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Jan

Es gibt keinen Zufall (Institutio 1-16-02)

   Publiziert von: Didier   in Buch 1, Buch 1 Kapitel 16, Institutio

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Zusammenfassung

  1. der „fleischliche“ oder „weltliche“ Verstand aller Zeitepochen hat Geschehnisse immer dem Zufall zugeschrieben und somit Gottes Vorsehung verdunkelt
  2. doch der Glaube, wenn auf der Bibel gegründet ist, weiss, dass alles nach Gottes Willen geschieht
    1. Ereignisse
    2. leblose Gegenstände, die sich nach den Naturgesetzen verhalten, aber immer noch unter Gottes Führung stehen
  3. die Sonne in all ihrer Kraft und Pracht steht unter Gottes Macht (Anmerkung: für Calvin korrigiert die Bibel unsere Wahrnehmung der Natur)

Text

Damit dieser Gegensatz noch deutlicher werde, müssen wir wissen, daß Gottes Vorsehung, wie sie in der Schrift gelehrt wird, im Gegensatz zu jedem Gedanken an „Glück“ und „Zufall“ steht. Man hat zwar schon zu allen Zeiten allgemein ge­wähnt, und auch heutzutage herrscht fast unter allen Sterblichen die Meinung, es geschehe alles „zufällig“. Aber durch eine derartige verkehrte Meinung wird ganz gewiss das, was man von der Vorsehung wissen muß, vernebelt und fast gar begra­ben. Da fällt einer unter die Räuber oder in die Gewalt wilder Tiere, da führt ein plötzlicher Sturm zum Schiffbruch auf dem Meer, da wird einer unter den Trüm­mern eines Hauses oder unter einem umbrechenden Baum erschlagen, – da findet ein anderer, der durch die Wüste geirrt, doch noch etwas, um seinen Hunger zu stillen, oder ein Schiffbrüchiger erreicht den Hafen, oder es entgeht einer um Fingersbreite wunderbar dem Tode: all diese glücklichen oder unglücklichen Ereig­nisse schiebt die Vernunft des Fleisches dem Zufall zu! Wer aber aus Christi Mund gelehrt ist, daß auch die Haare auf unserem Haupte alle gezählt sind, der sieht den Grund tiefer und hält daran fest, daß alles Geschehen durch Gottes verborgenen Rat regiert wird! Bei den leblosen Dingen müssen wir uns das so vorstellen: jedes hat gewiss von Natur seine Eigenart in sich; aber keines kann seine Kraft wirken lassen, wenn es nicht durch Gottes gegenwärtige Hand gelenkt wird. Sie sind also nichts anderes als Werkzeuge, denen Gott mit Bedacht soviel Kraft bescheidet, wie er will, und die er nach seinem Ermessen zu dieser oder jener Wirksamkeit lenkt und leitet. So hat kein Geschöpf eine wundersamere und herrlichere Kraft als die Sonne. Ab­gesehen noch davon, daß sie den ganzen Erdkreis mit ihrem Glanz erhellt: wie großartig ist es doch, daß sie mit ihrer Wärme alles Lebendige erhält und belebt, mit ihren Strahlen die Erde fruchtbar macht, den Samen im Schoß der Erde erwärmt, dann das Grün aus ihm hervorlockt, ihn mit neuer Nahrung erquickt, nährt und stärkt, bis er zum Halm erwächst, ihn weiterhin immerzu mit Tau speist, bis er zur Blüte und dann zur Frucht wird, diese dann wieder unter ihrer Hitze reifen läßt – daß die Bäume und Weinstöcke unter ihrer Wärme knospen und Laub tragen, blühen und Frucht bringen! Aber der Herr hat, damit ihm allein der rechte Lobpreis für das alles zukomme, dafür gesorgt, daß zuerst das Licht da war und die Erde mit aller Art von Kräutern und Früchten erfüllt wurde – bevor er die Sonne schuf! (Gen. 1,3.11). Deshalb soll der Fromme die Sonne nicht zur Hauptursache oder zum notwendigen Grunde von Dingen machen, die doch schon vor ihrer Erschaffung da waren, sondern er soll sie bloß als Werkzeug ansehen, das Gott braucht, weil er es so will! Denn er kann ja ebenso leicht ohne sie, rein aus sich selber handeln! Und wenn wir lesen, die Sonne habe auf Josuas Gebet hin zwei Tage stillgestan­den (Jos. 10,13), oder ihr Schatten sei dem König Hiskia zugute zehn Grade rück­wärtsgegangen (2. Kön. 20,11), so hat Gott durch diese wenigen Wunder bezeugt: die Sonne geht nicht in blindem Naturtrieb alle Tage auf und unter; nein, er lenkt ihren Lauf, um die Erinnerung an seine väterliche Huld gegen uns immer wie­der zu erneuern! Nichts Natürlicheres gibt es, als daß dem Winter der Frühling, dem Frühling der Sommer, dem Sommer der Herbst folgt. Aber in dieser Auf­einanderfolge besteht eine derartige Verschiedenheit und Ungleichheit, daß daraus leicht deutlich wird, daß die einzelnen Jahre, Monate und Tage je in neuer, beson­derer Vorsehung Gottes geordnet und regiert werden.

