einem widerspenstigen und halsstarrigen Volke sende, damit er nicht erschrecken sollte, wenn er sah, daß er tauben Ohren predigte! (Ez. 2,3; 12,2). So sagte er auch dem Jeremia voraus, seine Lehre werde gleich einem Feuer sein, um das Volk wie Stoppeln zu vernichten und zu verzehren (Jer. 1,10!). Noch mehr Nachdruck aber bringt die Prophetie des Jesaja; denn er wird vom Herrn mit den Worten ausgesandt: „Gehe hin und sprich zu den Kindern Israels: Höret, und

 

versteht\'s nicht; sehet, und merket\'s nicht! Verstocke das Herz dieses Volks und laß ihre Ohren hart sein und blende ihre Augen, daß sie nicht sehen mit ihren Augen, noch hören mit ihren Ohren, noch verstehen mit ihrem Herzen und sich bekehren und genesen!“ (Jes. 6,9f.; Anfang nicht ganz Luthertext). Man sieht: er richtet sein Wort an sie, aber nur, damit sie sich noch mehr verhärten; er zündet ein Licht an, aber nur, damit sie noch blinder werden; er gibt ihnen die Lehre; aber nur, damit sie noch mehr abstumpfen, - er wendet eine Arznei an, von der sie aber nicht heil werden sollen! Und dieses Prophetenwort zieht Johannes heran und erklärt, die Juden hätten der Lehre Christi gar nicht glauben können, weil eben dieser Fluch Gottes auf ihnen gelastet hätte! (Joh. 12,39).

 

Auch läßt sich nicht in Frage stellen, daß Gott denen, die er nicht zur Erleuchtung kommen lassen will, seine Lehre in der Verhüllung durch dunkle Rätsel zuteil werden läßt, damit sie dadurch in keiner Weise vorankommen, sondern höchstens in tiefere Kurzsichtigkeit hineingestoßen werden. Denn Christus bezeugt, daß er die Gleichnisse, in welchen er vor der Menge geredet hatte, deshalb allein den Aposteln auslege, weil es ihnen „gegeben“ sei, „die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen“, dem Volke aber eben nicht! (Matth. 13,11). Ja, wird man fragen, was will denn der Herr damit, daß er Menschen belehrt, von denen er doch absichtlich gar nicht verstanden werden will? Man muß zusehen, woher der Fehler kommt; - dann wird man aufhören zu fragen. Denn mag im Worte noch soviel Dunkelheit stecken - es ist immer noch Licht genug darin, um das Gewissen der Gottlosen zu überführen!

 

 

 

III,24,14

Jetzt müssen wir noch zusehen, warum der Herr das tut, was er augenscheinlich tut. Wenn man antworten will, das geschehe eben, weil die Menschen es mit ihrer Unfrömmigkeit, Bosheit und Undankbarkeit verdient hätten, so ist dies zwar gut und richtig geredet. Aber damit ist noch nicht die Ursache zu jener Verschiedenheit klargelegt, daß die einen zum Gehorsam geneigt gemacht werden, die anderen aber in ihrer Verstockung verharren. Will man das erforschen, so muß man notwendig zu dem übergehen, was Paulus aus Mose verzeichnet hat, nämlich daß der Herr solche (Verworfenen) dazu erweckt hat, um seinen Namen auf der ganzen Erde bekanntzumachen. (Röm. 9,17). Daß also die Verworfenen dem Worte Gottes, das ihnen offenbart wird, nicht Gehorsam leisten, das fällt zwar mit Recht auf die Bosheit und Ungerechtigkeit ihres Herzens zurück; nur muß man dabei gleich zufügen: sie sind deshalb solcher Bosheit überantwortet, weil sie nach Gottes gerechtem, aber unerforschlichem Gericht dazu erweckt sind, durch ihre Verdammnis seinen Ruhm zu verherrlichen! Ähnlich wird auch von den Söhnen des Eli erzählt, daß sie auf heilsame Mahnungen nicht hörten, weil der Herr „willens war, sie zu töten“ (1. Sam. 2,25). Da wird nicht bestritten, daß ihre Halsstarrigkeit aus ihrer eigenen Bosheit erwachsen war, und doch wird zugleich angegeben, warum sie in solcher Halsstarrigkeit belassen wurden, während der Herr ihre Herzen doch hätte erweichen können: das geschah eben, weil sie kraft seines unwandelbaren Entschlusses einmal zum Verderben bestimmt waren! Hierher gehört auch das Wort des Johannes: „Obwohl er solche Zeichen vor ihnen getan hatte, glaubte doch keiner an ihn, auf daß erfüllt würde der Spruch des Propheten Jesaja, den er sagte: Herr, wer glaubt unserem Predigen?’“ (Joh. 12,37f.). Denn er befreit hier allerdings diese widerspenstigen Menschen nicht von ihrer Schuld; aber er gibt sich doch mit der Ursache zufrieden, daß Gottes Gnade den Menschen nicht „schmeckt“, bis der Heilige Geist ihnen einen „Geschmack“ daran verleiht! Auch wenn Christus die Weissagung des Jesaja anführt: „Sie werden alle von Gott gelehrt sein“ (Joh. 6,45; Jes. 54,13), so will er nichts anderes zeigen, als daß die Juden Verworfene sind und außerhalb der Kirche stehen, weil sie unbelehrbar sind; - aber als Ursache (hierfür) führt er nur dies an, daß Gottes Verheißung sie eben nicht betrifft! Das bekräftigt das Wort des Paulus, nach welchem Christus „den Juden ein Ärgernis“ und den Hei-

 

den „eine Torheit“ ist, den Berufenen aber die „Kraft“ und „Weisheit“ Gottes (1. Kor. 1,23f.). Er führt zunächst aus, was sich ja tatsächlich in der Regel zuträgt, sooft das Evangelium gepredigt wird: daß es nämlich die einen verhärtet und von den anderen verachtet wird; - und dann erklärt er, daß es allein bei den Berufenen in Wert steht! Zuvor hatte Paulus die Berufenen als solche bezeichnet, „die da glauben“ (1. Kor. 1,21); aber er wollte der Gnade Gottes, die dem Glauben vorausgeht, ihren Ehrenplatz nicht streitig machen, sondern fügte als Richtigstellung noch das Zweite hinzu, damit die, welche das Evangelium angenommen hatten, den Lobpreis für ihren Glauben der Berufung Gottes zusprächen! Ebenso lehrt er auch kurz nachher, sie seien von Gott „erwählt“ worden (1. Kor. 1,27f.). Wenn das die Gottlosen hören, so jammern sie, Gott treibe mit seinen armen Geschöpfen in ungeordneter Gewalt Mißbrauch und spotte ihrer in Grausamkeit. Wir aber wissen, daß alle Menschen in sovielerlei Beziehung vor Gottes Richterstuhl schuldig sind, daß sie auf tausend Richterfragen nicht eine einzige genügende Antwort vorbringen können (Hiob 9,3), und deshalb bekennen wir, daß die Verworfenen nichts erleiden, was mit Gottes unendlich gerechtem Gericht nicht in Übereinstimmung wäre! Da wir aber die Ursache nicht völlig klar erfassen, so wollen wir uns nicht weigern, etwas nicht zu wissen, wo sich Gottes Weisheit auf ihre erhabene Höhe erhebt!

 

 

 

III,24,15

 

Nun hält man uns aber gewöhnlich einige wenige Schriftstellen entgegen, in denen Gott zu bestreiten scheint, daß es aus seiner Anordnung herkomme, wenn die Ungerechten verlorengehen, es sei denn insofern, als sie sich aus eigener Entscheidung gegen seinen Widerspruch den Tod zuziehen! Diese Stellen wollen wir kurz entfalten und dabei zeigen, daß sie unserer obigen Anschauung in nichts widersprechen.

So bringt man eine Stelle aus Ezechiel vor, nach der Gott nicht den Tod des Sünders will, sondern „daß er sich bekehre und lebe“ (Ez. 33,11). Wenn man das auf das ganze Menschengeschlecht ausdehnen will, so ist doch zu fragen: Wie kommt es denn, daß Gott soviele Menschen nicht zur Buße reizt, deren Herzen leichter zum Gehorsam zu bewegen sind, als das Herz derer, die sich gegenüber seinen tagtäglichen Einladungen mehr und mehr verhärten? Nach Christi eigenem Zeugnis hätten die Predigt des Evangeliums und seine Wunder bei den Leuten von Ninive und Sodom mehr Frucht gebracht, als in Judäa! (Matth. 11,23). Wenn doch Gott will, daß alle selig werden, - wie kommt es dann, daß er solchen Elenden, die mehr bereit wären, seine Gnade anzunehmen, die Tür zur Buße nicht auftut? Hieraus sehen wir, daß man jene Stelle gewaltsam mißdeutet, wenn man Gottes Willen, den der Prophet erwähnt, in einen Gegensatz zu seinem ewigen Ratschluß bringt, kraft dessen er die Auserwählten von den Verworfenen unterschieden hat: Fragt man nun nach der ursprünglichen Meinung des Propheten, so will er tatsächlich nur den Bußfertigen Hoffnung auf Vergebung machen. Der Hauptinhalt der Stelle ist der: es ist kein Zweifel daran, daß Gott bereit ist zu vergeben, sobald der Sünder sich bekehrt hat. Er will also seinen Tod nicht, sofern er ja die Buße will. Die Erfahrung aber lehrt, daß er die Bekehrung derer will, die er zu sich einlädt, aber doch so, daß er nicht aller Herzen berührt! Trotzdem läßt sich nun deshalb nicht behaupten, er handle trüglich; denn das äußere Wort macht freilich die Menschen, die es hören und ihm nicht Gehorsam leisten, bloß unentschuldbar, und doch gilt es in Wirklichkeit als Zeugnis der Gnade Gottes, kraft dessen er die Menschen wieder mit sich in Gemeinschaft bringt. Wir wollen also auf die eigentliche Absicht des Propheten achten, wenn er sagt, Gott habe nicht Wohlgefallen am Tode des Sünders, sie besteht darin, daß die Frommen die Zuversicht haben sollen, bei Gott sei Vergebung bereit, sobald sie von der Buße erfaßt sind, daß die Gottlosen aber vernehmen sollen, wie ihre Schuld verdoppelt wird, weil sie solche große Freundlichkeit und Bereitwilligkeit Gottes nicht

 

annehmen! Der Buße wird also Gottes Erbarmen stets entgegenkommen; - aber welchen Menschen die Buße zuteil wird, das lehren alle Propheten und Apostel und auch Ezechiel selber ganz deutlich!

 

 

 

III,24,16

 

Zweitens bringt man eine Stelle aus Paulus vor, in der er lehrt, daß Gott „will, daß allen Menschen geholfen werde“ (1. Tim. 2,4). Um diese Stelle steht es zwar anders als um die eben besprochene; aber es gibt auch Gemeinsames zwischen beiden. Meine Antwort ist die: Zunächst geht aus dem Zusammenhang hervor, wieso Gott das „will“; denn Paulus verbindet hier zweierlei: Gott will, daß allen Menschen geholfen werde „und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“! Wenn man nun meint, es sei in Gottes Ratschluß festgelegt, daß sie die Lehre des Heils (alle) erfassen sollten, - was bedeutet dann das Wort des Mose: „Wo ist ein so herrliches Volk, zu dem sich Gott so nahe tut, wie zu dir?“ (Deut. 4,7). Wie ist es denn gekommen, daß Gott viele Völker des Lichtes des Evangeliums beraubt hat, während andere es genossen? Wie ist es gekommen, daß eine reine Erkenntnis der Lehre der Gottseligkeit zu manchen nie gedrungen ist, und daß andere kaum dunkle Anfangsgründe von ihr geschmeckt haben? Daraus läßt sich nun sofort entnehmen, was Paulus mit jenem Wort eigentlich will. Er hatte dem Timotheus geboten, man solle in den Kirchen öffentliche Gebete „für die Könige und für alle Obrigkeit“ tun. Nun wäre es ja einigermaßen widersinnig erschienen, wenn man bei Gott Gebete ausschüttete für eine Gruppe von Menschen, die schier hoffnungslos verloren war; - denn sie standen doch nicht nur alle außerhalb des Leibes Christi, sondern mühten sich auch mit allen Kräften, sein Reich zu unterdrücken! Deshalb fährt er fort: „Denn solches ist ... angenehm vor Gott“ (1. Tim. 2,3), „welcher will, daß allen Menschen geholfen werde ...“ (1. Tim. 2,4)! Damit macht Gott ganz gewiß nur dies eine deutlich, daß er keiner Art von Menschen den Weg zum Heil verschlossen, sondern seine Barmherzigkeit vielmehr dergestalt ausgegossen hat, daß nach seinem Willen niemand unberührt von ihr sein soll!

