Archive for the ‘Buch 2 Kapitel 03’ Category

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Zusammenfassung

  1. Es ist Gottes Wirken, dass er uns das schenkt, was wir für die Verbesserung und die Heilung unserer Verderbtheit der Natur benötigen
    1. angefangen mit dem Erwachen einer Liebe, eines Wunsches und eines Strebens für Gerechtigkeit in unserem Herzen (oder durch Beugung, Formen und Weisen unserer Herzen zur Gerechtigkeit)
    2. vollbracht und bestätigt mit der Fähigkeit, dass wir beständig bleiben können
    3. Auslegung von Hesekiel 36:26-27: „Zitat“
      1. dieser Vergleich zeigt, dass nichts Gutes aus unseren Herzen kommt; alles was gut ist kommt von Gott
      2. „neu erschaffen“ bedeutet nicht, dass der Wille nun existiert, sondern das er vom bösen zum guten Willen verändert wurde
      3. weitere Bibelstellen von Paulus und David bestätigen diesen Schluss:
        1. Gott ist der Urheber allem geistlichen Lebens von Anfang bis Ende
        2.  uns ist jeglicher Verdienst an unserem Heil abgesprochen, denn es handelt sich um  eine freie Gabe Gottes und es ist eine zweite Schöpfung  (Gegensatz: Adam gegen Christus)
        3. alle guten Werke, vom ersten Gedanken bis zur Tat, gehört allein Gott die Ehre
        4. der Mensch hat sich, um sich zu rühmen, denn sein ganzen Heil kommt aus Gottes Händen

