Brief an Farel. Straßburg, 21. Oktober 1540

Jean Calvin 1)

Zwar weiß ich, Du kennst meines Herzens Meinung; aber ich will Dir doch hier noch einmal niederschreiben, wie mir heute zu Mute ist. Sooft ich daran denke, wie elend es mir in Genf gegangen ist, so kann ich nicht anders: mein ganzes Herz erschaudert, wenn es sich jetzt um meine Rückberufung handelt. Ich rede nicht von jener Unruhe, die uns dauernd hin und her geworfen hat, seit dem ich Dein Amtsbruder wurde; denn ich weiß, dass überall, wohin ich gehe, solche Beschwerlichkeiten mein Los sind. Wenn ich für Christus leben will, muss mir diese Welt voller Stürme sein; das gegenwärtige Leben ist zum Kampf bestimmt. Aber wenn ich denke, welche Qualen mein Gewissen dort ausgestanden hat und welche Sorgen es beschwert haben, verzeih, dann kann ich diese Stadt nur wie einen Ort des Verderbens fliehen. Du selbst bist neben Gott mein bester Zeuge, dass mich kein anderes Band dort gehalten hat als das Joch der Berufung, das ich als mir vom Herrn auferlegt erkannte und darum nicht abzuwerfen wagte. Solange ich auf diese Weise gebunden war, hätte ich lieber das Schlimmste ertragen, als die Gedanken an eine Ortsveränderung, die mich oft beschlichen, in mir aufkommen lassen. Wo ich aber jetzt einmal durch Gottes Güte losgekommen bin, ist es da nicht verzeihlich, wenn ich mich nicht gerne wieder in den Wirbel stürze, der, wie ich erfahren, für mich den Tod enthält. Ja, wäre es nicht unentschuldbarer Leichtsinn, wenn ich mit Wissen und Wollen kopfüber wieder hineinspränge? Vollend wo ich, auch ganz abgesehen von der Gefahr, die mir droht, kaum das Vertrauen haben kann, dass mein Dienst den Genfern irgendetwas nützt. Denn bei dem Geist, der nun einmal den größten Teil von ihnen beherrscht, werde ich sie nicht ertragen und sie nicht mich. Und es ist noch etwas anderes, was mich sehr schreckt: ich glaube, ich bringe nichts voran, wenn mir nicht diejenigen hilfreiche Hand leihen, die, wie wir erfahren haben, alles zu verderben Macht haben2). Und wir sehen doch, wie weit sie entfernt sind von aller Neigung, Frieden zu schließen, geschweige denn Hilfe zu leisten, es sei denn, der Herr stimme sie noch plötzlich wider alles menschliche Erwarten mir gegenüber versöhnlich. Was soll werden, wenn sie ihren Pfarrern wieder die Gemeinschaft mit mir verbieten, wie sie es einst taten? Bedenke weiter, dass ein noch größerer und schwererer Kampf als mit den Auswärtigen mir mit meinen Amtsbrüdern3) bevorsteht. Was vermag da eines einzelnen Menschen Kraft, wenn sich ihm von allen Seiten so viele Hindernisse in den Weg legen! Und um die Wahrheit zu gestehen: auch wenn sie alle weggeräumt wären – ich weiß nicht, durch welche Entwöhnung ich die Kunst verlernt habe, große Menschenmassen zu beherrschen. Ich habe es hier nur mit einer kleinen Gemeinde zu tun, und von ihr hören mich auch nur die wenigsten als ihren Pastor; die meisten richten sich nach mir nur als nach ihrem Lehrer.

Du wirst einwenden, ich sei durch Schmeicheleien verwöhnt und könne deshalb kein scharfes Wort mehr hören. Doch da irrst Du Dich. Wenn ich es aber schon als zu schwer empfinde, wenige und im allgemeinen Gehorsame gut zu leiten, wie sollte ich da Genügendes leisten, um eine so große Menge im Zaum zu halten? Auch wage ich kaum darüber nachzudenken, in welcher Absicht sie mich zurückrufen. Denn wenn sie es lauteren Herzens tun, warum rufen sie dann mich und nicht den, dessen Dienst sie zur Wiederherstellung ihrer Kirche ebenso brauchen, wie sie ihn zu ihrer Gründung brauchten4). Vielleicht rufen sie mich nur, um die Nachbarn zu ärgern, weil diejenigen sie haben fallen lassen, auf deren Hilfe sie vertrauten, als sie uns seinerzeit zu verjagen wagten? Und doch wird das alles mich nicht abhalten, dem Ruf zu gehorchen. Denn je mehr mein Herz vor dieser Aufgabe zurückschreckt, umso verdächtiger bin ich mir. Daher erlaube ich mir auch nicht, über die Sache Entscheidungen zu treffen, und möchte unsere Freunde bitten, mich nicht zu ihren Beratungen zuzuziehen; auch verheimliche ich ihnen großteils meine Herzensängste, damit sie freier und unbefangener beschließen können. Was hätte ich tun sollen? Lieber will ich ganz und gar mich als Blinden behandeln und von anderen leiten lassen, als leichtsinnig meinen schwachen Augen trauen und in die Irre gehen. Wenn ich Dich frage, wessen Urteil ich mich am ehesten anvertrauen soll, so wirst Du wahrscheinlich antworten, ich könne keine Geeigneteren fragen als Capito5) und Bucer. Was aber die meinen, hast Du aus ihrem eigenen Munde gehört. Möchtest Du es doch den Brüdern in aller Sorgfalt auseinandersetzen, und möchten sie es doch unvoreingenommen und mit Ernst erwägen. Lass es mich so zusammenfassen: Ich bezeuge es vor dem Herrn, dass ich nicht „klug“ handeln will und keinen Spalt suche, um zu entschlüpfen. Denn so wahr ich der Genfer Kirche Gedeihen wünsche, so wahr wollte ich lieber mein Leben hundertmal aufs Spiel setzen als sie verlassen und verraten. Aber da sich mein Herz nicht freiwillig zur Rückkehr bereit findet, will ich denen folgen, von denen ich mich treuer und guter Führung versehe.

1) C. R. 39; Op. Calv. 11, 91f., Epist. Nr. 243

2) Es ist Bern gemeint, das während Calvins erster Anwesenheit in Genf gegen ihn gearbeitet hatte und auch wesentlich an seiner Vertreibung beteiligt gewesen war.

3) Mit denjenigen nämlich, die von der Calvin feindlichen Partei nach seiner und Farels Vertreibung an ihre Stelle gesetzt worden waren.

4) Es ist natürlich Farel selbst gemeint

5) Wie Bucer Pfarrer in Straßburg