 

Die anderen Stellen (die man anführt) erklären nicht, was der Herr in seinem verborgenen Urteil über alle Menschen festgesetzt hat, sondern sie verkünden allen Sündern, daß für sie Vergebung bereit ist, wenn sie nur umkehren, um sie zu suchen! Denn wenn man sich gar zu hartnäckig darauf versteift, daß es heißt, Gott wolle sich aller erbarmen, so werde ich demgegenüber darauf verweisen, daß es an anderer Stelle heißt: „Unser Gott ist im Himmel, er kann schaffen, was er will“ (Ps. 115,3). Dieses Wort (Gott wolle sich aller erbarmen: Röm. 11,32) muß also so ausgelegt werden, daß es mit dem anderen übereinkommt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich“ (Ex. 33,19). Wenn er die Menschen, denen er Barmherzigkeit widerfahren lassen will, auswählt, - dann läßt er sie eben nicht allen zuteil werden! Da es aber klar am Tage ist, daß es sich hier nicht um einzelne Menschen, sondern um bestimmte Gruppen von Menschen handelt, so erübrigt sich eine längere Erörterung. Allerdings ist zugleich zu bemerken, daß Paulus nicht sagt, was Gott allezeit und allerorten und an jedem einzelnen tut, sondern es ihm frei überläßt, schließlich doch „Könige und alle Obrigkeit“ der himmlischen Lehre teilhaftig zu machen, so sehr sie auch in ihrer Blindheit gegen sie wüten mögen!

Besonders kräftig scheinen sie uns durch eine Stelle bei Petrus in Bedrängnis zu bringen, die sie uns vorhalten; da heißt es: „Gott will nicht, daß jemand verloren werde, sondern er will alle zur Buße annehmen!“ (2. Petr. 3,9; Schluß nicht Luthertext; sehr fragliche Übersetzung!) Aber die Lösung des Knotens bietet sich schon im zweiten Satzglied; denn wenn es heißt, Gott wolle den Menschen zur Buße annehmen, so kann dies doch nicht anders verstanden werden, als wie es sonst durch-

 

gängig gelehrt wird. Ganz gewiß liegt die Umkehr eines Menschen in Gottes Hand, und ob er alle bekehren will, das frage man ihn selbst, wo er doch wenigen verheißt, er werde ihnen ein fleischernes Herz geben, den anderen aber ihr steinernes beläßt (Ez. 36,26). Es ist freilich wahr: wenn er nicht bereit wäre, die Menschen anzunehmen, die ihn um seine Barmherzigkeit anflehen, dann würde das Wort seine Geltung verlieren: „Kehret euch zu mir, ... so will ich mich zu euch kehren!“ (Sach. 1,3). Aber ich sage eben: es naht sich kein sterblicher Mensch zu Gott, wenn ihm Gott nicht zuvorkommt! Stünde die Buße in der Entscheidung des Menschen, so würde auch Paulus nicht sagen: „Ob ihnen Gott dermaleinst Buße gebe ...“ (2. Tim. 2,25). Ja, wenn nicht derselbe Gott, der mit seiner Stimme alle zur Buße mahnt, die Auserwählten durch den geheimen Antrieb seines Geistes dazu brächte, dann würde Jeremia nicht sagen: „Bekehre mich du, Herr, so werde ich bekehrt ... Da du mich bekehrtest, da tat ich Buße ...“ (Jer. 31,18f.; Vers 19 nicht ganz Luthertext).

 

 

 

III,24,17

 

Ja, wird man einwenden, wenn es aber so bestellt ist, dann wird den Verheißungen des Evangeliums wenig Zuverlässigkeit beizumessen sein; denn diese legen doch von Gottes Willen Zeugnis ab und behaupten nun, daß er etwas wolle, was doch seinem unverletzlichen Entschluß entgegen wäre! Nein, durchaus nicht! Denn so allgemein die Heilsverheißungen auch sein mögen, so stehen sie doch zu der Vorbestimmung der Verworfenen in keinerlei Gegensatz; wir müssen nur unser Gemerk auf ihre Wirkung richten! Wir wissen, daß die Verheißungen für uns erst dann wirksam sind, wenn wir sie im Glauben annehmen; wo dagegen der Glaube erloschen ist, da ist zugleich auch die Verheißung abgetan! Ist dies aber das Wesen der Verheißung, so wollen wir zusehen, was denn für ein Gegensatz besteht, wenn es einerseits heißt, Gott habe seit Ewigkeit festgelegt, welche Menschen er mit seiner Liebe umfassen und an welchen er seinen Zorn üben wollte, - und wenn wir andererseits hören, daß er das Heil allen ohne Unterschied verkündigt! Ich sage: das stimmt in der Tat aufs beste zusammen; denn durch solche Verheißungen wollte Gott nichts anderes sagen, als daß seine Barmherzigkeit allen dargeboten ist, die sie nur begehren und erflehen; das tun aber nur die, welche er erleuchtet hat! Er erleuchtet nun aber die, welche er zum Heil vorbestimmt hat. Für diese, sage ich, steht die Wahrheit der Verheißungen sicher und unerschüttert fest, so daß man nicht sagen kann, es bestehe irgendein Zwiespalt zwischen Gottes ewiger Erwählung und dem Zeugnis seiner Gnade, das er den Gläubigen darbietet. Aber warum nennt er alle? Doch dazu: die Gewissen der Frommen sollen um so sicherer und ruhiger sein, indem sie sehen, daß es keinen Unterschied unter den Sündern gibt, wofern nur der Glaube da ist; die Gottlosen aber sollen nicht einwenden, sie hätten ja keinen Zufluchtsort, zu dem sie sich vor der Knechtschaft der Sünde retten könnten, - weil sie eben die Zufluchtsstätte, die ihnen dargeboten wird, in ihrer Undankbarkeit verachten! Während also Gottes Barmherzigkeit durch das Evangelium beiden angeboten wird, ist es der Glaube, das heißt: Gottes Erleuchtung, wodurch zwischen Frommen und Gottlosen ein Unterschied herbeigeführt wird, so daß jene die Wirksamkeit des Evangeliums verspüren, diese aber keinerlei Frucht daraus empfangen. Auch die Erleuchtung selbst hat Gottes ewige Erwählung zur Richtschnur.

 

Man führt aber Christi Klage an: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen ..., und ihr habt nicht gewollt!“ (Matth. 23,37). Aber dies Wort hilft unseren Widersachern zu nichts. Ich gebe zu, daß Christus hier nicht allein in seiner menschlichen Person redet, sondern ihnen vorwirft, daß sie zu allen Zeiten seine Gnade von sich gewiesen haben.

Aber man muß näher bestimmen, von was für einem Willen Gottes hier die Rede ist. Denn es ist doch wohl bekannt, wie eifrig sich Gott gemüht hat, dieses Volk festzuhalten; es ist ebenso bekannt, in welcher Halsstarrigkeit sich diese

 

Menschen aber vom ersten bis zum letzten ihren schwankenden Begierden ergeben und solches „Sammeln“ Gottes von sich gewiesen haben. Aber daraus folgt nicht etwa, daß Gottes Ratschluß durch die Bosheit von Menschen außer Kraft gesetzt worden sei!

 

Man wendet dabei ein, dem Wesen Gottes sei nichts weniger gemäß, als wenn in ihm ein zwiefacher Wille bestünde. Das gebe ich den Widersachern zu. Nur müssen sie das richtig verstehen! Aber warum bedenken sie nicht die vielen Zeugnisse (der Schrift), in denen Gott menschliche Regungen annimmt und sich dabei weit unter seine Majestät herabläßt? Er sagt, er habe mit ausgebreiteten Armen sein widerspenstiges Volk gerufen, früh und spät habe er sich Mühe gegeben, es wieder zu sich zu führen (Jes. 65,2). Will man das alles Gott zumessen und das (hier angewendete) Bild außer acht lassen, dann wird allerdings viel überflüssiger Streit sich erheben, den doch diese eine Lösung klärt, daß hier eben Menschliches auf Gott übertragen wird! Freilich genügt auch die von uns an anderer Stelle vorgebrachte Lösung vollauf: Gottes Wille mag für unseren Sinn noch so vielfältig sein, so will er doch in sich selbst nicht etwa dies und das, sondern er will unsere Sinne nach seiner „mannigfaltigen Weisheit“ - wie sie Paulus nennt (Eph. 3,10) - bestürzt machen, bis es uns geschenkt wird, zu erkennen, daß er auf wundersame Weise will, was jetzt seinem Willen zuwider zu sein scheint!

 

Unsere Widersacher treiben aber auch mit Schimpfreden ihr Spiel. Sie sagen: Wenn Gott aller Vater ist, so ist es unrecht, wenn er jemanden von sich stößt, sofern dieser nicht solche Strafe mit eigener Schuld vorher verdient hat. Als ob Gottes Freundlichkeit nicht auch den Säuen und Hunden zukäme! Wenn es sich aber um das Menschengeschlecht handelt, so soll man mir doch antworten, warum Gott sich denn einem Volke verbunden hat, sein Vater zu sein, und warum er auch aus ihm noch eine kleine Schar wie eine Blume abgepflückt hat! Aber diese Lästermäuler lassen sich von ihrer Schmähsucht daran hindern, zu bedenken, daß Gott zwar „seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten ...“ (Matth. 5,45), aber doch so, daß das Erbe nur für wenige bereit steht, zu denen einst gesagt werden wird: „Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet das Reich ...!“ (Matth. 25,34).

 

Auch wendet man ein, Gott habe doch keinen Haß gegen das, was er geschaffen hat. Obwohl ich das nun zugebe, so bleibt doch meine Lehre bestehen, daß die verworfenen Gott verhaßt sind, und das auch mit vollem Recht, weil ihnen nämlich sein Geist abgeht und sie deshalb nichts hervorzubringen vermögen, als was Ursache des Fluches ist!

 

Auch sagt man weiter, es gäbe doch keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden, und deshalb werde Gottes Gnade allen ohne Unterschied dargeboten. Ja, wenn sie nur zugeben wollten, daß Gott „nicht allein aus den Juden, sondern auch aus den Heiden“ - wie es Paulus erklärt - Menschen dergestalt nach seinem Wohlgefallen beruft, daß er niemandem verpflichtet ist (Röm. 9,24). Auf diese Weise wird auch der Einwand entkräftet, den sie auf Grund einer anderen Stelle erheben: „Gott hat alle beschlossen unter die Sünde, auf daß er sich aller erbarme“ (Röm. 11,32; nicht ganz Luthertext); denn Gott will eben, daß das Heil aller, die da selig werden, seiner Barmherzigkeit zugeschrieben wird, obwohl diese Wohltat nicht allen Menschen gemeinsam zukommt.

 

Nachdem nun hin und her vieles vorgebracht worden ist, wollen wir damit den Beschluß machen, daß wir mit Paulus angesichts solcher Tiefe staunend erschaudern und uns beim Widerspruch zänkischer Zungen nicht schämen, mit ihm auszurufen: „Ja, lieber Mensch, wer bist du denn, daß du mit Gott rechten willst?“ (Röm. 9,20). Denn es ist richtig, wenn Augustin behauptet, es sei verkehrt getan, wenn man Gottes Gerechtigkeit nach dem Maß der menschlichen messe (Pseudo-Augustin, Von der Vorbestimmung und Gnade 2).