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Auf der anderen Seite trägt es zur Förderung unserer Aufgabe bei, wenn wir nun auf das Wesen der Arznei, nämlich der göttlichen Gnade, durch welche die Verdorbenheit der Natur gebessert und geheilt wird, unser Augenmerk richten. Denn der Herr gewährt uns ja durch seine Hilfe, was uns selbst mangelt; und deshalb wird, wenn uns das Wesen seiner Hilfe deutlich ist, zugleich auch dementsprechend unsere Armut recht sichtbar werden. Der Apostel sagt zu den Philippern: „Und bin desselbigen in guter Zuversicht, daß der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollenden bis auf den Tag Jesu Christi“ (Phil. 1,6). Damit versteht er unter dem „Ansang des guten Werks“ unzweifelhaft den im Willen sich voll­ziehenden Ursprung der Bekehrung. Das „gute Werk“ fängt nun Gott so in uns an, daß er in unserem Herzen Liebe, Verlangen und Trachten nach der Gerechtigkeit erregt, oder auch, um genauer zu reden: daß er unser Herz zur Gerechtigkeit hin­wendet, umbildet und lenkt. Er vollendet das gute Werk, indem er uns die Kraft zur Beharrlichkeit schenkt. Nun soll aber keiner die Ausflucht machen, der Herr sei dadurch der Anfänger des Guten, daß er unseren Willen, der in sich schwach sei, unterstütze. Deshalb zeigt der Heilige Geist an anderer Stelle, was denn der Wille, sich selbst überlassen, eigentlich fertigbringe. „Ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch legen, und werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben, und will mei­nen Geist in euch geben und solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln …“ (Ez. 36,26ff.). Wer will da noch sagen, es werde bloß die Schwäche des menschlichen Willens durch Gottes Hilfe gestärkt, um mit Kraft und Wirkung nach dem Guten zu trachten — wo es sich doch darum handelt, daß der Wille ganz erneuert werden muß? Wollte man beweisen, daß ein Stein ein weiches Ding sei, das man mit guter Hilfe geschmeidiger machen und dann in bestimmter Richtung biegen könnte — dann wollte ich auch nicht leugnen, daß das Menschenherz dazu zu bringen wäre, dem Rechten zu folgen, sofern durch Gottes Gnade in ihm vollendet wird, was unvollkommen ist! Wenn aber jenes Gleichnis zeigen wollte, daß aus unserem Herzen niemals etwas Rechtes hervorkommen kann, wenn es nicht ganz und gar anders wird — dann sollen wir nicht das, was Gott sich allein zuschreibt, zwischen ihm und uns aufteilen: Wenn uns Gott zum Trachten nach dem Rechten bekehrt, dann ist das die Verwandlung eines Steins in Fleisch. So wird das abgetan, was unserem Willen eigen ist, und was an dessen Stelle tritt, stammt ganz und gar von Gott! Ich sage, der Wille werde abgetan. Das heißt nicht: er wird als Wille abgetan, denn was zur ersten (ursprünglichen) Natur gehört, das bleibt in der Be­kehrung des Menschen unangetastet. Ich meine es so: der Wille wird neu geschaf­fen, nicht um etwa erst anzufangen, Wille zu sein, sondern um vom Bösen zum Guten bekehrt zu werden! Und das geschieht, behaupte ich, rein von Gott her, denn wir sind, wie der Apostel sagt, nicht einmal geschickt, etwas „zu denken aus uns selber“ (2. Kor. 3,5). Deshalb zeigt er auch sonstwo, daß Gott nicht etwa bloß unserem schwachen Willen Hilfe leiht oder unseren bösen Willen bessert, sondern daß er selbst in uns wirken will (Phil. 2,13). Daraus läßt sich mein Satz, was in un­serem Willen Gutes ist, das sei einzig ein Werk der Gnade, leicht folgern. In die­sem Sinn sagt er auch: „Denn Gott ist, der da wirkt alles in allen“ (1. Kor. 12,6). Er redet hier nicht von der allgemeinen Weltregierung, sondern läßt für alle Güter, an denen die Gläubigen reich sind, Gott allein das Lob zukommen. Wenn er sagt „alles“, so erklärt er damit gewißlich Gott für den Urheber alles geistlichen Lebens — vom Anbeginn der Welt bis ans Ende! Das gleiche lehrt er mit anderen Worten bereits vorher (1. Kor. 8,6; Eph. 1,1), wenn er sagt, die Gläubigen seien „von Gott her in Christo“; denn damit preist er doch offenkundig die neue Schöpfung, die da abtut, was zu unserer gewöhnlichen Natur gehört. Man muß auch die Gegen­überstellung von Adam und Christus berücksichtigen, die er an anderer Stelle klarer auseinandersetzt, wo er lehrt, wir seien „Gottes Werk, geschaffen in Christo Jesu zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen“ (Eph. 2,10). Mit dieser Begründung will er beweisen, daß unser Heil „aus Gnaden“ (Eph. 2,5) uns zukommt, da ja alles Gute seinen Anfang bei der zweiten Schöpfung nimmt, die in Christo an uns geschieht. Hätten wir auch nur das mindeste Ver­mögen aus uns selber, so gebührte auch uns ein Teil des Verdiensts. Aber Paulus lehrt, um uns ganz und gar zunichte zu machen, daß wir gar kein Verdienst haben, da wir ja „in Christo geschaffen sind zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat …“. Damit zeigt er wiederum, daß alles an den guten Werken, von der ersten Regung an, Gott allein eigen ist. So sagt auch der Prophet im 100. Psalm (Ps. 100,3) zunächst, wir seien Gottes Werk, fügt aber dann, um alle Aufteilung (zwischen ihm und uns) zu vermeiden, gleich hinzu: „Er hat uns gemacht und nicht wir selbst…“. Dabei ist aus dem Zusammenhang ganz klar, daß er von der Wiedergeburt redet, die der Anfang des geistlichen Lebens ist; denn es folgt gleich der Hinweis, daß wir „sein Volk“ sind und „Schafe seiner Weide“. Er ist also, wie wir sehen, nicht damit zufrieden, Gott das Lob für unser Heil darzu­bringen, sondern spricht uns auch ausdrücklich jede Beteiligung daran ab, als wollte er sagen: dem Menschen bleibt rein gar nichts, dessen er sich rühmen könnte — es ist ja alles von Gott!