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Zusammenfassung

  1. selbst der „weltliche“ Verstand kann einen Gott erkennen, der alles erschaffen hat und der allem soviel Energie gab, dass sie fortbestehen können.
  2. doch der Glaube, der noch tiefer sieht, erkennt im Schöpfer auch den Herrscher und Erhalter aller Dinge, die er erschuf (Lehre der Vorsehung)
    1. im Himmel
    2. auf Erden, selbst die menschliche Angelegenheiten

Text

Gott zu einem Schöpfer für den Augenblick zu machen, der sein Werk ein für allemal hinter sich gebracht hätte, wäre eine kalte und unfruchtbare Sache; und wir sollen uns gerade darin von den Weltmenschen unterscheiden, daß uns die Gegen­wart der Kraft Gottes im fortdauernden Bestehen der Welt ebenso hell entgegen­leuchtet, wie in ihrem Ursprung. Gewiss zwingt der Anblick von Himmel und Erde auch die Gottlosen, ihre Seele zum Schöpfer zu erheben. Aber der Glaube hat doch seine eigene Art, Gott den ungeteilten Lobpreis für die Schöpfung darzubringen. Dazu gehört das Apostelwort, das wir oben anführten, nur im Glauben erkenn­ten wir, daß die Welt durch Gottes Wort fertig geworden sei (Hebr. 11,3). Denn wir begreifen erst dann, was es heißt, daß Gott der Schöpfer ist, wenn wir auch seine Vorsehung mit erfassen, mögen wir sonst auch den Anschein erwecken, es im Ge­müt zu verstehen und mit der Zunge zu bekennen. Der Sinn des Fleisches bleibt, wenn er sich einmal Gottes Kraft in der Schöpfung vorgestellt hat, dabei stehen; geht er sehr weit, so erwägt und betrachtet er höchstens die Weisheit, Macht und Güte des Meisters, der solch herrliches Werk geschaffen hat – denn das zeigt sich ja alles von selbst und drängt sich auch dem Widerstrebenden auf! Aber in der Erhaltung und Leitung dieses Werkes sieht er bloß eine allgemeine Kraft wirk­sam, von der die Bewegung ausgeht. Schließlich meint er (der Sinn des Fleisches), zur Erhaltung aller Dinge genüge die Kraft, die Gott der Welt im Anfang mitge­geben hat. Der Glaube dagegen muß höher dringen; denn er soll wissen: der, den er als den Schöpfer aller Dinge kennen gelernt hat, der ist auch ihr ständiger Lenker und Erhalter, und zwar geschieht diese Erhaltung nicht dadurch, daß er das ganze Weltgebäu wie auch seine einzelnen Teile bloß allgemein in Bewegung erhält; nein, er trägt, nährt und umsorgt in besonderer Vorsehung jedes einzel­ne, das er geschaffen hat, bis zum geringsten Sperling. So hören wir es bei David: gerade hat er kurz ausgesprochen, daß die Welt von Gott geschaffen sei, da kommt er sogleich auf den fortwährenden Gang seiner Vorsehung zu sprechen. „Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht, und all sein Heer durch den Geist sei­nes Mundes“ (Ps. 33,6), heißt es zunächst, und dann fügt er bald noch hinzu: „Der Herr schauet … auf aller Menschen Kinder …“ (Ps. 33,13); auch die weiteren Verse haben den gleichen Sinn. Es wäre, obwohl hier nicht alle vernünftig nachdenken, doch völlig undenkbar, daß Gott alle menschlichen Geschicke lenke, wenn er nicht der Schöpfer der Welt wäre. Und anderseits kann niemand im Ernste glauben, daß die Welt von Gott gemacht ist, ohne zugleich überzeugt zu sein, daß Gott für seine Geschöpfe sorgt. Eben deshalb ist es in bester Ordnung, wenn David uns beides nacheinander zeigt. Im allgemeinen lehren auch die Philosophen und begreift es der Menschengeist, daß alle Teile der Welt gewissermaßen durch eine geheime Einge­bung Gottes Bestand haben. Indessen vermögen sie nicht zu der Höhe vorzudringen, zu der David gelangt und zu der er alle Frommen mit hinaufführt: „Es wartet alles auf dich, Herr, daß du ihnen Speise gebest zu seiner Zeit; du gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gut gesättigt; verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; du nimmst weg ihren Odem, so vergehen sie und werden wieder zu Staub; du lässest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und du er­neuerst die Gestalt der Erde“ (Ps. 104,27ff.). Mögen die Philosophen auch dem Satz des Paulus zustimmen: „in ihm leben, weben und sind wir“ (Apg. 17,28), so sind sie doch weit entfernt vom lebendigen Empfinden der Gnade, die er preist, weil sie Gottes besondere Fürsorge, aus der doch seine väterliche Huld zu erkennen ist, gar nicht schmecken.