Fünfundzwanzigstes Kapitel

 

 

 

Von der letzten Auferstehung

 

 

 

III,25,1

 

Gewiß hat Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, den Tod besiegt und uns durch die Erleuchtung mit dem Evangelium das „Leben ans Licht gebracht“, wie Paulus bezeugt (2. Tim. 1,10). Deshalb heißt es auch, daß wir durch den Glauben „vom Tode zum Leben durchgedrungen“ sind (Joh. 5,24). Jetzt sind wir „nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Eph. 2,19); Gott hat uns mit dem eingeborenen Sohne „in das himmlische Wesen gesetzt“ (Eph. 2,6), so daß uns nichts mehr zu voller Seligkeit abgeht. Und doch werden wir noch unter hartem Kriegsdienst geübt, als ob es keine Frucht jenes Sieges gäbe, den Christus für uns errungen hat. Damit uns dies nun nicht beschwerlich fällt, müssen wir festhalten, was anderwärts vom Wesen der Hoffnung gesagt ist. Denn wir richten unsere Hoffnung ja auf das, „was wir nicht sehen“ (Röm. 8,25), und der Glaube ist, wie es an anderer Stelle heißt, ein Aufweis unsichtbarer Dinge (Hebr. 11,1; nicht Luthertext, vgl. III,2,41). Solange wir also in den Kerker unseres Fleisches eingesperrt sind, „wandeln wir ferne vom Herrn“ (2. Kor. 5,6). Aus diesem Grunde sagt Paulus an anderer Stelle: „Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet auch ihr offenbar werden mit ihm in der Herrlichkeit“ (Kol. 3,3f.). Das ist also unser Stand, daß wir „züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi!“ (Tit. 2,12f.). Hier ist ungewöhnliche Geduld vonnöten, damit wir nicht ermatten und unseren Lauf rückwärts wenden oder unseren Kampfposten verlassen.

Alles, was also bisher über unser Heil ausgeführt wurde, das erfordert einen Sinn, der sich zum Himmel erhebt, so daß wir Christus, den wir nicht „gesehen haben“, trotzdem „lieb haben“ und im Glauben an ihn uns „freuen mit unaussprechlicher und herrlicher Freude“, bis wir „das Ende unseres Glaubens davonbringen“, wie Petrus uns mahnt (1. Petr. 1,8f.). Darum sagt auch Paulus, daß Glaube und Liebe der Heiligen auf die Hoffnung ausgerichtet sind, die uns „beigelegt ist im Himmel“ (Kol. 1,4f.). Wenn wir so unsere Augen stracks auf Christus richten und wenn wir am Himmel hängen, wenn nichts auf Erden unsere Augen daran hindern kann, uns zu der verheißenen Seligkeit emporzutragen, dann geht jenes Wort wahrhaft in Erfüllung: „Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein!“ (Matth. 6,21). Daher kommt es, daß der Glaube so selten ist in dieser Welt, weil nämlich unserer Schwerfälligkeit nichts mehr Mühe macht, als auf dem Wege zu der Palme der himmlischen Berufung unzählbare Hindernisse zu überwinden! Zu dem gewaltigen Berg von Elend, der uns fast erdrückt, kommt noch der Spott unfrommer Menschen, der unserer Einfalt zusetzt: indem wir auf die Lockungen der gegenwärtigen Güter gern Verzicht leisten, scheinen wir ja nach der Seligkeit, die uns doch verborgen ist, wie nach einem flüchtigen Schatten zu haschen! Kurz, von oben und unten, von hinten und von vorn umlagern uns heftige Versuchungen, und unsere Herzen wären bei weitem nicht fähig, sie auszuhalten, wenn sie nicht, von den Dingen dieser Erde frei gemacht, an jenes himmlische Leben gebunden wären, das freilich dem Anschein nach weit von uns weg ist! Erst der ist wahrhaft im Evangelium fortgeschritten, der an die beständige Betrachtung der seligen Auferstehung gewöhnt ist!

 

III,25,2

 

Über die höchste Vollendung alles Guten haben die Philosophen einst peinlich genaue Erörterungen angestellt und auch miteinander gestritten. Trotzdem hat keiner von ihnen außer Platon erkannt, daß das höchste Gut des Menschen seine Vereinigung mit Gott ist. Wie diese aber beschaffen ist, davon vermochte auch Platon nicht einmal eine dunkle Ahnung zu empfinden. Das ist auch nicht verwunderlich, weil er von dem heiligen Band solcher Gottesgemeinschaft nichts vernommen hatte. Diese einige, vollkommene Seligkeit ist uns auch bei unserer irdischen Pilgrimschaft bekannt, aber so, daß sie durch das Verlangen, das wir nach ihr tragen, unsere Herzen tagtäglich mehr und mehr entzündet, bis ihr völliger Genuß uns sättigen wird! Deshalb habe ich gesagt, daß nur der aus Christi Wohltaten eine Frucht ziehen kann, der sein Herz auf die Auferstehung emporrichtet. So stellt auch Paulus den Gläubigen dies Ziel vor Augen, nach dem er sich, wie er selbst sagt, ausstreckt und um dessentwillen er alles vergißt, bis er zu ihm hindringt! (Phil. 3,8). Um so wackerer sollen auch wir diesem Ziel zustreben, damit uns nicht diese Welt in Besitz nimmt und wir deswegen unsere Lässigkeit bitter büßen müssen. Deshalb macht Paulus an anderer Stelle die Gläubigen mit dem Merkzeichen kenntlich, daß ihr „Wandel“ „im Himmel ist“, „von wannen“ sie auch ihren „Heiland“ „erwarten“ (Phil. 3,20).

 

Damit sie nun in solchem Lauf nicht innerlich ermatten, gesellt der Apostel ihnen dabei alle Kreaturen als Mitgenossen zu. Denn weil ja allenthalben nur verunstaltete Trümmer zu sehen sind, darum erklärt er, daß sich alles, was im Himmel und auf Erden ist, nach der Erneuerung sehnt (Röm. 8,19). Da nämlich Adam durch seinen Fall die unversehrte Ordnung der Natur zerstört hat, so ist auch für die Kreaturen die Knechtschaft, der sie um der Sünde des Menschen willen unterworfen sind, beschwerlich und hart; nicht weil sie mit irgendwelchem Empfinden ausgestattet wären, sondern weil sie von Natur nach dem unversehrten Zustande streben, aus dem sie herausgefallen sind! Paulus schreibt der Kreatur „Seufzen“ und „Geburtswehen“ zu (Röm. 8,22; wörtlich), damit es auch uns, „die wir haben des Geistes Erstlinge“, Scham bereite, in unserer Verderbtheit dahinzuschwinden und es nicht wenigstens den toten Elementen nachzumachen, die die Strafe für fremde Sünde leiden! Und um uns schärfer anzuspornen, nennt er Christi letztes Kommen „unsere Erlösung“! (Röm. 8,23). Es ist freilich wahr, daß unsere Auferstehung bereits vollkommen erfüllt ist; aber weil Christus einmal für die Sünden geopfert ist (Hebr. 10,12), so wird er ein anderes Mal ohne Sünde zum Heile erschaut werden (Hebr. 9,28). Was für Kümmernisse uns auch bedrücken mögen, so soll uns doch diese Erlösung bis zu ihrer (sichtbaren) Auswirkung aufrechterhalten.

 

 

 

III,25,3

Das Gewicht der Sache selbst wird unseren Eifer schärfen. Denn Paulus behauptet nicht umsonst, das ganze Evangelium sei eitel und falsch, wenn die Toten nicht auferstünden (1. Kor. 15,13f.). Denn dann wären wir elender daran, als andere Sterbliche (1. Kor. 15,19); sind wir doch dem Haß und den Vorwürfen vieler Menschen ausgesetzt, Stunde um Stunde in Gefahr, ja gleichsam „geachtet wie Schlachtschafe“! (Röm. 8,36). Und deshalb würde (wenn es keine Auferstehung gäbe) das Ansehen des Evangeliums nicht nur an einem Stück hinfallen, sondern in seinem ganzen wesentlichen Inhalt, der in unserer Aufnahme in die Kindschaft und dem Vollzug unseres Heils beschlossen ist. Auf dieses Stück, das also von allen das weitaus ernsteste ist, sollen wir deshalb mit Anspannung ausgerichtet sein, damit uns keine Länge der Zeit lässig macht! Aus dieser Erwägung heraus habe ich das, was hierüber kurz zu sagen sein wird, bis hierher aufbehalten, damit die Leser, nachdem sie Christus, den Geber vollkommenen Heils, angenommen haben, nun auch lernen, sich höher emporzuschwingen und zu wissen, daß er mit himmlischer Unsterblichkeit und Herrlichkeit be-

 

kleidet ist, damit der ganze Leib diesem Haupte gleichförmig gemacht werde! An seiner Person stellt uns ja der Heilige Geist auch immer wieder ein Beispiel der Auferstehung vor Augen.

 

Es ist schwer zu glauben, daß unsere Leiber, nachdem sie doch bereits von Fäulnis verzehrt sind, doch einst zu ihrer Zeit wieder auferstehen sollen. Deshalb haben zwar viele Philosophen behauptet, die Seelen seien unsterblich; die Auferstehung des Fleisches aber haben nur wenige anerkannt. Darin liegt nun allerdings keine Entschuldigung; aber diese Tatsache macht uns doch darauf aufmerksam, daß es sich hier um eine zu schwierige Sache handelt, als daß sie menschliche Sinne an sich zöge.

 

Damit der Glaube solch schweres Hemmnis überwindet, bietet ihm die Schrift zwei Hilfsmittel: das eine liegt in dem Vorbild Christi, das andere in Gottes Allmacht.

Sooft wir nun der Auferstehung gedenken, soll uns Christi Bild vor Augen treten. Christus hat ja in der Natur, die er von uns genommen hatte, den Lauf des sterblichen Lebens so vollendet, daß er nun Unsterblichkeit erlangt hat und uns ein Unterpfand der künftigen Auferstehung ist! Denn in allem Jammer, der uns umdrängt, „tragen“ wir „sein Sterben an unserem Fleische, auf daß auch sein Leben an uns offenbar werde“ (2. Kor. 4,10; summarisch). Ihn von uns zu scheiden, ist aber nun nicht erlaubt; es ist auch nicht möglich, ohne daß er zerrissen wird! Daher die Schlußfolgerung des Paulus: „Ist aber die Auferstehung der Toten nichts, so ist auch Christus nicht auferstanden!“ (1. Kor. 15,13). Er setzt hier nämlich den Grundsatz als anerkannt voraus, daß Christus nicht für sich allein dem Tode unterworfen gewesen ist, daß er auch nicht für sich allein durch seine Auferstehung den Sieg über den Tod davongetragen hat, sondern daß in dem Haupte das begonnen wurde, was sich notwendig auch in allen Gliedern erfüllen muß, freilich nach der Stufe und Ordnung des einzelnen; denn es wäre (andererseits) auch nicht billig, wenn sie ihm in allem gleichgemacht würden! In einem Psalm heißt es: „Du wirst nicht zugeben, daß dein Heiliger die Verwesung sehe“ (Ps. 16,10; nicht ganz Luthertext; diese Form steht Apg. 2,25). Stückweise geht diese Zuversicht auch uns an, nach dem Maße der uns zuteil gewordenen Gnadengabe, die vollkommene Auswirkung aber ist allein in Christus sichtbar geworden, der von aller Verwesung frei ist und seinen Leib unversehrt wiedererhalten hat. Aber damit uns die Gemeinschaft an der seligen Auferstehung mit Christus nicht zweifelhaft ist und damit wir uns an diesem Unterpfand genügen lassen, versichert Paulus: Christus hat dazu im Himmel seinen Sitz und wird dazu am jüngsten Tage als Richter kommen, daß er unseren niedrigen und verachteten Leib „seinem verklärten Leibe ähnlich“ mache! (Phil. 3,20f.). An anderer Stelle (Kol. 3,4) lehrt er auch, daß Gott seinen Sohn nicht vom Tode erweckt hat, um damit nur ein einziges Zeugnis seiner Kraft zu geben, sondern um die gleiche Wirksamkeit seines Geistes auch an uns, den Gläubigen, zu beweisen. Diesen Geist nennt er, wenn er in uns wohnt, das Leben, und zwar darum, weil er uns zu dem Zweck gegeben ist, daß er lebendig mache, was an uns sterblich ist (vgl. Röm. 8,11). Ich berühre dies nur in kurzer Zusammenfassung; man könnte es auch weitläufiger behandeln, und es verdiente auch, glänzender ausgeschmückt zu werden; aber ich bin doch der Zuversicht, daß die Leser auch in diesen wenigen Worten genug Ursache finden werden, um ihren Glauben reichlich zu erbauen! Christus ist also auferstanden, um uns zu Mitgenossen des zukünftigen Lebens zu haben. Er ist vom Vater auferweckt worden, sofern er das Haupt der Kirche war, von der er sich auf keinerlei Weise abtrennen läßt. Er ist durch die Kraft des Heiligen Geistes auferweckt worden, an dem auch wir teilhaben, damit er an uns das Amt der Lebendigmachung ausübe. Kurz, er ist auferweckt, um „die

 

Auferstehung und das Leben“ zu sein! (Joh. 11,25). Wie wir aber gesagt haben, daß wir in diesem Spiegel ein lebendiges Bild der Auferstehung vor Augen haben, so soll er uns auch eine feste Grundlage sein, auf die wir unsere Herzen stützen sollen. Nur sollen wir uns durch den langen Verzug nicht traurig oder verdrießlich machen lassen; denn es ist nicht unsere Sache, nach eigenem Gutdünken die Zeiträume abzumessen, sondern wir sollen geduldig und still sein, bis Gott zu der ihm gelegenen Zeit sein Reich aufrichtet! Das ist auch der Sinn der Mahnung des Paulus: „Der Erstling Christus, danach, die Christo angehören; ein jeglicher aber in seiner Ordnung“ (1. Kor. 15,23; umgestellt).