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Zusammenfassung

  1. der Mensch ist machtlos aus sich selbst zum Guten zu streben: die Heilige Schrift bezeugt, dass dies ausschliesslich aus Gottes Gnaden geschieht
  2. im gefallenen Zustand des Menschen strebt der Wille des Menschen zur Sünde
    1.  zu wollen (menschlich)
    2. Böses zu wollen (die verdorbene Natur)
    3. Gutes zu wollen (auf Gnade)
  3. Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Zwang
    1. Gott kann nichts Böses tun, nicht aus Zwang, sondern aus seiner grenzenlosen Güte: Gottes Freier Wille ist nicht eingeschränkt durch diese Tatsache, dass er Gutes tun muss
    2. der Teufel  kann nur Böses tun, jedoch tut er es aus seinem eigenen Willen
    3. der Menschen, obwohl der aus Notwenigkeit sündigt, sündigt jedoch willentlich
    4. der Mensch: Freiheit -> Sünde -> Verderbtheit ( Freiheit wird zur Notwendigkeit)
  4. Grund dieser Unterscheidung: beim Sündenfall sündigte der Mensch willentlich und begierig, nicht aus Zwang von Aussen; seine dadurch erworbene Verderbtheit kann nun nur das Böse tun, d.h. es ist unterliegt jetzt der Notwendigkeit der Sünde
  5. Sankt Bernhard Zeugnis von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen

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So wird der Wille unter der Knechtschaft der Sünde gefangengehalten, und deshalb kann er sich nicht zum Guten hin bewegen, geschweige denn es erfassen. Denn eine solche Bewegung ist der Anfang der Bekehrung zu Gott, die in der Schrift ganz der Gnade Gottes zugeschrieben wird. So betet Jeremia zu dem Herrn, er möchte ihn bekehren, wenn er ihn bekehren wolle (Jer. 31,13). Daher sagt der Prophet auch in dem gleichen Kapitel bei der Beschreibung der geistlichen Erlösung des gläubigen Volkes, es werde „errettet aus der Hand eines Mächtigen“ (Jer. 31,11). Damit zeigt er, in was für harten Fesseln der Sünder gebunden liegt, solange er von dem Herrn getrennt ist und unter dem Joch des Teufels lebt. Trotzdem bleibt der Wille bestehen, der sich mit tiefster Neigung der Sünde zuwendet und geradezu auf sie zustürzt. Denn der Mensch ist, als er sich in diese Zwangsherrschaft hineinbegab, nicht etwa des Willens verlustig gegangen, sondern der Reinheit des Willens! Es ist nicht unangebracht, wenn Bernhard lehrt, das Wollen sei in uns allen da, und dann sagt: aber nur das Wollen des Guten sei ein Fortschreiten, das Wollen des Bösen jedoch ein Gebrechen. So stehe es beim Menschen, einfach zu wollen, bei der verderbten Natur, das Böse zu wollen, und bei der Gnade recht zu wollen! (Von der Gnade und dem freien Willen, 6,16).

Meine Behauptung nun, der Wille sei jetzt seiner Freiheit beraubt und werde daher notwendig zum Bösen hingezogen oder hingedrängt, finden einige Leute sonderbarerweise hart — obwohl sie nichts Unerweisliches enthält und auch von den alten Kirchenvätern durchaus gebraucht wird. Sie ist aber auch nur denen wider­wärtig, die nicht zwischen Notwendigkeit und Zwang unterscheiden können. Aber wenn sie nun einer fragt: „Ist denn Gott notwendig gut“ oder: „Ist der Teufel notwendig böse?“ — was wollen sie dann antworten? Denn Gottes Güte ist mit seiner Gottheit derart verbunden, daß sein Dasein als Gott ebensosehr notwen­dig ist wie sein Gut-Sein! Der Teufel aber ist durch seinen Fall derart von jeder Anteilnahme am Guten geschieden, daß er nur noch Böses tun kann. Nun könnte aber ein Spötter sagen, Gott komme um seiner Güte willen nicht viel Lob zu, da er diese ja aufrechtzuerhalten gezwungen sei. Dem wäre zu antworten: Daß Gott nichts Böses tun kann, das kommt von seiner unermeßlichen Güte, nicht aber von irgendwelchem Zwang! Daß also Gott notwendig gut handelt, schränkt sei­nen freien Willen über solchem guten Handeln nicht ein. Und auch der Teufel, der nur böse handeln kann, sündigt doch mit Willen! Wie sollte dann aber ein Mensch sagen, er sei ja der Notwendigkeit zu sündigen unterworfen und sün­dige deshalb nicht mit Willen?! Von dieser Notwendigkeit hat Augustin oft gesprochen; und auch als ihn der bittere Hohn des Caelestius traf, hatte er keine Bedenken, seine Lehre aufrechtzuerhalten. So sagt er: „Durch die Freiheit ist der Mensch zum Sünder geworden, aber die zur Strafe darauf folgende Sündhaftigkeit hat aus der Freiheit Notwendigkeit gemacht“ (Von der Vollendung der Gerechtig­keit … 4,9). Sooft er auf diesen Zusammenhang zu sprechen kommt, redet er ohne Scheu wieder von der notwendigen Knechtschaft der Sünde. (So in der Schrift „Von Natur und Gnade“ und auch sonst.)