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Zusammenfassung

  1. das Vermögen des Menschen vor dem Fall
    1. Verstand: der dem Menschen gegeben ist, kann zwischen gut und böse, recht und unrecht entscheiden, was getan von dem was vermieden werden soll.
    2. Wille: der Sitz der Wählens
  2. daher, der Mensch (vor dem Fall) hatte das Vermögen, wenn er es wünschte, ewiges Leben zu erlangen; jedoch wurde ihm nicht die Standhaftigkeit gegeben, nicht abzufallen
  3. dies verändert sich beim Fall Adams: der Mensch war sehr verschieden bei der Schöpfung verglichen mit seinen Nachkommen, welche, da sie von ihm geboren wurden, in einen verdorbenen Zustand verfielen.
  4. die Systeme der Philosophen versagen, weil sie den Fall Adams ausschliessen

Text

So hat also Gott die Menschenseele mit dem Verstande ausgerüstet, durch den der Mensch Gut und Böse, Recht und Unrecht voneinander unterscheiden und im Voraufleuchten des Lichts der Vernunft sehen soll, wem er nachjagen und vor was er fliehen muß. Deshalb haben die Philosophen dieses Vermögen auch „führend“ (to hegemonikόn) genannt. Dazu hat er den Willen gefügt, dem die Entscheidung ob­liegt. Mit diesen herrlichen Gaben war der ursprüngliche Zustand (prima conditio) des Menschen geschmückt, so daß ihm Vernunft, Verstand, Klugheit und Urteilskraft (iudicium) nicht nur zur Führung des irdischen Lebens hinreichten, sondern ihn auch zu Gott und der ewigen Seligkeit emporhoben. Dazu kam dann die Wählkraft (electio), die die Begehrungen lenkte und alle sinnlichen Regungen beherrschte, so daß also der Wille in voller Übereinstimmung mit der Leitung des Verstandes war.

