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Verkehrte und richtige Selbsterkenntnis

Zusammenfassung:

  1. das antike Sprichwort „Erkenne dich selbst“
  2. seine verkehrte Anwendung durch gewisse Philosophen, die den Menschen auffordern, sich selbst zu erkennen, um damit den Wert und die Vorzüglichkeit des Menschen festzustellen
  3. bei den Bestandteile der wahren Selbsterkenntnis sind zu beachten
    1. was Gott uns gab bei der Schöpfung und uns immer noch gibt: wir verdanken ihm alles
    2. unsere erbärmliche Lage nach Adams Sündenfall verspielte unsere ursprüngliche gerechtes Wesen und liess uns gedemütigt und beschämt zurück
  4. die Dynamik des Lebens als Christ: grundlegender Wertschätzung → äusserte Widerspruch zu unseren gefallenen Wesensart → Abscheu und Missfallen mit sich selbst → Demut → neuer Eifer Gott zu suchen → Rückgewinn der guten Dinge, die wir verloren haben (Unsterblichkeit)

Text:

Nicht ohne Grund ist dem Menschen nach einem alten Spruche stets die Selbsterkenntnis hoch gerühmt worden. Es gilt doch bereits als schimpflich, wenn einer nicht weiß, was zu den Dingen des menschlichen Gebens gehört. Viel verwerflicher aber ist die Selbst-Unkunde: da werden wir bei jeder Entschließung in wichtiger Sache jämmerlich von Wahnideen geplagt und geradezu mit Blindheit geschlagen! So wichtig aber jene Anweisung ist, so müssen wir uns erst recht in acht nehmen, von ihr keinen verkehrten Gebrauch zu machen — und das ist, wie wir sehen, gewissen Philosophen zugestoßen! Diese nämlich ermahnen zwar den Menschen zur Selbsterkenntnis; aber sie bestimmen zugleich das Ziel solcher Bemühung so: er soll sich über seine Würde und seine bevorzugte Stellung (excellentia) im klaren sein! Der Mensch soll nach ihrem Willen nur die Selbstbetrachtung üben, die ihn zu leerem Selbstvertrauen und zum Stolz aufbläst (Gen. 1,27). Unsere Selbster­kenntnis soll aber etwas anderes in sich tragen: Zunächst sollen wir bedenken, was uns alles in der Schöpfung zuteil geworden ist und wie gütig Gott fort und fort seine Gnade über uns walten läßt; daraus sollen wir erkennen, wie groß der Vorzug unserer Natur sein müßte — wenn sie unverdorben geblieben wäre. Zu­gleich aber sollen wir auch erwägen, daß wir ja nichts Eigenes in uns tragen, sondern geschenkweise das besitzen, was Gott uns gab — damit wir immer an ihm hangen: Zum zweiten soll uns aber unser jämmerlicher Zustand nach Adams Fall entgegentreten; werden wir des inne, so fällt aller Ruhm, alle Selbstsicherheit dahin, und wir gelangen tief beschämt zu rechter Demut. Denn Gott hat uns im Anfang zu seinem Bilde geschaffen, um unsere Seele zum Eifer in rechtem Tun und zum Trachten nach dem ewigen Leben zu erwecken, und so müssen wir, damit nicht der Adel unseres Geschlechts, der uns von den Tieren unterscheidet, durch unsre Trägheit gar verfalle, dies erkennen: wir sind mit Vernunft (ratio) und Verstand (intelligentia) begabt, um in einem heiligen und ehrbaren Leben uns nach dem vorgesteckten Ziel der seligen Unsterblichkeit auszustrecken! Jene ursprüngliche Würde kann uns aber gar nicht in die Erinnerung treten, ohne daß sich alsbald das traurige Bild unserer Befleckung und Schande uns vor die Augen stellt, wie es geworden ist, seitdem wir in der Person des ersten Menschen unserem Ursprung entfremdet sind. Und daraus entsteht denn auch Haß und Mißfallen an uns selbst und wahre Demut — und es entbrennt ein neuer Eifer, Gott zu suchen, in dem ein jeglicher die Güter wieder erlangen soll, die wir nun ganz und gar verloren haben.

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