Der wesentliche Punkt bei jener Unterscheidung (zwischen Notwendigkeit und Zwang) liegt in folgendem: Der Mensch ist seit dem Fall verdorben, aber er sündigt mit Willen, nicht etwa gezwungen gegen seinen Willen, oder aus tiefster Neigung des Herzens und nicht aus gewaltsamem Zwang, aus dem Trieb eigener Lust und nicht auf äußeren Druck hin; aber wegen der Verdorbenheit der Natur kann er sich doch nur zum Bösen bewegen und nach ihm richten. Stimmt dieser Satz, so ist damit klar ausgedrückt, daß der Mensch der Notwendigkeit zu sündigen unterworfen ist.

Den eben genannten Gedanken Augustins stimmt auch Bernhard zu, wenn er schreibt: „Unter allen Lebewesen ist allein der Mensch frei, und doch hat das Da­zwischentreten der Sünde zur Folge, daß er einige Gewalt leidet. Dies aber ge­schieht aus seinem Willen, nicht aus der Natur, so daß er auch dadurch der ihm angeborenen Freiheit nicht verlustig geht. Denn was mit Willen geschieht, ist frei.“ Und gleich weiter: „So schafft sich der durch die Sünde verderbte Wille auf schlimme und wundersame Weise eine Notwendigkeit. Das geschieht aber so, daß die Notwendigkeit, die ja willentlich ist, nicht etwa dazu dienen kann, den (bösen) Willen zu entschuldigen, und daß anderseits das Vorhandensein des Willens, der ja doch betört ist, die Notwendigkeit nicht ausschließt. Denn diese Notwendigkeit ist sozusa­gen willentlich.“ Danach spricht er von einem Joch, das uns drücke; dies sei eben das Joch unserer willentlichen Knechtschaft, und deswegen seien wir im Blick auf diese Knechtschaft zu bedauern, im Blick auf den noch immer vorhandenen Willen aber unentschuldbar, habe sich doch der Wille, als er noch frei war, zum Knecht der Sünde gemacht! Und zum Schluß kommt er zu dem Ergebnis: „So lebt die Seele auf merkwürdige und verkehrte Weise unter solcher willentlichen und in kläglicher Frei­heit eingegangenen Notwendigkeit als Magd und doch als Freie, als Magd um der Notwendigkeit willen und als Freie um des Willens willen. Und, was noch wunder­samer ist: sie ist schuldig, weil sie frei ist, und sie ist Magd, weil sie schuldig ist — und so ist sie eben deshalb Magd, weil sie frei ist!“ (Predigten zum Hohen Liede, 81). Hieraus wird nun der Leser gewiß erkennen, daß ich mit meiner Be­hauptung nichts Neues aufbringe, weil ja Augustin einst in Übereinstimmung mit allen Frommen das gleiche gesagt hat und seine Auffassung auch in Mönchsklöstern tausend Jahre hindurch nicht verlorengegangen ist. Petrus Lombardus hat jedoch die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Zwang nicht machen können und dadurch einem gefährlichen Irrtum Stoff und Anlaß gegeben.