Damit sich nun übrigens keine Frage hinsichtlich der Auferstehung Christi erhebt, auf die unser aller Auferstehung gegründet ist, wollen wir zusehen, auf wie viele und wie vielerlei Weisen er sie uns hat bezeugen lassen. Naseweise Leute werden die von den Evangelisten berichteten Geschichten wie ein Kindermärchen verlachen. Denn was soll auch eine Botschaft für Bedeutung haben, die erschrockene Weiber überbringen und die dann von fast verzagten Jüngern bestätigt wird? Warum hat Christus nicht lieber mitten im Tempel oder auf dem Markte die herrlichen Trophäen seines Sieges aufgerichtet? Warum trat er nicht in grausiger Erscheinung dem Pilatus entgegen? Weshalb erweist er sich nicht den Priestern und dem ganzen Jerusalem als der, der wieder zum Leben gekommen ist? Was die Zeugen aber betrifft, die er sich ausgesucht hat, so werden unfromme Menschen schwerlich zugeben, daß sie geeignet wären! - Ich entgegne darauf: Allerdings war in jenen Anfängen die Schwachheit dieser Botschaft verächtlich, und doch ist dies alles von Gottes wunderbarer Vorsehung so gelenkt worden, daß diese Menschen, die zuvor vor Angst verzagt waren, nun teils von der Liebe zu Christus und von frommem Eifer, teils auch aus Unglauben zu seinem Grabe getrieben und nicht bloß Augenzeugen dieser Tatsache wurden, sondern auch eben das, was sie sahen, von den Engeln hörten! Wie kann uns die Glaubwürdigkeit dieser Jünger zweifelhaft sein, wo sie doch das, was sie von den Weibern hörten, für eine Fabel hielten, bis sie sich selbst greifbar von der Tatsache überzeugen konnten? Daß aber das ganze Volk und auch der Landpfleger selbst, nachdem sie doch mehr als genugsam überführt waren, des Anblicks Christi und auch der anderen Merkzeichen beraubt wurden, das ist kein Wunder. Das Grab wird versiegelt, Wächter halten die Wache - und am dritten Tage findet man keinen Leichnam mehr darin! (Matth. 27,66; 28,11). Da besticht man die Kriegsknechte mit Geld, und nun verbreiten sie das Gerücht, die Jünger hätten ihn gestohlen! (Matth. 28,13.15). Als ob die Jünger das Vermögen gehabt hätten, eine Schar von Kriegsknechten zusammenzubringen, als ob ihnen Waffen zur Verfügung gestanden hätten oder als ob sie genügend gerüstet gewesen wären, um eine solche Tat zu wagen! Wenn nun aber die Soldaten nicht genug Mut gehabt haben, sie wegzutreiben, - warum haben sie sie dann nicht verfolgt, um mit Hilfe des Volkes einige von ihnen zu erhaschen? Pilatus hat also mit seinem Siegelring in Wirklichkeit Christi Auferstehung versiegelt, und die Wächter, die man an das Grab gestellt hatte, sind durch ihr Schweigen oder Lügen zu Herolden solcher Auferstehung geworden! Indessen erschallte die Stimme der Engel: „Er ist auferstanden; er ist nicht hier!“ (Luk. 24,6; umgestellt). Der himmlische Glanz zeigt klar und deutlich, daß es Engel und nicht Menschen waren. Hernach aber machte Christus selbst allem Zweifel, der noch bestehen mochte, ein Ende (Luk. 24,38). Mehr als einmal haben ihn die Jünger gesehen, auch seine Füße und Hände haben sie betastet (Luk. 24,40; vgl. Joh. 20,27), und ihr Unglaube hat nicht wenig dazu gedient, unseren Glauben zu stärken! In ihrem Kreis redete Christus von den Geheimnissen des Reiches Gottes, und schließlich ist er vor ihren Augen gen Himmel gefahren! (Apg. 1,3.9). Aber dies Schaubild wurde nicht allein den elf Aposteln vor Augen gestellt, sondern er ist auch von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal gesehen worden! (1. Kor. 15,6). Nun sandte

 

er ihnen den Heiligen Geist und gab dadurch nicht nur einen Beweis, daß er lebte, sondern auch, daß er die höchste Herrschgewalt innehabe! So hatte er es ihnen ja vorhergesagt: „Es ist euch gut, daß ich hingehe; denn sonst kommt der Heilige Geist nicht!“ (Joh. 16,7; ungenau). Nun ist aber auch Paulus auf seinem Wege nicht von der Kraft eines Toten zu Boden geworfen worden, sondern er erfuhr, daß der, den er verfolgte, im Besitz der höchsten Gewalt war! (Apg. 9,4). Zu einem anderen Zweck ist er dem Stephanus erschienen: durch die Gewißheit des Lebens sollte er die Furcht vor dem Tode überwinden! (Apg. 7,55). Will man so zahlreichen und so glaubwürdigen Zeugnissen den Glauben weigern, so ist das nicht allein mangelndes Vertrauen, sondern geradezu bösartige, unsinnige Halsstarrigkeit!

 

 

 

III,25,4

 

Wir sagten dann, wir müßten beim Beweis für die Auferstehung unsere Sinne auch auf Gottes unermeßliche Macht richten. Das lehrt uns Paulus in Kürze: „Welcher unseren nichtigen Leib ... ähnlich machen wird seinem verklärten Leibe nach der Wirkung, mit der er kann auch alle Dinge sich untertänig machen“ (Phil. 3,21). Deshalb gibt es nichts Unpassenderes, als wenn man hier danach sieht, was natürlicherweise geschehen könnte, wo uns doch ein unausdenkliches Wunder vor Augen gestellt wird, das in seiner Größe unsere Sinne versinken läßt! Trotzdem bringt Paulus auch einen Beweis aus der Natur vor, um die Unverständlichkeit derer zu widerlegen, welche die Auferstehung leugnen. „Du Narr“, sagt er, „was du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn ...“ (1. Kor. 15,36). Er sagt also, daß man an dem Samen ein Bild der Auferstehung wahrnehmen kann, weil die junge Saat aus der Verwesung erwächst! Diese Tatsache wäre aber auch gar nicht so schwer zu glauben, wenn wir den Wundern, die sich allenthalben in der Welt unseren Augen darbieten, die gebührende Beachtung schenkten.

Wir wollen weiter daran denken, daß niemand wirklich von der künftigen Auferstehung überzeugt ist, der nicht voller Bewunderung Gottes Kraft die gebührende Ehre gibt. Diese Zuversicht reißt den Jesaja zu dem Ausruf hin: „Deine Toten werden leben; mein Leichnam wird auferstehen! Wachet auf und rühmt, die ihr liegt unter der Erde!“ (Jes. 26,19; nicht ganz Luthertext). In verzweifelter Lage erhebt er sich zu Gott, dem Geber des Lebens, in dessen Hand die Errettung aus dem Tode liegt, wie es im Psalm heißt (Ps. 68,21). Auch Hiob, der einem Leichnam ähnlicher ist als einem Menschen, vertraut auf Gottes Macht und hebt sich, als ob er noch voll bei Kräften wäre, ohne Zögern zu jenem Tage empor: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt; und am letzten Tage wird er über dem Staube sich erheben“ - nämlich um da seine Macht auszuüben! -, „und ich werde danach mit dieser meiner Haut umgeben werden und werde in meinem Fleisch Gott sehen; selber werde ich ihn sehen und kein anderer!“ (Hiob 19,25-27; annähernd der ursprüngliche Luthertext). Freilich werden diese Stellen von einigen Leuten gar zu spitzfindig verdreht, als ob man sie nicht als Zeugnisse der Auferstehung auslegen dürfte; aber tatsächlich beweisen sie doch, was jene Menschen so gern umstoßen möchten; denn die heiligen Männer suchen ihren Trost einzig und allein aus dem Gleichnis der Auferstehung. Das kann man noch besser aus einer Stelle bei Ezechiel erkennen: Die Juden verwarfen die Verheißung von ihrer Rückkehr und brachten dagegen vor: daß ihnen ein Weg geöffnet würde, das sei nicht wahrscheinlicher, als daß Tote aus ihren Gräbern hervorgingen; da wurde denn dem Propheten ein Gesicht zuteil, bei dem er ein Feld voll dürrer Gebeine vor sich sah, - und denen gebietet nun Gott, wieder Fleisch und Sehnen an sich zu nehmen! (Ez. 37,1ff.). Allerdings ermuntert er unter diesem Bilde das Volk zur Hoffnung auf seine Rückkehr; aber die Ursache zu solcher Hoffnung nimmt er aus der Auferstehung, wie diese ja auch für uns das herrlichste Bild für alle Errettungen ist, die die Gläubigen in dieser Welt erfahren! So sehen wir es auch bei Christus: er lehrt zunächst, daß die Verkündigung des Evangeliums lebendig macht;

 

weil die Juden das aber nicht annehmen, darum fügt er gleich hinzu: „Verwundert euch des nicht. Denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden hören die Stimme des Sohnes Gottes, und werden hervorgehen ...“ (Joh. 5,28f.).

 

Deshalb wollen wir nach dem Vorbild des Paulus bereits mitten in allen Kämpfen fröhlich triumphieren, weil der, der uns das zukünftige Leben verheißen hat, auch mächtig ist, uns zu bewahren, was uns beigelegt ist! (2. Tim. 1,12). Und so wollen wir uns rühmen, daß uns „die Krone der Gerechtigkeit beigelegt“ ist, die uns „der gerechte Richter geben wird“! (2. Tim. 4,8). So wird es geschehen, daß alle Widerwärtigkeiten, die wir zu erdulden haben, uns ein Anzeichen des zukünftigen Lebens sind, weil es dem Wesen Gottes geziemt, den Gottlosen, „die uns Trübsal antun“, „Trübsal zu vergelten“, uns aber, die wir zu Unrecht „Trübsal leiden, Ruhe, ... wenn nun Christus wird offenbart werden ... samt den Engeln seiner Kraft und mit Feuerflammen ...“ (2. Thess. 1,6-8). Aber wir müssen auch festhalten, was Paulus kurz danach ausführt, nämlich daß Christus kommen wird, um herrlich zu erscheinen in seinen Heiligen und wunderbar zu sein in allen, die an ihn glauben, weil das Evangelium bei ihnen Glauben gefunden hat! (2. Thess. 1,10).