In dieser ursprünglichen Reinheit war der Mensch im Besitz des freien Willens, so daß er das ewige Leben erlangen konnte, wenn er wollte. An dieser Stelle die Frage nach der verborgenen Prädestination Gottes zu stellen, wäre voreilig; denn es handelt sich hier nicht darum, was geschehen konnte und was nicht, sondern wie die Natur des Menschen tatsächlich beschaffen war. Adam konnte also in seiner ur­sprünglichen Unschuld bestehen, wenn er wollte; denn er fiel ja nur durch seinen eigenen Willen. Da allerdings sein Wille in jeder Richtung sich neigen konnte und ihm die Beständigkeit zur Beharrung nicht gegeben war, deshalb fiel er so leicht. Trotz­dem, seine Entscheidung über Gut und Böse war frei, und nicht nur dies: in Ver­stand und Willen herrschte vollkommene Rechtschaffenheit, und alle sinnlichen Fähig­keiten waren fein zum Dienst eingerichtet — bis er sich selber verdarb und darüber seine Vorzüge verlor.

Daher aber kommt nun diese große Finsternis, die die Philosophen umgibt: sie suchen unter Trümmern das Gebäude und unter der Zerrüttung die passenden Fu­gen! Als Grundsatz hielten sie fest, der Mensch sei kein vernünftiges Wesen, wenn er nicht die freie Entscheidung zwischen Gut und Böse hätte, auch kam ihnen in den Sinn, der Unterschied zwischen Tugend und Laster werde hinfällig, wenn der Mensch sein Leben nicht nach eigener Bestimmung ordne. Bis dahin war alles richtig — wäre nur im Menschen keine Veränderung eingetreten! Diese aber kannten sie nicht — und so ist es kein Wunder, daß sie Himmel und Erde durcheinanderwarfen! Wer sich aber als Jünger Christi bekannt hat und trotzdem bei dem verlorenen und dem geistlichen Elend verfallenen Menschen noch den freien Willen sucht, auf diese Weise also zwischen der Meinung der Philosophen und der himmlischen Lehre sich teilt, der geht ganz in der Irre und verfehlt den Himmel und die Erde! Aber darüber findet sich an geeigneterer Stelle Besseres. Jetzt muß nur dies festgehalten werden: der Mensch ist in seiner Erschaffung, am Anfang, etwas völlig anderes gewesen als alle seine Nachfahren; denn sie haben ihren Ursprung im gefallenen Menschen und ha­ben von ihm die Verderbnis zum Erbe empfangen. Denn es waren ja alle Anla­gen der Seele recht geschaffen, die Gesundheit der Seele bestand, dazu ein Wille, der frei war, das Gute zu erwählen! (Augustin, Über die Genesis, II,7). Es könnte freilich jemand einwenden, der Wille sei wegen seiner Schwäche sozusagen auf das Schlüpfrige gesetzt worden. Aber seine Stellung (in der ursprünglichen Reinheit) genügt doch schon allein, alle Entschuldigung zu beheben; auch konnte doch Gott nicht das Gesetz aufgezwungen werden, einen Menschen zu schaffen, der überhaupt nicht sündigen konnte noch wollte. Gewiß wäre ein solches Wesen noch vortrefflicher gewesen; aber es wäre doch mehr als ungerecht, über dergleichen mit Gott zu rech­ten, als ob er es dem Menschen hätte gewähren müssen; denn es stand in seinem freien Ermessen, ihm zu geben, wieviel er wollte. Warum er ihn aber nicht mit der Kraft der Beharrlichkeit (perseverantiae virtute) unterstützt hat, das ist in seinem Ratschluß verborgen — unsere Aufgabe ist, in Nüchternheit klug zu sein! Der Mensch besaß eben das Können, wenn er wollte, aber nicht das Wollen, um zu können — denn solchem Wollen wäre die Beharrlichkeit gefolgt (Augustin, Von Züchtigung und Gnade, 11,32). Entschuldbar ist er trotzdem nicht; denn er hatte so­viel empfangen, daß er sich das Verderben aus freien Stücken zuzog. Aber für Gott gab es kein Gesetz, ihm einen anderen als solchen in der Mitte stehenden, wan­delbaren Willen zu geben; er wollte selbst aus seinem Fall einen Anlaß nehmen, seine Herrlichkeit zu erzeigen.