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Zusammenfassung

  1. das Problem des gerechten Heiden: Camillus gegen Catilina
    1. entweder Camillus = Catilina
    2. oder der natürliche Mensch besitzt eine gewisse Fähigkeit, tugendhaft zu leben
    3. Lösung: diese sogenannten „natürlichen Tugenden“ sind eine spezielle Gandengabe Gottes, die dem sonst bösen Menschen, in unterschiedlichste Weise und verschiedenem Grade, verliehen wird
    4. Kurz: diese Tugenden, die uns durch ihre vergänglichen Glanz zu verblenden vermögen, haben doch ihren Anerkennung in der allgemeinen Öffentlichkeit und sind nur auf dem Menschen bezogen; jedoch vor dem göttlichen Richterstuhl werden sie keinen Wert der Gerechtigkeit haben

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 Aber das Bedenken ist damit noch nicht behoben. Denn wir müssen nun den Camillus (Vorbild in aller Mannestugend) entweder mit Catilina (Typus des Ver­räters) auf eine Stufe stellen — oder aber wir haben gerade in Camillus einen Be­weis dafür, daß die Natur, wenn sie einer mit Eifer ausbildet, doch nicht alles Guten bar ist! Ich gestehe demgegenüber: die herrlichen Eigenschaften, die Camillus besaß, waren Gottes Geschenk und sind, wenn man sie an sich betrachtet, mit vollem Recht des Lobes wert. Aber wieso sollen sie denn ein Beweis natürlicher Rechtschaffenheit des Camillus sein? Muß man zu solchem Beweise nicht auf das Herz zurückgehen? Man wird aber dann kaum anders schließen können, als es Augustin (Gegen Julian, Buch IV) getan hat: Wenn ein natürlicher Mensch sich durch solche Makellosigkeit der Sitten hervorgetan hat, so fehlt gewiß der Natur nicht eine gewisse Fähigkeit, nach der Tugend zu trachten. Wie aber, wenn das Herz böse und verschlagen war und sich ganz etwas anderes vorgenommen hatte als Rechtschaffenheit? Und so muß es unzweifelhaft gewesen sein, wenn man zugibt, Camillus sei ein natürlicher Mensch gewesen. Was will man mir also an diesem Stück die Fähig­keit der menschlichen Natur zum Guten predigen, wo es sich doch erweist, daß sie auch beim Anschein höchster Makellosigkeit stets zum Bösen hingezogen wird? Wie man also einen Menschen, dessen Laster unter der Larve der Tugend Eindruck machen, nicht etwa seiner Tugend halber erheben soll, so soll man auch dem menschlichen Willen nicht das Vermögen zuschreiben, nach dem Guten zu verlangen, solange er noch in der Gewalt der Sünde liegt!