 

                      

 

III,25,5

 

Obgleich nun aber die Sinne der Menschen eifrig auf solche Betrachtung gerichtet sein sollten, so haben sie doch, als wollten sie mit festem Vorsatz jede Erinnerung an die Auferstehung auslöschen, den Tod als letzte Grenze aller Dinge und als den Untergang des Menschen bezeichnet! Denn Salomo hat unzweifelhaft diese allgemeine und überall angenommene Ansicht im Auge, wenn er sagt: „Ein lebendiger Hund ist besser als ein toter Löwe!“ (Pred. 9,4), oder wenn er an anderer Stelle ausspricht: „Wer weiß, ob der Odem der Menschen aufwärts fahre und der Odem des Viehes unterwärts unter die Erde fahre?“ (Pred. 3,21). Dieser grobe Stumpfsinn hat aber zu allen Zeiten um sich gegriffen und ist gar in die Kirche eingebrochen; haben doch die Sadduzäer offen zu bekennen gewagt, es gäbe keine Auferstehung (Mark. 12,18; Luk. 20,27; Apg. 23,8), ja, die Seelen seien sterblich!

 

Aber damit solche grobe Unwissenheit niemanden entschuldige, haben die Ungläubigen bereits aus natürlichem Trieb heraus stets ein Bild der Auferstehung vor Augen gehabt. Denn wozu dient die geheiligte und unverletzliche Sitte, die Toten zu begraben? Soll sie etwas anderes sein als Unterpfand eines neuen Lebens? Man darf auch nicht einwenden, das sei aus Irrtum geschehen; denn einmal war die Heilighaltung des Begräbnisses auch bei den heiligen Vätern stets in Kraft, und zum anderen hat Gott gewollt, daß selbst bei den Heiden die gleiche Sitte bestehen bliebe, damit ihnen damit ein Bild der Auferstehung vorgehalten werde und sie dadurch aus ihrer Schwerfälligkeit aufgeweckt würden! Mag diese Zeremonie auch noch so sehr ohne Frucht geblieben sein, so ist sie für uns doch von Nutzen, wenn wir weislich auf die dabei waltende Absicht achten; denn es ist keine geringe Widerlegung des Unglaubens, daß alle miteinander äußerlich bekannt haben, was doch keiner glaubte!

Aber der Satan hat die Sinne der Menschen nicht nur in der Weise abgestumpft, daß sie mit ihren Leibern zusammen auch die Erinnerung an die Auferstehung der Toten begruben, sondern er hat sich auch bemüht, dies Stück der Lehre durch verschiedenerlei Wahngebilde zu verderben, damit es schließlich gar unterginge. Ich sehe hier davon ab, daß er schon zur Zeit des Paulus anfing, es zu untergraben. Es sind aber dann kurz danach die „Chiliasten“ gefolgt, die Christi Reich auf tausend Jahre festgelegt und beschränkt haben. Nun ist zwar ihre Phantasterei zu kindisch, als daß sie einer Widerlegung bedürfte oder auch wert wäre. Auch die Offenbarung des Johannes, aus der sie sicherlich die Deckfarbe zu ihrem

 

Irrtum genommen haben, leistet ihnen keinen Beistand; denn wenn diese von einer Zahl von tausend Jahren redet (Apk. 20,4), so handelt es sich dabei nicht um die ewige Seligkeit der Kirche, sondern bloß um verschiedenartige Erschütterungen, die der noch auf Erden streitenden Kirche warteten. Im übrigen erklärt die ganze Schrift mit lauter Stimme, daß weder die Seligkeit der Auserwählten, noch auch die Strafe der Verworfenen je ein Ende finden wird. Bei allen Dingen aber, die sich unserem Anblick entziehen und weit über das Begreifen unseres Verstandes hinausgehen, müssen wir entweder aus Gottes klaren Offenbarungsworten Gewißheit zu erlangen suchen oder aber solche Gewißheit völlig verwerfen. Wer den Kindern Gottes zum Genuß der Erbschaft des künftigen Lebens nur tausend Jahre anweist, der bemerkt gar nicht, was für einen Schandfleck er damit Christus und auch seinem Reiche aufbrennt. Denn wenn die Gläubigen nicht mit Unsterblichkeit angetan werden, dann ist auch Christus selbst, in dessen Herrlichkeit sie umgestaltet werden sollen, nicht in unsterbliche Herrlichkeit aufgenommen worden; hat die Seligkeit der Gläubigen einmal ein Ende, so ist auch Christi Reich, auf dessen Beständigkeit sich jene Seligkeit stützt, zeitlich! Kurz, diese Leute sind entweder in allen göttlichen Dingen gänzlich unerfahren, oder aber sie bemühen sich in versteckter Bosheit, Gottes Gnade und Christi Kraft zu erschüttern, die allerdings nur dann ihre sichere Erfüllung finden, wenn die Sünde getilgt, der Tod verschlungen ist und dann das ewige Leben voll und ganz aufgerichtet wird!

 

Was für einen törichten Unfug man aber treibt, wenn man Gott gar zu große Härte beizumessen fürchtet, sofern die Verworfenen ewigen Strafen überantwortet werden, - das ist auch für Blinde durchsichtig! Danach wäre also der Herr im Unrecht, wenn er solche Menschen von seinem Reiche ausschließt, die sich dieses Reiches in Undankbarkeit unwürdig gemacht haben! Aber ihre Sünden - so wendet man ein - sind doch zeitlich! Das gebe ich zu. Aber Gottes Majestät, auch seine Gerechtigkeit, die sie mit ihrem Sündigen verletzt haben, die ist ewig! Das Gedächtnis an ihre Ungerechtigkeit geht also verdientermaßen nie zu Ende. Aber dann - so wendet man weiter ein - geht ja die Strafe über das Maß der Übeltat hinaus! Das ist nun aber eine unerträgliche Gotteslästerung, indem man Gottes Majestät so gering einschätzt und ihre Verachtung nicht höher gelten läßt, als den Untergang einer einzigen Seele! Aber wir wollen nun diese Schwätzer fahren lassen, damit wir nicht - im Gegensatz zu unseren Ausführungen am Anfang! - den Anschein erwecken, als achteten wir ihre Wahngebilde doch einer Widerlegung für wert!

 

 

 

III,25,6

 

Außer dieser Schwärmerei haben Menschen, die von falscher Neugierde erfüllt sind, noch zwei weitere erdacht. Die einen vertraten die Meinung, als ob der ganze Mensch umkäme und die Seelen also samt den Leibern auferstehen würden. Andere geben zu, daß die Seelen unsterblich sind, meinen aber, sie würden einst mit neuen Leibern angetan: damit leugnen sie die Auferstehung des Fleisches!

Die erste Schwärmerei habe ich bereits berührt, als ich von der Erschaffung des Menschen sprach; es wird mir also genügen, die Leser noch einmal darauf aufmerksam zu machen, was das doch für ein viehischer Irrtum ist, wenn man aus dem Geist, der nach Gottes Ebenbild gestaltet ist, einen flüchtigen Hauch macht, der bloß in diesem gebrechlichen Leben den Leib erhält, - wenn man den Tempel des Heiligen Geistes zunichte macht, kurz, wenn man das Stück von uns, in dem die Gottheit am stärksten hervorleuchtet und an dem so herrliche Kennzeichen der Unsterblichkeit sich finden, solcher Gabe beraubt, so daß sich also der Leib in besserer und glänzenderer Stellung befindet als die Seele!

 

Ganz anders lehrt die Schrift. Sie vergleicht den Leib (2. Kor. 5,1) mit einer Hütte, und sie sagt uns, daß wir aus dieser Hütte auswandern, wenn wir sterben; denn sie beurteilt uns nach dem Teil (unseres Wesens), der uns von den unverständigen Tieren unterscheidet! So sagt Petrus, als er dem Tode nahe ist, die Zeit sei gekommen, wo er seine „Hütte“ ablegen müsse (2. Petr. 1,14). Und Paulus redet von den Gläubigen und sagt zunächst von ihnen: „Wir wissen aber, so unser irdisch Haus ... zerbrochen wird, daß wir einen Bau haben ... im Himmel“ (2. Kor. 5,1). Dann fährt er fort: „Dieweil wir im Leibe wallen, so wallen wir ferne vom Herrn (...). Wir haben aber vielmehr Lust, außer dem Leibe zu sein und daheim zu sein bei dem Herrn“ (2. Kor. 5,6.8). Wenn unsere Seelen den Leib nicht überdauern, - so möchte ich wissen, was denn eigentlich das sein soll, das Gottes Gegenwart genießt und doch vom Leibe abgeschieden ist! Den Zweifel behebt aber der Apostel, indem er lehrt, wir seien „gekommen ... zu den Geistern der ... Gerechten“ (Hebr. 12,23). Denn mit diesen Worten meint er, daß wir den heiligen Vätern zugesellt werden, welche auch nach ihrem Sterben mit uns der gleichen Frömmigkeit ergeben sind, so daß wir also nicht Christi Glieder sein können, ohne mit ihnen zu verwachsen! Wenn die Seelen, nachdem sie den Leib von sich gelegt haben, nicht ihr Eigenwesen behielten und der seligen Herrlichkeit teilhaftig werden könnten, so hätte auch Christus nicht zu dem Schächer gesagt: „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ (Luk. 23,43). Auf solch klare Zeugnisse wollen wir uns verlassen und nach Christi Vorbild im Sterben ohne Scheu unsere Seelen Gott anbefehlen (Luk. 23,46) oder sie auch nach dem Beispiel des Stephanus in Christi Obhut geben (Apg. 7,58); denn er heißt nicht von ungefähr der treue „Hirte und Bischof unserer Seelen“ (1. Petr. 2,25).

 

Vorwitzige Fragen nach dem Zwischenzustand unserer Seele zu stellen, ist nun aber weder erlaubt noch förderlich, viele mühen sich gewaltig mit Erörterungen darüber, an welchen Ort sich die Seelen begäben und ob sie schon die himmlische Herrlichkeit genössen oder nicht. Aber es ist töricht und vermessen, über unbekannte Dinge tiefere Nachforschungen anzustellen, als es uns Gott zu wissen verstattet hat. Die Schrift sagt uns, daß Christus ihnen gegenwärtig ist und sie in das Paradies aufnimmt (Joh. 12,32), damit sie ihren Trost empfangen, daß die Seelen der Verworfenen aber die Qualen erleiden, die sie verdient haben. Das sagt sie, aber weiter geht sie nicht. Welcher Lehrer oder Meister will uns nun aber offenbaren, was Gott verhüllt hat? Die Frage nach dem Ort der Seelen ist nicht weniger unangebracht und unbedacht; denn wir wissen doch, daß die Seele nicht solche Abmessungen hat wie der Leib! Wenn diese selige Versammlung heiliger Geister der „Schoß Abrahams“ heißt (Luk. 16,22), so ist es uns vollauf genug, daß wir nach dieser Pilgrimschaft von dem gemeinsamen Vater der Gläubigen aufgenommen werden, damit er uns an der Frucht seines Glaubens Anteil gebe! Indessen gebietet uns aber die Schrift allenthalben, an der Erwartung des Kommens Christi zu hängen, und sie behält die Krone der Herrlichkeit bis dahin auf; darum wollen wir uns an den Grenzen genügen lassen, die Gott uns vorgezeichnet hat: wenn die Seelen der Frommen die Mühsal des Kriegsdienstes hinter sich gebracht haben, dann gelangen sie zu seliger Ruhe, wo sie mit glückseliger Freude den Genuß der verheißenen Herrlichkeit erwarten; so bleibt also alles in der Schwebe, bis Christus als der Erlöser erscheint! Die Verworfenen aber werden unzweifelhaft das Los haben, das Judas den Teufeln zumißt: sie werden in Ketten gebunden gehalten, bis sie zu der Strafe gezogen werden, zu der sie verurteilt sind (Judas 6).