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Zusammenfassung

  1. die Philosophen, unwissend über den Abfall des Menschen, verwechseln zwei sehr verschiedene Zustände des Menschen
  2. die menschliche Seele besteht aus zwei Vermögen
    1. Verstand: unterscheidet zwischen Gegenstände, um sie anzunehmen oder abzulehnen – handelt also wie ein Führer oder ein Herrscher der Seele
    2. Wille: wählt und folgt, was der Verstand als gut anerkennt und meidet, was er ablehnt – beachtet die Entscheidung des Verstandes und wartet auf eine Urteil des Verstandes nach seinen Begehren
  3. gleichwertige Ausdrücke: Philosophen unterscheiden zwischen Verstand und Sinnesneigungen, wir schliessen die Sinnesneigungen im Verstand ein. Wir ersetzen auch das Wort „Wille “ für den philosophischen Gebrauch des Wortes „Begehren“.

Text

Aber eben weil die Philosophen nichts von der Verderbnis der Natur wissen, wie sie aus der Strafe für den Abfall entsprungen ist, und weil sie auf diese Weise zwei sehr verschiedene Zustände („Stände“, status) des Menschen aufs verkehrteste durcheinan­derwerfen, deshalb müssen wir von dieser Lehrart ein wenig abweichen. So stellen wir also fest: in der Menschenseele sind zwei Vermögen (partes), die zu unserer jetzigen Lehraufgabe sehr wohl passen, nämlich Verstand und Wille (intellectus et voluntas). Als Aufgabe des Verstandes wollen wir ansehen: unter den Gegen­ständen zu unterscheiden, je nachdem ihnen Billigung oder Mißbilligung zuzukom­men scheint, als Aufgabe des Willens: das zu erwählen und dem nachzugehen, was der Verstand für gut erkannt hat, das zu verachten und dem aus dem Wege zu gehen, was er verworfen hat (so Platon im Phaidros). Dabei sollen uns die Kleinlich­keiten des Aristoteles nicht aufhalten, der meint, das Gemüt (Verstand, mens) habe an sich gar keine Bewegung, sondern das Bewegende sei das Wahlvermögen (electio), das er auch „begehrenden Verstand“ nennt. Um nicht bei überflüssigen Fragen zu verweilen, soll uns die Feststellung genügen, daß der Verstand sozusagen der Führer und Lenker der Seele ist, der Wille dagegen stets auf seinen Wink achtet und sein Urteil bei seinen Wünschen abwartet. In diesem Sinne lehrt der gleiche Aristoteles, im Begehren sei das Fliehen und Nachjagen etwas Ähnliches wie das Verneinen und Bejahen im Gemüt (in mente, Nik. Ethik, VI,2). Wie zuverlässig nun aber fer­ner diese Leitung des Verstandes über den Willen ist, das werden wir später sehen. Hier wollen wir nur feststellen, daß in der Seele keine Fähigkeit zu finden ist, die sich nicht mit Recht einer der beiden Grundvermögen (Verstand und Wille) zuordnen ließe. So ordnen wir auch die Sinnesneigungen (sensus) dem Verstande unter; an­dere machen da eine Unterscheidung und sagen, die Sinne neigten zum Vergnügen, während dagegen der Verstand dem Guten folgte, so daß also aus der Regung des Sinnes Begierde und Lust entstünde, aus der des Verstandes aber der Wille. Ander­seits verwende ich statt des Begriffs Begehrungsvermögen (appetitus), den jene vorziehen, lieber den Ausdruck „Wille“, weil er gebräuchlicher ist.