Am sichersten und leichtesten aber läßt sich jene Frage so lösen: es handelt sich bei jenen Vorzügen (etwa des Camillus) nicht um natürliche Gaben, sondern um beson­dere Gnadengaben Gottes, die er in mannigfaltiger Weise und nach bestimmter Ord­nung auch ungläubigen Menschen zuteil werden läßt. Aus diesem Grunde haben wir gar kein Bedenken, in gewöhnlicher Redeweise von dem einen zu sagen, er habe ein edles, vom anderen, er habe ein niederträchtiges Wesen! Denn wir entziehen damit beide nicht der Anteilnahme an dem allgemeinen Zustande menschlicher Verderb­nis; sondern wir bezeichnen damit, was der Herr dem einen an besonderer Gnade hat zuteil werden lassen, deren er wiederum den anderen nicht gewürdigt hat. So hat Gott aus dem Saul, der König werden sollte, gewissermaßen einen neuen Men­schen gemacht (1. Sam. 10,6). Deshalb sagt auch Platon, auf die Fabel Homers anspielend, von den Königssöhnen, sie würden mit hervorragenden Fähigkeiten geschaffen. Denn Gott rüstet aus besonderer Fürsorge für das Menschengeschlecht öfters die, welche er zur Herrschaft bestimmt, mit heldischem Wesen aus. Aus dieser Werkstatt kommen all die großen Helden, von denen die Geschichte zu berichten weiß. Ebenso muß man auch über gewöhnliche Menschen (Privatpersonen) urteilen. So hervorragend aber einer auch ist, stets treibt ihn sein Ehrgeiz, und dieser Ma­kel verunreinigt alle Tugenden, so daß sie vor Gott allen Wert verlieren! So ist das, was an ungläubigen Menschen Lobenswertes sichtbar wird, tatsächlich für nichts zu achten. Auch fehlt doch das wichtigste Stück aller Rechtschaffenheit, wo nicht der Eifer vorhanden ist, Gottes Ehre zu verherrlichen — und der mangelt allen, die Gott nicht durch seinen Geist wiedergeboren hat! Nicht ohne Grund heißt es bei Jesaja, auf dem Christus ruhe der „Geist der Furcht Gottes“ (Jes. 11,2). Denen, die von Christus ferne sind, gebt also die Gottesfurcht ab, die doch „der Weisheit Anfang“ ist! (Ps. 111,10). Gewiß werden solche Tugenden, die uns mit ihrem eitlen Schimmer täuschen, im öffentlichen Empfinden und im allgemeinen Ur­teil der Menschen Lob ernten, aber vor dem himmlischen Richterstuhl werden sie keinen Wert haben, vermöge dessen der Mensch sich etwa die Gerechtigkeit verdienen könnte.

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Zusammenfassung

  1. der Tugendhafte jeder Zeitepoche scheint die Auffassung der völligen Verderbtheit des Menschen zu relativieren
  2. jedoch zeigen jene nur ein weiteres Werk der Gnade Gottes auf
  3. die Gnade der Einschränkung des Bösen ist wegen der äussersten Verderbtheit der Menschen notwendig – nicht um das Böse auszumerzen, sondern wenigsten um es innerlich zu beschränken
    1. Einschränkung durch Scham
    2. Einschränkung durch Furcht vor dem Gesetz
    3. Einschränkung, weil Ehrlichkeit Vorteile bringen kann
    4. die Vorbildfunktion einzelner, die die anderen durch ihr Beispiel in Schranken weisen
  4. Kurz: durch Gottes Vorsehung wird der Verderbtheit der menschlichen Natur Zügel angelegt, so das er nicht so böse ist, wie er sein könnte; jedoch wird die Bosheit nicht weggenommen