 

III,25,7

 

Ebenso ungeheuerlich ist auch der Irrtum derer, die sich einbilden, die Seelen würden einst nicht die Leiber erhalten, mit denen sie jetzt angetan sind, sondern mit neuen und anderen ausgerüstet werden. Und zwar haben die Manichäer die ganz und gar inhaltslose Begründung vorgebracht, es sei keineswegs angemessen, daß das Fleisch, das doch unrein sei, auferstehen sollte. Als ob an den Seelen gar keine Unreinigkeit wäre! Und sie haben doch diese deshalb nicht von der Hoffnung auf das himmlische Leben ferngehalten! Es war also genau so, als ob sie gesagt hätten, was vom Schmutz der Sünde angesteckt sei, das könne von Gott nicht gereinigt werden; denn jene Schwärmerei, das Fleisch sei von Natur unrein, weil es vom Teufel geschaffen sei, übergehe ich jetzt. Ich weise nur darauf hin, daß alles, was jetzt an uns des Himmels unwürdig ist, der Auferstehung nicht entgegensteht. Zunächst gebietet doch Paulus den Gläubigen, sich „von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes“ zu reinigen (2. Kor. 7,1). Daraus ergibt sich das Urteil, das er an anderer Stelle verkündet, nämlich es solle jeder empfangen, „nach dem er gehandelt hat bei Leibesleben, es sei gut oder böse“! (2. Kor. 5,10). Dem entspricht auch, was er an die Korinther schreibt: „Auf daß auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem sterblichen Fleische“ (2. Kor. 4,11). Aus diesem Grunde betet er anderwärts, Gott möge die Leiber unversehrt erhalten auf den Tag Christi; dieses Gebet betrifft den Leib genau so wie „Seele“ und „Geist“ (1. Thess. 5,23). Das ist kein Wunder; denn es wäre höchst widersinnig, wenn unsere Leiber, die sich doch Gott zu Tempeln geweiht hat (1. Kor. 3,16), ohne Hoffnung auf Auferstehung in Verwesung verfielen! Was will man dazu sagen, daß doch auch sie „Glieder Christi“ sind? (1. Kor. 6,15). Oder daß Gott gebietet, ihm ihre einzelnen Teile zu heiligen? Oder daß er will, daß unsere Zungen seinen Namen verherrlichen und daß wir reine Hände zu ihm erheben (1. Tim. 2,8) und ihm damit Opfer darbringen? Wenn also der himmlische Richter einen Teil des Menschen solch hervorragender Ehre würdigt, was ist es dann für ein Wahnwitz, wenn ihn ein sterblicher Mensch zu Staub werden läßt ohne jede Hoffnung auf Wiederherstellung? Ebenso ermahnt uns Paulus, Gott mit unserem Leibe wie mit unserer Seele zu preisen, weil beide ihm gehören! (1. Kor. 6,20). Da leidet er es sicher nicht, daß man das, was er Gott gewissermaßen als etwas Heiliges vorbehält, der ewigen Verwesung überantwortet!

Es ist aber auch über keine Frage eine klarere Bestimmung der Schrift zur Hand als über die Auferstehung des Fleisches, das wir an uns tragen. „Dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit“, sagt Paulus (1. Kor. 15,53). Wo bliebe diese Veränderung des Zustandes, wenn Gott neue Leiber bildete? Wenn es hieße, wir müßten erneuert werden, so wäre das eine doppeldeutige Redeweise, die allenfalls solchem Geschwätz eine Gelegenheit böte. Nun weist aber der Apostel mit dem Finger eben auf die Leiber, mit denen wir jetzt angetan sind, und verheißt ihnen die Unverweslichkeit; damit bestreitet er offen, daß etwa neue Leiber gebildet würden! Ja, er hätte, wie Tertullian sagt, gar nicht ausdrücklicher reden können, es sei denn, daß er seine eigene Haut in der Hand gehalten hätte! Mit keiner Ausflucht werden die Schwärmer auch der Tatsache entrinnen, daß Paulus an anderer Stelle erklärt, Christus werde der Richter der Welt sein, und daß er dabei das Zeugnis des Jesaja heranzieht: „So wahr als ich lebe, spricht der Herr, mir sollen alle Knie gebeugt werden!“ (Röm. 14,11; Jes. 45,23). Denn Paulus verkündigt ja offen eben denen, an die er seine Worte richtet, sie seien schuldig, einst von ihrem Leben Rechenschaft zu geben! Das würde aber nicht passen, wenn vor Gottes Richterstuhl neue Leiber gestellt würden. Keinerlei Unklarheit enthalten auch die Worte des Daniel: „Viele, so unter der Erde schlafen liegen, werden aufwachen, etliche zum ewigen Leben, etliche zu ewiger

 

Schmach und Schande“ (Dan. 12,2). Denn Gott ruft hier nicht neuen Stoff aus den vier Elementen, um etwa daraus einen neuen Menschen zu machen, sondern er ruft die Toten aus ihren Gräbern hervor: Das diktiert uns auch die klare Vernunft. Wenn nämlich der Tod, der seinen Ursprung vom Fall des Menschen her hat, etwas (zum eigentlichen Wesen des Menschen) Hinzukommendes darstellt, so bezieht sich die Erneuerung, die Christus gebracht hat, eben auf diesen Leib, der einst anfing, sterblich zu sein. Auch wenn die Athener darüber lachen, daß Paulus die Auferstehung behauptet, dann läßt sich doch gerade daraus entnehmen, wie seine Verkündigung beschaffen war; und dieses Lachen dient durchaus nicht wenig zur Kräftigung unseres Glaubens! Der Beachtung wert ist auch der Spruch Christi: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht können töten; fürchtet euch aber vielmehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in die Hölle!“ (Matth. 10,28). Denn es wäre doch gar kein Anlaß zur Furcht vorhanden, wenn nicht eben der Leib, den wir an uns tragen, der Strafe unterworfen wäre! Ebenso deutlich ist ein anderes Wort Christi: „Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden die Stimme des Sohnes Gottes hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts“ (Joh. 5,28f.). Sollen wir etwa sagen, in den Gräbern ruhten Seelen, um von dort her Christus zu hören? Müssen wir nicht vielmehr sagen, daß auf seinen Befehl hin die Leiber zu der Kraft zurückkehren, die sie verloren haben?

 

Ferner: wenn wir mit neuen Leibern begabt werden sollen, wo bleibt dann die Gleichgestaltigkeit zwischen Haupt und Gliedern? Christus ist auferstanden; - etwa dadurch, daß er sich einen neuen Leib bildete? Nein, gewiß nicht; es geschah, wie er vorhergesagt hatte: „Brechet diesen Tempel, und am dritten Tage werde ich ihn aufrichten!“ (Joh. 2,19). Eben den sterblichen Leib, den er zuvor an sich getragen hatte, den bekam er wieder; und es würde uns auch nicht viel eintragen, wenn er einen neuen Leib erhalten hätte und damit jener Leib abgetan wäre, der zum Sühnopfer dargebracht worden war! Wir müssen auch jene Gemeinsamkeit festhalten, die der Apostel Predigt: Wir erlangen Auferstehung, weil Christus auferstanden ist (1. Kor. 15,12ff.). Denn es ist nichts weniger wahrscheinlich, als daß unser Fleisch, an dem wir das Sterben Christi mit uns herumtragen (2. Kor. 4,10f.), der Auferstehung Christi beraube werden sollte! Das ist auch durch einen herrlichen Beweis offenkundig geworden, indem bei Christi Auferstehung viele Leiber von Heiligen aus ihren Gräbern hervorgingen (Matth. 27,52). Denn es läßt sich nun auch nicht leugnen, daß dies Geschehen ein Vorspiel, ja besser ein Unterpfand der letzten Auferstehung gewesen ist, auf die wir hoffen. Gleiches war ja zuvor bereits an Henoch und Elia zutage getreten; Tertullian nennt diese beiden deshalb „Besitzanwärter“ (candidati) der Auferstehung, weil sie nach Leib und Seele der Verderbnis entnommen und in Gottes Hut aufgenommen worden sind.

 

 

 

III,25,8

Ich schäme mich, in einer so klaren Angelegenheit soviel Worte zu verlieren; aber diesen Verdruß mögen die Leser geduldig mit mir in sich hineinfressen, damit verderbten und verwegenen Geistern keine Ausflucht mehr offensteht, um Einfältige zu täuschen! Die Schwarmgeister, mit denen ich hier zu streiten habe, bringen das Gespinst ihres eigenen Hirns vor und behaupten, in der Auferstehung werde eine Erschaffung neuer Leiber geschehen. Welche Ursache treibt sie eigentlich zu dieser Ansicht? Keine andere, als daß es ihnen unglaublich erscheint, daß ein Leichnam, der von so langer Verwesung verzehrt ist, noch einmal in seinen vorigen Zustand zurückkehren könnte! Einzig die Ungläubigkeit ist also bei ihnen die Mutter dieser Meinung! Uns dagegen ermahnt der Geist Gottes in der Schrift immer wieder zur Hoffnung auf die Auferstehung unseres Fleisches. In diesem Sinne ist uns die

 

Taufe nach dem Zeugnis des Paulus ein Siegel der zukünftigen Auferstehung (Kol. 2,12). Ebenso sehr lädt uns das Heilige Abendmahl zur Zuversicht auf diese Auferstehung ein, indem wir die Merkzeichen der geistlichen Gnade mit unserem Munde empfangen! Auch wäre die ganze Mahnung des Paulus, wir sollten unsere Glieder als Waffen in den Dienst der Gerechtigkeit stellen (Röm. 6,13.19), doch ganz sicher ohne Gehalt, wenn nicht das hinzukäme, was er nachher anfügt: „Derselbe, der Christus von den Toten auferweckt hat, wird auch eure sterblichen Leiber lebendig machen ...“ (Röm. 8,11). Was würde es denn helfen, unsere Füße, Hände, Augen und Zungen in den Gehorsam Gottes zu begeben, wenn diese nicht auch an der Frucht und dem Lohn teilhätten? Das bestätigt Paulus ganz klar mit seinen eigenen Worten: „Der Leib nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe! Der aber Christum auferweckt hat, der wird auch uns auferwecken durch seine Kraft!“ (1. Kor. 6,13f.; nicht ganz Luthertext). Noch klarer sind die folgenden Worte, nach denen unsere Leiber „Glieder Christi“ (Vers 15) und „Tempel des Heiligen Geistes“ sind (Vers 19). Indessen sehen wir, daß er die Auferstehung mit Keuschheit und Heiligkeit verbindet, wie er denn kurz nachher den Preis der Erlösung auch auf den Leib ausdehnt. Es wäre nun der Vernunft nicht entsprechend, wenn der Leib des Paulus, an dem er die „Malzeichen“ Christi trug (Gal. 6,17) und an dem er Christus großartig verherrlichte, ohne den Ehrenpreis, die Krone bleiben sollte. Daher kommt auch jener rühmende Ausruf: „Wir warten des Heilandes vom Himmel, welcher unseren nichtigen Leib ... ähnlich machen wird seinem verklärten Leibe ...“ (Phil. 3,20f.; nicht ganz Luthertext). Ist es aber wahr, daß wir „durch viel Trübsale müssen in das Reich Gottes eingehen“ (Apg. 14,22), so ist es auf keinerlei Weise möglich, unseren Leibern solchen Eingang zu versperren, welche doch Gott unter dem Fähnlein seines Kreuzes übt und mit dem Lobpreis des Sieges ziert!