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Zusammenfassung

  1. von allen Philosophen kam nur Plato nahe an ein Verständnis des körperlosen Wesens der Seele
  2. Das Wesen der Seele in der Bibel
    1. körperloses Wesen
    2. wohnt im Körper als das belebende Prinzip wie in einem Haus
    3. die Suche des Menschen nach Gott ist der Beweis, dass er ein von Gott vernunftbegabtes Wesen ist
    4. Widersprüche in der Seele entstehen nicht, weil der Mensch von zwei Seelen bewohnt ist (wie manche Philosophen behaupten), sondern von der verderbten Natur des Menschen
  3. die Fähigkeiten der Seelen nach den Philosophen
    1. Themistius von Platon
    2. Aristoteles (Ethik): Aufteilung der Seele in begehrende (ohne Vernunft, aber ihr folgende) und verstehende Seele (durch sie beteiligt sich an der Vernunft)
      1. Sinnen
      2. Vernunft
      3. Begehren
    3. Drei Prinzipien der Handlung
    4. diese Ansichten, obwohl wahrscheinlich, sind zu verworren für unseren Zweck

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Es wäre töricht, eine Bestimmung des Wesens der Seele von den Philosophen zu entlehnen. Denn außer Platon hat sie fast keiner von ihnen wirklich als unsterb­liches Wesen (substantia immortalis) anerkannt. Zwar reden auch andere Sokratiker davon; aber keiner lehrt es deutlich, weil keiner recht davon überzeugt war! Platons Meinung ist deshalb die richtigere, weil er Gottes Ebenbild in der Seele er­kennt. Andere heften ihre Kräfte und Anlagen (potentiae et facultates) dermaßen an das gegenwärtige Leben, daß sie außer dem Körper schließlich nichts übriglassen.

Wir haben nun unserseits bereits gelehrt, daß die Seele unkörperlich ist. Nun ist zu beachten, daß sie zwar nicht in einem bestimmten Raum eingeschlossen, aber dennoch mit dem Körper verbunden ist und in ihm wie in einer Herberge wohnt. Nicht nur so, daß sie alle seine Teile belebt und seine Organe für ihre Wirksamkeit geschickt und brauchbar macht, sondern sie übt die Vorherrschaft in der Führung des Menschenlebens aus, und das nicht nur hinsichtlich der Pflichten des irdischen Lebens, sondern um den Menschen zugleich zur Verehrung Gottes zu reizen. Obwohl das letztere in der Verderbnis nicht deutlich zu bemerken ist, so bleiben doch die Spuren selbst den Lastern eingedrückt. Woher haben denn die Menschen die große Sorge um ihren guten Namen als aus Scham? Woher aber stammt wiederum die Scham an­ders als aus der Ehrfurcht vor dem, was recht ist? Und die kommt wieder aus der Erkenntnis, daß sie dazu geboren sind, die Gerechtigkeit hochzuhalten — worin der Keim der Religion eingeschloffen ist! Denn wie ohne allen Zweifel der Mensch zum Trachten nach dem himmlischen Leben (ad caelestis vitae meditationem) geschaffen wurde, so wurde ihm auch sicherlich eine Kenntnis davon mit eingepflanzt. Auch würde ja dem Menschen wahrlich der herrlichste Gebrauch des Verstandes (intelligentia) abgehen, wenn ihm die Seligkeit unbekannt wäre, deren Vollendung in der Vereinigung mit Gott besteht. Deshalb ist es auch die wichtigste Wirksamkeit der Seele, nach dieser Seligkeit zu trachten, und je mehr einer danach strebt, Gott näher zu kommen, desto mehr beweist er, daß er mit Vernunft begabt ist.

Manche meinen, der Mensch habe mehrere Seelen, eine empfindende und eine denkende. Aber obwohl sie scheinbar etwas der Wahrheit Nahestehendes vor­bringen, müssen wir doch ihre Meinung, weil ihre Gründe keine Beweiskraft haben, ablehnen, sofern wir uns nicht mit leichtfertigen und unnützen Dingen plagen wollen. So sagen sie, es sei ein großer Widerstreit zwischen den Regungen der Leibeswerkzeuge und dem vernünftigen Teil der Seele. Als ob nicht auch die Vernunft selber mit sich uneinig wäre und ihre Erwägungen und Beschlüsse wie feindliche Heere einander Schlachten lieferten! Aber diese Verworrenheit stammt doch aus der Ver­derbnis der Natur, und deshalb ist es verkehrt, daraus, daß die Anlagen nicht das gebotene Gleichmaß untereinander halten, gleich zu folgern, es gäbe (im Menschen) zwei Seelen.