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Hier begegnet uns nun fast die gleiche Frage, die wir oben bereits gelöst ha­ben, von neuem. Denn es hat doch zu allen Zeiten Menschen gegeben, die unter Leitung ihrer natürlichen Anlagen ihr Leben lang nach der Tugend sich ausstreckten! Ich will mich auch nicht damit aufhalten, ob nicht auch in ihrem Verhalten man­cherlei Fehler zu bemerken wären. Sie haben eben doch mit ihrem Eifer um die Rechtschaffenheit den Beweis geliefert, daß in ihrer Natur etwelche Reinheit vor­handen war. Zwar müssen wir von der Frage, was derartige Tugenden vor Gott für einen Wert haben, noch ausführlicher sprechen, wenn wir von dem Verdienst der Werke zu reden haben. Aber es muß auch schon an dieser Stelle das gesagt wer­den, was zur Behandlung unseres gegenwärtigen Fragstücks erforderlich ist. Die angedeuteten Beispiele scheinen uns doch zu mahnen, die menschliche Natur nicht für gänzlich verdorben zu halten, weil ja aus ihrem Antrieb heraus einige Menschen nicht nur gewaltige Taten getan, sondern auch in ihrer gesamten Lebensführung höchste Ehrbarkeit an den Tag gelegt haben. Aber an dieser Stelle kann uns die Einsicht helfen, daß die Gnade Gottes auch innerhalb dieser Zerstörung der Natur doch noch Raum hat; freilich wirkt sie nicht reinigend, sondern innerlich hemmend. Denn wenn der Herr aller Menschen Gemüt in seine Gelüste dahinrennen und ihm den Zügel schießen ließe, dann müßte tatsächlich jedermann zugeben, daß all das Böse, das Paulus an der ganzen Natur verurteilt, in vollem Maße auf jeden von uns zuträfe! (Ps. 14,3; Röm. 3,12). Wie nun? Willst du dich aus der Zahl derer ausschließen, deren Füße „schnell“ sind, „Blut zu vergießen“, deren Hände mit Raub und Mord befleckt sind, deren „Mund ist wie ein offenes Grab“, deren „Zungen voll Falschheit, deren Lippen voll Gift“ (Röm. 3,13), deren Werke unnütz, ungerecht, verderbt, todbringend sind, deren Geist ohne Gott, deren Innerstes eitel Bosheit ist, deren Augen zu heimlicher Nachstellung und deren Herzen zu offenem Wider­stand bereit sind, kurz, deren ganzes Wesen zu unendlich vielfältigem Laster fähig ist? Ist nun jede einzelne Seele allen solchen schrecklichen Dingen unterworfen, wie der Apostel doch kühn ausspricht, so können wir recht sehen, wohin es führen müßte, wenn der Herr das menschliche Gelüste nach seiner eigenen Neigung sich entfalten ließe! Da wäre kein Raubtier, das sich rasender gebärdete, kein wilder Sturzbach, dessen Fluten furchtbarer die Ufer überschwemmten! Aber der Herr heilt bei seinen Auserwählten diese Gebrechen auf besondere Art, wie wir noch zeigen müssen. Und den anderen gegenüber braucht er den Zügel und hält sie wenigstens in Schran­ken, damit sie nur nicht allzusehr überschäumen, so wie es nach seiner Vorsehung dazu dient, alle Dinge zu erhalten. So werden also die einen aus Scham, die an­deren aus Furcht vor den Gesetzen daran gehindert, in wildem Losbrechen allerlei Schandtaten zu begehen, obwohl sie weithin ihre Unreinigkeit nicht verbergen können. Andere sind der Überzeugung, eine rechte Lebensführung sei etwas Nütz­liches und Gutes, und deshalb eifern sie doch einigermaßen danach. Andere wiederum erheben sich über den gewöhnlichen Zustand, um durch ihr Ansehen andere Leute in ihrem Amt, ihrem Beruf zu erhalten. So legt Gott in feiner Vorsehung der Verderbtheit der Natur Zügel an, damit sie nicht zur (vollen) Wirkung hervor­breche; aber inwendig macht er sie nicht rein.

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Zusammenfassung

  1. diese Textstellen (es handelt sich dabei um eine Auswahl aus den Psalmen) beschreiben nicht die verdorbene Moral eines Zeitalters oder eines gewissen Individuums, sonder es klagt die allgemeine Verdorbenheit aller Nachkommen Adams und das aus ihrer Natur aus, nicht bloss aus Gewohnheit
  2. Auslegung dieser Stelle
    1. Paulus spricht dem Menschen (in seiner verdorbenen Zustand) zuerst alle  Gerechtigkeit und dann den Verstand ab
    2. alle sind abgefallen, wurden verdorben und sind unfähig, etwas Gutes zu tun
    3. es werden die schändlichen Taten aufgezählt, die nicht alle begangen werden, sondern nur latent vorhanden sind
    4. Ähnlichkeit mit einem erkrankten Körper, obgleich bei Krankheit der Körper noch gewisse Lebenskraft hat, während die Seele leer von jeglichem Gutem ist