Deshalb ist unter den Heiligen nie ein Zweifel in dieser Sache entstanden, sondern sie haben gehofft, Christi Mitgenossen zu sein; denn er nimmt alle Trübsale, mit denen wir geprüft werden, auf seine Person, um uns zu lehren, daß sie lebendigmachend sind: Ja, Gott hat auch die heiligen Väter unter dem Gesetz durch eine äußere Zeremonie in diesem Glauben geübt. Wozu diente - so sahen wir bereits! - die Sitte des Begrabens der Toten anders als dazu, daß sie wissen sollten, daß den begrabenen Leibern ein neues Leben bereitet sei? Auch die wohlriechenden Kräuter und andere Sinnbilder der Unsterblichkeit hatten diesen Zweck; mit ihnen wurde unter dem Gesetz, genau wie auch durch die Opfer, der Dunkelheit der Lehre abgeholfen. Auch ist diese Sitte nicht vom Aberglauben aufgebracht worden; denn wir sehen, wie der Heilige Geist auf die Schilderung von Begräbnissen nicht weniger eifrig Gewicht legt, als auf die vornehmsten Geheimnisse unseres Glaubens. Auch Christus lobt solchen Dienst als etwas ganz Besonderes (Matth. 26,10), und das sicherlich nur aus einem einzigen Grunde: weil er nämlich die Augen der Menschen vom Anblick des Grabes, welches alles verzehrt und vertilgt, weglenkt und sie zu dem Schaubild der Erneuerung emporhebt! Außerdem beweist die eifrige Beobachtung dieser Zeremonie, die an den Vätern gelobt wird, zur Genüge, daß ihnen diese ein außerordentliches und köstliches Hilfsmittel des Glaubens gewesen ist. Denn Abraham hätte sich nicht mit solcher Sorgfalt um das Grab seines Weibes gekümmert (Gen. 23,4.19), wenn ihm dabei nicht die Religion vor Augen gestanden hätte und der Nutzen, der köstlicher ist als alle Welt: daß er nämlich dadurch, daß er den Leib seines Weibes mit den Zeichen der Auferstehung zierte, seinen und seines Hauses Glauben bekräftigte! Noch klarer leuchtet der Beweis hierfür an dem Beispiel des Jakob hervor, der seinen Nachfahren gebietet, seine Gebeine in das verheißene Land zu überführen, um ihnen zu bezeugen, daß die Hoffnung auf dieses Land auch im Tode nicht aus seinem Herzen gewichen ist (Gen. 47,30). Ich frage den Leser: wenn Jakob mit einem

 

neuen Leib angetan werden sollte, wäre dann sein Auftrag nicht lächerlich, weil er sich ja auf Staub bezöge, der der völligen Vernichtung entgegenging? Wenn also die Autorität der Schrift bei uns irgendwie in Kraft steht, so gibt es keine Lehre, für die wir einen klareren und gewisseren Beweis verlangen konnten!

 

Schon die Worte „Auferstehung“ und „Auferwecken“ machen den gleichen Sachverhalt selbst Kindern lebendig; denn von etwas, das eben erst geschaffen wird, sagen wir doch nicht, es erstünde auf. Auch würde sonst das Wort Christi keinen Bestand haben: „Daß ich nichts verliere von allem, was mir mein Vater gegeben hat, sondern daß ich\'s auferwecke am jüngsten Tage“ (Joh. 6,39). In der gleichen Richtung geht auch das Wort „Schlafen“, das nur auf Leiber zu beziehen ist. Daher hat man auch die Begräbnisstätten als „Schlafstätten“ (coemeteria) bezeichnet.

 

Jetzt muß ich über die Art der Auferstehung noch einiges kurz ausführen. Ich sage: „kurz ausführen“; denn Paulus spricht hier von einem „Geheimnis“ (1. Kor. 15,51), und er ermahnt uns damit zur Bescheidenheit und zügelt die ausschweifende Neigung, gar zu frei und scharfsinnig zu philosophieren. Zunächst ist da festzuhalten, was wir bereits dargelegt haben: Was die Substanz betrifft, so werden wir in dem gleichen Fleische auferstehen, das wir jetzt an uns tragen. Die Beschaffenheit (qualitas) wird dagegen anders sein. So wurde ja auch das gleiche Fleisch Christi, das zum Opfer dargebracht worden war, auferweckt, und doch zeichnete es sich durch andere Gaben aus, so daß es so war, als ob es ein anderes Fleisch geworden wäre: Das hat Paulus durch wohlbekannte Beispiele verdeutlicht (1. Kor. 15,39). Denn wie das Fleisch von Mensch und Tier das gleiche Grundwesen, aber nicht die gleiche Beschaffenheit besitzt, wie alle Sterne aus dem gleichen Stoff bestehen, aber doch nicht gleich hell scheinen, so lehrt Paulus, daß wir zwar das Grundwesen unseres Leibes behalten, aber dabei eine Veränderung eintritt, so daß sein Stand viel herrlicher wird. Der verwesliche Leib geht also, damit wir auferstehen, nicht etwa zugrunde, er zergeht auch nicht, sondern er legt die Verweslichkeit ab und nimmt die Unverweslichkeit an! Da aber Gott alle Elemente auf seinen Wink hin zur Hand hat, so besteht für ihn gar keine Schwierigkeit, die ihn etwa hinderte, der Erde und dem Wasser und dem Feuer zu gebieten, daß sie zurückgeben, was von ihnen verzehrt zu sein scheint. Das bezeugt auch Jesaja, freilich nicht ohne Bild: „Denn siehe, der Herr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Einwohner des Landes über sie, daß das Land wird offenbaren ihr Blut und nicht weiter verhehlen, die darin erwürgt sind!“ (Jes. 26,21).

 

Es ist aber hier ein Unterschied zu beachten zwischen denen, die dann bereits verstorben sind, und denen, die dieser Tag noch am Leben finden wird. Denn - wie Paulus bezeugt - „wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden“ (1. Kor. 15,51). Das bedeutet: es ist nicht notwendig, daß zwischen den Tod und den Beginn des neuen Lebens ein zeitlicher Abstand tritt; denn „plötzlich“ und „in einem Augenblick“ wird der Klang der Posaune ertönen und „die Toten“ auferwecken „unverweslich“, die Lebenden aber in plötzlicher Verwandlung zu gleicher Herrlichkeit umgestalten! (1. Kor. 15,52). So werden auch an anderer Stelle die Gläubigen, die den Tod erleiden müssen, damit getröstet, daß auch die, welche dann noch da sein werden, den Verstorbenen „nicht zuvorkommen“ sollen, sondern daß vielmehr die zuerst auferstehen, die „in Christo entschlafen“ sind! (1. Thess. 4,15f.).

Wenn sich nun jemand dagegen auf das Wort des Apostels beruft, nach welchem es allen Menschen „gesetzt ist, einmal zu sterben“ (Hebr. 9,27), so ist die Lösung schnell zur Hand: wo der Zustand der Natur eine Verwandlung durchmacht, da ist das eine Art von Tod und wird auch durchaus zutreffend so bezeichnet;

 

es paßt also gut zusammen, daß einerseits alle durch den Tod erneuert werden sollen, indem sie ihren sterblichen Leib von sich ablegen, und daß doch andererseits eine Trennung von Leib und Seele nicht notwendig sein wird, wenn jene plötzliche Verwandlung eintritt.

 

 

 

III,25,9

 

Aber hier entsteht eine schwierigere Frage, nämlich die, mit welchem Recht die Auferstehung, die doch eine besondere Wohltat Christi ist, auch den Gottlosen und von Gott Verdammten gemein ist. Wir wissen, daß in Adam alle zum Tode verurteilt worden sind; da ist nun Christus als „die Auferstehung und das Leben“ gekommen (Joh. 11,25); etwa dazu, daß er ohne Unterschied das ganze Menschengeschlecht lebendig macht? Aber was will sich weniger reimen, als daß die Gottlosen in ihrer halsstarrigen Blindheit erlangen sollten, was doch Gottes fromme Verehrer allein durch den Glauben erhalten? Und trotzdem soll fest bestehen bleiben, daß die eine Auferstehung eine Auferstehung zum Gericht, die andere eine Auferstehung zum Leben ist (Joh. 5,29), und daß Christus kommen wird, um die Schafe von den Böcken zu sondern! (Matth. 25,32). Ich entgegne: das soll uns nicht so ungewohnt vorkommen, da wir doch Ähnliches in tagtäglicher Erfahrung zu sehen bekommen! Wir wissen doch, daß wir in Adam der Erbschaft an der ganzen Welt verlustig gegangen sind, und daß wir aus ebenso gerechter Ursache von unserer gewöhnlichen Nahrung ferngehalten werden könnten, wie von dem Genuß am Baume des Lebens. Wie kommt es nun aber, daß Gott nicht nur „seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten“ (Matth. 5,45), sondern daß seine unermeßliche Freigebigkeit auch, was den Gebrauch des gegenwärtigen Lebens betrifft, immerfort reichliche Güter aus sich hervorfließen läßt? Hieraus sehen wir doch unzweifelhaft, wie das, was Christus und seinen Gliedern eigen ist, doch auch zu den Gottlosen überströmt, und zwar nicht, damit sie es rechtmäßig besitzen, sondern damit sie um so mehr unentschuldbar werden! So erfahren die Gottlosen häufig Gottes Wohltätigkeit, und zwar nicht bloß in gewöhnlichen Erweisungen, sondern gar in solchen, die alle Segnungen, die den Frommen widerfahren, bisweilen in den Schatten stellen; - und doch gereichen sie ihnen nur zu größerer Verdammnis! Nun könnte jemand einwenden, die Auferstehung könne man doch nicht passenderweise mit diesen gebrechlichen, irdischen Wohltaten vergleichen. Darauf antworte ich nun auch: Sobald sie von Gott, der Quelle des Lebens, sich entfremdet haben, haben sie allerdings das Verderben des Teufels verdient, sie haben es also verdient, gänzlich vertilgt zu werden; und doch ist aus Gottes wunderbarem Rat ein Mittelzustand gefunden worden, daß sie außerhalb des Lebens, im Tode - leben! Ebensowenig widersinnig ist es, wenn auch den Gottlosen als etwas zu ihrem Wesen Hinzukommendes die Auferstehung zuteil wird, die sie gegen ihren Willen vor den Richterstuhl des Christus ziehen soll, den sie jetzt als Meister und Lehrer nicht hören wollen! Denn es wäre ja eine leichte Strafe, wenn sie bloß vom Tode verzehrt werden sollten, ohne vor den Richter gestellt zu werden, um dort für ihre Widerspenstigkeit Strafe zu leiden, - vor den Richter, dessen Rache sie ohne Ziel und Maß gegen sich hervorgerufen haben! So müssen wir also freilich an dem festhalten, was wir ausgeführt haben, und was jenes berühmte Bekenntnis des Paulus vor Felix enthält: „Und habe die Hoffnung zu Gott, daß zukünftig sei die Auferstehung der Toten, der Gerechten und Ungerechten!“ (Apg. 24,15). Trotzdem stellt die Schrift mehrfach die Auferstehung zusammen mit der himmlischen Herrlichkeit allein den Gläubigen vor Augen; denn eigentlich ist ja Christus nicht zum Verderben, sondern zum Heil der Welt gekommen. So wird auch im Glaubensbekenntnis allein das selige Leben erwähnt.