Über diese Anlagen selbst feinsinnige Untersuchungen anzustellen, überlasse ich in­dessen den Philosophen; uns kann zur Auferbauung der Frömmigkeit eine einfache Beschreibung genügen. Was sie lehren, ist, das gebe ich zu, wahr und nicht bloß an­genehm zu erfahren, sondern notwendig zu wissen und von ihnen sehr geschickt zu­sammengebracht. Deshalb will ich keinen an ihrem Studium hindern, der danach be­gierig ist. Ich gebe also zunächst zu, daß es fünf Sinne gibt, die Platon übrigens Organe zu nennen vorzieht. Sie führen dem allgemeinen Empfinden (sensus communis) wie einem Behältnis alle Gegenstände zu (Platon, Theaetet). Dann folgt die Phantasie (phantasia): sie beurteilt das vom allgemeinen Empfinden Erfaßte. Danach kommt die Vernunft (ratio), der das allgemeine Urteil zusteht. Und endlich das Ge­müt (mens): es betrachtet mit festem und ruhigem Blick, was die Vernunft im Fluge zu durchfliegen pflegt. Ebenso entsprechen dem Gemüt, der Vernunft und der Phantasie als den drei erkennenden Fähigkeiten der Seele auch wiederum drei begehrende Fähigkeiten: der Wille, welcher begehrt, was Gemüt und Vernunft ihm darbieten; die Zürnkraft, welche an sich reißt, was Vernunft und Phan­tasie darreichen, und die Begehrkraft, welche annimmt, was ihr Phantasie und Sinne zuwerfen. Um diese Dinge sollte man sich nach meiner Meinung nicht gar zu sehr kümmern — wie wahr oder zum mindesten wahrscheinlich sie auch sein mö­gen. Ich fürchte nämlich, daß sie durch ihre Dunkelheit ohnehin mehr Verwirrung als Nutzen stiften könnten. Mancher möchte wohl die Anlagen der Seele anders ein­teilen: in eine begehrende Anlage, die, zwar selbst ohne Vernunft, doch der Vernunft und deren Leitung gehorsam ist, und eine verstehende, die selbst der Vernunft teil­haftig wäre (so Aristoteles, Nik. Ethik, I,13). Ich erhebe dagegen keinen wesent­lichen Einspruch. Auch würde ich nicht die Annahme von drei Grundkräften, nämlich Sinnen, Vernunft und Begehren, verwerfen (Aristoteles, Nik. Ethik, VI,2).

Aber wir wollen lieber eine Einteilung wählen, die jeder begreifen kann — die kann man freilich von den Philosophen sicherlich nicht entlehnen! Denn wenn diese ganz schlicht reden wollen, so teilen sie die Seele in Begehren und Denken ein und teilen dann wieder jedes in zwei Stücke. Den Verstand nennen sie einerseits „beschau­lich“ (contemplativus), sofern er, mit der Erkenntnis allein zufrieden, gar keinen Antrieb zum Handeln empfindet (Themistius, De anima …) — was wieder Cicero mit dem Begriff „Selbstgeist“ (ingenium) meint ausdrücken zu können. Andererseits nennt man ihn auch „praktisch“ (practicus), sofern er nämlich vermöge der Erkennt­nis des Guten und Bösen den Willen in verschiedener Weise anregt. Darunter ge­hört auch das Wissen um die gute und rechte Lebensführung. Das Begehren aber teilt man in Willen und Begierde (voluntas et concupiscentia) ein. Dabei redet man vom Willen (bulesis), sofern der Trieb (den sie „horme“ nennen) der Ver­nunft gehorcht, von der leidenschaftlichen Begierde (pathos) dagegen, wo der Trieb das Joch der Vernunft abschüttelt und ungebändigt ausbricht. In allen Fällen nimmt man also im Menschen die Vernunft als das an, wodurch er sich selbst recht regieren könnte!

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