Text

Die Verurteilung unseres Herzens fällt auch nicht leichter aus, wenn es „ein rankevolles und verkehrtes Ding“ genannt wird (Jer. 17,9; nicht Luthertext, aber wörtlicher als er!). Aber ich möchte mich kurz fassen und will mich mit einer weiteren Stelle begnügen, die aber wie ein ganz klarer Spiegel ist, in dem wir das vollkommene Bild unserer Natur anschauen können. Um die Hoffart des Men­schen niederzuschlagen, bringt nämlich der Apostel folgende Zeugnisse vor: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer, da ist nicht, der verständig sei, da ist nicht, der nach Gott frage. Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden; da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer. Ihr Schlund ist ein offenes Grab, mit ihrer Zunge handeln sie trüglich; Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit; ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; in ihren Wegen ist eitel Elend und Verderbnis; es ist keine Furcht Gottes vor ihren Au­gen“ (Röm. 3,10-13; Jes. 59,7). Mit diesen Donnerschlägen fährt er nicht auf bestimmte einzelne Menschen, sondern auf alle Adamskinder los! Er schilt auch nicht auf die verdorbenen Sitten des einen oder anderen Zeitalters, sondern er klagt die dauernde Verderbnis der Natur an! Denn er hat ja gar nicht die Absicht, einfach Menschen zu tadeln, damit sie sich bessern; er will doch vielmehr lehren, daß alle in unüberwindlichem Elend sind, aus dem sie nur herauskommen können, wenn Gottes Barmherzigkeit sie herausreißt. Das konnte er nur beweisen, wenn er den Zerfall und das Verderben unserer Natur schilderte, und deshalb brachte er jene Schriftzeugnisse vor, aus denen überzeugend hervorgeht, daß unsere Natur völlig verloren ist. Es bleibt also dabei, daß die Menschen nicht etwa bloß durch böse Gewohnheit so geworden sind, wie sie hier beschrieben werden, sondern auch durch die Verderbnis ihrer Natur. Sonst hätte die Beweisführung des Apostels keinen festen Grund; denn er will ja zeigen, daß der Mensch nur von Gottes Barm­herzigkeit Heil erwarten kann, weil er ja in sich selber verloren und trostlos dahingegeben ist. Ich will mich hier nicht damit quälen, die sachgemäße Verwendung der von Paulus angeführten Schriftzeugnisse nachzuweisen, die vielleicht jemand unstatthaft finden könnte. Ich will so vorgehen, als ob diese Worte erstmalig von Paulus selbst gebraucht und nicht aus den Propheten entnommen wären. Zunächst spricht er dem Menschen die Gerechtigkeit, das heißt die Unschuld und Reinheit ab, dann den rechten Verstand. Dabei führt er den Mangel an Erkenntnis auf den Abfall von Gott zurück, denn es ist ja der erste Schritt der Weisheit, ihn zu suchen, und jener Verlust der Erkenntnis muß notwendig bei denen eintreten, die von Gott ab­gefallen sind. Dann setzt er hinzu, sie seien alle abgewichen und morsch geworden: „da ist keiner, der Gutes tue …“ Darauf läßt er die Aufzählung der einzelnen Laster folgen, mit denen der Mensch, wenn er sich einmal der Bosheit hingegeben hat, seine einzelnen Glieder befleckt. Und zum Schluß bezeugt er, daß uns die Furcht Gottes abgeht, nach deren Maßstab sich eigentlich alle unsere Schritte richten müß­ten. Sind das die erblich überkommenen Gaben des Menschengeschlechts, dann wird man in unserer Natur vergebens etwas Gutes suchen! Gewiß gebe ich zu, daß nicht alle diese Laster in jedem einzelnen Menschen zutage treten. Aber es kann doch kei­ner leugnen, daß diese Hydra in aller Herzen heimlich wohnt! Es ist wie beim Leibe: hat er einmal den Keim und Anlaß einer Krankheit in sich und nährt sie, dann nennt man ihn nicht gesund, auch wenn er noch von keinen Schmerzen geplagt wird. Ebenso kann auch die Seele, in der solche Krankheit des Lasters reich­lich sich auswirkt, nicht für gesund erklärt werden. Allerdings paßt dieses Gleich­nis nicht in allen Punkten. Denn der Leib mag noch so krank sein, es bleibt doch immer noch Lebenskraft übrig; die Seele aber ist in einen derart verderblichen Strudel geraten, daß sie sich aus ihren Lastern nicht herausarbeiten kann und gar alles Guten gänzlich verlustig gegangen ist.