 

III,25,10

 

Die Weissagung, daß „der Tod soll verschlungen werden in den Sieg“ (Hos. 13,14; 1. Kor. 15,54f.), wird sich aber erst dann gänzlich erfüllen. Deshalb sollen wir allezeit der ewigen Seligkeit gedenken, die das Ziel der Auferstehung ist; wenn man von ihrer Herrlichkeit alles gesagt hätte, was aller Menschen Zungen zu sagen vermögen, so hätte man doch kaum den kleinsten Teil von ihr auch nur flüchtig berührt! Denn obwohl wir in Wahrheit hören, das Reich Gottes werde voll Glanz und Freude, voll Seligkeit und Herrlichkeit sein, so bleibt doch das alles, was man nennen mag, unserem Empfinden ganz fern und gleichsam in Rätsel eingehüllt, bis jener Tag gekommen ist, an dem er uns selber seine Herrlichkeit enthüllen und sie uns von Angesicht zu Angesicht schauen lassen wird. „Wir wissen nun“, sagt Johannes, „daß wir Gottes Kinder sind, aber es ist noch nicht erschienen ... Wenn wir ihm aber gleich sein werden, dann werden wir ihn sehen, wie er ist!“ (1. Joh. 3,2; nicht Luthertext). Deshalb haben die Propheten diese geistliche Seligkeit gemeinhin unter leiblichen Dingen abgebildet, da sie sie an sich selbst mit keinerlei Worten auszudrücken vermochten. Weil aber auf der anderen Seite das heiße Verlangen durch irgendeinen Geschmack von der Süße dieser Seligkeit in uns entzündet werden soll, darum wollen wir dabei bleiben, vor allem dies zu bedenken: Wenn Gott wie eine unerschöpfliche Quelle die Fülle aller Güter in sich trägt, so sollen die, welche das höchste Gut und die vollkommene Seligkeit erstreben, nichts über ihn hinaus begehren. So lehren es uns sehr viele Stellen. So das Wort: „Abraham, ich bin ... dein sehr großer Lohn!“ (Gen. 15,1). Diesem Wort stimmt David bei: „Der Herr ist mein Teil ... Das Los ist mir gefallen aufs Liebliche!“ (Ps. 16,5.6). Oder an anderer Stelle: „Ich will satt werden ... an deinem Anblick!“ (Ps. 17,15; nicht Luthertext). Petrus aber tut kund, daß die Gläubigen dazu berufen sind, „der göttlichen Natur teilhaftig zu werden“ (2. Petr. 1,4). Und warum das? Weil er „herrlich erscheinen wird in seinen Heiligen und wunderbar sein wird in denen, die da geglaubt haben!“ (2. Thess. 1,10; nicht Luthertext). Wenn der Herr seine Herrlichkeit, Kraft und Gerechtigkeit mit den Auserwählten teilen, ja wenn er sich ihnen selber zum Genuß geben und, was noch herrlicher ist, mit ihnen gewissermaßen in Eins zusammenwachsen wird, - dann sollen wir daran denken, daß in dieser Wohltat jederlei Seligkeit beschlossen liegt! Und wenn wir in dieser Betrachtung weit fortgeschritten sind, so wollen wir doch erkennen, daß wir noch bei den ersten Anfängen stecken, wenn wir das Begreifen unseres Verstandes mit der Erhabenheit dieses Geheimnisses vergleichen! Um so mehr müssen wir in diesem Stück auf Bescheidenheit halten, damit wir nicht unser Maß vergessen und uns der Glanz der himmlischen Herrlichkeit nicht übermannt, je kühnlicher wir unseren Flug in die Höhe lenken! Denn wir fühlen es auch, wie uns solche maßlose Gier, mehr zu wissen, als uns gebührt, immerfort kitzelt; daraus sprudeln dann zuweilen leichtfertige, schädliche Fragen hervor. Leichtfertige Fragen nenne ich solche, aus denen sich keinerlei Nutzen ziehen läßt. Aber schlimmer noch ist das zweite: Menschen, die sich in solchen Fragen gefallen, verwickeln sich in gefährliche Gedankenspielereien; deshalb nenne ich solche Fragen „schädlich“.

Was die Schrift uns lehrt, das soll bei uns jeder Erörterung entzogen sein, nämlich: wie Gott bei der Austeilung seiner Gaben an die Heiligen in dieser Welt verschiedenartig vorgeht und sie seine Strahlen ungleich verspüren läßt, so wird auch im Himmel, wo Gott seine Gaben krönen wird, das Maß der Herrlichkeit nicht gleich sein. Denn es läßt sich nicht unterschiedslos auf alle anwenden, wenn Paulus sagt: „Ihr seid mein Ruhm und meine Krone am Tage Christi!“ (1. Thess. 2,19; nicht Luthertext). Ebensowenig das Wort Christi an seine Apostel: „Ihr werdet sitzen ... und richten die zwölf Geschlechter Israels!“ (Matth. 19,28). Aber Paulus wußte, daß Gott nach dem Maß, wie er seine Heiligen auf Erden mit geistlichen Gütern reich macht, sie auch im Himmel mit Herrlichkeit ziert, und deshalb zweifelte er nicht, daß für ihn auch nach dem Maß seiner

 

Mühen eine besondere Krone bereitliege. Christus aber will den Aposteln die Würde des Amtes preisen, das ihnen übergeben ist, und deshalb erinnert er sie daran, daß dessen Frucht im Himmel verborgen ist. So finden wir es auch bei Daniel: „Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich!“ (Dan. 12,3). Und wenn jemand aufmerksam auf die Schrift achtet, so wird er finden, daß diese den Gläubigen nicht allein das ewige Leben verheißt, sondern auch jedem einzelnen seinen besonderen Lohn. Daher auch das Wort des Paulus: „Der Herr wolle es ihm vergelten an jenem Tage ...“ (2. Tim. 1,18; ungenau). Das wird auch durch Christi Verheißung bestätigt: „Ihr werdet\'s hundertfältig empfangen im ewigen Leben“ (Matth. 19,29; nicht Luthertext). Kurz, wie Christus in der Welt die Herrlichkeit seines Leibes mit einer vielfältigen Verschiedenartigkeit von Gaben anfangen läßt und sie stufenweise vermehrt, so wird er sie auch im Himmel vollkommen machen!

 

 

 

III,25,11

Wie nun aber alle Frommen dies einmütig annehmen werden, weil es durch Gottes Wort genugsam bezeugt ist, so werden sie auf der anderen Seite alle spitzfindigen Fragen fahren lassen, weil sie wissen, daß sie ihnen bloß Hemmnisse bereiten, und sie werden die ihnen vorgezeichneten Grenzen nicht überspringen. Was mich betrifft, so halte ich mich nicht nur für mich allein von allem überflüssigen Forschen nach unnützen Dingen zurück, sondern meine, mich auch hüten zu sollen, daß ich nicht durch Antwortgeben die Leichtfertigkeit anderer noch fordere! Menschen, die nach eitlem Wissen hungern, möchten gern in Erfahrung bringen, wie groß einst der Abstand zwischen Propheten und Aposteln oder wiederum zwischen Aposteln und Märtyrern sein werde, wieviel Stufen die Jungfrauen über den verheirateten stehen würden, kurz, sie lassen keine Ecke im Himmel mit ihrer Fragerei unangetastet! Dann kommt ihnen auch die Frage in den Sinn, was eigentlich die Erneuerung der Welt für einen Zweck haben solle, wo doch Gottes Kinder aus solcher großen und unvergleichlichen Fülle nicht ein einziges Ding nötig haben, sondern den Engeln ähnlich sein sollen, die doch gerade als Sinnbild ihrer ewigen Seligkeit nicht essen? Ich aber antworte: Auch in dem bloßen Anschauen wird soviel Ergötzlichkeit stecken, im bloßen Erkennen wird auch ohne Genuß soviel Süßigkeit liegen, daß diese Glückseligkeit über alle Mittel, die uns jetzt zu Hilfe kommen, weit hinausgeht! Stellen wir uns doch vor, wir würden in das reichste Gefilde der Welt versetzt, in dem uns kein Vergnügen abginge: wen würden da nicht seine Gebrechen zuweilen am Gebrauch solcher Wohltaten Gottes hindern und davon abhalten? Wessen Lauf wird nicht oft genug von seiner Unmäßigkeit gestört? Daraus ergibt sich, daß die höchste Glückseligkeit im lauteren und von allen Gebrechen reinen Genießen besteht, selbst wenn kein Gebrauch dieses vergänglichen Lebens dabei stattfindet! - Andere schwingen sich noch „weiter hinauf“, und fragen, ob nicht Gußschaum und andere Schäden an den Metallen weit von jeder Erneuerung entfernt sind und zu ihr im Gegensatz stehen. Das lasse ich zwar einigermaßen gelten, aber ich erwarte mit Paulus eine Behebung der Mängel, die ihren Ursprung von der Sünde her haben; danach „seufzt“ ja die ganze Kreatur, darauf hin leidet sie ja „Geburtswehen“! (Röm. 8,22; wörtlich). Aber sie gehen dann noch weiter und fragen, wieso denn das Menschengeschlecht in einen besseren Stand kommen sollte, wo doch die Segnung der Nachkommenschaft dann ein Ende nehmen würde. Auch dieser Knoten ist leicht aufzulösen. Daß die Schrift diesen Segen so herrlich rühmt, das bezieht sich auf das Wachstum, mit dem Gott die Ordnung der Natur beständig weiterführt, bis zu ihrem Ziele hin; es ist aber doch bekannt, daß es bei der Vollendung anders zugehen wird! Aber weil unvorsichtige Leute gleich von Täuschungen ergriffen werden und der Irrgarten sie dann immer tiefer zieht, und weil schließlich, wo jeder sich in seinen besonderen Meinungen gefällt, des

 

Disputierens kein Ende mehr ist, darum sollen wir es kurz und gut für unseren Weg halten, uns an dem „Spiegel und dunklen Wort“ genügen zu lassen, bis wir „sehen von Angesicht zu Angesicht!“ (1. Kor. 13,12). Denn unter der großen Menge findet man nur wenige, die sich darum sorgen, auf welchem Wege man zum Himmel wandern soll; dagegen begehren alle vor der Zeit zu wissen, was dort geschehe! Fast alle sind zu faul und träge, um Kämpfe durchzufechten; aber erträumte Triumphe malen sie sich schon an die Wand!

 

 

 

III,25,12

 

Weil nun weiter keine Beschreibung der Schwere göttlicher Rache gegen die verworfenen gleichzukommen vermag, darum werden uns ihre Leiden und Qualen unter dem Bilde leiblicher Dinge abgebildet, wie Finsternis, Heulen und Zähneklappern (Matth. 8,12; 22,13), unauslöschliches Feuer (Matth. 3,12; Mark. 9,43), oder auch unter dem Bilde eines Wurms, der ohne Ende am Herzen nagt (Jes. 66,24). Denn sicherlich hat der Heilige Geist durch solche Redeformen alle Sinne mit Schrecken erschüttern wollen; so, wenn es heißt, seit Ewigkeit sei eine tiefe Höllengrube bereitet, ihre Nahrung sei Feuer und viel Holz, und der „Odem des Herrn“ werde sie „anzünden wie ein Schwefelstrom“ (Jes. 30,33). Solche Worte sollen uns gewiß dazu helfen, das elende Los der Gottlosen einigermaßen zu verstehen; aber wir müssen dabei unsere Erwägung vor alledem darauf richten, was für eine Not es ist, von der Gemeinschaft mit Gott abgeschnitten zu sein, ja, nicht nur dies, sondern auch zu fühlen, wie Gottes Majestät gegen einen steht, so daß man ihrem lastenden Druck nicht entfliehen kann! Denn erstlich ist sein Zorn wie ein wütendes Feuer, durch dessen Berührung alles verschlungen und verzehrt wird. Dann aber dienen ihm zum Vollzug seines Gerichts auch alle Kreaturen, so daß die Gottlosen erfahren müssen, wie Himmel und Erde und Meer, wie alle Tiere und alles, was da ist, gleichsam in heftigem Zorn gegen sie entflammt und zu ihrem Verderben gerüstet sind: denn durch all das macht ihnen der Herr seinen Zorn offenbar. Deshalb hat der Apostel nichts Alltägliches kundgemacht, wenn er sagt, die Gottlosen müßten in ihrem Verderben ewige „Pein leiden“ „von dem Angesicht des Herrn und von seiner herrlichen Macht“ (2. Thess. 1,9). Und sooft die Propheten uns mit leiblichen Bildern Angst einjagen, sprechen sie zwar angesichts unserer Schwerfälligkeit nichts Unbegreifliches aus, aber sie mischen unter ihre Worte doch Vorspiele des künftigen Gerichts, die an Sonne und Mond und am ganzen Gebäu der Welt offenbar werden! Deshalb finden die unseligen Gewissen keine Ruhe, sondern sie werden von furchtbarem Wirbelwind gequält und umgetrieben, sie erfahren, wie der erzürnte Gott sie foltert, sie werden von todbringenden Pfeilen durchbohrt und zerfleischt, erschrecken vor Gottes Blitzstrahl und werden unter der Last seiner Hand erdrückt, so daß es leichter wäre, in irgendeinem Abgrund oder Schlund unterzutauchen, als auch nur einen Augenblick in solchen Schrecknissen zu stehen! Was ist das doch für eine furchtbare Sache, von Gottes ewiger und nie endender Drangsal bedrückt zu werden! Hierüber enthält der neunzigste Psalm eine beherzigenswerte Lehre: obgleich Gott allein durch seinen Anblick alle Sterblichen verstört und zunichte macht, so drängt er doch seine Verehrer, je furchtsamer sie in dieser Welt sind, nur um so mehr, um sie, mit dem Kreuze beladen, zur Eile anzufeuern, bis er selbst alles in allen ist! (Ps. 90,7ff.; 1. Kor. 15,28).